ABLE TASMANS JEAN-PAUL SATRE LLOYD COLE …...- über den ersten Auftritt bei „Top Of The Pops"...

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selektor AIR THE VIRGIN SUICIDES Warner Import Zwei Luftikusse aus Versailles entwer- fen für Sofia Coppola sentimentalen Soundtrackpop. Für ihr 1999 von Vater Francis Ford Coppola produziertes Regiedebüt „The Virgin Suicides" engagierte Sofia Coppola jenes Duo, das ein Jahr zuvor mit seinem Debütalbum MOON SAFARI nicht nur die heimatliche französische Musikszene auf den Kopf stellte: Air- Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel - setzten auf THE VIRGIN SUICIDES ihren Weg konsequent fort. Retro traf auf Futu- rismus, Eklektizismus auf Experiment, Pink Floyd auf Serge Gainsbourg und Pierre Henry auf Portishead und Massive Attack. Vom ersten Takt des in plüschig- schwüler „Je T'aime... Moi Non P/«s"-At- mosphäre inszenierten Openers „Play- ground Love" an, gesungen von einem gewissen Gordon Tracks alias Thomas Mars, Vokalist von Phoenix und seit 2011 Ehemann von Miss Coppola, versetzten Air in einen Zustand glückseliger Schwe- relosigkeit, gratwanderten aber auch gerne zwischen allzu Sentimentalemund Melancholischem, mitunter bis hart an der Grenze zum Kitsch. In vorliegendem Boxset finden sich der knapp 41-minütige Original Soundtrack sowohl auf rotem i8o-Gramm-Vinyl als auch auf CD. Auf einem zweiten Tonträger verteilen sich jeweils Studio-Outtakes, Live-Mitschnit- te aus der American Legion Hall sowie Radiosessions, dazu kommt allerhand Tand und eine Vinyl-EP. ^^MMMB Mike Köhler ABLE TASMANS ACUPPATEAANDALIEDOWN Flying Nun/Cargo JEAN-PAUL SATRE EXPERIENCE l LIKE RAIN - THESTORY OF THE JEAN-PAUL SATRE EXPERIENCE Fire Records/Cargo Zwei interessante Kiwi-Pop-Bands in der Retrospektive. Seit ein paar Jahren führt Roger Shep- herd wieder das Label, das er Anfang der 8oer-Jahre mit einer Hand voll NZL-Dol- lar in Christchurch gründete, dann ver- äußerte, um es 2009 zurückzukaufen: Flying Nun Records. Seitdem wird der Backkatalog der nach Auckland über- gesiedelten Firma aufgearbeitet, rares, vergessenes und auf Vinyl teilweise fies teures Material neu aufgelegt. Endlich, denn die neuseeländische Indie-Szene erlebte in den 8oer-Jahren eine kurze, aber sehr intensive Blütezeit. Vielleicht wäre so einiges besser gelaufen, hätten die begnadeten The Chills nicht ihre Karriere verdaddejt. So fehlte das Zug- pferd, hohe Reisekosten nach Europa machten es vielen Bands nicht gerade leichter. Oft blieb nur der Gang in den Plattenladen, um sich mit der Musik von Lo-Fi-Virtuosen (die sich gerne auch mit 4-Spur-Aufnahmegeräten, Mini- Budget und der Küche als Studio zu- frieden gaben) wie den Jean-Paul Sartre Experience zu versorgen. Lange sechs Jahre vergingen, um i LIKE RAIN - THE STORY OF THE JEAN-PAUL SARTRE EXPERIENCE ***** mit seinen stol- zen 54 Tracks fertigzustellen. Neben den drei regulären LPs LOVE SONGS, THE SIZE OF FOOD Sowie BLEEDING STAR in- klusive dem atemberaubenden Dream- Pop-Song „Breath" enthält die Box sel- tene Singles, EPs und vor allem Demos, die als Tapes in Hundefutterdosen ange- boten wurden. JPSE waren zuLebzeiten (1984-94) sehr aktiv, und in diesen zehn Jahren baute die vom Trio zum Quar- tett gewachsene Gruppe weite Brücken. Die führen von bizarren Experimental- Klängen zu klaren Pop-Strukturen, von krudem Schrammel-Rock zu sprödem C-86-Sounds, Shoegazing, anmutigen Balladen und Einflüssen wie Wire. Ver- rannt haben sie sich trotz dieser Strecke nie, und es bereitet immer noch Freude, diese so viel später noch einmal abzu- gehen. Bei den Able Tasmans, benannt nach dem holländischen Seefahrer Abel Tasman (der Entdecker von Neuseeland und Tasmanien), schlug das Pendel nie so weit aus. Die bis zu achtköpfige Grup- pe aus Auckland könnte man auch als die kleinen Geschwister von The Chills bezeichnen, denn es existieren deut- liche Parallelen. Vor allem die markante Vintage-Orgel von Mastermind Graeme Humphreys, die es immer wieder in die Sixties zieht und die im Zentrumder süf- figen, aber nicht dünnen Kiwi-Pop-Songs steht. Ein bisschen barock klingen diese zwischen zwei und vier Minuten gehal- tenen Lieder mit ihrem Folk-Einschlag, den akustischen Instrumenten, cleveren Arrangements und lockeren Melodien. Alles zu finden auf dem zeitlosen Album A CUPPATEA AND A LIE DOWN (1986 als Vinyl, 1989 als CD, *****), das nun endlich wieder erhältlich ist. Mehr noch, neben ein paar Bonus-Tracks wurde die erste Vinyl-only-EP „The Tired Sun" rangehängt. Wilder klangen die Able Tasmans da noch auf ihrer allerersten Veröffentlichung überhaupt, aber wen wundert es, wenn man gerade die nörd- lichste Stadt der Insel verlassen hat, um sich ins Abenteuer Pop zu stürzen. Der Vinyl-Edition liegen Poster, Liner Notes und Flyer bei. Sven Niechiiol l IIIDU l INI BKITISH SI-A I'OWI R . * • l * BRITISH SEA POWER THE DECLINE OF BRITISH SEA POWER Golden Chariot/Indigo Das in Vergessenheit geratene Debüt der englischen Indie-Rocker erfährt eine Wiederbearbeitung. British Sea Power existieren noch, sie veröffentlichen regelmäßig neue Mu- sik. In der Rückschau dürften sie indes nur die wenigsten noch auf dem Zettel haben, weil die Zeit ihrer ersten beiden Alben heute eher mit den Zackzack-Hits von Franz Ferdinand, Kaiser Chiefs und Konsorten in Verbindung gebracht wird als mit dieser wunderlichen Gruppe. Zwar sind zum Indie-Rock der Früh- nuller Berührungspunkte festzustellen, jedoch klangen British Sea Power nie so ausdefiniert. So ist ihr erstes Album in der Rückschau eines, das sich bei Bowie, Pulp und Joy Division ebenso bedient wie bei den Stooges und Glamrock und sel- ten übermäßigen Wert auf Formalitäten legt. Es steht breit angelegtes Gestusma- terial („FearOf Browning", „Something Wicked", am besten: „Carrion") neben lamentierendem Postpunk mit, äh, Dostojewski-Anspielungen („Apologies To Insect Life"), „Lately" schleppt sich am Ende über knapp 14 Minuten. Das Reissue kommt mit einer zweiten B-Sei- ten-CD: Das schleppende „Albert's Eyes" macht Redundanzen im restlichen Mate- rial wett, ebenso wie „A Lovely Day To- morrow", das sich hier allerdings nicht in der wunderbaren Single-Aufnahme mit den tschechischen Shoegaze-/Ambient- Semilegenden Extacy Of Saint Theresa findet, sondern in der BSP-Soloversion, die schon einige Jahre vorher als B-Seite veröffentlicht wurde. Das Reissue er- scheint auch als Vier-CD-Set, als Doppel- Vinyl und als Boxset mit Buch und DVD. * * + * ^•^•••^^ lochen Overbeck LLOYD COLE AND THE COMMOTIONS COLLECTED RECORDINGS 1983-1989 Polydor/UniVersal Das Gesamtwerk der englisch-schot- tischen Pop-Größen in einer gut aus- gestatteten Box. Interessant ist oft die Rückschau auf eine frühere Wahrnehmung, bezie- hungsweise der Vergleich dieser Wahr- nehmung mit der heutigen. Als Lloyd Cole and the Commotions 1985 EASY PIECES veröffentlichte, waren die Reak- tionen der Presse verhalten, besser als dasein Jahr zuvor veröffentlichte Debüt RATTLESNAKES wurde die Platte nur von wenigen Kritikern bewertet. „Avery poor pop record" schrieb zum Beispiel der „NME", der „Melody Maker" attes- tierte den Songs ein „Second-Hand-Ge- fühl". Wo Lloyd Cole als Novize noch mit Bob Dylan verglichen wurde, herrschte plötzlich Schulterzucken. Was für ein Irrtum: Denn wenn dieses Boxset eines lehrt, dann Folgendes: EASY PIECES, seinerzeit von Clive Langer und Alan Winstanley (Madness, The Stranglers, Elvis Costello) gegen den Willen einzel- ner Bandmitglieder deutlich wuchtiger produziert als der Erstling, ist respekta- bel gealtert und bevorratet vielleicht die besten Alltagsbeschreibungen Coles, nachzuhören in „Brand New Friend" und „Why l Love Country Music". Eine Randnotiz, sicher. Denn das erstmals in dieser Vollständigkeit zusammenge- tragene Werk der englisch-schottischen Band unterstreicht in seiner Gesamtheit vor allem die wundersamen Wege, die Pop manchmal geht. Warum bitte schön warfen die drei zwischen 1984 und 1987 veröffentlichten Alben nicht mehr Hits ab? So Simple-Minds-mäßige Hits, wie das die Plattenfirma wohl geplant hatte? Beziehungsweise: Warum wurden aus moderaten Single-Charts-Erfolgen wie „Perfect Skin", „Lost Weekend" oder „My Bog" keine Songs, die in den Kanon der Popgeschichte einflossen? Eine wirk- liche Antwort gibt das Boxset natürlich nicht, aber interessante Einblicke in das Innenleben der Band: Neben zwei CDs mit B-Seiten, Archivmaterial und Demos - ein halbes Dutzend dieser Songs dürfte auch für Cole-Fans neu sein - sowie einer DVD mit Videos und Fernsehauftritten aus den Archiven der BBCsind es be- sonders die Liner Notes des Journalisten Pete Paphides, die für Erhellung sorgen: Er zeichnet anhand vieler ausführlicher Interviews den Weg Coles und seiner Kollegen nach, von der Entdeckung in der Glasgow-Ursuppe - A&Rs verbrach- ten in der schottischen Stadt Anfang der 8oer-Jahre nach den Erfolgen von The Bluebells und Orange Juice reichlich Zeit - über den ersten Auftritt bei „Top Of The Pops" bis hin zu den Arbeiten an EASY PIECES und damit verbundenen Selbst- zweifeln. Er erzählt von der Zeit danach, in der die Band nicht wusste, ob sie die Talking Heads oder die Rolling Stones sein wollten und schließlich auf dem 300000 Pfund verschlingenden Album MAINSTREAM (1987, produziert von lan Stanley) jemand ganz anderes wurden. Und er berichtet von der Zeit danach, die Lloyd Cole selbst als „fucking long fune- ral march" bezeichnet und davon, was die Mitglieder heute so machen. Cole, das dürfte bekannt sein, veröffentlichte in den vergangenen Jahren sehr viele Platten. Schön: Er überwachte nun auch das Remastering dieses Boxsets, Nähe- res dazu ist auf seiner Facebook-Seite nachzulesen. ****** •M^_ lochen Overbeck me.97

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selektor

AIRTHE VIRGIN SUICIDES

Warner — Import

Zwei Luftikusse aus Versailles entwer-fen für Sofia Coppola sentimentalenSoundtrackpop.Für ihr 1999 von Vater Francis FordCoppola produziertes Regiedebüt„The Virgin Suicides" engagierte SofiaCoppola jenes Duo, das ein Jahr zuvormit seinem Debütalbum MOON SAFARInicht nur die heimatliche französischeMusikszene auf den Kopf stellte: Air-Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel- setzten auf THE VIRGIN SUICIDES ihrenWeg konsequent fort. Retro traf auf Futu-rismus, Eklektizismus auf Experiment,Pink Floyd auf Serge Gainsbourg undPierre Henry auf Portishead und MassiveAttack. Vom ersten Takt des in plüschig-schwüler „Je T'aime... Moi Non P/«s"-At-mosphäre inszenierten Openers „Play-ground Love" an, gesungen von einemgewissen Gordon Tracks alias ThomasMars, Vokalist von Phoenix und seit 2011Ehemann von Miss Coppola, versetztenAir in einen Zustand glückseliger Schwe-relosigkeit, gratwanderten aber auchgerne zwischen allzu Sentimentalem undMelancholischem, mitunter bis hart ander Grenze zum Kitsch. In vorliegendemBoxset finden sich der knapp 41-minütigeOriginal Soundtrack sowohl auf rotemi8o-Gramm-Vinyl als auch auf CD. Aufeinem zweiten Tonträger verteilen sichjeweils Studio-Outtakes, Live-Mitschnit-te aus der American Legion Hall sowieRadiosessions, dazu kommt allerhandTand und eine Vinyl-EP.

^̂ MMMB Mike Köhler

ABLE TASMANSA C U P P A T E A A N D A L I E D O W N

Flying Nun/Cargo

JEAN-PAUL SATREEXPERIENCE

l LIKE RAIN - THE STORY OFTHE JEAN-PAUL SATRE

EXPERIENCEFire Records/Cargo

Zwei interessante Kiwi-Pop-Bands in

der Retrospektive.Seit ein paar Jahren führ t Roger Shep-herd wieder das Label, das er Anfang der

8oer-Jahre mit einer Hand voll NZL-Dol-lar in Christchurch gründete, dann ver-äußerte, um es 2009 zurückzukaufen:Flying Nun Records. Seitdem wird derBackkatalog der nach Auckland über-gesiedelten Firma aufgearbeitet, rares,vergessenes und auf Vinyl teilweise fiesteures Material neu aufgelegt. Endlich,denn die neuseeländische Indie-Szeneerlebte in den 8oer-Jahren eine kurze,aber sehr intensive Blütezeit. Vielleichtwäre so einiges besser gelaufen, hättendie begnadeten The Chills nicht ihreKarriere verdaddejt. So fehlte das Zug-pferd, hohe Reisekosten nach Europamachten es vielen Bands nicht geradeleichter. Oft blieb nur der Gang in denPlattenladen, um sich mit der Musik vonLo-Fi-Virtuosen (die sich gerne auchmit 4-Spur-Aufnahmegeräten, Mini-Budget und der Küche als Studio zu-frieden gaben) wie den Jean-Paul SartreExperience zu versorgen. Lange sechsJahre vergingen, um i LIKE RAIN - THESTORY OF THE JEAN-PAUL S A R T R E

EXPERIENCE ***** mit seinen stol-zen 54 Tracks fertigzustellen. Nebenden drei regulären LPs LOVE SONGS, THESIZE OF FOOD Sowie BLEEDING STAR in-

klusive dem atemberaubenden Dream-Pop-Song „Breath" enthält die Box sel-tene Singles, EPs und vor allem Demos,die als Tapes in Hundefutterdosen ange-boten wurden. JPSE waren zu Lebzeiten(1984-94) sehr aktiv, und in diesen zehnJahren baute die vom Trio zum Quar-tett gewachsene Gruppe weite Brücken.Die führen von bizarren Experimental-Klängen zu klaren Pop-Strukturen, vonkrudem Schrammel-Rock zu sprödemC-86-Sounds, Shoegazing, anmutigenBalladen und Einflüssen wie Wire. Ver-rannt haben sie sich trotz dieser Streckenie, und es bereitet immer noch Freude,diese so viel später noch einmal abzu-gehen. Bei den Able Tasmans, benanntnach dem holländischen Seefahrer AbelTasman (der Entdecker von Neuseelandund Tasmanien), schlug das Pendel nieso weit aus. Die bis zu achtköpfige Grup-pe aus Auckland könnte man auch alsdie kleinen Geschwister von The Chillsbezeichnen, denn es existieren deut-liche Parallelen. Vor allem die markanteVintage-Orgel von Mastermind GraemeHumphreys, die es immer wieder in dieSixties zieht und die im Zentrum der süf-figen, aber nicht dünnen Kiwi-Pop-Songssteht. Ein bisschen barock klingen diesezwischen zwei und vier Minuten gehal-tenen Lieder mit ihrem Folk-Einschlag,den akustischen Instrumenten, cleverenArrangements und lockeren Melodien.Alles zu finden auf dem zeitlosen AlbumA CUPPA TEA AND A LIE DOWN (1986 als

Vinyl, 1989 als CD, *****), das nunendlich wieder erhältlich ist. Mehr noch,neben ein paar Bonus-Tracks wurdedie erste Vinyl-only-EP „The Tired Sun"rangehängt. Wilder klangen die AbleTasmans da noch auf ihrer allererstenVeröffentlichung überhaupt, aber wenwundert es, wenn man gerade die nörd-lichste Stadt der Insel verlassen hat, umsich ins Abenteuer Pop zu stürzen. DerVinyl-Edition liegen Poster, Liner Notesund Flyer bei.

• Sven Niechiiol

l IIIDU l INI

BKITISH SI-A I'OWI R. * • l *

BRITISH SEA POWERTHE DECLINE

OF BRITISH SEA POWERGolden Chariot/Indigo

Das in Vergessenheit geratene Debütder englischen Indie-Rocker erfährteine Wiederbearbeitung.British Sea Power existieren noch, sieveröffentlichen regelmäßig neue Mu-sik. In der Rückschau dürften sie indesnur die wenigsten noch auf dem Zettelhaben, weil die Zeit ihrer ersten beidenAlben heute eher mit den Zackzack-Hitsvon Franz Ferdinand, Kaiser Chiefs undKonsorten in Verbindung gebracht wirdals mit dieser wunderlichen Gruppe.Zwar sind zum Indie-Rock der Früh-nuller Berührungspunkte festzustellen,jedoch klangen British Sea Power nie soausdefiniert. So ist ihr erstes Album inder Rückschau eines, das sich bei Bowie,Pulp und Joy Division ebenso bedient wiebei den Stooges und Glamrock und sel-ten übermäßigen Wert auf Formalitätenlegt. Es steht breit angelegtes Gestusma-terial („FearOf Browning", „SomethingWicked", am besten: „Carrion") nebenlamentierendem Postpunk mit, äh,Dostojewski-Anspielungen („ApologiesTo Insect Life"), „Lately" schleppt sicham Ende über knapp 14 Minuten. DasReissue kommt mit einer zweiten B-Sei-ten-CD: Das schleppende „Albert's Eyes"macht Redundanzen im restlichen Mate-rial wett, ebenso wie „A Lovely Day To-morrow", das sich hier allerdings nicht inder wunderbaren Single-Aufnahme mitden tschechischen Shoegaze-/Ambient-Semilegenden Extacy Of Saint Theresafindet, sondern in der BSP-Soloversion,die schon einige Jahre vorher als B-Seiteveröffentlicht wurde. Das Reissue er-scheint auch als Vier-CD-Set, als Doppel-Vinyl und als Boxset mit Buch und DVD.* * + * ̂ •̂ •••̂ ^ lochen Overbeck

LLOYD COLE AND THECOMMOTIONS

COLLECTED RECORDINGS1983-1989

Polydor/UniVersal

Das Gesamtwerk der englisch-schot-tischen Pop-Größen in einer gut aus-gestatteten Box.

Interessant ist oft die Rückschau aufeine frühere Wahrnehmung, bezie-

hungsweise der Vergleich dieser Wahr-nehmung mit der heutigen. Als LloydCole and the Commotions 1985 EASYPIECES veröffentlichte, waren die Reak-tionen der Presse verhalten, besser alsdasein Jahr zuvor veröffentlichte DebütRATTLESNAKES wurde die Platte nurvon wenigen Kritikern bewertet. „A verypoor pop record" schrieb zum Beispielder „NME", der „Melody Maker" attes-tierte den Songs ein „Second-Hand-Ge-fühl". Wo Lloyd Cole als Novize noch mitBob Dylan verglichen wurde, herrschteplötzlich Schulterzucken. Was für einIrrtum: Denn wenn dieses Boxset eineslehrt, dann Folgendes: EASY PIECES,seinerzeit von Clive Langer und AlanWinstanley (Madness, The Stranglers,Elvis Costello) gegen den Willen einzel-ner Bandmitglieder deutlich wuchtigerproduziert als der Erstling, ist respekta-bel gealtert und bevorratet vielleicht diebesten Alltagsbeschreibungen Coles,nachzuhören in „Brand New Friend"und „Why l Love Country Music". EineRandnotiz, sicher. Denn das erstmalsin dieser Vollständigkeit zusammenge-tragene Werk der englisch-schottischenBand unterstreicht in seiner Gesamtheitvor allem die wundersamen Wege, diePop manchmal geht. Warum bitte schönwarfen die drei zwischen 1984 und 1987veröffentlichten Alben nicht mehr Hitsab? So Simple-Minds-mäßige Hits, wiedas die Plattenfirma wohl geplant hatte?Beziehungsweise: Warum wurden ausmoderaten Single-Charts-Erfolgen wie„Perfect Skin", „Lost Weekend" oder „MyBog" keine Songs, die in den Kanon derPopgeschichte einflossen? Eine wirk-liche Antwort gibt das Boxset natürlichnicht, aber interessante Einblicke in dasInnenleben der Band: Neben zwei CDsmit B-Seiten, Archivmaterial und Demos- ein halbes Dutzend dieser Songs dürfteauch für Cole-Fans neu sein - sowie einerDVD mit Videos und Fernsehauftrittenaus den Archiven der BBC sind es be-sonders die Liner Notes des JournalistenPete Paphides, die für Erhellung sorgen:Er zeichnet anhand vieler ausführlicherInterviews den Weg Coles und seinerKollegen nach, von der Entdeckung inder Glasgow-Ursuppe - A&Rs verbrach-ten in der schottischen Stadt Anfang der8oer-Jahre nach den Erfolgen von TheBluebells und Orange Juice reichlich Zeit- über den ersten Auftritt bei „Top Of ThePops" bis hin zu den Arbeiten an EASYPIECES und damit verbundenen Selbst-zweifeln. Er erzählt von der Zeit danach,in der die Band nicht wusste, ob sie dieTalking Heads oder die Rolling Stonessein wollten und schließlich auf dem300000 Pfund verschlingenden AlbumMAINSTREAM (1987, produziert von lanStanley) jemand ganz anderes wurden.Und er berichtet von der Zeit danach, dieLloyd Cole selbst als „fucking long fune-ral march" bezeichnet und davon, wasdie Mitglieder heute so machen. Cole,das dürfte bekannt sein, veröffentlichtein den vergangenen Jahren sehr vielePlatten. Schön: Er überwachte nun auchdas Remastering dieses Boxsets, Nähe-res dazu ist auf seiner Facebook-Seitenachzulesen.****** •M^_ lochen Overbeck

me.97