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Adipositas im Kindes- Einleitung B ereits im Jahr 2004 hatte die internationale Obesity Task Force (IASO) in einem Bericht an die Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) die Übergewichtigkeit bei Kindern und jungen Menschen als „a crisis in public health“ bezeichnet. Im November 2006 hat die WHO Europa in einer großen Ministerkonferenz in Istanbul folgende Fakten zu Adipositas unterstrichen: Die Prävalenz hat sich in den letz- ten beiden Jahrzehnten verdrei- facht. Übergewicht ist die häufigste ge- sundheitliche Störung im Kindesal- ter in der europäischen Region. Bei anhaltendem Trend wird es im 2010 etwa 150 Millionen adipöse Er- wachsene und 15 Millionen adipöse Kinder und Jugendliche geben. Die Lebenserwartung wird bis 2050 bei Männern um durchschnittlich fünf Jahre verringert sein. Adipositas bei Erwachsenen verur- sacht bis zu sechs Prozent der Aus- gaben im Gesundheitswesen in der europäischen Region. Die WHO Europa nennt daraufhin eine ganze Reihe von Maßnahmen, die von den einzelnen Ländern zu set- zen sind, um dem drohenden Kollaps des Gesundheitssystems, der durch die Adipositas-Pandemie verursacht wird, entgegenzuwirken. Zu diesen Maß- nahmen zählen neben der Schaffung von Strukturen zur Diagnostik und Behandlung von übergewichtigen/adi- pösen Kindern und Jugendlichen vor allem auch die Implementierung von nachweisbar wirksamen Maßnahmen zur Prävention. Dabei wurden auch konkrete Modellprojekte genannt, u.a. eines, das in Österreich durchgeführt wurde und nachweislich das Ernäh- rungsverhalten von zehn- bis 13-jäh- rigen Kindern nachhaltig beeinflussen konnte (siehe Tab 1). Im Übrigen hat die EU den Mit- gliedsländern den Auftrag gegeben, bis 2010 einen Bericht abzugeben, der die einzelnen Maßnahmen und ihre Aus- wirkungen enthalten soll. Österreich hat zwar die WHO-Charter unter- schrieben, jedoch die von der WHO geforderten Maßnahmen nach dem jet- zigen Kenntnisstand nicht umgesetzt. Im Folgenden soll der neueste Wis- sensstand des Krankheitsbildes Adi- positas bei Kindern und Jugendlichen speziell hinsichtlich der Komorbidi- täten kursorisch dargestellt werden und Maßnahmen, die zwingend notwendig erscheinen, vorgelegt werden. : 34 österreichische ärztezeitung 10 25. Mai 2008 © picturedesk.com

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Adipositas im Kindes- und Jugendalter

Einleitung

Bereits im Jahr 2004 hatte die internationale Obesity Task Force (IASO) in einem Bericht

an die Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) die Übergewichtigkeit bei Kindern und jungen Menschen als „a crisis in public health“ bezeichnet. Im November 2006 hat die WHO Europa in einer großen Ministerkonferenz in Istanbul folgende Fakten zu Adipositas unterstrichen:• Die Prävalenz hat sich in den letz- ten beiden Jahrzehnten verdrei- facht.• Übergewicht ist die häufi gste ge- sundheitliche Störung im Kindesal- ter in der europäischen Region.• Bei anhaltendem Trend wird es im 2010 etwa 150 Millionen adipöse Er- wachsene und 15 Millionen adipöse Kinder und Jugendliche geben.

Die Lebenserwartung wird bis 2050 bei Männern um durchschnittlich fünf Jahre verringert sein.• Adipositas bei Erwachsenen verur- sacht bis zu sechs Prozent der Aus- gaben im Gesundheitswesen in der europäischen Region.

Die WHO Europa nennt daraufhin eine ganze Reihe von Maßnahmen, die von den einzelnen Ländern zu set-zen sind, um dem drohenden Kollaps des Gesundheitssystems, der durch die Adipositas-Pandemie verursacht wird, entgegenzuwirken. Zu diesen Maß-nahmen zählen neben der Schaffung von Strukturen zur Diagnostik und Behandlung von übergewichtigen/adi-pösen Kindern und Jugendlichen vor allem auch die Implementierung von nachweisbar wirksamen Maßnahmen zur Prävention. Dabei wurden auch konkrete Modellprojekte genannt, u.a.

eines, das in Österreich durchgeführt wurde und nachweislich das Ernäh-rungsverhalten von zehn- bis 13-jäh-rigen Kindern nachhaltig beeinfl ussen konnte (siehe Tab 1).

Im Übrigen hat die EU den Mit-gliedsländern den Auftrag gegeben, bis 2010 einen Bericht abzugeben, der die einzelnen Maßnahmen und ihre Aus-wirkungen enthalten soll. Österreich hat zwar die WHO-Charter unter-schrieben, jedoch die von der WHO geforderten Maßnahmen nach dem jet-zigen Kenntnisstand nicht umgesetzt.

Im Folgenden soll der neueste Wis-sensstand des Krankheitsbildes Adi-positas bei Kindern und Jugendlichen speziell hinsichtlich der Komorbidi-täten kursorisch dargestellt werden und Maßnahmen, die zwingend notwendig erscheinen, vorgelegt werden. :

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Adipositas im Kindes- und JugendalterNicht mehr nur die Adipositas selbst, sondern vielmehr die Begleiter-

krankungen von adipösen Kindern und Jugendlichen haben in der

letzten Zeit dramatisch an Bedeutung gewonnen. Bei rund einem

Drittel aller kindlichen Diabetesfälle handelt es sich um Alters-Diabetes;

mehr als der Hälfte aller höhergradig übergewichtigen Jugendlichen

hat psychische Probleme. Von Kurt Widhalm*

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Beispiele für kontrollierte, evaluierte Studien zur Prävention bei Kindern

Setting: Conclusio:1 Dänemark: Familienberatung, Einkauf und Planung der Mahlzeiten Gewichtsabnahme bei Kindern während zweijähriger Intervention.2 Deutschland: Kiel Obesity Prevention Study (KOPS), acht-jährige Verbessertes Ernährungswissen und physische Aktivität, geringere Schulorientierte Intervention bei anfangs Fünf- bis Siebenjährigen Fernsehzeiten.3 Deutschland: STEP TWO Schul-orientierte Intervention bei sieben- Verringerte Rate der BMI-Zunahme, reduzierter systolischer bis neunjährigen Kindern Blutdruck.4 Israel: Klinische multidisziplinäre Ernährungs-, Verhaltens- und Verringertes Körpergewicht, reduzierter BMI, verbesserte Fitness Bewegungsintervention bei Kindern und Jugendlichen v.a. bei Kindern mit normalgewichtigen Eltern.5 Kreta, Griechenland: Schul-orientierte Gesundheitserziehung bei Verbesserter BMI in Interventionsgruppe verglichen zur Kontroll sechs- bis zwölfjährigen Kindern gruppe, in beiden Gruppen Anstieg des BMI, v.a. des Anteils an übergewichtigen Kindern.6 Österreich: PRESTO multi-disziplinäres Schulprojekt bei zehn- bis Verbesserung des Ernährungswissens, keine Änderung des BMI. zwölfjährigen Kindern (Pilotstudie)7 UK: „Be Smart“: Schul- und Familienintervention bei fünf- bis Verbessertes Ernährungswissen und höherer Obst- und Gemüse siebenjährigen Kindern konsum. Keine signifikante Veränderung der Prävalenz von Über- gewicht.8 UK: „MAGIC“: zwölfwöchiges Programm in Vorschulen (drei bis Bis zu 40 Proeznt gesteigerte physische Aktivität. Änderung der vierjährige Kinder) zur Förderung von körperlicher Bewegung Prävalenz von Adipositas unbekannt. (Pilotstudie)9 UK: „APPLES“: Schulorientierte Intervention bei sieben- bis elf- Verbesserungen des Ernährungsmusters. Keine BMI- Änderungen. jährigen Kindern Tab. 1

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Defi nition

Hinsichtlich der Defi nition der Adi-positas hat man sich international auf die deutliche Vermehrung der Fettge-websmasse, besonders des abdominellen Fettes festgelegt. Der Grund dafür liegt darin, dass es genügend Hinweise gibt, dass auch beim Kind und beim Jugend-lichen das abdominelle Fett den ent-scheidenden Parameter darstellt, der für weitere Komplikationen und Comor-biditäten verantwortlich zu machen ist. Die Messung des Gesamtkörperfettes ist mit verschiedenen Methoden möglich, wobei als Standardmethode die Dexa-Technik angesehen wird. Für Routine-zwecke können auch Bioimpedanzver-fahren herangezogen werden; letztere Methode hat den Nachteil, dass nur we-nige Geräte verlässliche Werte liefern.

Für Kinder und Jugendliche hat die Arbeitsgruppe von Andrew Prentice aus London Normogramme für die Beurtei-lung des Prozentanteiles des Fettgewebes am Organismus entwickelt (Abb. 1 und 2). Man muss jedoch darauf hinweisen, dass die Verwendung der Bioimpedanz-technik neben der Auswahl eines geeig-neten Gerätes eine Reihe von Untersu-chungsbedingungen (Nüchternheit, 15 Minuten Ruhelage vor Messung etc.) voraussetzt. Zur Messung des abdomi-nellen Fettes kann der Bauchumfang herangezogen werden; dafür ist eine Ta-belle (Tab. 2) verfügbar. Für epidemio-logische Untersuchungen wird nach wie vor der BMI herangezogen, da er einfach zu berechnen ist und für Massenunter-suchungen die Bioimpedanz-Technik kaum anwendbar ist.

Für den BMI gibt es altersabhängige und geschlechtsabhängige Percentilen-kurven, die aufgrund von internatio-nalen gesammelten Samples (Cole et al) oder national zusammengestellten Daten (Krohmeyer-Hauschild et al) zusammengestellt worden sind. Hier ergibt sich schon die Frage, welche Cut off-Levels und welche Tabellen für die Feststellung der Prävalenz der Übergewichtigkeit/Fettsucht ver- :

Normogramme für Körperzusammensetzung

Normogramme für Bauchumfang

Abb. 2

Abb. 1

Fernandez JR et al. J pediatrics 145:439-444 (2004) Tab. 2

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: wendet werden sollen. Will man internationale Vergleiche anstellen, bie-ten sich die Cole-Kriterien an; will man Vergleiche mit Deutschland führen, so können die nationalen verwendet ver-wendet werden.

Es muss jedoch festgehalten werden, dass bei der Verwendung von unter-schiedlichen Tabellen unter Heranzie-hung der üblichen Kriterien (> 90. Perc. = Übergewicht, > 97. Perc. = Adipositas/Fettsucht) stark unterschiedliche Prä-valenzzahlen für das selbe Kollektiv zu finden sind.

Letztlich ist es jedoch nicht wesent-lich, ob die Prävalenz 18, 22 oder 25 Prozent ist. Die Häufigkeiten in unseren Breiten ist derartig hoch, dass etwa bei je-dem vierten oder fünften Kind mit dem Vorliegen von Übergewicht zu rechnen ist. Genaue Zahlen eines großen Wiener Kollektivs zeigen altersabhängige Prä-valenzen zwischen 18 und 25 Prozent. Sehr interessant ist beispielsweise das Er-gebnis für einzelne Bezirke in Wien, wo-bei sich Prävalenzen zwischen neun und 29 Prozent zeigen. Die Gründe dafür sind letztlich noch nicht ganz klar; hier ist intensiver Forschungsbedarf auch auf sozio logischem und soziodemogra-phischem Gebiet gegeben.

Comorbiditäten

Die Begleiterkrankungen bei juve-niler Adipositas haben in letzter Zeit dramatisch an Bedeutung gewonnen,

vor allem deshalb, weil klinisch ein-drucksvolle Manifestationen der Co-morbiditäten, die bisher in der Pädia trie praktisch nicht bekannt waren, sicht-bar geworden sind. Als Beispiel soll die Manifestation des Typ II-Diabetes im Kindesalter genannt werden, die in Mit-teleuropa bei ein bis zwei von 200 über-gewichtigen Kindern auftritt.

a) Störungen im Glukose-Stoffwechsel - Diabetes mellitus Typ II

Nach internationalen Statistiken sind bereits bis ein Drittel aller kindlichen Dia betesfälle sogenannte Typ II-Diabetes oder Altersdiabetes. Diese Erkrankung ist wiederum mit Gefäßveränderungen besonders in den Nieren, Augen und Koronararterien assoziiert. Ein Patient mit manifestem Typ II-Diabetes mel-litus hat meist keine Symptome, kann somit nur mit Hilfe von Belastungstests diagnostiziert werden. Die Vorstufe zum Typ II-Diabetes mellitus stellen die ge-störte Glukosetoleranz und deren Basis, die Insulinresistenz, dar.

b) Fettleber (Non alcoholic fatty liver disease NAFLD)

Die Fettleber bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen hat enorm an Bedeutung gewonnen: Neueren Un-tersuchungen zufolge wird bei zehn bis 60 Prozent der übergewichtigen Jugend-lichen eine Fettleber diagnostiziert. Die diagnostischen Parameter sind erhöhte Transaminasen und/oder eine im So-nogramm erkennbare Steatosis hepatis (Abb. 3).

Der Entstehungsmechanismus der Fettleber ist nicht ganz klar. Neueste Daten deuten jedoch stark darauf hin, dass die Insulinresistenz eine Vorausset-zung für die Entstehung der Fettleber zu sein scheint. In manchen Fällen entsteht neben einer Steatose auch eine Fibrose und hepatozelluläre Degeneration, die als Basis für eine Zirrhose angesehen wird. Eine Unterscheidung dieser bei-den Formen ist nur durch eine histolo-gische Beurteilung (Leberbiopsie) mög-lich. Anlässlich einer Expertenkonferenz zu diesem Thema Anfäng März 2008 wurde in Malmö einstimmig vorgeschla-gen, nach Ausschluss anderer möglicher Ursachen, die zu einer Steatosis führen können (entzündliche Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Speicher-erkrankungen, metabolische Erkran-kungen etc.) eine histologische Unter-suchung anzustreben. Der Grund dafür ist eine frühzeitige Intervention, sei es durch Gewichtsreduktion, sei es durch medikamentöse Maßnahmen wie Met-formin etc.

c) Gefäßveränderungen

Neueste Studien zeigen in eindrucks-voller Weise, dass Gefäßveränderungen (sichtbar gemacht an einer Verdickung der IMT in der Carotis, oder durch Messungen der Gefäßelastizität) bei übergewichtigen Jugendlichen eindeu-tig nachweisbar sind (Abb. 4 auf Seite 40). Diese Veränderungen korrelieren manchmal mit dem Ausmaß der Adi-positas. Es scheinen jedoch noch ande-re Faktoren wie die endotheliale :

Steatosis hepatis – Gewebeschnitt eines 11-jährigen Buben mit hochgradigem Übergewicht Abb. 3

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: Dysfunktion und möglicherweise die Insulinresistenz eine kausale Rolle zu spielen. Diese neueren Befunde las-sen „tradierte Meinungen“, nämlich, dass bei Übergewichtigen die Gefäße, besonders die Arterien nicht betroffen seien, haltlos dastehen. Diese Befunde erfordern naturgemäß auch eine spezi-fische sensitive Gefäßdiagnostik, die als Routineparameter in das diagnostische Repertoire inkludiert werden sollte. Die Inflammation – abzulesen an einer signifikant erhöhten CRP-Konzentra-tion ihrerseits – begünstigt eine Reihe von Stoffwechselveränderungen (unter anderem durch die Sekretion von ei-nigen gefäßaktiven Substanzen), wel-che die Entstehung einer frühzeitigen Atherosklerose begünstigen. Die gute Nachricht dabei: Diese Veränderungen sind durch Intervention (Diät und kör-perliche Aktivität) reversibel, weswegen dieser Befund ein besonders starkes Ar-gument für wirksame therapeutische Maßnahmen darstellen sollte.

d) Das zentrale metabolische „Dearrangement“ ist die Insulinresistenz.

Diese führt zu einer verminderten Glukoseaufnahme im Muskel, zu einer vermehrten VLDL-Produktion (eiweiß-reicher als normal) in der Leber. Diese führen zu einer Hypertriglyceridämie und sekundär zur Erniedrigung der HDL-Konzentration und Entstehung von kleinen, dichten atherogenen LDL-Partikel. Die Insulinresistenz ist somit auch der Link zu Veränderungen des Fettstoffwechsels und über endokrine

Mechanismen (Interleukin 6, Tumor-Nekrose-Faktor etc.), Bindeglied zur endothelialen Dysfunktion und zur In-flammation (Abb. 5).

Die Insulinresistenz stellt die Vor-stufe zur gestörten Glukosetoleranz (Prä-Diabetes) dar, die zum Typ II- Diabetes (Altersdiabetes) führt. In ei-ner jüngst veröffentlichten Studie der Yale University konnte gezeigt werden, dass bei übergewichtigen Jugendlichen mit gestörter Glukosetoleranz (defini-tionsgemäß: 2 Stunden-Glukosewert zwischen 140-200 mg/dl) bereits nach 21 Monaten bei einem Drittel der Pa-tienten eine Manifestation des Diabetes mellitus Typ II nachgewiesen werden kann. Ein weiteres Drittel hat sich je-doch nach diesem Zeitraum hinsicht-lich der Glukoseverwertung wieder normalisiert.

Die Ursachen für diese Translati-onsmechanismen sind nicht bekannt. Höchst bemerkenswert ist jedenfalls die Tatsache, dass der Übergang von einer gestörten Glukosetoleranz zu einem Typ II-Diabetes beim Kind/Jugendlichen sehr viel rascher vor sich geht als beim Erwachsenen. Für die Praxis ergibt sich folgende Konsequenz: Bei hoch-gradig übergewichtigen Jugendlichen (etwa ab der 97. Percentile) und bei zusätzlichen Kriterien, die eine Insulin-resistenz anzeigen (zum Beispiel deut-liche Striae) ist die Durchführung eines oralen Glukosetoleranztestes jedenfalls mit Insulinbestimmungen indiziert. Eine Bestimmung der Nüchtern-Glu-kose hat keinerlei diagnostischen Wert.

e) Hypertonie

Bei einem Großteil der übergewich-tigen Kinder und Jugendlichen kann

IMT (gemessen mit Sonographie) Abb. 4 Pathophysiologie des Stoffwechsels bei Übergewicht Abb. 5©

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Schwere Knorpeldefekte in den Kniegelenken bei übergewichtigen Jugendlichen: li.: 12-jähriges Mädchen 155 cm, 81 kg, BMI 33,7; re.: 13-jähriger Knabe: 150 cm, 106,5 kg, BMI 47,3 Abb. 6

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eine arterielle Hypertonie festgestellt werden. Diese ist jedoch nicht leicht zu diagnostizieren. Konkret konnten neueste Studien aus der Schweiz zei-gen, dass eine adäquate Diagnostik nur mittels 24h-Blutdruckmessung durchführbar ist. Dass eine derartige Maßnahme aufgrund der derzeit vor-handenen Infrastruktur kaum reali-sierbar sein wird, liegt auf der Hand, enthebt den Arzt jedoch keineswegs von der Verpflichtung, hier sorgfältige Diagnostik zu betreiben.

f) Gelenksschäden

Neueste – bisher noch nicht ver-öffentlichte Untersuchungen der kli-nischen Abteilung für Unfallchirurgie der Medizinischen Universität Wien – zeigen Besorgnis erregende Verände-rungen an der Knorpelsubstanz in den Kniegelenken von hochgradig überge-wichtigen Jugendlichen. So sind bei der Mehrzahl von rund 25 morbid adipösen Jugendlichen massive Knor-pelveränderungen mit Spezialmetho-den nachgewiesen worden, die zum Teil die Schmerzen, welche die Ju-gendlichen empfinden, erklären. Für therapeutische Interventionen (Sport-programme etc.) ist die Kenntnis die-ser Veränderungen von eminenter Be-deutung (Abb. 6 ). Besonders ist auch darauf Bedacht zu nehmen, dass Be-troffene mit Knorpelschäden nur be-dingt bestimmte Sportarten ausüben können.

g) Metabolisches Syndrom

Unter diesem Begriff versteht man allgemein ein Zusammentreffen von mehreren pathogenen Faktoren, die zusammen das Risiko für kardiovasku-läre Ereignisse, verminderte Lebenser-wartung etc. erhöhen. In der Literatur existieren die unterschiedlichsten De-finitionen; in den meisten scheinen folgende Faktoren auf: abdominelle Adipositas, Hypertonie, Insulinresi-stenz, gestörte Glukosetoleranz, Dia-betes, Dyslipidämie (TG↑, HDL↓).

Für Kinder und Jugendliche sind ebenso eine Reihe (derzeit 17) von verschiedenen Definitionen publiziert; allerdings existiert derzeit noch kein Konsens über den Sinn einer derar-tigen „Syndrom-Diagnostik“. In einer jüngst publizierten kritischen Arbeit werden andere Faktoren wie Geburts-gewicht, Entwicklung der Adipositas, Fettleber, endotheliale Dysfunktion als wesentliche pathogene Mechanis-men erwähnt.

h) Psychische Probleme

Psychische Probleme wie gestörtes Selbstbewusstsein, depressive Verhal-tensmuster, die letztlich zur Isolation der Betroffenen führen, werden bei mehr als der Hälfte von höhergradig übergewichtigen Jugendlichen berich-tet. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass ein Großteil dieser Jugendlichen aus Familien stammt, in denen Pro-bleme zwischen Eltern und anderen Familienmitgliedern sehr stark sind und zu einer Stigmatisierung der Kinder und Jugendlichen führen. Als dramatischer Hilfeschrei sind selbst zugefügte Verletzungen (Hautritzen mit Rasierklingen etc) aufzufassen, die deutlich zeigen, in welch schlim-mer psychischer Verfassung sich der Jugendliche befindet. Dieses Faktum macht deutlich, dass eine therapeu-tische Intervention ohne professionelle

psychologische Betreuung von vornhe-rein zum Scheitern verurteilt ist.

Therapieoptionen

Aus den bisher vorgelegten Fakten geht klar hervor, dass – wie in der Me-dizin üblich – vor Beginn einer The-rapie eine exakte somatische und psy-chologische Diagnostik unabdingbar ist. Das heißt, es müssen metabolische und andere Komorbiditäten ausge-schlossen werden, selbstverständlich inklusive einer psychologischen Un-tersuchung.

a) Konventielle Therapie

Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist das Vorhandensein eines multi-disziplinären professionellen Teams (bestehend aus einem erfah-renen Arzt, einem Diättherapeuten, einer Sporttherapeutin, einem Psycho-logen und ev. einem Sozialarbeiter), das auf diesem Gebiet entsprechende Erfahrung vorweisen kann. Die Gui-delines dazu sind in den AGA-Leitli-nien klar beschrieben.

Basis einer ernährungstherapeu-tischen Intervention ist die Erstellung eines Ernährungsprotokolls, das Erler-nen und Bewusstmachung der eigenen Ernährungsgewohnheiten und daraus folgend eine nachhaltige intensive :

Methoden der bariatrischen Operation bei morbider Adipositas Abb. 7

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: ernährungstherapeutische Schu-lung. Diese muss anfangs wöchentlich erfolgen.

Bei höhergradigem Übergewicht und bei schon vielfach fehlgeschla-genen Therapieversuchen (inklusive Diätlager) ist nach entsprechender Indikationsstellung durch die Psycho-login ein Aufenthalt in einem Reha-bilitations-Institut für übergewichtige Kinder und Jugendliche über mehrere Monate indiziert. Derartige Thera-pieeinrichtungen mit multiprofessio-neller Betreuung gibt es derzeit nur in Berchtesgaden (Klinik Schönsicht, Kli-nik Insula etc.). Nachuntersuchungen von dort behandelnden Patienten zei-gen nach drei bis vier Jahren Erfolge von mindestens 30 Prozent, was einer nachhaltigen günstigen Verbesserung im Vergleich zu anderen Therapien gleichzusetzen ist.

Ein in Österreich ins Leben ge-rufenes Pilotprojekt (Buchenort bei Waidhofen/Ybbs) ist zwar als ambi-tioniert anzusehen, hat aber mangels Einbindung in Behandlungsstruk-turen, die vorher und nachher statt-finden, nicht zum gewünschten Erfolg geführt.

b) Chirurgische Verfahren

Bei extremen Adipositasformen sind heute nach international fest-gelegten Kriterien (Fried et al 2007) auch bariatrische Operationen in die Überlegungen miteinzubeziehen. Die Kriterien dafür sind: BMI über 40, abgeschlossenes Knochen- und Skelett-wachstum, psychische Reife etc. Erste Ergebnisse von Nachbeobachtungen über einen Zeitraum von vier Jahren an zehn Jugendlichen zeigen, dass Gastric Banding offensichtlich nicht zu einem nachhaltigen Erfolg führt, eine Gastric Bypass-Operation hingegen mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit für eine nachhaltige Gewichtsredukti-on assoziiert ist (Abb. 7, Seite 41).

c) PräventionDas Problem Adipositas kann nur

mit einer massiven Verstärkung von Präventions-Maßnahmen einigerma-ßen erfolgreich angegangen werden. Wirksame Präventions-Maßnahmen müssen jedoch auf vielen Ebenen er-folgen, inkludieren eine Bewusstseins-änderung der Öffentlichkeit, der Ge-sundheitsbehörden, der Ärzteschaft, der Lehrer etc..

Natürlich spielt auch die Werbung eine wesentliche Rolle. Hier bemüht sich die EU, sie in die Richtung zu bewegen, dass vermehrt für gesunde Produkte Werbung betrieben wird. Neben einer wirksamen Änderung der Ernährungsgewohnheiten (die al-lein aufgrund von sogenannten Emp-fehlungen in keiner Weise beeinflusst werden können) muss der Steigerung der körperlichen Aktivität und der Verminderung der sitzenden Tätig-keiten (Fernsehen, Computer etc.) zentrale Bedeutung zukommen.

Erfolg versprechende Projekte – nicht nur aus Österreich (Presto), auch aus anderen Ländern – lie-gen vor und müssten nur in grö-ßerem Stil umgesetzt werden (siehe Tab. 1 auf Seite 35). Dazu ist eine Bewusstmachung des Problems und das Zurückgreifen auf wissen-schaftlich fundierte Fakten unabding-bare Voraussetzung. Vom Denken in diesen Kategorien sind wir in Öster-reich jedoch noch weit entfernt.

Zusammenfassung

Laut WHO ist Übergewicht/Adi-positas zum größten Gesundheitspro-blem Europas geworden. Gleichgültig wie hoch letztlich die Prävalenz in den einzelnen Ländern ist: Um diese Pan-demie einzudämmen, sind nachhaltige und wirksame Maßnahmen erforder-lich. Wenig bewusst – auch in Medizi-nerkreisen – ist die Tatsache, dass Adi-

positas eine chronische Erkrankung darstellt und dementsprechende dia-gnostische und therapeutische Maß-nahmen unabdingbar macht.

Zur basalen Diagnostik zählt die Bestimmung des Körperfettgehaltes (zum Beispiel mit BIA), die Erfassung von häufigen Stoffwechsel-Begleit-störungen (Insulinresistenz, gestörte Glukosetoleranz, Dyslipidämie), die Diagnostik einer Steatosis hepatis und eine umfassende psychologische/sozialmedizinische Untersuchung. Therapeutische Verfahren müssen multidisziplinär (Arzt, Diättherapeut, Sporttherapeut, Psychologe, Sozial-arbeiter) sein, nachhaltig stattfinden und in ihrer Effektivität evaluiert und nachweisbar wirksam sein.

Alles Augenmerk muss auf die Prävention gerichtet sein: Bei jedem Arztbesuch muss der Ernährungszu-stand beurteilt werden, um frühzeitig präventive Maßnahmen einleiten zu können.

Ohne massive „Mobilmachung“ durch das öffentliche Gesundheits-wesen (Schaffung von wirksamen In-frastrukturen, Bewusstmachung des Problems etc.) werden die Ärzte dem Problem weitgehend machtlos gegenü-berstehen. Das heißt: Es ist ein Kraft-akt der für die Gesundheitspolitik Verantwortlichen notwendig. Bisher haben sie diesem gewaltigen Gesund-heitsphänomen mehr oder weniger ta-tenlos zugesehen. 9

Literatur beim Verfasser

*) Univ. Prof. Dr. Kurt Widhalm, Abteilung für Ernährungsmedizin und Prä-vention/Universitäts-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Wien, Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien; Tel. 01/40 400/23 37; E-Mail: [email protected]

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