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BRENNPUNKT ARZNEI Pharmakotherapie Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen Jhrg. 17, Nr. 2 Mai 2012 Ältere Patienten Kürzere Lebenserwartung, weil ärztliche Information nicht verstanden wurde? Es ist in der Hektik der Praxis nicht immer einfach, den Patienten klar zu machen, wie sie mit ihren Krankheiten umgehen und wie sie ihre Medikamente einnehmen sollen. Aber wichtig ist es trotzdem, wie eine Kohortenstudie an einigen tausend Patienten gezeigt hat: Wer seinen Arzt nicht richtig verstanden hat, der stirbt früher. Im Zweifel sollten Arzt oder Helferin also schon mal rückfragen, ob die Erklärungen auch wirklich angekommen sind. Das dürfte so manchem Patienten zu einem längeren Leben verhelfen. Seite 18 Neuroleptika oder Antidepressiva für demente Heimpatienten Mehr Todesfälle und Sturzverletzungen In den Pflegeheimen werden sedierende Neuroleptika sehr oft verordnet, meist für demente Patienten, um mit deren Verhalten fertig zu werden. Eine riskante Sache, wie nun eine neue Studie wieder zeigt: Das Mortalitätsrisiko steigt mit der Neuroleptika-Dosis. Auch Antidepressiva sind für Demente gefährlich: Sie erhöhen, wie eine weitere Studie zeigt, ganz erheblich das Risiko, zu stürzen und sich dabei zu verletzen. Welche – durchaus praktikablen – Konsequenzen wir aus diesen beiden Studien ziehen können, lesen Sie auf den Seiten 12 und 15 Immer mehr resistente Keime Ein paar einfache Regeln sorgen für Sicherheit beim Antibiotika-Rezept Mit den Antibiotika ist das so eine Sache: Einerseits erwarten etliche Patienten geradezu, dass sie bei jedem Halsweh ein Antibiotika-Rezept bekommen und es könnte ja auch sein, dass es ohne Antibiotikum vielleicht doch zu Komplikationen kommt. Andererseits wissen wir, dass solche Verordnungen den Krankheitsver- lauf letztlich doch nur selten beeinflussen und dass wir damit lediglich der Resi- stenzentwicklung Vorschub leisten. In diesem täglichen Dilemma können einige einfache Regeln den Umgang mit Antibiotika auf eine rationale Basis stellen, so dass wir ein entsprechendes Rezept mit viel größerer Sicherheit unterschreiben oder ablehnen können. Wie es geht, steht auf Seite Seite 4 Aliskiren nicht zusammen mit ACE-Hem- mern oder Betablockern verordnen! Vor allem bei Diabetes und gestörter Nierenfunktion ist die Kombination dieser Substanzen gefährlich. Seite 27 Foto: PT DLR/BMBF, BW

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BRENNPUNKT ARZNEIPharmakotherapieRationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis

Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen

Jhrg. 17, Nr. 2 – Mai 2012

Ältere Patienten

Kürzere Lebenserwartung, weil ärztliche Information nicht verstanden wurde?Es ist in der Hektik der Praxis nicht immer einfach, den Patienten klar zu machen, wie sie mit ihren Krankheiten umgehen und wie sie ihre Medikamente einnehmen sollen. Aber wichtig ist es trotzdem, wie eine Kohortenstudie an einigen tausend Patienten gezeigt hat: Wer seinen Arzt nicht richtig verstanden hat, der stirbt früher. Im Zweifel sollten Arzt oder Helferin also schon mal rückfragen, ob die Erklärungen auch wirklich angekommen sind. Das dürfte so manchem Patienten zu einem längeren Leben verhelfen. Seite 18

Neuroleptika oder Antidepressiva für demente Heimpatienten

Mehr Todesfälle und SturzverletzungenIn den Pflegeheimen werden sedierende Neuroleptika sehr oft verordnet, meist für demente Patienten, um mit deren Verhalten fertig zu werden. Eine riskante Sache, wie nun eine neue Studie wieder zeigt: Das Mortalitätsrisiko steigt mit der Neuroleptika-Dosis. Auch Antidepressiva sind für Demente gefährlich: Sie erhöhen, wie eine weitere Studie zeigt, ganz erheblich das Risiko, zu stürzen und sich dabei zu verletzen. Welche – durchaus praktikablen – Konsequenzen wir aus diesen beiden Studien ziehen können, lesen Sie auf den Seiten 12 und 15

Immer mehr resistente Keime

Ein paar einfache Regeln sorgen für Sicherheit beim Antibiotika-RezeptMit den Antibiotika ist das so eine Sache: Einerseits erwarten etliche Patienten geradezu, dass sie bei jedem Halsweh ein Antibiotika-Rezept bekommen und es könnte ja auch sein, dass es ohne Antibiotikum vielleicht doch zu Komplikationen kommt. Andererseits wissen wir, dass solche Verordnungen den Krankheitsver-lauf letztlich doch nur selten beeinflussen und dass wir damit lediglich der Resi-stenzentwicklung Vorschub leisten. In diesem täglichen Dilemma können einige einfache Regeln den Umgang mit Antibiotika auf eine rationale Basis stellen, so dass wir ein entsprechendes Rezept mit viel größerer Sicherheit unterschreiben oder ablehnen können. Wie es geht, steht auf Seite Seite 4

Aliskiren nicht zusammen mit ACE-Hem-mern oder Betablockern verordnen!Vor allem bei Diabetes und gestörter Nierenfunktion ist die Kombination dieser Substanzen gefährlich. Seite 27

Foto

: PT

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, BW

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Seite 2 KVH • aktuell Nr. 2 / 2012

Editorial

Hinweis zu KVH – Brennpunkt ArzneiDie vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt Arznei“ ist ein Informationsangebot zur ratio-nalen und rationellen Pharmakotherapie in der Praxis. Sie wird herausgegeben und mit freund-licher Genehmigung zur Verfügung gestellt von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Die enthaltenen Beiträge geben die Auffassung der Verfasser bzw. der Redaktion wieder. Aufgrund der regionalen Unterschiede können nicht alle Inhalte auf die Gegebenheiten in Hamburg übertragen werden. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben kann keine Gewähr übernommen werden.

Antibiotika, Ticagrelor und die evidenzbasierte TherapieDr. med. Wolfgang LangHeinrich

Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,

einmal etwas andere Fragen, eine andere Betrachtungsweise zu unserem dia-gnostischen und therapeutischen Handeln:

Eine Analyse der Antibiotikaverordnungen 2010 bei Kindern und Jugendlichen von 0 bis 17 Jahren auf Kreisebene in Deutschland hat ergeben, dass zwischen 19 bis 52% der Kinder und Jugendlichen mindestens einmal ein Antibiotikum bekamen. Im Vorschulalter waren es sogar bis 71%. Im Norden und ganz im Süden Deutschlands wurden die wenigsten Antibiotika verordnet, im grenz-nahen Westen, im Nordosten Bayerns sowie einem Band quer durch die Mitte Deutschland die meisten.

Erklärungsversuche, wie Antibiotikaverordnungen bei Kindern aus sozial schwa-chen Schichten, bei Kindern von Eltern mit geringem Bildungssystem, Kindern ausländischer Eltern oder regionale Unterschiede der ärztlichen Versorgung, tref-fen nicht zu. Die Gebiete mit niedriger und hoher Antibiotikaverordnung lassen sich nicht nach diesen Punkten eindeutig unterscheiden.

Hier stellen sich uns viele Fragen nach einer rationalen, evidenzbasierten Therapie, die möglicherweise in Teilen nicht erforderlich ist.

Die Thrombozytenaggregationshemmung bei akutem Koronarsyndrom ist unstrit-tig. Mit Ticagrelor steht ein neues Arzneimittel zur Verfügung, das nach der frü-hen Nutzenbewertung (AMNOG) und der zugrundeliegenden PLATO-Studie einen beträchtlichen Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie mit Clopidogrel aufweist. Es verteuert die Therapie ganz erheblich, kann aber einem Patienten mit der gesicherten Diagnose „akutes Koronarsyndrom“ nicht vorenthalten werden.

In diesem Zusammenhang gibt es aber ein Problem: Die Diagnose „akutes Koro-narsyndrom“ ist, sicherlich durch die Einführung der DRG bedingt, in den letzten Jahren um ca. 300% angestiegen. In vielen Fällen genügen aber diese Kranken-hausdiagnosen nicht den Kriterien der PLATO-Studie zu Ticagrelor und für diese Patienten ist der Zusatznutzen von Ticagrelor gegenüber Clopidogrel nicht belegt.

Auch hier stellen sich viele Fragen zur Diagnostik, zur rationalen und rationellen Therapie!

Ihr

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Seite 3Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

Inhalts- verzeichnis

ImpressumVerlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 WiesbadenHerausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt (www.kvhessen.de)Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Christian Albrecht, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld, Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Cornelia Kur, Dr. med. Jutta Witzke-GrossFax Redaktion: 069 / 79502 501Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität FrankfurtDie von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.

Editorial 2

Antibiotika-Indikationen nach Risiko 4Dr. med. Uwe Popert

Antibiotikaverordnung: Kernpunkte für die ambulante Praxis 10Bericht vom Antibiotika der ECDC

Neuroleptika für demente HeimpatientenMöglichst vermeiden, auf keinen Fall Langzeittherapie 12

Prof. Dr. med. Johannes Pantel

SSRI bei dementen Senioren mit Depression – vermehrte Stürze 15Dr. med. Klaus Ehrenthal

Medikamente gegen Unruhe bei SeniorenWie gehen Sie mit solchen Wünschen um? 17

Kürzere Lebenserwartung, weil ärztliche Information nicht verstanden wurde? 18Dr. med. Klaus Ehrenthal

Prävention von Dekubitalgeschwüren bei lang liegenden Risikopatienten 20Dr. med. Klaus Ehrenthal

Weitere Risiken der Säurehemmung entdecktPPI sorgen für mehr Schenkelhalsfrakturen bei postmenopausalen Frauen 22

Dr. med. Klaus Ehrenthal

Inkretine: Sie kosten nicht nur viel, sie sind auch nicht ohne Risiko 24Dr. med. Wolfgang LangHeinrich

Bei Diabetikern und NierenfunktionsstörungAliskiren nicht zusammen mit ACE-Hemmern oder AT1-Blockern verordnen! 27

Dr. med. Wolfgang LangHeinrich

Ticagrelor beim akuten Koronarsyndrom: Studie weist beachtliche Mängel auf 28

Dr. med. Christian Albrecht

Briefe an die RedaktionVorsicht mit Antidepressiva bei Suizidalen und Drogenabhängigen! 29

Medikamenten-Interaktionen: Eine praktische Hilfe im Arbeitsalltag 31Dr. med. Joachim Seffrin

Sicherer verordnen 32Dr. med. Günter HopfZusätzliche Gabe von Vitaminen oder Spurenelementen: Kein Schutzeffekt 32Atomoxetin: Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutdruckes 33Tibolon: ähnliche Risiken wie andere Mittel zur Hormonersatztherapie 33Wenn Patienten nach „Ukrain“ fragen.... 34Einnahmefehler: Koma, Sepsis 34

Tischversion der Leitlinie kardiovaskuläre Prävention 35

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Seite 4 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Antibiotika-Indikationen nach RisikoDr. med. Uwe Popert

Im Rahmen der MRSA-Problematik, insbesondere im klinischen Bereich, stellt sich derzeit aktuell die Frage, welche Strategien im ambulanten Be-reich zur indikationsgerechten Verordnung von Antibiotika hilfreich sein könnten. Dazu soll hier eine praxisgerechte und evidenzbasierte kurze Zusammenstellung der wichtigsten oralen Antibiotika, deren Indikationen und Besonderheiten präsentiert werden.

Derzeit werden Zahlen verbreitet, dass im deutschen ambulanten Bereich möglicher-weise 50% der Antibiotika bei kindlicher Otitis unnötigerweise verordnet werden – denn die regionalen Verordnungsraten schwanken erheblich [7]. Dabei wird auch unterstellt, dass in Studien bisher keine relevanten sinnvollen Effekte nachweisbar waren. Allerdings stehen auch Kosten, Nebenwirkungen und Resistenzentwicklun-gen einer allzu sorglosen Verwendung entgegen.

Was ist davon belegbar und was lässt sich ggf. daran ändern?Antibiotika-Resistenzen nehmen insgesamt zu und korrelieren deutlich mit dem Ausmaß der Verwendung [8]. Es lässt sich zeigen, dass in Ländern mit hohem Antibiotika-Gebrauch die Resistenzen deutlich ansteigen (z.B. die Penicillin-Emp-findlichkeit von Pneumokokken, siehe Abb. 1) [6, 8].

Eine aktuelle Metaanalyse lieferte weitere Erkenntnisse zur Ursache von Antibio-tika-Resistenzen. Dazu wurden 24 Studien zur Antibiotikatherapie bei Infekten der Atem- oder Harnwege in der Primärmedizin zusammengeführt [4].

Ergebnisse: Bei Patienten nach einer Antibiotikabehandlung wegen Atemwegs- oder Harn-

wegsinfekt sind oft entsprechend resistente Bakterien nachweisbar. Nach einer Woche ist der Effekt am ausgeprägtesten (odds-ratio >10). Der Effekt ist bis zu zwölf Monate nach Therapieende nachweisbar (odds-

Abb. 1: Zusammenhang zwischen Antibiotika-gebrauch und penicil-linresistenten Pneumo-kokken (nach Goossens [8]).

Beiträge der

Redaktion

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Seite 5Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

ratio >3). Kein Beweis für Unterschiede zwischen den Antibiotikagruppen. Bei Amoxicillin und Trimethoprim waren die Resistenzen tendenziell um so

häufiger, je mehr Antibiotika (Dosis x Dauer) gegeben wurden. Für MRSA fand sich kein Zusammenhang zwischen Antibiotikagabe und Auf-

treten.

Daraus ergeben sich zum einen Argumente für einen Antibiotikawechsel bei Rezi-diven innerhalb von sechs Monaten. Zum anderen wird deutlich, dass Antibiotika möglichst kurz, gezielt und möglichst niedrig dosiert eingesetzt werden sollten. (Die Phantasie, dass Antibiotika so lange gegeben werden sollten, bis alle Infekterreger vernichtet sind, war schon immer abwegig: man kann ja immer nur die Keimzahl verringern – der Rest ist Sache der körpereigenen Abwehr).

Wo werden die meisten Antibiotika eingesetzt?Insgesamt aber liegt die Antibiotika-Verordnungshäufigkeit in Deutschland bei einem Vergleich von Industrieländern im unteren Drittel. [6] Spitzenreiter sind Spanien, Frankreich und die USA – wahrscheinlich wegen der dortigen rezeptfreien Bezugsmöglichkeiten, z.B. in Supermärkten (Abb. 1).

Die weitaus meisten Antibiotika-Verordnungen werden bei Harn- bzw. Atem-wegsinfekten und von Hausärzten ausgestellt; allerdings ist das der großen Zahl der Hausärzte geschuldet. Bei den Verordnungen pro Patient führen entsprechend der meistbetroffenen Organbereiche die HNO- und Frauenärzte und Urologen. Im stationären Bereich erfolgen 15% der Antibiotika-Behandlungen und damit – an-gesichts von nur etwa 5% der Behandlungen insgesamt – überdurchschnittlich viel.

Regionale Verordnungs-Unterschiede mit Schwankungen der Verordnungsraten bei gleicher Diagnose zwischen 19% und 52% deuten allerdings auch für Deutsch-land auf erhebliche Einsparpotentiale hin [6, 7] .

Was kosten Antibiotika?Antibiotika verbrauchen wegen der Verschreibungshäufigkeit beträchtliche Anteile des Medikamentenbudgets. Allerdings sind die Unterschiede zwischen unter-

Tabelle 1: Kosten häufig verwendeter Antibiotika in Standarddosierungen. Jeweils günstigste Packungen und Präparate. (ABDATA Stand 1.7.2011, keine Einrechnung von Rabatten oder Zuzahlungsbefreiungen)

Medikament Dosis (<70kg) Kosten für 5 bis 7 Tage

Doxycyclin 1 x 100 mg Ca. 10,-€ (10 Tage: 10,20 €)

Penicillin V 3 x 1 Mega Ca. 12,-€ (7 Tage: 11,50 €)

Azithromycin 1 x 250 mg Ca. 12,-€ (6 Tage: 12,36 €)

Ciprofloxazin 2 x 500 mg Ca. 12,-€ (5 Tage: 11,63 €)

Amoxicillin 3 x 750 mg Ca. 14,-€ (7 Tage: 13,60 €)

Erythromycin 3 x 500 mg Ca. 14,-€ (7 Tage: 14,10 €)

Cefuroxim 2 x 250 mg Ca. 14,-€ (6 Tage: 14,15 €)

Trimethoprim 2 x 150 mg Ca. 15,-€ (5 Tage: 14,86 €)

Nitrofurantoin 2 x 100 mg Ca. 15,-€ (10 Tage: 12,03 €)

Fosfomycin 1 x 3000 mg Ca. 17,-€ (1 Tag: 17,37 €)

Clindamycin 4 x 300 mg Ca. 26,-€ (7 Tage: 26,23 €)

Amoxi.+ Clav. 3 x 500/125 mg Ca. 38,-€ (7 Tage: 38,04 €)

Anmerkung:

Unsere Bemühungen, Resistenzen durch rationale Verordnung einzudämmen, wären noch erfolgreicher, wenn die Tierhal-ter die Antibiotika aus dem Futter heraushalten würden.

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schiedlichen Generika gering. Eine Liste der in der Praxis häufigsten generischen Antibiotika zeigt insgesamt nur noch geringe Preisunterschiede mit allerdings deut-lichen Preissprüngen bei Clindamycin und Amoxicillin plus Clavulansäure. (Tab 1).

Nützen Antibiotika?Wegen zu kleiner Studien und (glücklicherweise) seltenen Komplikationen gab es bisher keine signifikanten Belege für die Möglichkeit der Verhinderung von Kom-plikationen durch Antibiotikabehandlung.

Mit der riesigen Datenmenge der UK General Practice Research Database ist das jetzt möglich – zwar nur retrospektiv, aber dafür mit praxisrelevanten Patientenda-ten ohne Vorselektion. (Retrospektive Kohortenstudie in 162 Allgemeinpraxen von 1991 bis 2001. Eingeschlossen wurden 3,36 Mio. Behandlungsfälle von Infekten der Atemwege) [12]. Die Ergebnisse: Komplikationen wie Pneumonie, Mastoiditis oder Peritonsillarabszess können signi-fikant vermindert werden, allerdings meist nur mit der unrelevanten NNT > 4.000. Nur bei Bronchitis liegen die Zahlen günstiger – die beste NNT von 39 betrifft die Senioren (>65 Jahre).

Risikoadaptierte AntibiotikaindikationenMit diesen o.g. Daten lässt sich allerdings nicht ausschließen, dass besonders Kranke oder Risikogruppen nicht doch besser profitieren. Diese Gruppen wurden aber in den üblichen randomisierten Therapiestudien oft ausgespart, deswegen liegen auch von dieser Seite meist nur spärliche Belege vor – z.B. bei retrospektiven Analysen

nach Komplikationen. Eine dringende Indi-kation für Antibiotika bei bestehenden oder drohenden Komplikationen bakterieller Infekte wird aber in keiner Leitlinie bestritten.

Für Subgruppen ließen sich in Therapie-studien bzw. entsprechenden Metaanalysen allerdings Verkürzungen der Krankheitsdauer nachweisen, z.B. bei Atemwegsinfekten um etwa 10 bis 20% der natürlichen Krankheits-dauer von ein bis zwei Wochen (siehe DEGAM-Leitlinien) [14].

Damit ergibt sich eine unterschiedliche Vorge-hensweise bezüglich Antibiotikaverwendung je nach Gefährdung der Erkrankten (siehe Abbildung 2).

Sicherheits-Indikation: Bei drohenden Komplikationen und Hoch-Risikopati-enten bestehen trotz schlechter Studienlage sichere Indikationen.

Fragliche Indikation: Bei deutlich symptomatischen Patienten und Zusatzrisiken. Fehlende Indikation: Leicht erkrankte, sonst gesunde Patienten profitieren in

der Regel nicht von Antibiotika, die Nachteile von Nebenwirkungen und Kosten überwiegen.

Die Zusatztests helfen bei der Indikationsstellung im mitteleren Risikobereich. Bei klaren Fällen (Sicherheits-Indikation oder fehlende Indikation) sind sie unnötig und möglicherweise irreführend. Zusatztests können sehr unterschiedlich aussehen: die Spannbreite reicht von Röntgenbildern über CRP-Tests bis zum „delayed prescri-bing“ (Einnahme der Medikation nur bei Verschlechterung).Gemeinsam ist diesen Tests, dass in praxisnahen Studien ein Nutzen gezeigt wer-den konnte, indem diejenigen Patienten herausgefiltert wurden, die z.B. eine

Abb. 2: Modell der risikoadaptierten Therapieindikation

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relevante Heilungsbeschleunigung durch Antibiotika zu erwarten haben. Zumindest werden dadurch ohne Schaden für die Patienten nachweislich mindestens die Hälfte der Antibiotika-Verordnungen eingespart (Tab. 2).

Hat Ihre Praxis ihr eigenes übersichtliches evidenzbasiertes Sortiment?Um den Überblick über Indikationen, potentielle Interaktionen und Nebenwirkungen zu behalten, wird eine Begrenzung auf einige wichtige Präparate empfohlen; die bevorzugt in Studien erprobt und entsprechend in Leitlinien priorisiert wurden.

Eine Zusammenstellung wichtiger Kenndaten findet sich in Tabelle 3. Die Liste bietet natürlich nur eine grobe Orientierung. Nicht extra erwähnt sind, weil

Tabelle 2: Häufige Antibiotika-Indikationen und Tests

Indikation Sicherheits-Indikation Fehlende Indikation

Fragliche Indikation

Zusatz-Test

Otitis media Druckschmerz Mastoid Risikopatient <2JahreOtorrhoe, Fieber, Erbrechen

Sonst GesundeKurze Dauerwenige bzw. leichte Symptomebereits Besserung erkennbar

einige Symptome > 2 Jahre

Verlauf abwarten

Pharyngitis Tonsillitis

drohende KomplikationenRisikopatient,viele schwere Symptome einige

SymptomeJunge und Gesunde

Abstrich CRP / BSG

Sinusitis CRP / BSG Abstrich,CT

Husten drohende KomplikationenRisikopatient, z.B. COPD, Fieber, Luftnot, Schmerzen, Durchfall (!)

Ggf. Röntgen CRP / BSG(Abstrich)

ZystitisPyelo-Nephritis

Nierenschmerzen, Fieber Männer, Schwangere, Rezidive

Urinstix Urinkultur

Tabelle 3: Bei Antibiotika zu beachten. (Zusammenstellung aus jeweiligen Fachinformationen http://www.fachinfo.de; Stand 4.2.2012)

Medikament Typisch(Bs=bakteriostatisch, Bz=bakterizid)

NW Magen

Darm

ab Alter Schwangerschaft

Doxycyclin Bs, Photosensibilität 1-10% >8J (-)

Penicillin V / G Bz, bes. Grampositive 1-10% 0 ++

Azithromycin Bs, Resistenzen, QT-Verlängerung, cave Terfena-din, Simvastatin …

1-10% 0 (+)

Erythromycin 1-10% 0 +

Cefuroxim Bz, Kreuzallergie Penicillin > 10% >3Mo (+)

Amoxicillin Bz, 1-10% Pseudoallergie > 10% 0 ++

Amoxi.+ Clav. Bz, 1-10% Pseudoallergie > 10% >6Mo ab 4. Monat ++

Clindamycin Bs, Muskelrelaxation, > 10% 0 (+)

Co-Trim Bs, cave Leber-/ Nieren-insuffizienz / Ciclosporin 1-10% >1Mo (+)

Ciprofloxazin Bz, bes. Gramnegative, Knorpel-, Sehnenschäden 1-10% >16J* (-)

Fosfomycin Bz, 1-10% Kopfschmerzen, Asthenie, nur für Frauen <1%

>12J< 65J

(+)

Nitrofurantoin Bz, 1-10% Lungenödem >10% >6Mo --

* nicht in der Wachstumsphase einsetzen

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bei allen zu beachten: Allergien, „Pillen“-Wirksamkeit, Interaktionen, Anstieg der Transaminasen, Niereninsuffizienz.

Sicherheit durch LeitlinienZu den häufigsten Antibiotika-Indikationsbereichen (Atemwege, Harnwege) liegen evidenzbasierte Leitlinien aus Deutschland vor (AWMF, AkdÄ [14]), eine Besonderheit sind die unter Beachtung der besonderen Bedingungen der Primärversorgung erstell-ten hausärztlichen Leitlinien der DEGAM [14]. Da diese für die primärmedizinische Versorgung erstellt wurden, gelten diese auch bei der seit Einführung der Chipkarte in Deutschland möglichen direkten Inanspruchnahme der Organ-Spezialisten. (Ein Organ-Spezialist müsste ja – um prävalenzgerecht und evidenzbasiert zu behandeln – für Primärpatienten andere Leitlinien verwenden als für überwiesene Patienten).

Eine Zusammenstellung der in den aktuellen DEGAM-Leitlinien empfohlenen Antibiotika findet sich in Tabelle 4.

UmsetzbarkeitStudien im niedergelassenen Bereich ergaben einige Hinweise darauf, dass die Verordnungsweise von Medikamenten durch – oft falsche – Erwartungen geprägt ist [5].

Zehnmal mehr Rezepte, wenn Ärzte annehmen, dass der Patient ein Medika-ment erwartet [3].

Ärzte schätzen Patientenwunsch nur in 41% der Fälle richtig [10].

Ärzte mit mehr Patienten / weniger Zeit verschreiben deutlich mehr Antibiotika [11].

Ausschlaggebend für Patienten-Zufriedenheit ist ein gutes Vertrauensverhält-nis. [2].

Tabelle. 4: Empfehlung der DEGAM-Leitlinien zur Antibiotika-Auswahl [14]

Medikament Leitlinien-gerechte Dosis/Tag (<70kg)

Phar

yngi

tis /

Tons

illiti

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Otit

is m

edia

Sinu

sitis

Bron

chiti

s

Pneu

mon

ie

Pyel

o-

neph

ritis

Zyst

itis

Doxycyclin 1-2x100 mg + ++ ++

Penicillin V /G 3x1 Mega ++

Azithromycin 1x250 mg ++ ++ ++ ++

Erythromycin 3x500 mg + + ++ ++

Cefuroxim 2x250 mg ++ ++ ++

Amoxicillin 3x750 mg ++ ++ ++ ++

Amoxi.+ Clav. 3x500/ 125 mg + + **

Clindamycin 2x300 mg +

Trimethoprim* 2x150 mg * * ++

Ciprofloxazin 2x500 mg ++

Fosfomycin 1x3000 mg ++

Nitrofurantoin 2x100 mg ++

* bei Sinusitis und Pyelonephritis nur Cotrimoxazol getestet ** first-line bei >65 Jahren

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Meist hat gerechtfertigte Ablehnung des Patientenwunsches keinen negativen Effekt auf die Beurteilung der Konsultation durch den Patienten [1, 3, 9].

Aus Kanada liegen aktuelle Belege dafür vor, dass sich auch in einem bereits relativ sparsam verordnenden Bezirk durch gezielte Kampagnen auf der Basis evidenzbasierter Leitlinien deutlich nachweisbare Einsparungen von Antibiotika ergaben [13].

Fazit: Die derzeitige Diskussion über Antibiotika-Resistenzen könnte ein geeigneter Hin-tergrund für Kampagnen zur evidenzbasierten und pragmatischen Verwendung von Antibiotika auch in Deutschland sein. Zumindest bietet die risikoadaptierte Indikationsstellung eine deutliche Vereinfachung für die Praxis.

Interessenkonflikte:keine

Literatur:1 Britten, N. and O. Ukoumunne. „The influence of patients‘ hopes of receiving a prescription on doctors‘ percep-

tions and the decision to prescribe: a questionnaire survey.“ BMJ 315.7121 (1997): 1506-10. 2 Butler, C. C., et al. „Understanding the culture of prescribing: qualitative study of general practitioners‘ and

patients‘ perceptions of antibiotics for sore throats.“ BMJ 317.7159 (1998): 637-42. 3 Cockburn, J. and S. Pit. „Prescribing behaviour in clinical practice: patients‘ expectations and doctors‘ percep-

tions of patients‘ expectations--a questionnaire study.“ BMJ 315.7107 (1997): 520-23. 4 Costelloe C, Metcalfe C, Lovering A, Mant D, Hay AD. Effect of antibiotic prescribing in primary care on anti-

microbial resistance in individual patients: systematic review and meta-analysis. BMJ. 2010 May 18;340:c2096. doi: 10.1136/bmj.c2096.

5 EVA-Studie (Einflüsse auf die ärztliche Verschreibung von Antibiotika in Deutschland) Abschlussbericht an das Bundesministerium für Gesundheit - Januar 2009 https://ars.rki.de/download/2009-02-06EVA_BMGSchluss-bericht.pdf (25.03.2012)

6 GERMAP 2010 - Bericht über den Antibiotikaverbrauch und die Verbreitung von Antibiotika-resistenzen in der Human- und Veterinärmedizin in Deutschland. http://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/08_PresseInfo-thek/Germap_2010.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (25.03.2012)

7 Glaeske G, Hoffmann F, Koller D, Tholen K, Windt R. Faktencheck Gesundheit - Antibiotika-Verordnungen bei Kindern. Erstellt im Auftrag der Bertelsmann Stiftung auf Basis von Daten der BARMER GEK. Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik (ZeS). http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/bst/hs.xsl/nachrich-ten_111463.htm(25.3.12)

8 Goossens H, Ferech M, Vander Stichele R, Elseviers M; ESAC Project Group. Outpatient antibiotic use in Europe and association with resistance: a cross-national database study. Lancet. 2005 Feb 12-18;365(9459):579-87.

9 Greenhalgh, T. and P. Gill. „Pressure to prescribe.“ BMJ 315.7121 (1997): 1482-83.10 Himmel, W., E. Lippert-Urbanke, and M. M. Kochen. “Are patients more satisfied when they receive a prescripti-

on? The effect of patient expectations in general practice.” Scand J Prim.Health Care 15.3 (1997): 118-22. 11 Hutchinson, J. M. and R. N. Foley. „Method of physician remuneration and rates of antibiotic prescription.“

CMAJ 160.7 (1999): 1013-17. 12 Petersen I, Johnson AM, Islam A, Duckworth G, Livermore DM, Hayward AC. Protective effect of antibiotics

against serious complications of common respiratory tract infections: retrospective cohort study with the UK General Practice Research Database. BMJ. 2007 Nov 10;335(7627):982.

13 Weiss K, Blais R, Fortin A, Lantin S, Gaudet M. Impact of a multipronged education strategy on antibiotic prescri-bing in Quebec, Canada. Clin Infect Dis. 2011 Sep;53(5):433-9.

14 Leitlinien und Recherche: DEGAM Leitlinien: www.degam.leitlinien.de AWMF-Leitlinien: http://www.awmf.org/leitlinien.html Cochrane-Reviews: http://www.cochrane.de Fachinformationen: http://www.fachinfo.de/ www.akdae.de/ Arzneimitteltherapie/Therapieempfehlungen

Bitte beachten Sie zu diesem Thema auch den folgenden Beitrag

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Seite 10 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Die zunehmende Antibiotikaresistenz gefährdet die Wirksamkeit von An-tibiotika heute und in Zukunft

Antibiotikaresistenzen stellen in zunehmendem Maße ein ernstes Problem für die öffentliche Gesundheit in Europa dar [1, 2].

Während die Zahl der Infektionen durch antibiotikaresistente Bakterien zunimmt, sind kaum vielversprechende neue Antibiotika in der Entwicklungspipeline, so dass die Aussichten für eine wirkungsvolle antibiotische Behandlung in der Zukunft trübe sind [3, 4].

Die Zunahme von Antibiotikaresistenzen könnte eingedämmt werden durch Empfehlungen für eine begrenzte und sachgerechte Antibiotikaanwendung bei Patienten im ambulanten Bereich

Es besteht eine eindeutige Beziehung zwischen der Antibiotikaexposition und dem Auftreten von Antibiotikaresistenzen [5–8]. Der Gesamtantibiotikaver-brauch in einer Population wie auch die Art der Antibiotikaanwendung haben Einfluss auf die Resistenzentwicklung [9, 10].

Erfahrungen aus einigen europäischen Staaten zeigen, dass im Zuge einer Re-duktion der Antibiotikaverordnungen für ambulante Patienten auch die Häu-figkeit von Antibiotikaresistenzen abnahm [10–12].

Auf den ambulanten Bereich entfallen 80 bis 90 % aller Antibiotikaverordnun-gen, vorwiegend für Atemwegsinfektionen [9, 14, 15].

Es gibt Hinweise, dass Antibiotika bei vielen Atemwegsinfektionen nicht not-wendig sind [16–18], weil das Immunsystem des Patienten kompetent genug ist, um einfache Infektionen zu bekämpfen.

Bei Patienten mit bestimmten Risikofaktoren, z. B. einer schweren Exazerbation bei chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) mit erhöhter Sputumpro-duktion, ist andererseits die Verordnung von Antibiotika notwendig [19, 20].

Die unbegründete Verordnung von Antibiotika im ambulanten Bereich ist ein komplexes Phänomen, das hauptsächlich durch Faktoren wie die Fehlinterpre-tation von Symptomen, diagnostische Unsicherheit und die vermuteten Erwar-tungen des Patienten beeinflusst wird [14, 21].

Entscheidend ist die Kommunikation mit den Patienten Studien zeigen, dass die Patientenzufriedenheit im ambulanten Bereich mehr

von einer effektiven Kommunikation als vom Erhalt einer Antibiotikaverordnung abhängt [22–24] und dass die Verordnung eines Antibiotikums für eine Infek-tion der oberen Atemwege nicht die Häufigkeit von Folgebesuchen beim Arzt verringert [25].

Eine professionelle ärztliche Beratung beeinflusst die Wahrnehmung und Ein-stellung des Patienten gegenüber der Erkrankung sowie das subjektive

Alljährlich findet im November der europäische Antibiotikatag statt. Auf der Website des ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control; Internet: http://ecdc.europa.eu) findet sich eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Diskussionen beim letzten Antibiotika-tag, die auch und gerade für Niedergelassene sehr praxisrelevant ist. Wir drucken sie hier mit freundlicher Genehmigung des ECDC ab.

Antibiotikaverordnung: Kernpunkte für die ambulante Praxis

DerGastbeitrag

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Seite 11Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

Bedürfnis nach einer Antibiotikatherapie, insbesondere wenn die Patientin/der Patient Hinweise zum erwarteten Verlauf der Erkrankung (einschließlich einer realistischen Zeitangabe bis zur Genesung) und zu Möglichkeiten der Selbstbe-handlung erhält [26].

Ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte müssen nicht mehr Zeit für eine Beratung veranschlagen, die Informationen über Alternativen zur antibiotischen Therapie beinhaltet. Studien zeigen, dass dafür die gleiche durchschnittliche Beratungs-zeit benötigt und gleichzeitig ein hoher Zufriedenheitsgrad bei den Patienten aufrechterhalten wird [14, 27, 28].

Literatur:1 European Antimicrobial Resistance Surveillance System. EARSS Annual Report 2007. Bilthoven, Netherlands:

National Institute for Public Health and the Environment, 2008. 2 Cars O et al.: Meeting the challenge of antibiotic resistance. BMJ 2008;337:a1438. doi: 10.1136/bmj.a1438.3 Finch R. Innovation - drugs and diagnostics. J Antimicrob Chemother 2007;60(Suppl 1):i79-82. 4 Boucher HW et al.: Bad bugs, no drugs: no ESKAPE! An update from the Infectious Diseases Society of America.

Clin Infect Dis 2009;48(1):1-12.5 Malhotra-Kumar S et al.: Effect of azithromycin and clarithromycin therapy on pharyngeal carriage of macrolide-

resistant streptococci in healthy volunteers: a randomised, double-blind, placebo-controlled study. Lancet 2007;369(9560):482-90.

6 Donnan PT et al.: Presence of bacteriuria caused by trimethoprim resistant bacteria in patients prescribed antibi-otics: multilevel model with practice and individual patient data. BMJ 2004;328(7451):1297-301.

7 Hillier S et al.: Prior antibiotics and risk of antibiotic-resistant community-acquired urinary tract infection: a case-control study. J Antimicrob Chemother 2007;60(1):92-9.

8 London N et al.: Effect of antibiotic therapy on the antibiotic resistance of faecal Escherichia coli in patients attending general practitioners. J Antimicrob Chemother 1994;34(2):239-46.

9 Goossens H et al.; ESAC Project Group. Outpatient antibiotic use in Europe and association with resistance: a cross-national database study. Lancet 2005;365(9459):579-87.

10 Guillemot D et al.: Low dosage and long treatment duration of beta-lactam: risk factors for carriage of penicillin-resistant Streptococcus pneumoniae. JAMA 1998;279(5):365-70.

11 Butler CC et al.: Containing antibiotic resistance: decreased antibiotic-resistant coliform urinary tract infections with reduction in antibiotic prescribing by general practices. Br J Gen Pract 2007;57(543):785-92.

12 Goossens H et al.: Achievements of the Belgian Antibiotic Policy Coordination Committee (BAPCOC). Euro Surveill 2008;13(46):pii=19036.

13 Sabuncu E et al.: Significant reduction of antibiotic use in the community after a nationwide campaign in France, 2002-2007. PLoS Med 2009;6(6):e1000084.

14 Cals JWL et al.: Effect of point of care testing for C reactive protein and training in communication skills on antibiotic use in lower respiratory tract infections: cluster randomised trial.BMJ 2009 May 5;338:b1374. doi: 10.1136/bmj.b1374.

15 Wise R et al.: Antimicrobial resistance. Is a major threat to public health. BMJ 1998;317(7159):609-10. 16 Butler CC et al.: Variation in antibiotic prescribing and its impact on recovery in patients with acute cough in

primary care: prospective study in 13 countries. BMJ 2009;338:b2242.17 Smucny J et al.: Antibiotics for acute bronchitis. Cochrane Database Syst Rev 2004;(4):CD000245. 18 Spurling GK et al.: Delayed antibiotics for respiratory infections. Cochrane Database Syst Rev

2007;(3):CD004417.19 Puhan MA et al.: Exacerbations of chronic obstructive pulmonary disease: when are antibiotics indicated? A

systematic review. Respir Res 2007 Apr 4;8:30.20 Puhan MA et al.: Where is the supporting evidence for treating mild to moderate chronic obstructive pulmonary

disease exacerbations with antibiotics? A systematic review. BMC Med. 2008 Oct 10;6:28.21 Akkerman AE et al.: Determinants of antibiotic overprescribing in respiratory tract infections in general practice.

J Antimicrob Chemother 2005;56(5):930-6.22 Butler CC et al.: Understanding the culture of prescribing: qualitative study of general practitioners‘ and pati-

ents‘ perceptions of antibiotics for sore throats. BMJ 1998;317(7159):637-42. 23 Kallestrup P et al.: Parents‘ beliefs and expectations when presenting with a febrile child at an out-of-hours

general practice clinic. Br J Gen Pract 2003;53(486):43-4.24 Macfarlane J et al.: Influence of patients’ expectations on antibiotic management of acute lower respiratory

tract illness in general practice: questionnaire stu-dy. BMJ 1997;315(7117):1211-4.25 Li J et al.: Antimicrobial prescribing for upper respiratory infections and its effect on return visits. Fam Med

2009;41(3):182-7.26 Rutten G et al.: Patient education about cough: effect on the consulting behaviour of general practice patients.

Br J Gen Pract 1991; 41(348):289-92. 27 Cals JWL et al.: Evidence based management of acute bronchitis; sustained competence of enhanced communi-

cation skills acquisition in general practice. Patient Educ Couns 2007;68(3):270-8. 28 Welschen I et al.: Effectiveness of a multiple inter-vention to reduce antibiotic prescribing for respiratory tract

symptoms in primary care: randomised controlled trial. BMJ 2004; 329(7463):431-3.

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Seite 12 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Neuroleptika für demente Heimpatienten

Möglichst vermeiden, auf keinen Fall LangzeittherapieProf. Dr. med. Johannes Pantel

Das ProblemSedierende Medikamente aus der Gruppe der Neuroleptika gehören auch in deut-schen Altenpflegeheimen zu den am meis-ten verordneten Medikamenten [2]. Dies ist am ehesten der Tatsache geschuldet, dass ein großer Teil von Pflegeheimbewohnern an Demenzerkrankungen leidet, die insbe-sondere im fortgeschrittenen Stadium mit psychopathologischen Symptomen und Ver-haltensauffälligkeiten assoziiert sind.

Hierbei sieht sich der behandelnde Arzt häu-fig vor einem Dilemma: Einerseits empfehlen die aktuellen Praxisleitlinien den Einsatz von Psychopharmaka gegen Verhaltenssympto-me nur in zweiter Linie [3]. Vor deren Einsatz sollten alle medizinischen, personen- oder umgebungsbezogenen Bedingungsfaktoren identifiziert und ggf. modifiziert worden sein.

Demnach ist der Einsatz von Psychophar-maka zur Reduktion von Verhaltensauffäl-ligkeiten nur dann indiziert, wenn psycho-soziale oder sonstige Interventionen (z.B. pflegerische Zuwendung) nicht effektiv oder nicht ausreichend sind [3]. Andererseits wird die Beherzigung dieser Empfehlung durch die institutionellen Rahmenbedingungen in vielen Pflegeheimen, zu denen gewiss auch die Zahl und Qualifikation der Mitarbeiter zu rechnen ist, deutlich erschwert. In von Zeit- und Handlungsdruck geprägten bisweilen auch eskalierten Situationen werden dem agitierten dementen Heimbewohner dann häufig vorschnell Neuroleptika verordnet. Sistiert das auffällige Verhalten unter dieser Therapie, wird die Akut- dann schnell zur Dauerbehandlung: Wer traut sich schon,

Für Sie gelesen

Nicht unproblematisch: In deutschen Altenpflegeheimen gehören sedierende Neuroleptika zu den am meisten verord-neten Medikamenten.

Foto: PT DLR/BMBF

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Seite 13Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

die Neuroleptika wieder abzusetzen? Zum Nachteil der Patienten werden dabei regelmäßig zwei Fakten übersehen:

Die meisten Neuroleptika besitzen keine Indikation für die Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz und die Evidenz für ihre Wirksamkeit in diesem Indikationsgebiet ist tatsächlich sehr gering [4,5]. Konkret bedeutet dies, dass die erwünschten Effekte einer Behandlung in der Praxis meistens überschätzt werden.

Dagegen sind die Risiken für die zumeist hochbetagten und multimorbiden Patienten erheblich. Dies gilt insbesondere für eine längerfristige Behandlung. Die sowohl aus retrospektiven wie aus prospektiven z.T. randomisierten und kontrollierten Studien zu diesem Thema verfügbare Evidenz lautet zugespitzt formuliert: Mit Neuroleptika behandelte Demenzpatienten sterben früher! In einigen Studien erwies sich das Mortalitätsrisiko doppelt so hoch als bei unbe-handelten Patienten mit ansonsten vergleichbarem Risikoprofil [5].

Bislang wurde von einem Gruppeneffekt ausgegangen. Vergleichende Studien zu differenziellen Risiken einzelner Substanzen bzw. Substanzklassen aus der Gruppe der Neuroleptika liegen bisher nur vereinzelt vor.

Die StudieVor diesem Hintergrund untersuchten Huybrechts et al. in einer großen retrospekti-ven Untersuchung das Mortalitätsrisiko bei 75.445 US-amerikanischen Altenpflege-heimbewohnern (> 65 Jahre) unter einer kürzlich eingeleiteten Behandlung mit dem typischen Neuroleptikum Haloperidol sowie den sogenannten Atypika Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon und Ziprasidon [1].

Hauptzielgröße war die Sterblichkeit innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen nach erstmaligem Ansetzen des Medikamentes. Eingeschlossen wurden ledig-lich Patienten mit einer neuroleptischen Monotherapie. Ausgeschlossen wurden Patienten mit einer Krebsdiagnose und solche, die das Neuroleptikum aufgrund einer psychiatrischen Indikation (z.B. Schizophrenie) erhielten. Letzteres Kriterium sollte sicherstellen, dass die Bewohner das Neuroleptikum in erster Linie aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer Demenzerkrankung erhielten. Zur Verfügung standen mehrere umfangreiche Routinedatensätze, u.a. der staatlichen Krankenversicherung Medicaid und Medicare sowie des National Death Index. Bei der Analyse wurde das bei Altenpflegeheimbewohnern am häufigsten verschriebene Risperidon als Referenzsubstanz herangezogen. Potenzielle Verzerrungen durch diverse Störgrößen (Alter, Geschlecht etc.) wurden durch statistische Verfahren kontrolliert.

Die folgenden Hauptergebnisse wurden ermittelt: Von den 75.445 mit Neuroleptika behandelten Bewohnern starben 6.598 in-

nerhalb von 180 Tagen. In 49% der Fälle war die Todesursache Herz-Kreislauf-assoziiert, in 15% bzw. 10% der Fälle wurde eine respiratorische bzw. zerebrale Todesursache angegeben.

Verglichen mit Risperidon-Nutzern hatten Haloperidol-Nutzer ein doppelt so hohes Risiko, innerhalb von 180 Tagen zu versterben. Dagegen besaßen Nutzer von Quetiapin gegenüber Risperidon ein geringfügig niedrigeres Mortalitätsri-siko (Hazard Ratio 0.81; 95%-Konfidenz-Intervall 0.75-0.88). Für die übrigen erfassten Substanzen gab es keine klinisch bedeutsamen Unterschiede im Ver-gleich zu Risperidon.

Die Effekte auf das Morbiditätsrisiko waren am stärksten kurz nach dem Einleiten der Neuroleptika-Behandlung zu beobachten und waren in Bezug auf alle

Die meisten Neuroleptika haben für Demenzsymptome überhaupt keine Zulassung

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Seite 14 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

erfassten Todesursachen gleichermaßen nachzuweisen. Für alle Substanzen außer Quetiapin fand sich eine Dosis-Wirkungsbeziehung

in Bezug auf die Mortalität: Je höher die Dosis, desto größer die Wahrschein-lichkeit, innerhalb des Beobachtungszeitraums zu versterben!

Unkritische Dauerbehandlung unbedingt vermeiden! Obwohl in der referierten Studie keine Neuroleptika-freie Kontrollgruppe mit

einbezogen wurde, unterstreichen die Ergebnisse doch das allgemeine Risiko des Einsatzes dieser Medikamente in der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten bei hochbetagten, multimorbiden Altenheimpatienten. Dies weist gleichzeitig auf die Notwendigkeit hin, bei behandlungsbedürftiger Unruhe, Agitation bzw. Bewegungsdrang vor dem Einsatz von Neuroleptika den Einsatz von alternativen Interventionen sorgfältig zu prüfen und auszuschöpfen.

Zu den nachweislich wirksamen Alternativen zählen neben psychosozialen und verhaltensbezogenen Maßnahmen [6] auch die Kontrolle wichtiger medizini-scher Kofaktoren bzw. Auslöser für Agitation und Verwirrtheit (Delir? Medika-mentenunverträglichkeit? Schmerzen? etc. [7]).

Wenn der Einsatz eines Neuroleptikums unumgänglich erscheint, sollte Halope-ridol möglichst vermieden werden. Allerdings lässt sich aus den Ergebnissen der Studie keineswegs ableiten, dass der Einsatz von atypischen Neuroleptika bei Demenz generell sicherer wäre als die Gabe von typischen Neuroleptika. Der Hinweis auf ein geringfügig niedrigeres Schädigungspotential von Quetiapin im Vergleich zu Risperidon ist zwar interessant, bedarf aber einer Bestätigung in zukünftigen Studien.

Bei Einsatz eines Neuroleptikums sollte stets eine möglichst niedrige Dosis ge-wählt werden. Die Maßgabe „Start low, go slow!“ gilt hier in besonderer Weise.

Die Gabe eines Neuroleptikums sollte auf einem möglichst kurzen Zeitraum beschränkt werden. Eine unkritische Dauerbehandlung ist selbst bei scheinbar gegebener Verträglichkeit unbedingt zu vermeiden.

Eine sorgfältige und regelmäßige Überwachung der Patienten (klinisch, EKG, Labor) ist von vitaler Bedeutung. Dies gilt insbesondere in der Initialphase einer Behandlung.

Interessenkonflikte:keine

Literatur: 1 Huybrechts KF: Differential risk of death in older residents in nursing homes prescribed specific antipsychotic

drugs: population based cohort study, BMJ 2012;344:e977 (Published 23 February 2012) 2 Pantel J, Bockenheimer-Lucius G, Ebsen I, Müller R, Hustedt P, Diehm A (2006): Psychopharmaka im Altenpfle-

geheim – Eine interdisziplinäre Untersuchung unter Berücksichtigung gerontopsychiatrischer, ethischer und juristischer Aspekte. Frankfurter Schriften zur Gesundheitspolitik und zum Gesundheitsrecht (Hrsg.: Ebsen I, Eisen R), Bd. 3. Lang Verlag, Frankfurt. ISBN3-631-55095-2

3 DGPPN, DGN (2010): Diagnose- und Behandlungsleitlinie Demenz, - Interdisziplinäre S3 Praxisleitlinie. Springer Verlag

4 Sultzer DL, Davis SM, Tariot PN, Dagermann KS, Lebowitz BD, Lyketsos CG, Rosenheck RA, Hsiao JK, Liebermann JA, Schneider LS, CATIE-AD Study group (2008): Clinical symptom response to atypical antipsychotic medica-tions in Alzheimer’s disease: phase 1 outcomes from the CATIE-AD effetiveness trial. American Journal of Psychiatry 165: 844-854

5 Ballard C, Hanney ML, Theodoulou M, Douglas S, McShane R, Kossakowski K, Gill R, Juszcak E, Yu LM, Jacoby R; DART-AD investigators (2009): The dementia antipsychotic withdrawal trial (DART-AD): long term follow-up of randomized placebo-controlled trial. Lancet Neurology 8: 151-157.

6 Haberstroh J, Pantel J (2011): Demenz psychosozial behandeln. Heidelberg: AKA Verlag. ISBN 978-3-89838-638-8

7 Pantel J, Grell A, Haberstroh J (2010). Psychopharmakaverordnung in Heimen. Ein Handlungsmodell zur Verbes-serung der Versorgung und seine Evaluation unter Praxisbedingungen. Psychopharmakotherapie PPP 17: 76-84.

Falls tatsächlich unumgänglich, ist regelmäßige

Überwachung nötig – auch mit EKG

und Labor!

Immer prüfen: Gibt es

einen Auslöser für Agitation und

Verwirrtheit?

Bedeutung

für unsere

Praxis

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Seite 15Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

SSRI bei dementen Senioren mit Depression – vermehrte StürzeDr. med. Klaus Ehrenthal

Kürzlich erschien im British Journal of Clinical Pharmacology eine Untersuchung zur Häufung von Stürzen bei dementen Senioren (Altersdurchschnitt 82 Jahre, Männer und Frauen) in einem Alten- und Pflegeheim, die mit Antidepressiva – meist SSRI – gegen Depression behandelt wurden [1].

Durch die Arbeitsgruppe der Geriaterin C.S. Sterke von der Geriatrischen Ab-teilung der Medizinischen Klinik der Erasmus-Universität Rotterdam, Niederlande, wurde eine über zwei Jahre gehende retrospektive Untersuchung in einem großen psychiatrisch-geriatrischen Pflegeheim durchgeführt, um bei Dementen Ursachen für die beobachteten gehäuften Sturzereignisse aufzudecken. Von insgesamt 443 Heimpatienten erfüllten 248 Studienteilnehmer die Einschlusskriterien. Die Daten-sammlung kam auf 85.074 Personentage.

StudieDie Patienten wurden nach den Daten aus den Krankenunterlagen ausgewählt. Voraussetzung war, dass sie vor mindestens sechs Wochen aufgenommen worden waren, selbständig mit oder ohne Gehhilfe gehen konnten und dass deren vollstän-digen medizinischen Daten, Medikationen, Pflegeunterlagen usw. hinzugezogen werden konnten. Beendigung der Datensammlung erfolgte bei Immobilität, Tod oder Entlassung.

Die Demenz wurde bei allen Patienten nach den Kriterien des DSM-IV-TR diag-nostiziert [2].

Der Schweregrad der Demenz war bei den ausgewählten Studienpatienten nach Stufe 5 oder 6 auf der Global Deterioration Scale [3] befundet worden. Die Diag-nostik fußte auf den regelmäßigen multidisziplinären Team-Beurteilungen durch die Stationspfleger und die zuständigen Pflegeärzte („nursing home physicians“).

Für jeden Patient wurde während der gesamten Studiendauer die tägliche Medika-mentengabe von SSRI und anderen für mögliche Stürze ursächlichen Arzneistoffen genau aufgelistet (Antipsychotika, Anxiolytika, Hypnotika oder Sedativa, andere Antidepressiva, Antidiabetika, kardiovaskuläre Medikamente, Betablocker, Augen-tropfen, Analgetika, Anticholinergika, Antiasthmatika und Antivertiginosa). Sie wur-den nach dem „Anatomical Therapeutic Chemical classification system“ (ATC [4]) umgerechnet in „defined daily dose“ (DDD ) entsprechend der durchschnittlichen WHO-Dosierung für einen Erwachsenen. So wurden zum Beispiel 20 mg Citalopram mit 1,0 DDD, 10 mg entsprechend mit 0,5 DDD bezeichnet.

Eventuelle Zytochrom-P-450-Interaktionen durch (CYP 1A2, 2C9, 2C19 und 2D6)-Inhibitoren (unterschieden in starke, moderate und schwache Inhibitoren), die eventuell zur Wirkungsverlängerung von SSRI geführt haben könnten, wurden durch die Hinzunahme der Interaktionstabellen von Flockhart [5] untersucht und berücksichtigt. Es fanden sich keine relevanten Zytochrom-P-450-Interaktionen bei den untersuchten Patienten, die SSRI erhalten hatten.

ErgebnisseDurchschnittlich verbrachten die Probanden 350 Tage in der Untersuchung. Insge-samt wurden 85.074 Personentage untersucht. Es ereigneten sich bei 152 (61,5%) der 248 Studienteilnehmern insgesamt 683 genau dokumentierte Stürze. Es kam zu einer durchschnittlichen Zahl von 2,9 Stürzen pro Person pro Jahr. 38 (15,4%) Patienten stürzten während des Untersuchungszeitraums nur einmal, 114

Für Sie gelesen

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Seite 16 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

(46,2%) stürzten mehrfach.Bei 220 (32,2%) Studienteilnehmern kam es zu Sturzverletzungen. Eine Person

verstarb dadurch. 21 (3,1%) der Stürze führten zu Frakturen, unter ihnen waren 10 (1,5%) Schenkelhalsfrakturen, 11 (1,6%) von ihnen waren sonstige Frakturen.

198 (30,0%) der Stürze führten zu Verletzungen ohne Frakturen wie Schürfungen, offene Wunden, Verstauchungen, Quetschungen und Anschwellungen.

Während insgesamt 13.729 (16,1%) Personentagen aus den insgesamt 85.074 un-tersuchten Personentagen war ein Antidepressivum verordnet worden. Das betraf an 11.105 (13,1%) Personentagen ein SSRI mit der mittleren Dosis von 0,95 DDD.

An 6.969 Personentagen war Citalopram (mit einer mittleren DDD von 0,96), an 4.199 Personentagen Paroxetin (mittlere DDD 0,89), an 116 Personentagen Sert-ralin, (mittlere DDD 1,00) und an 43 Personentagen war Fluvoxamin (mittlere DDD 0,40) gegeben worden.

Trizyklische Antidepressiva waren seltener angewendet worden: an 75 Personen-tagen war Amitriptylin (mittlere DDD 0,20) verabreicht worden, an 1.066 Personen-tagen Nortriptylin (mittlere DDD 0,62). Außerdem wurde an 847 Personentagen Trazodon (mittlere DDD 0,37) und an 892 Personentagen Mirtazapin (mittlere DDD 0,80) verabreicht.

Das Sturzrisiko mit Verletzungsfolgen ohne zusätzliche Medikamentengaben nahm nach der Durchführung einer Multivarianzanalyse mit dem Alter geringfügig zu: Hazard Ratio (HR) 1,05, 95%-Konfidenzintervall (KI) 1,01-1,09.

Durch zusätzliche Medikamentengabe steigerte sich das Sturzrisiko mit Verlet-zungsfolgen bei Hypnotika und Sedativa (HR 2,55, 95%-KI 1,03-6,30) und bei Antidepressiva (HR 2.97, 95%-KI 1,95-4,53). Subgruppenanalysen zu den einzelnen Antidepressiva ergaben, dass der Dosisbezug lediglich bei der Anwendung von SSRI signifikant war (HR 2,98, 95%-KI 1,94-4,75).

FallbeispielDie Autoren berechneten das absolute Risiko, einen Sturz mit Verletzungsfolgen zu erleiden, für eine 85-jährige Frau, die kein SSRI, kein Hypnotikum oder Sedativum einnahm, mit 0,12%. Durch Hinzugaben von 0,25 DDD eines SSRI steigerte sich das absolute Risiko um 31%, bei 0,5 DDD eines SSRI um 73% und bei 1,0 DDD (dies entsprach der häufigsten durchschnittlichen Dosierung bei 8.438 Personentagen in der Studie) eines hinzugenommenen SSRI steigerte sich das absolute Risiko, einen Sturz mit Verletzungsfolge zu erleiden, um 198%.

Weitere Zugabe zu 1,0 DDD eines SSRI plus 0,5 DDD eines Hypnotikums oder Sedativums erhöhte bei dieser 85-jährigen Frau das absolute Risiko mit Verletzungs-folgen um 373%. Das entspricht einer erheblichen Risikozunahme gegenüber einer gleichaltrigen 85-jährigen Frau, die ohne Medikamente auskam.

Wenn überhaupt, dann nur kleine SSRI-Dosen! Demenzpatienten können nicht selten Depressionen entwickeln. Die meistens propagierte Therapie mit SSRI sollte möglichst durch alle bekannten

nichtmedikamentösen Maßnahmen (persönliche und individuelle Zuwendung, Spätmahlzeit, ggf. auch nachts, gezielte Beschäftigung einschließlich soweit möglich leichte Formen von Gymnastik, Vermeiden von sinnentleerter Fernseh-Dauerberieselung, ausreichende tageszeitgerechte Raumbeleuchtung usw.) ersetzt oder wenigstens aufgeschoben werden [6,7].

Hierzu zeigt die vorliegende Sturzanalyse, dass eine SSRI-Behandlung bei de-menten Senioren überraschend häufig je nach Dosierung das Risiko vermehrt, einen Sturz mit Verletzungsfolgen zu erleiden.

Das Sturzrisiko, das mit dem Alter naturgemäß ansteigt, steigt auch zu-

Bedeutung

für unsere

Praxis

Bei SSRI steigt das Risiko mit der Dosis

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Seite 17Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

sätzlich bei einer Behandlung mit SSRI dosisabhängig. Dabei erhöht schon die kleinste untersuchte Dosis eines SSRI (0,25 DDD, also z.B. 5 mg Citalopram) das absolute Sturzrisiko mit Verletzungsfolge bereits um 31%. Bei einer SSRI-Dosis von 1,0 DDD (entspricht z.B. 20 mg Citalopram) steigt das Sturzrisiko mit Verletzungsfolgen um das Mehrfache um 198%.

Also sollten bei depressiven Dementen grundsätzlich, wenn überhaupt, nur kleinste Dosierungen von SSRI gewählt werden.

Das Sturzrisiko mit Verletzungsfolgen steigert sich noch erheblicher durch eine Kombination eines SSRI mit 0,5 DDD eines Hypnotikums oder Sedativums um 373%. Deswegen sind solche Kombinationen mit Hypnotika oder Sedativa bei Dementen möglichst zu vermeiden!

Die derzeitige Studienlage lässt erkennen, dass höhere Dosen von Antidepressiva keinen besseren Wirkungsgrad aufweisen [8].

Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2009 hat nur geringe Hinweise dafür ge-geben, dass die Behandlung mit SSRI bei dementen Patienten mit Depression überhaupt eine effektive Maßnahme darstellt [9].

Interessenkonflikte:keine

Literatur:1 Sterke, CS, Ziere G, van Beek EF, Looman CWN, van der Cammen TJM: Dose-response relationship between

Selective Serotonin Reuptake Inhibitors and Injurious Falls: A study in Nursing Home Residents with Dementia. BJCP (2012); DOI:10.1111/j.1365-2125.2011.04124.x

2 American Psychiatric Association: Diagnostic and statistical manual of mental disorders. Fourth edition (DSM-IV-TR). Wshington, DC: American Psychiatric Association, 2000

3 Reisberg B, Ferris SH, de Leon MJ, Crook T: The Global Deterioration Scale for assessment of primary degenera-tive dementia. Am J Psychiatry 1982;139:1136-1139

4 WHO Collaborating Centre for Drug Statistics Methodology: Guidelines for ATC classification and DDD assign-ment. http://www.whocc.no/atc_ddd_index. (mit 2x Unterstrich), (Assessed August 20, 2008)

5 Flockhart DA. Drug Interactions: Cytochrome P450 Drug Interaction Table. Indiana University School of Medicine 2007 http://medicine.iupui.edu/clinpharm/ddis/table.aspx. (Accessed 21-04-2011)

6 Ehrenthal K: Was bringt eine nicht-medikamentöse Behandlung bei der Alzheimer-Demenz? KVH aktuell Phar-makotherapie 2009;14(3):4-6

7 Zu nichmedikamentösen Behandlungsversuchen s.a. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits-wesen (IQWIG): Nichtmedikamentöse Behandlung der Alzheimer Demenz. IQWIG-Bericht Nr 41, Version 1.0 vom 13.01.2009 www.iqwig.de Mail: [email protected]

8 Hansen RA, Moore CG, Dusetzina SB, Leinwand BI, Gartlehner G, Gaynes BN: Controlling for drug dose in systematic review and meta-analysis: a case study of the effect of antidepressant dose. Med Decis Making 2009;29:91-103

9 Bains J, Birks JS, Dening TR: The efficacy of antidepressants in the treatment of depression in dementia. Cochrane Database Syst Rev 2009(4):CD003944

Medikamente gegen Unruhe bei Senioren

Wie gehen Sie mit solchen Wünschen um?Liebe Kollegen,es ist eine häufige Anforderung aus dem Pflegebereich an die Hausärzte: Bei unruhigen oder gar deliranten Patienten zu Hause oder in Heimen soll die Unruhe mit Medikamenten bekämpft werden. Zwei Artikel in diesem Heft zeigen, dass sowohl Neuroleptika wie auch Antidepressiva keinesfalls der Königsweg sind. Aber was können wir im realen Leben in solchen Fällen tun? Das Problem ist so häufig in der hausärztlichen Praxis, dass wir Sie bitten, über Ihre Erfahrungen und persönlichen Strategien zu berichten.

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Seite 18 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Kürzere Lebenserwartung, weil ärztliche Information nicht verstanden wurde?Dr. med. Klaus Ehrenthal

In einer longitudinalen Kohortenstudie untersuchten Bostock und Steptoe [1] aus London im Rahmen einer schon seit 2002 laufenden Studie in England (The English Longitudinal Study of Ageing [2]) mittels einer repräsentativen Stichprobe in einem zweiten Durchgang 7.857 über 50-jährige Patienten mit dem Ziel, Altersprozesse und Risiken für Erkrankungen im Alter zu erforschen.

In den USA hatten zwei Studien an älteren Personen gezeigt, dass eine verminderte Verständnisleistung für gesundheitliche Probleme dort mit einer erhöhten Mortalität einherging [3,4]. Erklärt wird dies einerseits durch eine altersbedingte Verschlechte-rung kognitiver und Gedächtnis-bezogener Hirnleistungen, andererseits aber auch durch Bildungsmängel und soziale Benachteiligung. Aus beiden Gründen kann es zu mangelndem Gesundheitsbewusstsein und fehlendem Verständnis für gesund-heitliche Gefahren und damit zu einem verschlechterten Selbstschutz kommen.

Die WHO und auch die US-amerikanischen Gesundheitsbehörden haben, da in vielen Gesundheitsvorsorgesystemen der Selbstschutz zunehmend in den Fokus der Gesundheitspolitiker gerückt ist, hierin einen bedeutenden Faktor der Bevölkerungs-gesundheit erkannt [5,6].

StudieAus diesen Gründen war 2002 die „English Longitudinal Study of Ageing“ aufgelegt worden. Sie umfasste ursprünglich 12.099 Teilnehmer, die mindestens 50 Jahre alt waren und die bereits zuvor (1998, 1999, 2001) an einem jährlichen staatlichen Gesundheitssurvey nach Zufallsauslese teilgenommen hatten.

Aus diesem Patientenpool wurde (2004 und 2005) mit 7.857 geeigneten Teilneh-mern eine zweite randomisierte Kohorte für die vorliegende Studie [1] gebildet, um deren Fähigkeit zu testen, medizinische Begriffe und Empfehlungen zu verstehen.

Die Teilnehmer wurden nach einer kurzen Aufnahmeuntersuchung und danach in etwa zweijährigen Abständen mit Angaben zur sozialen, ethnischen und bil-dungsbezogenen Situation befragt. Spätestens nach 5,3 Jahren (Ende im Oktober 2009) wurde, beginnend ab 12 Monaten nach Studienbeginn, die Mortalität dieser Kohorte im Verhältnis zu ihrer Verständnisfähigkeit medizinischer Zusammenhänge ermittelt und dargestellt.

Zur Ermittlung der medizinischen Verständnisfähigkeit wurde den Teilnehmern ein kurzer Auszug aus der Fachinformation zu Acetylsalicylsäure zum Lesen gege-ben und danach mit 4 einfachen Fragen das inhaltliche Verständnis der Teilnehmer abgefragt.

Zusätzlich wurde die Sterberate in verschiedenen Altersgruppen ermittelt.

Ergebnisse :Von den vier einfachen, stets gleichen Fragen konnten

67,2% der Probanden alle Fragen richtig beantworten (=höchste Verständnis-gruppe).

20,3% konnten nur 3 Fragen richtig beantworten (=mittlere Verständnisgruppe). 12,5% machten 2 oder mehr Beantwortungsfehler (=niedrigste Verständnis-

gruppe).Während der Studiendauer verstarben nach maximal 5,3 Jahren bis Oktober 2009 von den insgesamt 7.857 Teilnehmern der Studie 621 Probanden, davon

157 (16%) aus der niedrigsten Verständnisgruppe,

Für Sie gelesen

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Seite 19Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

143 (9,0%) aus der mittleren Verständnisgruppe und 321 (6,1%) aus der höchsten Verständnisgruppe.

Naturgemäß nahm die Sterberate generell mit dem Alter zu, jedoch über-proportional bei der niedrigsten Verständnisstufe.

Nach Einordnung der Fälle nach persönlichen Merkmalen, sozioökonomischer Situ-ation, Gesundheitszustand und allgemeinem Gesundheitsverhalten hatte sich das allgemeine Sterberisiko (Hazard Ratio (HR)) also wie folgt dargestellt:

niedrigste Verständnisgruppe: HR:1,40 (95%-Konfid.Interv.(KI):1,15-1,72), verglichen mit den Teilnehmern der höchstem Verständnisgruppe,

mittlere Verständnisgruppe: HR:1,15 (95%-KI 0,94-1,4), verglichen mit den Teilnehmern der höchstem Verständnisgruppe.

Daraus ergibt sich, dass etwa ein Drittel der älteren Patienten über 50 Jahren in England ähnlich wie in den USA Probleme hatte beim Verständnis und Umsetzen schriftlicher Gesundheitsinformationen, was eine erhöhte Mortalität nach sich zog. Sie sollten eine besondere Zielgruppe für eine bessere gesundheitliche Aufklärung sein.

Beim kleinsten Zweifel nachhaken: Hat der Patient Sie wirklich verstanden?

In der hausärztlichen Praxis besteht ein häufiges, vom Arzt sicherlich oft ver-kanntes Verständnisproblem: der höfliche Patient erscheint nett und entgegen-kommend, verschweigt aber dabei, dass er den Sinn der ärztlichen Erklärungen nicht verstanden hat. Er traut sich in der Regel nicht, das zuzugeben und nach-zufragen, zumal er davon ausgeht, dass der Arzt ja wissen müsse, wofür seine Verordnungen gemeint sind.

Hier kann sich der Hausarzt nicht geduldig genug um Aufklärung zur Sinnhaftig-keit einer nichtmedikamentösen oder medikamentösen Therapie engagieren. Er sollte sich dazu besonders um die Verbesserung seiner Kommunikationstechnik bemühen.

Dazu helfen die berühmten Sätze zur Kommunikation: „Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht einverstanden, einverstanden ist nicht umgesetzt“ (s.a. Schulz von Thun [7]).

Je nach persönlichem Verständnisgrad muss den individuellen Schwierigkeiten der Kommunikation mit dem Patienten besonders begegnet werden.

„Wer fragt, der führt“ – der Arzt sollte hinterfragen, was der Patient verstanden hat. Der wird in der Regel nicht selber tätig, um nachzufragen.

Beratungen in Apotheken könnten dabei einen nützlichen Beitrag leisten. Dort hört der Patient die Hinweise ein zweites Mal und mit anderen Worten. Die Zusammenarbeit mit dem Apotheker sollte vom Arzt stets unterstützt werden.

Hinweise aus einer Studie aus Nottingham, England, an 72 hausärztlichen, all-gemeinmedizinischen Praxen mit insgesamt 480.942 Patienten über 6 Monate zeigten, dass durch eine enge Kooperation per Computer mit Apothekern da-rüber hinaus eine mögliche Fehlerrate bei ärztlichen Rezepturen oder vermeid-bare Arzneimittelnebenwirkungen (Interaktionen, Unverträglichkeiten usw.) aussortiert oder rechtzeitig erkannt werden können [8].

Interessenkonflikte:keine

Literatur:1 Bostock S, Steptoe A: Association between low functional health literacy and mortality in older adults: longitudi-

nal cohort study. BMJ 2012;344:e1602 doi: 10.113/bmj.e1602 (Published 16 March 2012)2 Marmot M, Banks JA, Blundell R, et al.: Health, wealth, and lifestyles of the older population in England:

Bedeutung

für unsere

Praxis

Ein Drittel der Patienten versteht nicht alles, was ihnen der Arzt sagt – und entwickelt eine höhere Mortalität.

Praxis-Tipp

Braucht der Patient mehrere Medikamente, sollte er zumindest einen atuellen schriftlichen Medikationsplan erhalten.

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Seite 20 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Prävention von Dekubitalgeschwüren bei lang liegenden RisikopatientenDr. med. Klaus Ehrenthal

Patienten mit schlechtem Gesundheitszustand und langen Liegezeiten entwickeln besonders im Alter häufig Dekubitalgeschwüre, die oft nicht zu vermeiden und dann häufig schlecht zu behandeln sind. Sie können die Lebenserwartung verkürzen. Ihre Behandlung ist in der Regel sehr kostenintensiv und erfordert einen erhöhten Pflegeaufwand.

In einer Untersuchung aus Ontario, Kanada, wurden hierzu in einer Studie für das dortige Gesundheitsministerium verschiedene Pflegemaßnahmen zu vier ver-schiedenen Vorgehensweisen von Pham et al. analysiert [1]. Das Ziel war, damit zu evidenzbasierten Empfehlungen mit einer Kosten-Nutzen-Berechnung für die Prävention von Dekubitus bei langdauernder Liegebehandlung und schlechtem Gesundheitszustand zu kommen.

Vorgehensweise bei der StudieEs wurden von den Autoren alle Bewohner aus 89 Langzeit-Pflegeeinrichtungen im Bundesstaat Ontario aus einer Gesamtzahl von 613 Pflegeeinrichtungen ausgewählt, die an einer ersten standardisierten Aufnahmebegutachtung zur Pflegeplanung vom Mai 2004 bis November 2007 teilgenommen hatten. Hierbei wurden körperliche Funktionen (Mobilität), Kognition, Ernährungszustand, Zustand der Hautgesundheit und eine eventuell bestehende Inkontinenz beurteilt. Diese Beurteilung wurde min-destens einmal wiederholt, bei Veränderungen des Gesundheitszustandes alle drei Monate. Diese Kohorte bestand aus 18.325 Pflegepatienten von ungefähr 92.000 Heimbewohnern insgesamt, deren Basisgruppe ein mittleres Alter von 83 Jahren hatte mit einer mittleren Lebenserwartung von 3,8 Jahren.

Die Häufigkeit des Übergangs von Druckulzera im Stadium 2 (teilweiser Haut-verlust wie bei einer Abschürfung, Blasenbildung mit einem flachen Hautdefekt) zum Stadium 4 (Verlust der gesamten Hautschichten mit sichtbaren Muskeln oder Knochen darunter) betrug 2,6 %, ähnlich, wie das auch in US-amerikanischen Studien beobachtet worden war [2,3]. Die Dekubitusbeurteilung erfolgte nach der Klassifikation des National Pressure Ulcer Advisatory Panel in 4 Stufen [4].

In der Therapie-Studie wurden 4 verschiedene Maßnahmen in einzeln gebildeten Kohorten verglichen und sowohl der medizinische Nutzen als auch die dabei ent-standenen Kosten ermittelt. Dazu wurden zur Darstellung von Kosten und Nutzen der angewandten Maßnahmen die „QALYs“ (Quality Adjusted Life Years) – eine in den USA und Kanada übliche Kennzahl für ein „qualitätskorrigiertes Lebensjahr“ – der einzelnen Maßnahmen errechnet für:

Modifizierter Nachdruck aus

Arzneiverordnung in der Praxis Bd 39, Heft 3, Mai 2012,

S. 70-72

Für Sie gelesen

the 2002 English Longitudinal Study of Aging. Institute for Fiscal Studies, 20033 Sudore RL, Yaffe K, Satterfield S, Harris TB, Mehta KM, Simonsick EM, et al.: Limited literacy and mortality in the

elderly: health, aging, and body composition study. J Gen Intern Med 2006;21:806-8124 Baker DW, Wolf MS, Feinglass J, Thompson JA, Gazmarian JA; Huang J: Health literacy and mortality among

elderly persons. Arch Intern Med 2007;164:1503-15065 World Health Organisation: Health literacy and health behavior. 2011. www.who.int/healthpromotion/

conferences/7gchp/track2/en/.6 US Department of Health and Huma Services. Healthy people 2020. 2010. http.//healthypeople.gov/2020/topic-

sobjectives2020/pdfs/HP2020objectives.pdf7 Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden. Rowohld-Verlag, Reinbek 1981, preisgünstige Taschenbuch-

Sonderausgabe Band 1-3 20118 Avery AJ, Rodgers S, Cantrill JA, et al.: A pharmacist-led information technology intervention for medication

errors (PINCER): a multicenter, cluster randomized, controlled trial and cost-effectiveness analysis. The Lancet 2012. doi: 10.1016/50140-6736(11)61817-5

Page 21: BRENNPUNKT ARZNEI - KVHH - Ärzte/Psychotherapeuten · Seite 2 KVH xte Nr. 2 / 2012 Editorial Hinweis zu KVH – Brennpunkt Arznei Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt

Seite 21Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

A die Anwendung von Wechseldruckmatratzen bei allen Patienten,B die Reinigung mit Schaumreinigungsmitteln statt mit Wasser und Seife für

Hochrisikopatienten mit notwendiger Inkontinenzpflege,C die Anwendung von Cremes zur Hautanfeuchtung bei Hochrisikopatienten mit

trockener Haut undD die Gabe von oralen Nahrungszusätzen bei Hochrisikopatienten mit zuvor er-

folgter Gewichtsabnahme.

ErgebnisseEs sollen hier nur die Ergebnisse der einzelnen Maßnahmen dargestellt werden, die nach sorgfältigen statistischen Erhebungen und Berechnungen der Autoren auch für die Dekubitusprophylaxe von hochbetagten Risikopflegefällen in Deutschland relevant sein könnten.

Bei wöchentlichen Basis-Gesamtkosten von 11,66 kanadischen Dollar pro Be-wohner durch den erhöhten Pflegeaufwand konnte das Überlebensrisiko gebessert werden:A durch die Anwendung von Wechseldruckmatratzen mit einer NNT (Number

needed to treat) von 45,B durch die Anwendung von Schaumreinigungsmitteln statt Wasser und Seife bei

Inkontinenten mit einer NNT von 63,C durch die Verwendung von anfeuchtenden Cremes bei Patienten mit trockener

Haut mit einer NNT von 158 undD durch die Gaben von oralen Nahrungszusätzen bei Patienten, die zuvor an Ge-

wicht abgenommen hatten mit einer NNT von 333.Durch die Behandlungen nach A und B verbesserten sich die Kosten für ein

qualitätskorrigiertes Lebensjahr minimal. Es reduzierten sich die errechneten durch-schnittlichen Lebenszeitkosten um 115 kanadische Dollar (A) und 179 kanadische Dollar (B) pro Pflegefall. Oder anders herum dargestellt: wenn der Kostenträger bereit ist, für ein erreichtes QALY (qualitätskorrigiertes Lebensjahr in „Gesundheit“) etwa 50 000 kanadische Dollar (z.Zt. umgerechnet etwa 37 800 €) zu bezahlen, kann das für die Strategie B (Reinigungsschaum) mit einer Wahrscheinlichkeit von 94% erreicht werden, für Strategie A (Wechseldruckmatratze) von 82%, für Strategie C (anfeuchtende Cremes) von 43% und für Strategie D (orale Zusatzer-nährung) von 1%.

Nahrungsmittelzulagen nützen nichts bei DekubitusIn der Pflege von hochbetagten bettlägerigen Risikopatienten sind:

generell die frühzeitige Anwendung von Wechseldruckmatratzen und besonders bei Inkontinenten die Reinigung mit Schaumreinigungsmitteln statt

mit Wasser und Seife evidenzbasiert und orientiert an Kosten und Nutzen am wirksamsten.

Die Anwendung von feuchtigkeitsfördernden Cremes und oralen Nahrungsmit-telzulagen zeigten keinen wesentlichen Effekt in einer Verbesserung von Kosten und Nutzen.

Interessenkonflikte:keine

Literatur:1 Pham Ba’, Stern A, Chen W, Sander B, John-Baptiste A, Thein H-H, Gomes T, Wodchis WP, Bayoumi A, Machado

M, Carcone S, Krahn M: Preventing Pressure Ulcers in Long-term Care. A Cost-effectiveness Analysis. Arch Intern Med. 2011;171(20):1839-1847

2 Berlowitz DR, Brandeis GH, Morris JN, et al.: Deriving a risk-adjustment model for pressure ulcer development using the Minimum Data Set. J Am Geriatr Soc. 2001;49(7):866-871

3 Berlowitz DR, Brandeis GH, Anderson JJ, et al.: Evaluation of a risk-adjustment model for pressure ulcer deve-lopment using the Minimum Data Set. J Am Geriatr Soc. 2001;49(7):872-876

4 National Pressure Ulcer Adversatory Panel, Pressure ulcer stages revised by NPUAP. 2007. http//www.npuap.org/pr2.htm.Accessed November 8, 2008

Bedeutung

für unsere

Praxis

Am effektivsten sind Wechseldrucksysteme und Schaumreinigung bei Inkontinenz

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Seite 22 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Weitere Risiken der Säurehemmung entdeckt:

PPI sorgen für mehr Schenkelhalsfrakturen bei postmenopausalen FrauenDr. med. Klaus Ehrenthal

Nachdem Verordnungen von Protonenpumpen-Hemmern (PPI) in den letzten zehn Jahren um mehr als das Fünffache zugenommen haben, liegen sie bei Weitem an der Spitze aller Rezepturen von Magen-Darmmitteln. Sie gehören damit weltweit zu den an häufigsten verordneten Medikamenten überhaupt [1, 2, 3].

So wundert es nicht, dass inzwischen immer häufiger Gefahren einer unkritischen PPI-Anwendung und auch Fehlanwendungen in der internationalen Literatur dar-gestellt werden.

Welche Fehlanwendungen und Gefahren durch PPI sind zu nennen? PPI wurden als wirkungslos zur Therapie von Asthma mit und ohne asymptoma-

tischem gastroösophagealen Reflux [4,6] erkannt. Dazu berichteten wir bereits 2009 in KVH aktuell Pharmakotherapie [5].

Die Einnahme von ASS oder NSAR kann bekanntermaßen die Entstehung gefähr-licher Magen-Darm-Entzündungen und Ulzera fördern. Hier sollten PPI, da sie die Säureproduktion unterdrücken, nicht regelhaft hinzuaddiert werden, sondern mit der NSAR-Behandlung nur zeitlich begrenzt und nur bei entsprechendem Ulkusrisiko. Wir berichteten darüber in KVH aktuell Pharmakotherapie [7, 8].

Die Verstoffwechselung aller PPI über das P-450-Isoenzym CYP 2C19 (und 3A4) kann durch Hemmung oder Induktion die Wirkung zahlreicher Medikamente beeinflussen. Eine CYP-2C19-Hemmung durch Omeprazol, Esomeprazol, Lan-soprazol – nicht durch Pantoprazol – kann zu Wirkspiegelerhöhungen führen von Stoffen, die CYP-2C19 zur Metabolisierung benötigen, z.B. von einzelnen Antidepressiva, Neuroleptika, Antiepileptika, Parkinsonmitteln, Sedativa, Anti-mykotika, Sexualhormonen, gerinnungsaktiven Substanzen wie Clopidogrel, Methadon, Propranolol, Formoterol, Zytostatika. Da die P-450-Isoenzyme aus der Leber in einer erheblichen genetischen Vielfalt vorkommen („ultra rapid metabolizer“ gegenüber „slow metabolizern“), ist eine Wechselwirkung nie sicher vorherzusagen [9,10].

Clostridium difficile-Infektionen mit vermehrten Rezidiven fanden sich gehäuft bei PPI-Anwendern in mehreren großen Studien [11].

Auch andere unerwünschte Effekte einer PPI-Anwendung wurden inzwischen doku-mentiert: erhöhtes Risiko von Pneumonien durch fehlenden Säureschutz im Magen, Malassimilation von Vitamin B12, Kalzium, Magnesium und dadurch Entwicklung einer makrozytären Anämie, von Herzrhythmusstörungen und vermehrten Fraktu-ren. Wir berichteten darüber in KVH aktuell Pharmakotheraie [14].

Verschiedene Untersucher fanden bei PPI-Anwenderinnen mit langfristigem Ge-brauch unterschiedliche vermehrte Frakturen [11,14]. Inzwischen wurde bei post-menopausalen Frauen ein erhöhtes Risiko von Schenkelhalsfrakturen festgestellt [1,2], was im Folgenden im Einzelnen dargestellt werden soll.

WHI-StudieNachdem schon früher Überlegungen zum Effekt der Säuresuppression auf die Kalziumresorption und in dem Zusammenhang zu möglichen Problemen der Knochenmineralisation angestellt wurden, untersuchten Gray et al. [12] die Daten der WHI-Studie (Womans Health Initiative Observational Study

Beiträge der

Redaktion

Page 23: BRENNPUNKT ARZNEI - KVHH - Ärzte/Psychotherapeuten · Seite 2 KVH xte Nr. 2 / 2012 Editorial Hinweis zu KVH – Brennpunkt Arznei Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt

Seite 23Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

and Clinical Trials) mit 161.806 Teilnehmerinnen im Alter von 50 bis 79 Jahren in einer Nachbeobachtungszeit von 7,8 Jahren. Bei 130.487 Teilnehmerinnen fanden sich PPI-Einnahmen. Sie fanden vermehrte Frakturen von Wirbelkörpern, Unterarm und Handgelenk bei PPI-Einnahme (Details dazu finden sich in KVH aktuell Pharmakotherapie [11]).

Diesen Beobachtungen gingen Khalili H et al. [1,2] jetzt in einer weiteren großen prospektiven Kohortenstudie aus dem Datenmaterial der WHI-Studie an 79.899 Frauen zwischen 2000 und Juni 2008 nach. Die bereits 2010 von Gray et al ge-fundene mäßige Zunahme von Schenkelhalsfrakturen unter PPI-Einnahme wurde dabei statistisch deutlicher herausgearbeitet. Chronischer PPI-Gebrauch wurde definiert als Einnahme von PPI über mindestens zwei Jahre. Das Durchschnittsalter der Frauen betrug 67 Jahre.

Ergebnisse:Khalili H et al. fanden das absolute Risiko, eine Schenkelhalsfraktur zu erleiden, unter einer regelmäßigen PPI-Therapie bei 2,02 Fällen auf 1.000 Personenjahre, verglichen mit 1,51 Fällen ohne PPI-Therapie. Raucherinnen (weiter rauchende oder ehemalige Raucherinnen) hatten das höchste Frakturrisiko. Mit der Dauer der PPI-Anwendung stieg das Risiko.

Das Schenkelhalsfrakturrisiko war bei PPI-Einnehmerinnen um 35% erhöht, nach-dem andere Faktoren wie BMI, Kalzium-Einnahme, Rauchen, körperliche Aktivitäten, Osteoporose, Hormonersatztherapie, Einnahme von Bisphosphonaten, Steroiden, Thiaziden herausgerechnet waren.

Zwei Jahre nach Absetzen der PPI war die Ereignisrate fast wie eine solche ohne PPI-Behandlung.

Die Autoren fanden ähnliche Befunde, nachdem sie eine Metaanalyse an zehn weiteren epidemiologischen Studien vorgenommen hatten.

Keine unkritischen Dauerverordnungen! Unbestreitbar sind PPI unverzichtbare Therapeutika bei Ulzera von Magen und

Duodenum mit und ohne Helicobacter-pylori-Befall. PPI sind jedoch keine Zuckerpillen – sie sollten keinesfalls bei bloßen Bagatellbe-

schwerden angewendet werden (z. B. durch Diätfehler, Süßigkeiten, Alkohol-, Nikotin- und Kaffee-Abusus, Überernährung mit Völlegefühl bei Zwerchfell-hochstand, Reizdarm usw.) [11,13,14].

PPI sollten auch nicht routinemäßig als „Magenschutz“ bei jeder Multimedika-tion mißbraucht werden.

PPI sollten keinesfalls regelmäßig zu einer NSAR-Behandlung hinzuaddiert wer-den, sondern sie sollten gezielt bei einer möglichst zeitlich zu begrenzenden NSAR-Behandlung nur bei erhöhtem Ulkusrisiko (besonders bei Ulkusanamnese, im Alter über 60 Jahren, bei Steroidtherapie usw.) Anwendung finden.

PPI sind nicht geeignet, bei Asthma mit und ohne Reflux als Refluxschutz zu dienen. Asthma wird durch sie weder bei Erwachsenen noch bei Kindern ge-bessert.

PPI zur Behandlung eines mäßigen gastroösophagealen Refluxes führt beim Beenden einer solchen Therapie rasch zu einem Rebound-Effekt, der dann mehr Beschwerden auslösen kann als vor der Therapie.

Leichter gastroösophagealer Reflux ist nicht selten. Hier kann (z. B. bei Adipo-sitas, Blähbauch, Schwangerschaft) die Hochlagerung des Bettkopfendes um 8 bis 10 cm den abdominalen Druck senken und damit auch die Refluxgefahr im Schlaf abmildern.

Je länger PPI eingenommen werden, desto höher ist das Frakturrisiko

Bedeutung

für unsere

Praxis

Page 24: BRENNPUNKT ARZNEI - KVHH - Ärzte/Psychotherapeuten · Seite 2 KVH xte Nr. 2 / 2012 Editorial Hinweis zu KVH – Brennpunkt Arznei Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt

Seite 24 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Banaler Reflux verursacht eine vorübergehende Ösophagitis, die schmerzt. Hier helfen, wenn das Vermeiden von Fehlernährung und Noxen nichts bringt, ggf. kurzfristige Anwendung von basischen Nahrungsmitteln oder Antacida (z.B., Talcid®, Generika) oder notfalls auch H2-Antagonisten (z. B. Ranitidin).

Interessenkonflikte:keine

Literatur:1 Khalili Hamed, Huang ES, Jacobson BC, Camargo jr CA, Feskanich D, Chan AT: Use of proton pump inhi-

bitors and risk of hip fracture in relation to dietary and lifestyle factors: a prospective cohort study. BMJ 2012;344:e372

doi: 10.1136/bmj.e372 (Published 31.Jan.2012) 2 Mikulicic F: Potonen-Pumpen-Hemmer erhöhen bei postmenopausalen Frauen das Risiko für Schenkelhalsfrak-

turen deutlich. 2012 Horton-Zentrum für praxisorientierte Forschung und Wissenstransfer. www.evimed.ch3 Schwabe U, (Hrsg.) Arzneiverordnungsreport 2011, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg, Seiten 699 ff.4 Mastronarde JG et al (for the American Lung Association Asthma Clinical Research Centers): Efficacy of Esome-

prazole for Treatment of Poorly Controlled Asthma. N Engl J Med 2009;360:1487-14995 Frank-Doss M: Asthma bronchiale – eine extraösophageale Refluxmanifestation? KVH aktuell Pharmakotherapie

2009;14(3):10-116 Holbrook JT (for the American Lung Association Asthma Clinical Research Centers): Lansoprazole for Children

With Poorly Controlled Asthma. A randomized controlled trial. JAMA 2012; 307(4):373-3817 Burri E, Meier R: Ulkuskrakheit – Update 2011. Schweiz Med Forum 2011;11(49):897-9068 Ehrenthal K: Ulkuskrankheit – eine aktuelle Übersicht. KVH aktuell Pharmakotherapie 2012;17(1):4-79 Hollmann, K: PPI und Clopidogrel: Eine riskante Kombination für Ihre Patienten! KVH aktuell Pharmakotherapie

2008;13(4):2010 Albrecht C: Clopidogrel: Evidenz und Eminenz. KVH aktuell Pharmakotherapie 2011;16(1):12-1411 Ehrenthal K: Protonenpumpen-Hemmer sind keine Zuckerpillen! KVH aktuell Pharmakotherapie 2010;15(4):19-2312 Gray SL, LaCox AZ, Larson J et al.: Proton pump inhibitor use, hip fracture, and change in bone mineral density

in postmenopausal women. Arch Intern Med 2010;170(9):765-77113 Hopf G: Protonenpumpenhemmer – Modedroge für jedes Problem? KVH aktuell Pharmakotherapie

2009;14(1):7-814 Frank-Doss, M: Neue Einblicke und alte Weisheiten. KVH aktuell Pharmakotherapie 2009;14(1):8-11

Inkretine: Kosten nicht nur viel, sind auch nicht ohne RisikoDr. med. Wolfgang LangHeinrich

Inkretinbasierte Therapie mit GLP1-Analoga wie Liraglutid (Victoza®) oder Exenatid (Byetta®) sowie die DPP4-Hemmer (z. B. Sitagliptin {Januvia®, Xelevia®} Vildagliptin {Galvus®, Jalra®} Saxagliptin {Onglyza®}) stellen neue Therapieoptionen bei der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 dar. Dies in Kombination mit Metformin, Sulfonylharnstoffen, Thiazolidinen, mit Insulin sowie als Monotherapie (Sitagliptin).

Die GLP1-Analoga (Victoza®, Byetta®) haben die Zulassung für die Kombinati-onstherapie mit Metformin oder einem Sulfonylharnstoff bei Patienten mit einer unzureichenden Blutzuckerkontrolle trotz maximaler verträglicher Dosis der Mono-therapie mit Metformin oder Sulfonylharnstoff sowie in Kombination mit Metformin und einem Sulfonylharnstoff (oder Metformin und einem Thiazolidin) bei Patienten mit unzureichender Blutzuckerkontrolle trotz Therapie mit zwei oralen Antidiabetika.

Zur Beurteilung einer wirtschaftlichen Verordnungsweise beispielsweise von Lira-glutid sind folgende Punkte zu beachten:

Als Add-on-Therapie wird das HbA1c um 0,6 bis 1,1% gesenkt

Beiträge der

Redaktion

Page 25: BRENNPUNKT ARZNEI - KVHH - Ärzte/Psychotherapeuten · Seite 2 KVH xte Nr. 2 / 2012 Editorial Hinweis zu KVH – Brennpunkt Arznei Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt

Seite 25Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

Endpunktstudien zur Prävention diabetischer Komplikationen liegen genauso wenig vor, wie zur Langzeitsicherheit oder Letalität. Bezüglich kardiovaskulärer Erkrankungen gibt es Hinweise auf eine Kardioprotektion, die aber erst nach Vorlage der zurzeit laufenden kardiovaskulären Endpunktstudien beurteilt wer-den können.

Das Körpergewicht kann gesenkt werden. Deswegen kann Liraglutid (z. B. Vic-toza®) in begründeten Einzelfällen, wie beispielsweise durch nichtmedikamen-töse Maßnahmen unbeeinflussbare Adipositas mit BMI > 30 Kg/m², deutlichem Gewichtsanstieg von mehr als sechs Kilogramm innerhalb von sechs Monaten nach Beginn einer Insulintherapie sowie einer Hypoglykämieneigung unter In-sulin indiziert sein.

In Kombination mit Metformin besteht kein größeres Hypoglykämierisiko, in Kombination mit Sulfonylharnstoffen kann es zu schweren Hypoglykämien kommen.

Vermehrt treten Magen-Darm-Störungen – u. a. Durchfälle – auf, die den Einsatz einschränken können.

Im Tiermodell wurde ein vermehrtes Auftreten von C-Cell-Tumoren unter thera-peutischer Dosierung von Liraglutid beobachtet. Die Relevanz für den Menschen ist noch nicht geklärt.

Unter Berücksichtigung dieser Daten ist noch unklar, inwieweit die Blutzuckersen-kung und/oder die Gewichtsabnahme zu einem langfristigen Zusatznutzen für den Patienten bezüglich der Folgekomplikationen des Diabetes mellitus Typ II führen. Eine Langzeitnutzen-/Schadensbewertung ist zurzeit nicht möglich. Da die GLP1-Analoga gegenüber einer Therapie mit NPH-Insulin bzw. langwirksamen Analoginsulinen zwei bis dreimal teurer sind, sollten die kostenintensiven Präparate Victoza® und Byetta®

nur als Mittel der Reserve bei strenger Indikationsstellung eingesetzt werden.

Die Gliptine (DPP4-Hemmer) sind zur Monotherapie (Sitagliptin) und zur Kom-binationstherapie mit Metformin, Sulfonylharnstoff und Thiazolidinen (AM-RL) zugelassen (Sitagliptin, Vildagliptin und Saxagliptin). Darüber hinaus wird Sitagliptin ggf. mit Metformin zusätzlich zu einer Insulintherapie eingesetzt, wenn Diät und Bewegung sowie eine stabile Insulindosis den Blutzucker nicht ausreichend senken.

Hauptindikation der Gliptine sind nach dem Therapiehinweis zu Sitagliptin: Die Kombination mit Metformin, wenn Diät und Bewegung plus Metformin den

Blutzucker nicht ausreichend senken,

die Kombination mit Sulfonylharnstoffen, wenn Metformin kontraindiziert ist oder nicht toleriert werden kann sowie Diät und Bewegung unter einer maximal tolerierbaren Monotherapie mit Sulfonylharnstoffen nicht zu einer ausreichen-den Blutzuckersenkung führen sowie

die Kombination mit Metformin und Sulfonylharnstoffen, wenn Diät und Be-wegung und eine duale Therapie mit Metformin und Sulfonylharnstoffen nicht zu einer ausreichenden Blutzuckerkontrolle führen.

Der Therapieeffekt ist eher moderat, dass HbA1c wird um 0,65 bis 0,74 % gesenkt.

In der Kombination mit einem Sulfonylharnstoff (Glimepirid) treten wesentlich häufiger Hypoglykämien auf als in der Kombination Glimepirid plus Placebo (12,2 % versus 1,8 %).

Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®) ist zur Monotherapie bei Patienten indiziert,

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Seite 26 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

wenn Diät und Bewegung allein den Blutzucker nicht ausreichend senken und Metformin aufgrund von Gegenanzeigen oder Unverträglichkeiten nicht eingesetzt werden kann.

Die zugrunde liegende Studie ergibt Anhaltspunkte dafür, dass Sitagliptin we-niger wirksam ist als Metformin. So wurde das HbA1c unter Sitagliptin nach 24 Wochen Behandlung um 0,37 % gegenüber 0,55 % bei Metformin gesenkt.

Sitagliptin macht weniger Magen-Darm-Störungen als Metformin. Saxagliptin verursacht als schwerwiegende Überempfindlichkeitsreaktion akute

Pankreatitis.Ob dies eine ausreichende Grundlage ist für die Monotherapie mit Sitagliptin be-

züglich patientenrelevanter Endpunkte bei fehlenden Studien zum Langzeitnutzen und ob diese Therapie dem Patienten eher nutzt oder schadet, kann zurzeit nicht beurteilt werden.

Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®) und die Kombination mit Metformin (Janumet®, Velmetia®) sind zur Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ II zuge-lassen zusätzlich zur Insulintherapie, wenn Diät und Bewegung und eine stabile Insulindosis den Blutzucker nicht ausreichend senken.

Hierunter wurde unter der Einzelsubstanz Sitagliptin das HbA1c um 0,53% bei der Fixkombination um 0,65 % gegenüber Placebo gesenkt.

Es traten gegenüber der Kontrollbehandlung deutlich mehr Hypoglykämien (15,5% versus 7,8%) auf.

Hier ist die Frage zu stellen, ob angesichts der geringen Wirkung auf die HbA1c-Absenkung und der vermehrten Hypoglykämien bei fehlenden Studien zur Lang-zeitwirkung diese Therapie gerechtfertigt bzw. wirtschaftlich ist.

Die Behandlung mit Gliptinen verteuert die Therapie erheblich. Metformin und Sulfonylharnstoffe sind bei belegtem Langzeitnutzen und günstigen Kosten nach wie vor orale Antidiabetika der ersten Wahl. Dies auch, wenn zurzeit mögliche kardiovaskuläre Risiken einer Sulfonylharnstofftherapie vermehrt diskutiert werden.

Eine Verordnung von Gliptinen ist nur unter strenger Indikationsstellung und Be-rücksichtigung obiger Punkte zur Wirksamkeit, Nebenwirkungen und der Kosten wirtschaftlich.

Bezüglich der Verordnung der GLP1-Analoga (Wirkstoffe: Exenatid, Liraglutid) hat die KV Hessen mit den Krankenkassenverbänden einen Zielwert von maximal 1,2% Verordnungsvolumen an der Arzneimittelgruppe Antidiabetika exklusiv Insu-line abgeschlossen. Zum Abschluss derartiger Zielvereinbarungen ist die KV Hessen gesetzlich verpflichtet.

Interessenkonflikte:keine

Literatur: KBV Wirkstoff aktuell zu Liraglutid 01/2011 Therapiehinweis zu Sitagliptin, G-BA vom 10.04.2008 Orales Antidiabetikum Vildagliptin, Arzneimitteltelegramm 6/2008 Neue Arzneimittel, Information der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Januvia®, Xelevia® vom

07.08.2009 Neue Arzneimittel, Information der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Januvia®, Xelevia® -

neu zugelassene Indikation – vom 15.01.2010 Neue Arzneimittel, Information der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Janumet®, Velmetia®

sowie Januvia®, Xelevia® – neu zugelassene Indikation – vom 02.03.2010 Inkretinbasierte Therapien – sinnvoll und nützlich? Hessisches Ärzteblatt 3/2012

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Seite 27Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

Vorsicht bei Diabetikern und Patienten mit Nierenfunktionsstörung

Aliskiren nicht zusammen mit ACE-Hemmern oder AT1-Blockern verordnen!Dr. med. Wolfgang LangHeinrich

Eine Überprüfung der Daten aus der ALTITUDE-Studie in Zusammenarbeit mit der europäischen Arzneimittelagentur führte am 27. Februar 2012 zu einem neuen Rote-Hand-Brief des Herstellers und einer geänderten Fachinformation für Aliskiren-haltige Arzneimittel.

Aliskiren-haltige Arzneimittel sind jetzt in Kombination mit ACE-Hemmern oder Angiotensinrezeptorblockern kontraindiziert bei Patienten mit: Diabetes mellitus (Typ I oder II) oder Nierenfunktionsstörung (GFR < 60 ml/Minute, 1,73 m²)

Für alle anderen Patienten wird die Anwendung von Aliskiren-haltigen Arzneimitteln in Kombination mit ACE-Hemmern oder Angiotensinre-zeptorblockern nicht empfohlen.

Diese Anwendungsbeschränkungen resultieren aus der Analyse der ALTITUDE-Studie, die bei Patienten mit Typ II Diabetes und einem hohen Risiko für tödliche oder nicht tödliche kardiovaskuläre und renale Ereignisse durchgeführt wurde. Bei den meisten Patienten war der arterielle Blutdruck bei Studienbeginn angemessen eingestellt. Aliskiren 300 mg wurde zusätzlich zur Standardtherapie gegeben, die einen ACE-Hemmer oder Angiotensinrezeptorblocker beinhaltete.

Ziel der vierjährigen, multinationalen, randomisierten, doppelblinden und placebo-kontrollierten Studie war die Untersuchung des potentiellen Nutzens von Aliskiren hinsichtlich einer Reduktion des Risikos für kardiovaskuläre und renale Ereignisse.

Zwischenergebnisse hatten gezeigt, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Studi-enpatienten von einer Behandlung mit Aliskiren profitieren. Weiterhin wurde bei diesen Hochrisikopatienten ein erhöhtes Risiko für nachteilige Folgen (Hypotonie, Synkope, Schlaganfall, Hyperkaliämie und Veränderung der Nierenfunktion ein-schließlich akutem Nierenversagen beobachtet. Obwohl für andere Patienten-gruppen weniger Anhaltspunkte vorliegen, können nachteilige Folgen nicht ausgeschlossen werden. Deshalb wird diese Kombination – Aliskiren-haltige Arzneimittel in Kombination mit einem ACE-Hemmer oder Angiotensinre-zeptorblocker – vom Ausschuss für Humanarzneimittel der europäischen Arzneimittelagentur (CHMP) nicht mehr empfohlen.

Hieraus folgt: Ärztinnen und Ärzte sollten die Behandlung mit Aliskiren-haltigen Arzneimitteln

beenden bzw. keine Neueinstellung mit Aliskiren-haltigen Arzneimitteln vorneh-men, wenn Patienten mit Diabetes mellitus oder einer Nierenfunktionsstörung einen ACE-Hemmer oder einen Angiotensinrezeptorblocker einnehmen.

Bei anderen Patienten, die mit Aliskiren-haltigen Arzneimitteln in Kombination mit einem ACE-Hemmer oder einem Angiotensinrezeptorblocker behandelt werden – diese Behandlung wird nicht empfohlen – sollte das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer fortgesetzten Behandlung sorgfältig abgewogen werden.

Interessenkonflikte:keine

Literatur: Rote-Hand-Brief und Informationen der Firma Novartis vom 05.01.2012Rote-Hand-Brief der Firma Novartis vom 27.02.2012

Beiträge der

Redaktion

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Seite 28 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Ticagrelor beim akuten Koronarsyndrom: Studie weist beachtliche Mängel aufDr. med. Christian Albrecht

Durch die PLATO-Studie [1] ist ein neuer Thrombozytenaggregationshemmer beim akuten Koronar syndrom auf der medikamentösen Bildfläche erschienen: Ticag-relor. Der kombinierte Endpunkt von kardiovaskulärem Tod, Myokardinfarkt und Schlaganfall wurde von 12,3% in der Vergleichsgruppe (Clopidogrel und ASS, 9333 Patienten) auf 10,2% in der Gruppe Ticagrelor plus ASS (9291 Patienten) in der Behandlung des akuten Koronarsyndroms gesenkt, die number needed to treat (NNT) lag bei 47.

Mit großem Aufwand hat der Hersteller dieses Arzeimittels Werbemaßnahmen direkt bei Ärzten wie auch in der Presse platziert, auch das IQWiG [2] spricht mittlerweile von einem „beträchtlichen Zusatznutzen“ dieses Medikamentes beim akuten Koronarsyndrom.

Hierzulande ist parallel dazu in den vergangenen Jahren die Häufigkeit der Diag-nose „Akutes Koronarsyndrom“ seit Einführung der DRG um 300% angestiegen, und bei weitem nicht immer erfüllen diese Krankenhausentlassungsdiagnosen die Kriterien, die die PLATO-Studie als Einschlusskriterium vorgesehen hat: die ST-Streckensenkung oder Troponinerhöhung >0,08 µg/l.

Der Pferdefuß: Das Medikament ist acht- bis zehnmal teurer als das bisher ein-genommene Clopidogrel. Von daher ist es aus Sicht der gesetzlichen Kranken-versicherung und der Kassenärzte und Kassenärztlichen Vereinigungen sinnvoll, einen Blick „hinter die Kulissen“ zu werfen und die Studie genauer unter die Lupe zu nehmen:1 Bemerkenswert ist die insgesamt hohe Ereignisrate im Placebo- und im Verum-

arm: so kam es am Tag 1 bis 30 bei 4,8% der Patienten in der Verumgruppe zu einem kardiovaskulärem Tod, einem Myokardinfarkt. Obwohl schon 10 Jahre zurückliegend, war diese Ereignisrate in der PCI-Cure-Studie, also dem gleichen Patientenkollektiv mit 4,5% auch für Clopidogrel niedriger.

2 Die Schlaganfallrate war in der Verumgruppe (Ticagrelor plus ASS) mit 1,5% höher als in der Clopidogrel-(Placebo)-Gruppe mit 1,3%, dies allerdings nicht signifikant.

3 Bemerkenswert ist, dass auch andere Todesursachen mit 0,5% in der Verum-gruppe niedriger waren als in der Clopidogrel-Gruppe (hier 0,8%) – Salim Yusuf spricht in so einem Fall von „lucky trial“.

4 Kritikpunkt ist, dass die Patienten der Placebogruppe (Clopidogreltherapie) das Medikament nicht direkt bei Betreten der Krankenhäuser/Ambulanzen beka-men, sondern erst einige Stunden später, direkt vor der Katheter maß nahme. Pharmakodynamisch wirkt Ticagrelor wesentlich schneller, es ist bekannt, dass Clopidogrel einige Stunden bis zur vollen Wirksamkeit „braucht“; insofern wurde dieser Nachteil des Clopidogrel auch „voll ausgekostet“.

5 Kritikpunkt ist und bleibt: Die Studie war von einer Pharmafirma finanziert.

Nimmt man das wesentliche Kriterium kardiovaskulärer Tod, so ist hier die NNT 91 für Ticagrelor. Die Jahrestherapie kosten sind ca. 1.000 Euro höher, ein „gerette-tes“ Leben kostet mithin 65.000 Euro. Ticagrelor ist somit nicht „kosteneffektiv“. Ticagrelor rettet Leben außerdem nur dann, wenn man nicht so gut arbeitet

Was bei uns als akutes

Koronarsyndrom diagnostiziert

wird, entspricht oft nicht der

Studiendefinition!

In der Studie wurde die

Vergleichssubstanz Clopidogrel zu

spät gegeben und damit systematisch

benachteiligt.

KritischeAnalyse

Page 29: BRENNPUNKT ARZNEI - KVHH - Ärzte/Psychotherapeuten · Seite 2 KVH xte Nr. 2 / 2012 Editorial Hinweis zu KVH – Brennpunkt Arznei Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt

Seite 29Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

wie die PCI-Cure-Studienzentren [3,4] – und wenn es sich um echte akute Koro-narsyndrome handelt.

Entspricht das „Koronarsyndrom“ des Krankenhauses auch wirklich der Studiendefinition?Mit Ticagrelor ist ein hochwirksamer Thrombozytenaggregationshemmer in der Behandlung des akuten Koronarsyndroms durch die PLATO-Studie etabliert wor-den. Das IQWiG hat diesem Medikament einen „beträcht lichen Zusatznutzen“ bescheinigt. Es fällt somit schwer, Patienten mit akutem Koronarsyndrom dieses Medikament vorzuenthalten, obwohl die PLATO-Studie die oben unter 1 bis 5 an-gegebenen Mängel aufweist. Besonders ist darauf zu achten, ob die verordnenden Krankenhäuser die Definition des akuten Koronarsyndroms auch wirklich entspre-chend den Studiendaten beherzigt haben: eindeutige ST-Streckenveränderungen oder Troponinerhöhungen über 0,08 µg/l!

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Indikation für Ticagrelor bei jedem einzelnen Patienten kritisch zu hinterfragen ist.

Interessenkonflikte:keine

Literatur:;1 Wallentin PhD, Becker RC, Budaj A, et al.: Ticagrelor versus Clopidogrel in Patients with Acute Coronary Syn-

dromes. N Engl J Med 2009;361(11)1045-1057 2 IQWiG: Kurzfassung der Nutzenbewertung gemäss § 35a SGB V vom 29.09.2011: www.iqwig.de/download/A11-02_Kurzfassung_Nutzenbewertung_Ticagrelor_.pdf3 Mehta SR, Yusuf S, Peters RJ, et al: Effects of pretreatment with Clopidogrel and aspirin followed by long-

term therapy in patients undergoing percutaneous coronary intervention. The PCI-CURE study. Lancet 2001. 18;358(9281):527-533 (Publ.18.08.2001) oder www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11520521

4 Der Arzneimittelbrief: Clopidogrel bei instabiler Angina pectoris. Die CURE-Studien Arzneimittelbrief 2001. www..der-arzneimittelbrief.de/Jahrgang2001/Ausgabe11

Briefe an die Redaktion

Vorsicht mit Antidepressiva bei Suizidalen und Drogenabhängigen!Zum Beitrag „Gibt es Qualitätsunterschiede moderner Antidepressiva“ in Heft 1/2012

Klassische trizyklische Antidepressiva haben zwei schwerwiegende Nebenwirkun-gen, die sich durch den Einsatz neuerer Antidepressiva vermeiden lassen.

Zum einen haben sie eine sehr geringe therapeutische Breite, weswegen ihre Verordnung bei suizidalen Patienten und Drogenabhängigen grundsätzlich kontra-indiziert ist. Bei ersteren versteht sich das von selbst, kommt aber dennoch immer wieder vor, weil entweder das pharmakologische Wissen fehlt oder die Suizidalität nicht erkannt wird. Bei Drogenabhängigen dürfen sie nicht eingesetzt werden, weil Menschen, die sich regelmäßig hochgefährliche Drogen aus dubiosen Quel-len zuführen, die nötige Vorsicht beim Umgang mit Pharmaka vemissen lassen, zumal wenn sie auch noch akut unter dem Einfluss solcher Drogen stehen. Wird etwa Doxepin als schlafförderndes Antidepressivum verordnet – eine hochriskante Unsitte, die leider immer noch weit verbreitet ist – und findet der Patient nach der Einnahme seiner Dosis keinen Schlaf, z.B. weil er vorher Kokain genommen hat, nimmt er einfach noch eine und noch eine Tablette, bis das gewünschte Ergebnis eintritt oder er durch Herzrhythmusstörungen oder epileptische Anfälle daran ge-hindert wird. Hingegen haben Substanzen wie die SSRI, SSNRI (zu denen auch

Bedeutung

für unsere

Praxis

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Seite 30 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Venlafaxin gehört) und Mirtazapin eine so hohe therapeutische Breite, dass Suizide damit fast ausgeschlossen sind.

Zum zweiten stimulieren alle klassischen Antidepressiva mehr oder weniger mas-siv und für den Patienten unkontrollierbar den Appetit und führen daher zu einer erheblichen Gewichtszunahme. Da die Behandlung mit Antidepressiva häufiger als im Lehrbuch beschrieben auf eine Dauertherapie hinausläuft, weil z.B. die Sympto-matik nicht voll remittiert oder jeder Versuch der Dosisreduktion zu einem Rückfall führt, ist mit den bekannten fatalen Spätfolgen des Übergewichts zu rechnen. Neu-ere Antidepressiva wie die SSRI, SSNRI und Bupropion haben diese Nebenwirkung nicht, weswegen bei langfristigen Behandlungen immer eine Umstellung auf diese Substanzen anzustreben ist. Abgesehen vom größeren körperlichen Wohlbefinden des Patienten, das sich ja bekanntlich nicht unerheblich auf die Stimmung auswirkt, hat es auch ökonomisch wenig Sinn, ein paar Euro für Antidepressiva zu sparen und sich dafür die eminent teure Behandlung von Hypertonie, Diabetes, Arteriosklerose und ihrer Folgen einzuhandeln

Dr. med. Joachim Grüner Arzt für Neurologie und Psychiatrie

Anmerkung der Redaktion: Die in KVH aktuell kommentierten großen Meta-analysen von Gartlehner et al. [1,2] bezogen sich auf potentielle Unterschiede innerhalb der Gruppe der „second generation“-Antidepressiva also der Gruppe der selektiven Monoamin-Reuptake-Hemmer. Es ging dabei nicht um eine vergleichende Bewertung mit den älteren nichtselektiven Monoamin-Reuptake-Hemmern (meist als Trizyklika (TCA) bezeichnet wie z.B. Amitryptilin).

Selbstverständlich müssen gerade bei Suchtpatienten die grundsätzlichen Ver-ordnungsempfehlungen beachtet werden, wie sie beispielsweise von der Arznei-mittelkommission gefordert werden [3]. Keinesfalls sollte bei einer Substitutionsbe-handlung eines Suchtkranken durch Ärzte eine je nach Mode von dem Betroffenen gewünschte Zusatztherapie leichtfertig unterstützt werden, wie Sie richtig kritisieren (z.B. beim Fehlgebrauch von Doxepin).

Aus den Ergebnissen der Metaanalyse von Gartlehner et al. aus 234 Studien [1] geht allerdings hervor, dass Mirtazapin in sieben Studien besonders zur Ge-wichtszunahme geführt hatte und dass es auch durch Behandlungen mit„second-generation“-Antidepressiva in einer Reihe von Studien durchaus zu einer genera-lisierten Zunahme des Suizidrisikos gekommen war. Eine große Metaanalyse der FDA mit mehr als 99.000 Teilnehmern in 372 Studien zeigte, dass das Suizidrisiko durch die selektiven Reuptake-Hemmer wie SSRI, SNRI besonders bei Kindern und bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren erhöht ist [4]. Bupropion zeigte Hinweise auf eine Zunahme von epileptischen Anfällen [1].

Hieraus geht hervor, dass, obwohl die Wirksamkeit der einzelnen „second-generation“-Antidepressiva ziemlich ähnlich erscheint, einzelne Gefahren aber beobachtet werden konnten, die besonders bei Suchtpatienten beachtet werden müssen.

Dr. med. Klaus Ehrenthal

Literatur:1. Gartlehner G, Hansen RA, Morgan LC, Thaler K et al: Comparative Benefits and Harms of Second-Generation

Antidepressants for Treating Major Depressive Disorder. An Updated Meta-Analysis of the 2007 Comparative Effectiveness Review No.46. Ann Intern Med 2011;155(11):772-785

2. Gartlehner G, Hansen RA, Thieda P, De Veaugh-Geiss AM et al.:Comparative Effectiveness of Second-Generation Antidepressants in the Pharmacologic Treatment of Adult Depression. Comparative Effectiveness Review No.7. Agency for Healthcare Research and Qality January 2007. www.effectivehealthcare.ahrq.gov/reports/final.cfm

3. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Arzneiverordnungen, 22. Auflage 2009, Medizinische Medi-en Informations GmbH (MMI-Verlag), Neu-Isenburg

4. Barbui C, Esposito E, Cipriani A: Selective serotonin reuptake inhibitors and risk of suizide: a systematic review of observational studies. CMAJ 2009;180:291-297

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Seite 31Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

Medikamenten-Interaktionen: Eine praktische Hilfe im ArbeitsalltagDr. med. Joachim Seffrin

Das Problem ist allen bekannt. Wir alle behandeln immer mehr, immer ältere Men-schen mit immer mehr Krankheiten mit immer mehr Medikamenten und kompli-zierteren Medikamentenkombinationen.

Wer überblickt da noch, was da bei einer Kombination von drei oder mehr Subs-tanzen im Patienten geschieht? In unserer Praxis am PC können wir jederzeit nach-schauen, was an Interaktionen möglich ist und die Kombination noch ändern, damit kein Schaden entsteht. Beim Hausbesuch sieht es aber anders aus. Entscheidungen aus dem Bauch heraus können schlimmste Konsequenzen für den Patienten haben. Nach dem Hausbesuch in der Praxis nachschauen, die Medikation ändern und dann beim Patienten anrufen, ist umständlich und kann zur nächsten Fehlerquelle werden (Kommunikationsfehler Mißverständnisse).

Nun besitzen immer mehr Ärzte Smartphones, iPads und ähnliche Geräte und haben diese manchmal auch beim Hausbesuch zur Hand. Diesen Kolleginnen und Kollegen möchte ich eine kostenlose App für Apple und Android vorstellen, die die oben genannte Problematik lösen hilft. Sie stammt von Medscape.com, einer Internetquelle, die vielfältige Hilfestellungen und Informationen für Ärzte bereitstellt. Man muss sich lediglich als Arzt anmelden und kann die App unbegrenzt nutzen. Nach der Installation auf dem Smartphone/Tablet-PC findet zunächst innerhalb weniger Minuten ein automatischer Download großer Datenmengen statt, die anschließend den Zugriff auf einen riesigen Fundus an Informationen gestattet, der allerdings in englischer Sprache verfasst ist. Die Daten werden auf Wunsch monat-lich aktualisiert. Man bekommt Sofortzugriff auf Informationen über tausende von Medikamenten, Erkrankungen, aktuelle Nachrichten, Warnungen und vieles mehr. Unter all diesen Informationen gibt es einen Interaktionschecker, der sich mir im Vergleich zu anderen Programmen als zuverlässiger und sensibler erwiesen hat. Die App bietet ausreichende Informationen, damit ich eine bessere Entscheidung treffen kann (ein Beispiel hierzu unten auf der Seite). Limitationen: Nicht alle Wirkstoffe, die bei uns erhältlich sind, können eingegeben werden, da manche Substanzen in den USA nicht zugelassen sind (z.B. Metamizol). Natürlich kann auch dieses Programm keine 100%ige Sicherheit garantieren. Für die meisten Fragestellungen dürfte es aber reichen. Der Zugriff auf Medscape und alle seine Quellen ist natürlich auch im Internet möglich.

Quelle: www.Medscape.com

Startseite auf dem iPhone Eingabefeld (auf + drücken) Test mit zwei Wirkstoffen Ergebnis

Kurze Meldung

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Seite 32 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Sicherer verordnen

Dr. med. Günter Hopf

Antidepressiva im Alter

Depressionen nehmen im Alter zu, ebenso wie die Verordnungen von Antidepres-siva. In einer neuen englischen Beobachtungsstudie mit über 60.000 Patienten wurden die Risken einer antidepressiven Pharmakotherapie evaluiert. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) waren in dieser Studie nicht mit einem geringeren Risiko für z.B. Mortalität, Schlaganfälle, Stürze, oder Epilepsie verbunden als trizyklische Antidepressiva (TCA). Die Ergebnisse der englischen Studie können u.a. wegen unterschiedlicher Verordnungshäufigkeit der SSRI oder dem Einsatz in Deutschland nicht oder kaum gebräuchlicher TCA (Dosulepin, Lofepramid, Trazo-don) nicht 1 zu 1 auf die Situation in Deutschland übertragen werden.

Grundsätzlich scheint auch die Kontrollgruppe nicht ideal ausgewählt zu sein: nach einem Kommentar unterscheiden sich nicht antidepressiv behandelte Patienten von den Behandelten in mehrfacher Weise (u.a. unterschiedliche Symptome und Begleiterkrankungen, generell erhöhte kardiovaskuläre und Gesamtmortalität bei Depressiven).

Trotzdem können aus der Studie folgende Überlegungen erwogen werden: Im Alter und insbesondere bei zusätzlich geringem Körpergewicht genügen oft

die halbe Dosis (und weniger) der empfohlenen Verordnungsmenge. Die meisten UAW sind dosis- und zeitabhängig: bei möglicher Dauermedikation kann eine verringerte Dosis vor dem Auftreten von UAW schützen.

Besonders deutlich wird dies beim Einsatz von TCA. Bei der Einführung der SSRI verstiegen sich einige Patientengruppen in Briefen an Ärztekammern zu der Behauptung, dass die Verordnung von TCA nun „ein Verbrechen“ sei. Dies kann diese Studie widerlegen.

Nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten im Alter immer in die engere Wahl genommen werden. Depressionen im Alter sind ein gutes Beispiel (mehr Zu-wendung, Psychotherapie, Beschäftigungstherapie).

Ein Kommentar zu einer Studie bei depressiven Demenzkranken lässt eine Antide-pressivatherapie im Alter generell fragwürdig erscheinen: der Einsatz von Sertralin oder Mirtazapin über 13 Wochen ergab keinen Unterschied zwischen den beiden Verumpräparaten und Placebo.

Quellen: Arzneiverordnungsreport 2010, S. 817, 986, 990; BMJ. 2011; 343: 329-10 und 354; Dtsch. Apo. Ztg. 2011; 151: 3436

Zusätzliche Gabe von Vitaminen oder Spurenelementen: Kein Schutzeffekt

In einem Kommentar wird auf einen „kollektiven Irrtum“ bezüglich einer präven-tiven Wirkung antioxidativer Vitamine und Spurenelemente hingewiesen. Die Aus-wertung einer Beobachtungsstudie bei Frauen (Beginn 1986) ergab, dass Präparate mit Multivitaminen, Vitamin B6, Folsäure, Eisen, Magnesium, Zink und Kupfer das Mortalitätsrisiko erhöhten. Einzig die Einnahme von Kalzium hatte einen protekti-ven Effekt. Eine Nahrungsergänzung mit Eisensupplementen war sogar mit einer Risikozunahme von 3,9% assoziiert.

Bereits 2007 kam eine Analyse geschlechtsneutraler Antioxidantienstudien zum gleichen Ergebnis, wobei Studien von geringer Qualität typischerweise positive Resultate generierten. Einige neuere Befunde:

Folsäure: erhöhte Krebsinzidenz.

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Seite 33Nr. 2 / 2012 KVH • aktuell

Sicherer verordnen

Dr. med. Günter Hopf

B-Vitamine: keine kardiovaskuläre Prävention oder nephroprotektive Wirkung. Vitamin E: Prostatakrebsrisiko signifikant erhöht, kein Schutz vor Lungenkrebs. Selen: Krebs- und Diabetesrisiko leicht erhöht.Aus unzähligen Studien zu Vitaminwirkungen lässt sich grundsätzlich ableiten: in

Europa ist keine zusätzliche Vitamin-/Spurenelementgabe erforderlich, in der Regel genügt eine ausgewogene Ernährung. Zu hohe Dosen sind eher schädlich (wenn sie nicht, wie z.B. Vitamin C, über die Niere ausgeschieden werden).

Vermehrte Werbung bis hin zu „offenen Briefen“ an unsere Regierung haben einen Grund: nach einer neuen europäischen Richtlinie dürfen konkrete gesund-heitsbezogene Aussagen auf Lebensmitteletiketten nur noch dann gemacht werden, wenn die geltend gemachten Wirkungen durch aussagekräftige kontrollierte Stu-dien nachgewiesen sind – das Aus für „stärkt das Herz“, „reinigt den Darm“ usw.

Quellen: Arch Intern Med. 2011; 171:1633-34, kommentiert in: Dtsch. Med. Wschr 2011;136:2287, tägl.praxis 2007; 48(3): 599-602;

Frankfurter Allgemeine vom 2.11.2011, S. N2

Atomoxetin: Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutdruckes

Bei ungefähr 6 bis 12% der Kinder und Erwachsenen mit ADHS (Aufmerksam-keitsdefizit/ Hyperaktivitätssyndrom) treten unter der Therapie mit Atomoxetin (Strattera®) Herzfrequenzerhöhungen mit über 20 Schlägen und/oder Blutdrucker-höhungen über 15 bis 20 mmHg auf. Diese negativen Effekte können bei 15 bis 20% der Patienten andauern oder sich verschlimmern. Der Hersteller hat mit einem Rote-Hand-Brief reagiert, dem u.a. ein Leitfaden zur Beurteilung und Überwachung kardiovaskulärer Risiken bei Verordnung dieses Arzneistoffes beigelegt ist.

Trotz fehlender Nachweise in retrospektiven Studien (mit vermutlichem Bias) rät die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA bei allen Medikamenten zur Therapie einer ADHS (u.a. auch Methylphenidat, Ritalin® und viele Generika) zu einer regel-mäßigen Kontrolle von Herzfrequenz und Blutdruck und zählt schwere Herzerkran-kungen zu den Kontraindikationen.

Tibolon: ähnliche Risiken wie andere Mittel zur Hormonersatztherapie

Nach einer aktuellen Evaluation vorhandener Daten ist Tibolon (Liviella®) zur The-rapie postmenopausaler Symptome mit ähnlichen UAW verbunden wie andere Arz-neistoffe in dieser Indikation, insbesondere besteht kein Schutz vor Myokardinfarkt und ein ähnliches erhöhtes Risiko für Ovarialkarzinome, Brustkrebs und Schlaganfall. Einzig für ein vermehrtes Auftreten von Thromboembolien gab es keine direkten Hinweise, die Datenlage kann ein erhöhtes Risiko jedoch derzeit nicht ausschließen.

Quellen: EMA/CHMP/PhVWP/909637/2011,www.aerzteblatt.de/nachrichten/48411,

AkdÄ Drug Safety Mail 2011-186

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Seite 34 Nr. 2 / 2012KVH • aktuell

Wenn Patienten nach „Ukrain“ fragen ...

... so lautete die Überschrift einer kritischen Bekanntgabe der Arzneimittelkommis-sion der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) bereits 1989 zu einem obskuren Krebsmittel unklarer Zusammensetzung, unklarer Wirkungsweise und unklarem Standort des Herstellers (erst Österreich, dann Ukraine und die Vereinigten Arabischen Emirate).

Das BfArM hat es nun für notwendig erachtet, erneut vor der Anwendung dieses vermutlich semisynthetischen Mischpräparates aus dem alten Zytostatikum Thiotepa und aus Alkaloiden des Schöllkrautes in ungenauer Zusammensetzung dringend zu warnen. Weder in Deutschland noch in der EU ist dieses Mittel zugelassen, z.B. trotz Antrag, es in der EU als Orphan Drug (für seltene Erkrankungen) einzuführen und trotz Klage beim Europäischen Gerichtshof. Auch in der Ukraine wurde die Zulassung am 14.11.2011 widerrufen.

Anlass für die akute Warnung des BfArM schien eine verstärkte Werbung im Inter-net zu sein und Informationen über große Mengen von Ukrain, die in Deutschland und anderen EU-Staaten ungesetzlich in den Verkehr gebracht werden.

Wissenschaftliche Gesellschaften warnen, durchgeführte klinische Studien wurden nach Prüfung als ungenügend verworfen und Werbeaussagen wie „Krebs kann rückgängig gemacht werden“ oder „Ukrain kann eine Chemotherapie bei fast allen Krebsarten ersetzen“ sprechen für sich selbst.

Nachdem Ukrain intravenös appliziert werden muss, stellt sich die Frage, welche Ärztinnen und Ärzte Patienten mit diesem Mittel eine trügerische Hoffnung sugge-rieren. Den Krebspatienten, die in ihrer verzweifelten Lage nach jedem Strohhalm greifen, kann kein Vorwurf gemacht werden. Wohl aber denen, die dieses Mittel empfehlen und anwenden.

Quelle: www.aerzteblatt.de/Nachrichten/48207

Einnahmefehler: Koma, Sepsis

Eine 60-jährige Patientin mit bekannter Leberzirrhose wurde mit Verdacht auf ein Leberausfallskoma stationär aufgenommen. Trotz regelgerechter Therapie verschlechterte sich der Zustand der Patientin, unklare Peritonitiszeichen waren unter Antibiotikagabe therapieresistent, Ergebnis: eine letal verlaufende Sepsis. Die Obduktion ergab eine Darmperforation durch eine scharfkantige Ecke einer Blister-packung, die mit einer Schere zu einzelnen Tabletten zurechtgeschnitten wurde.

Orale Aufnahme eines Zäpfchens oder einer Vaginaltablette (zum Teil mit Ver-packung), Verwechslung von Milliliter (ml) mit Messlöffel (ML) und der oben ge-nannte Fall: zahlreiche Möglichkeiten von Einnahmefehlern sollten insbesondere bei multimorbiden Patienten in Betracht gezogen werden. Eindeutige Hinweise, vorzugsweise schriftlich, zur Art der Anwendung eines Arzneimittels (bis hin zur persönlichen Verabreichung) können derartige Fehler minimieren.

Quelle: Dtsch Med Wschr. 2012; 137: 126-30

Sicherer verordnen

Dr. med. Günter Hopf

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Korrespondenzadresse

PMV forschungsgruppe Fax: 0221-478-6766 Email: [email protected] http:\\www.pmvforschungsgruppe.de

Ausführliche Leitlinie im Internetwww.pmvforschungsgruppe.de> publikationen > leitlinien http://leitlinien.degam.de/index/php?id=243 www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/ hessenrisiko

Hausärztliche Leitlinie

»Kardiovaskuläre Prävention«

Tischversion August 2011

Tischversion Kardiovaskuläre Prävention

Risikoberatung Patienten über das kardiovaskuläre Gesamtrisiko informieren, lebenstiländernde und medikamentöse Maßnahmen erläutern, auf die zeitliche Perspektive hinweisen, die Änderungsprozesse benötigen. {C} Einbeziehung der Patienten in die Entscheidungs-findung verbessert die Umsetzung und Therapie-treue {A}. Die Phase der Änderungsbereitschaft, in der sich der Patient befindet, erheben {C}. Im Vergleich zu herkömmlichen Beratungskonzepten zeigt sich hier eine höhere Effizienz und ein ökonomischere Einsatz der Beraterressourcen. {B} Durchführung der Beratung zu lebensstiländernden Maßnahmen nach dem 5A-Prinzip {A}.1. Assess: Erfassen des Risikoverhaltens und der Veränderungsbereitschaft (Motivation, Wissen). 2. Advise: Direkte, deutliche Empfehlung zur Verhaltensänderung. 3. Agree: Festlegung von gemeinsamen Zielen unter Berücksichtigung der Änderungsbereitschaft. 4. Assist: Unterstützende Maßnahmen. 5. Arrange: Vereinbarung von Folgekontakten.

Die Erläuterung des Risikoscores sollte nur der Beginn der Gespräche zu diesem Thema sein – anhaltende Effekte zeigen sich nur bei wiederholten Beratungen und Erinnerungen. {B}

Interventionen: Lifestyle-Veränderungen sind vorrangig. Sie ver-bessern zusätzlich die Lebensqualität und sind unter Medikation fortzuführen. {A} Verhaltens-änderungen stellen jedoch eine Herausforderung für Patient und Arzt dar. Vorrangig stark erhöhte Risikofaktoren senken. {C}. Kombination von Interventionen ist besser als Maximierung einzelner Interventionen. {C}.

BewegungEmpfehlung zu regelmäßigem körperlichen Training (mind. 30 Min/Tag mit moderater Intensität) {A}. Jede regelmäßige moderate Bewegungseinheit >10min zählt {B}. Kombination bzw. Auswahl nach Vorlieben / Fähigkeiten.

RauchstoppJedem Raucher immer Rauchstopp empfehlen / Kurz-intervention {A}.

ErnährungAuf bedarfsangemessene Kalorienzufuhr achten, Fastfood möglichst vermeiden, auf abwechslungs-reiche Kost achten {C} Kochsalzkonsum auf unter 6g/Tag begrenzen {A} Transfettsäuren vermeiden {B} Alkohol beschränken {B}

Falls eine Medikation erforderlich ist, gelten folgende Empfehlungen: Senkung erhöhter Blutdruckwerte

Risikosenkung nur während blutdrucksenkender Behandlung {B} Auswahl der Antihypertensiva nach Verträglichkeit, Begleiterkrankung Zielwert 140/90 mmHg (für alle) {A}

Lipidsenkung (bei 10-Jahres-Gesamtrisiko für Gefäßereignisse nach arriba© >20%) {C}:

Simvastatin oder Pravastatin 20 - 40mg/d {A} – auch unabhängig von Lipidwerten {B} Bei Statinunverträglichkeit gibt es keine gleichwertige Alternative; ggf. Fibrat. {B}

GerinnungshemmungASS 100 mg/d bei Hochrisikopatienten (nach arriba© >20%/10 Jahre) {A}.

Senkung erhöhter Blutzuckerwerte (Diabetes mellitus Typ 2)

Zuerst Lifestyle-Maßnahmen (Ziel: Normoglykämie) {C} Bei jungen, neu entdeckten Diabetikern: HbA1c-Senkung durch Lebenstiländerung und/ oder Metformin: <7% {C}; bei lange bestehendem Diabetes <8% [A}. Metformin mit weiteren Antidiabetika: Ziel: HbA1c 7-8% {A}.

AdipositasDie Leitliniengruppe empfiehlt keine medika-mentöse Antiadipositastherapie {C}.

Hinweis Die Leitlinie wurde von der Hausärztlichen Leitlinien-gruppe Hessen gemeinsam mit der DEGAM erstellt. Die Leitlinie finden Sie im Internet unter www.pmvforschungsgruppe.de (s. u.) http://leitlinien.degam.de/index/php?id=243 oder auf den Seiten des ÄZQ: www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/hessenrisiko

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XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 WiesbadenPVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689

PH863453V

Tischversion Kardiovaskuläre PräventionKardiovaskuläre Prävention Herz-Kreislauf-Erkrankungen stehen an erster Stelle der Todesursachen. Deshalb ist es wichtig, Patienten mit einem hohen kardiovaskulären Risiko möglichst früh zu identifizieren, um mit geeigneten präventiven Maßnahmen die Manifestation und Progression dieser Erkrankungen zu verhindern bzw. zu verzögern. Zur Senkung des Risikos für Gefäßereignisse (Schlag-anfall, Herzinfarkt, KHK oder AVK) sind in der Regel folgende Maßnahmen empfehlenswert für alle Personen Beratung zu Lebensstil (Rauch-

stopp, regelmäßige Bewegung, bedarfsangemes-sene Kalorienzufuhr, Transfettsäuren vermeiden),

in der Primärprävention bei einem Erkrankungs-risiko berechnet z.B. mit arriba© von > 20% in 10 Jahren: zusätzlich Medikamente,

in der Sekundärprävention ( = Z. n. Gefäßereignis): zusätzlich Medikamente.

Einzelne Risikofaktoren sind selten allein ursächlich für eine Erkrankung. Meistens weist ein Patient mehrere Risikofaktoren auf, die das Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen begünstigen. So zeigt die weltweite INTERHEART-Studie (2004), dass 90% der Herz-infarktpatienten mindestens einen der folgenden neun Risikofaktoren aufwiesen: Rauchen, Hypertonie, Dia-betes mellitus, Verhältnis Taille-Hüft-Umfang, Ernäh-rungsverhalten, Bewegungsverhalten, Alkoholkonsum, Apolipoprotein im Blut und psychosoziale Faktoren. Sie waren unterschiedlich stark mit dem Auftreten eines Herzinfarktes assoziiert, wobei nicht alle in weiteren Studien bestätigt wurden, z. B. Taille-Hüft-Umfang. Übergewicht ist erst ab einem BMI ≥30 (Adi-positas) mit einer höheren KHK-Morbidität assoziert. Dennoch folgt daraus, dass die Prävention kardio-vaskulärer Ereignisse immer unter gemeinsamer Betrachtung aller relevanten Risikofaktoren - der Gesamtrisikokonstellation – erfolgen sollte.

Risikokalkulation In der Primärprävention sollte das absolute Risiko

als vorrangige Entscheidungsgrundlage dienen. Framingham-Score (arriba©) und PROCAM eignen

sich für die Risikoabschätzung in Deutschland. Das arriba©-Instrument ist besonders praktikabel

aufgrund der bildlichen Darstellung der Beeinfluss-barkeit des kardiovaskulären Risikos durch ver-schiedene Maßnahmen. Es besteht aus 6 Schritten: Aufgaben gemeinsam definieren Risiko subjektiv Risiko objektiv Information über Präventionsmöglichkeiten Bewertung der Präventionsmöglichkeiten Absprache über weiteres Vorgehen (www.arriba-hausarzt.de)

Zielgruppe für Risikoanalyse {C} Risikobestimmung (z.B. mit arriba© im Rahmen von

Gesundheitsuntersuchungen (insbesondere bei Frauen > 60 Jahre und bei Männern >55 Jahre),

wenn es der Patient wünscht, während einer Konsultation, falls

der Patient Raucher ist, Übergewicht oder Adipositas, ein oder mehrere Risikofaktoren bereits

vorliegen (Hypertonie, hohe Lipidwerte, Diabetes mellitus),

eine positive Familienanamnese bezüglich kardiovaskulärer Erkrankungen existiert,

sich Verdachtsmomente für eine kardio-vaskuläre Erkrankung ergeben, z.B. Thoraxschmerzen.

Die Leitlinienautoren sehen auch in Patienten mit psychosozialer Belastung eine Zielgruppe für die Risikoprävention. {C}