Adorno-Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität

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Adorno Theodor W. Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität GS 8, S. 238ff. In der Entwicklung der Sozialwissenschaften nach Durkheim, die um seiner Ansicht von der gesellschaftlichen Objektivität willen ihn, den Positivisten, ähnlich zum Metaphysiker stempelte wie er selbst Comte, hat die Vormacht jener Objektivität paradox sich ausgeprägt. Einesteils ist sie so umfassend und total geworden, daß die Erkenntnis kaum ein dos moi pou sto mehr findet, von wo aus jene Vormacht sich nach gängigen wissenschaftlichen Kriterien konkretisieren ließe. Darum wird die unbequeme als unwissenschaftlich vernachlässigt. Andererseits ist die protokollierbare und meßbare Verhaltensweise aller Subjekte von dem ihr vorgängigen Allgemeinen durch dessen Diktat wie durch einen undurchdringlichen Vorhang getrennt. Das Allgemeine ist so sehr der Fall, daß es nichts durchläßt, was nicht der Fall wäre. Je kompletter die objektive Totalität, desto höriger sieht das erkennende Bewußtsein auf ihre subjektive Reflexionsform sich beschränkt, die Monadologie, in der einst Leibniz die Vorstellung des Allgemeinen als seiner selbst unbewußten Inhalt der fensterlosen Partikularitäten agnosziert hatte. Der Zusammenhang, überwältigend geworden, wird unsichtbar. Bereits in der Rousseauschen Distinktion von volonté générale und volonté de tous weist beides auseinander, freilich noch mit der Wendung, daß dem objektiv sich durchsetzenden Allgemeinen, das mit der Summe der Inhalte subjektiven Bewußtseins nicht harmoniert, Priorität gebühre. Angst vor dem dadurch eingeleiteten Mißbrauch, das Allgemeine, in dem ohnehin die gesellschaftlichen Kräfte wider das Besondere aufgespeichert sind, theoretisch nochmals totalitär zu erhöhen, hat fraglos beigetragen zur verblendeten Reduktion des Ganzen auf seine individuellen Korrelate. Selbst die Theorie des Antipsychologen Max Weber vom verstehbaren sozialen Handeln hat daran teil. Vollends wurde sie apologetisch brauchbar, als man, aus eitel wissenschaftlicher Objektivität, das Gedächtnis an die des Gegenstands, der Gesellschaft selbst, abschaffte. Dann mußte für die, welche das zu Verstehende leugnen, auch das Verstehen in den Orkus. Weil an keiner einzelnen subjektiven Verhaltensweise der objektive Mechanismus der Gesellschaft adäquat sich greifen lasse, wird der aus einem Universum subjektiver Verhaltensweisen abstrahierten Allgemeinheit die höhere wissenschaftliche Objektivität zugebilligt und die gesellschaftliche Objektivität selber, welche nicht nur die subjektiven Verhaltensweisen, sondern auch die wissenschaftlichen Fragestellungen determiniert, als Aberglauben verketzert. Ideologisch bietet das den Vorteil, daß kritische Theorie der Gesell- schaft durch ordnende Begriffsschemata substituiert wird, die ihrerseits nichts anderes sind als Klassifikationen von subjektiv Vorfindlichem. Trotz der inhaltlichen Lehre vom Kollektivbewußtsein, deren berühmtestes Exempel die temporäre Konstanz der Selbstmordziffern ist; trotz seines wenn man will Hegelschen Erbes partizipiert selbst Durkheim an dieser Tendenz: seine Methode faßt den objektiven Geist eines Kollektivs, überraschend genug, als Durchschnittswert und operiert statistisch. Dadurch allerdings wäre er konsequenterweise doch wieder an jene psychologischen Fakten gekettet, die er, im Namen der soziologischen Vormacht der Allgemeinheit, gerade bestreitet: »L'ensemble des croyances et des sentiments communs à la moyenne des membres d'une même société forme un système déterminé qui a sa vie propre; on peut l'appeler la conscience collective du commune. Sans doute, elle n'a pas pour substrat un organe unique; elle est, par définition, diffuse dans toute l'étendue de la société; mais elle n'en a pas moins des charactères spécifiques qui en font une réalité distincte. En effet, elle est indépendante des conditions particulières où les individus se trouvent placés; ils passent, et elle reste ... De même, elle ne change pas à chaque génération, mais elle relie au contraire les unes aux autres les générations successives. Elle est donc tout autre chose que les consciences

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Theodor W. AdornoAus Soziologische Schriften I

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Adorno Theodor W. Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität GS 8, S. 238ff. In der Entwicklung der Sozialwissenschaften nach Durkheim, die um seiner Ansicht von der gesellschaftlichen Objektivität willen ihn, den Positivisten, ähnlich zum Metaphysiker stempelte wie er selbst Comte, hat die Vormacht jener Objektivität paradox sich ausgeprägt. Einesteils ist sie so umfassend und total geworden, daß die Erkenntnis kaum ein dos moi pou sto mehr findet, von wo aus jene Vormacht sich nach gängigen wissenschaftlichen Kriterien konkretisieren ließe. Darum wird die unbequeme als unwissenschaftlich vernachlässigt. Andererseits ist die protokollierbare und meßbare Verhaltensweise aller Subjekte von dem ihr vorgängigen Allgemeinen durch dessen Diktat wie durch einen undurchdringlichen Vorhang getrennt. Das Allgemeine ist so sehr der Fall, daß es nichts durchläßt, was nicht der Fall wäre. Je kompletter die objektive Totalität, desto höriger sieht das erkennende Bewußtsein auf ihre subjektive Reflexionsform sich beschränkt, die Monadologie, in der einst Leibniz die Vorstellung des Allgemeinen als seiner selbst unbewußten Inhalt der fensterlosen Partikularitäten agnosziert hatte. Der Zusammenhang, überwältigend geworden, wird unsichtbar. Bereits in der Rousseauschen Distinktion von volonté générale und volonté de tous weist beides auseinander, freilich noch mit der Wendung, daß dem objektiv sich durchsetzenden Allgemeinen, das mit der Summe der Inhalte subjektiven Bewußtseins nicht harmoniert, Priorität gebühre. Angst vor dem dadurch eingeleiteten Mißbrauch, das Allgemeine, in dem ohnehin die gesellschaftlichen Kräfte wider das Besondere aufgespeichert sind, theoretisch nochmals totalitär zu erhöhen, hat fraglos beigetragen zur verblendeten Reduktion des Ganzen auf seine individuellen Korrelate. Selbst die Theorie des Antipsychologen Max Weber vom verstehbaren sozialen Handeln hat daran teil. Vollends wurde sie apologetisch brauchbar, als man, aus eitel wissenschaftlicher Objektivität, das Gedächtnis an die des Gegenstands, der Gesellschaft selbst, abschaffte. Dann mußte für die, welche das zu Verstehende leugnen, auch das Verstehen in den Orkus. Weil an keiner einzelnen subjektiven Verhaltensweise der objektive Mechanismus der Gesellschaft adäquat sich greifen lasse, wird der aus einem Universum subjektiver Verhaltensweisen abstrahierten Allgemeinheit die höhere wissenschaftliche Objektivität zugebilligt und die gesellschaftliche Objektivität selber, welche nicht nur die subjektiven Verhaltensweisen, sondern auch die wissenschaftlichen Fragestellungen determiniert, als Aberglauben verketzert. Ideologisch bietet das den Vorteil, daß kritische Theorie der Gesell- schaft durch ordnende Begriffsschemata substituiert wird, die ihrerseits nichts anderes sind als Klassifikationen von subjektiv Vorfindlichem. Trotz der inhaltlichen Lehre vom Kollektivbewußtsein, deren berühmtestes Exempel die temporäre Konstanz der Selbstmordziffern ist; trotz seines wenn man will Hegelschen Erbes partizipiert selbst Durkheim an dieser Tendenz: seine Methode faßt den objektiven Geist eines Kollektivs, überraschend genug, als Durchschnittswert und operiert statistisch. Dadurch allerdings wäre er konsequenterweise doch wieder an jene psychologischen Fakten gekettet, die er, im Namen der soziologischen Vormacht der Allgemeinheit, gerade bestreitet: »L'ensemble des croyances et des sentiments communs à la moyenne des membres d'une même société forme un système déterminé qui a sa vie propre; on peut l'appeler la conscience collective du commune. Sans doute, elle n'a pas pour substrat un organe unique; elle est, par définition, diffuse dans toute l'étendue de la société; mais elle n'en a pas moins des charactères spécifiques qui en font une réalité distincte. En effet, elle est indépendante des conditions particulières où les individus se trouvent placés; ils passent, et elle reste ... De même, elle ne change pas à chaque génération, mais elle relie au contraire les unes aux autres les générations successives. Elle est donc tout autre chose que les consciences

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particulières, quoiqu'elle ne soit réalisée que chez les individus. Elle est le type psychique de la société, type qui a ses propriétés, ses conditions d'existence, son mode de développement, tout comme les types individuels, quoique d'une autre manière.«1 Die freilich dem behandelten Sachverhalt recht adäquate Verdinglichung des Kollektivgeistes entspricht zu genau der Durkheimschen Methode des chosisme, als daß man sie nicht auch als dessen Funktion ansehen müßte, die eines Verfahrens, das bei allem parti pris für die große Zahl in isolierten subjektiven Daten ihr Fundament hat. Daß die Gesellschaft dazu tendiert, Vermittlungskategorien zu kassieren und durchs unmittelbare Diktat Identität zu erpressen, entbindet die theoretische Reflexion nicht von der Frage nach der Vermittlung zwischen den Daten und dem Gesetz. Bei dem Nominalisten Durkheim grenzt der Primat des Allgemeinen ans Mirakel. Unbestreitbar sein Verdienst, daß er die wissenschaftliche Objektivität dessen, was bei Hegel metaphysisch Weltgeist oder Volksgeist hieß, gegen die subjektivistische Aufweichung verfocht, welche die reale Depotenzierung der Subjekte begleitet. Aber auch er willfahrte jenem Denkmodus, dem das An sich der Objektivität des »Geistes« nämlich der Gesellschaft - und das angebliche Fürsichsein der Individuen absolut xoris bleiben. Für das reziproke aufeinander Verwiesensein antagonistischer Momente fehlte ihm das Organ. Durkheims Begriff der faits sociaux ist durchaus aporetisch: er transponiert Negativität, die Undurchsichtigkeit und schmerzhafte Fremdheit des Sozialen für den einzelnen, in die methodische Maxime: du sollst nicht verstehen. Den fortdauernden Mythos, Gesellschaft als Schicksal, dupliziert er mit positivistischer Wissenschaftsgesinnung. Dabei verkörpert sich in der Doktrin von den faits sociaux ein Erfahrenes. Was dem Individuum gesellschaftlich widerfährt, ist ihm tatsächlich soweit unverständlich, wie das Besondere nicht im Allgemeinen sich wiederfindet: nur eben wäre diese Unverständlichkeit von der Wissenschaft zu verstehen, anstatt daß diese sie als ihr eigenes Prinzip adoptierte. Woran Durkheim das spezifisch Gesellschaftliche erkennen will, die Undurchdringlichkeit der Norm und die Unerbittlichkeit der Sanktionen, ist kein Kriterium der Verfahrungsweise, sondern ein zentraler Aspekt der Gesellschaft als Gegenstand, hartnäckige Erscheinung des Antagonismus. Durkheim beschreibt sie passiv, anstatt sie aus dem Begriff der Sache zu entwickeln. Darum schliddert er in Ideologie. Das unvermittelte An sich des Kollektivgeistes wird durch das begriffliche Instrumentarium so sakrosankt, wie es nur den erforschten Australiern sein mochte. Die Illusion des illusionsfeindlichen Nominalismus wird greifbar an der Unzulänglichkeit der von ihm geforderten wissenschaftlichen Verfahrungsweisen gegenüber der zeitgenössischen Gesellschaft. Kritik an den empirischen Forschungsmethoden, die je länger je mehr totalitären Anspruch anmelden, braucht gar nicht erst die Oberflächlichkeit und Geistlosigkeit des gängigen Betriebs darzutun. Er ist mit seinem eigenen Maß zu messen. Nach den Spielregeln empirischer Marktforschung muß die Wissenschaft vorurteilslos, unter Absehung von vorgedachten Theoremen, eigentlich begriffslos, an ihr Material herangehen; ihre Begriffe durch die eigenen Forschungsinstrumente, nicht durchs zu Erforschende definieren und die denkende Tätigkeit auf die Aufbereitung und Ordnung der Daten beschränken. Konsumentengewohnheiten nach Kategorien einer, sei's auch zuinnerst selber positivistischen Theorie wie der Freuds zu konzipieren und zu ermitteln, ist nach den Regeln des Social Research, einem abgeschlossenen Corpus von Verfahrungsweisen, pure Metaphysik. Nach den mit dem Nominalismus einigen Kriterien der Vorhersage solcher Reaktionen haben aber die als Spekulation und deep stuff verdächtigten Verfahren sich besser bewährt denn die tabula rasa des Szientivismus. Der Begriff war realitätsgerechter als sein Abbau, der sich als reine Adäquanz an die res interpretiert. Psychoanalytische Marktforschung ist Technik nicht weniger als die orthodox empiristische, übertrifft diese sogar in der Manipulation der Subjekte, deren Meinung für die Empiristen zum König herausgeputzt wird, ähnlich wie die Kunden in der Reklame der großen Konzerne. Was jedoch in der technischen Kontroverse sich abzeichnet, gilt erst recht in Erkenntnisbereichen, die nicht derart krud vom

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Profitinteresse abhängen. Der Soziologie als organisierter Wissenschaft ist der Ausgang von der objektiven gesellschaftlichen Macht und ihrem objektiven Geist gegenüber den Einzelmenschen anathema, weil jene Macht nicht so sich dingfest machen lasse wie die Meinungen, Reaktionsformen und Verhaltensweisen der vergesellschafteten Individuen; am liebsten setzten sie das Wort Gesellschaft auf ihren Index. Aber aus dem gesellschaftlich Allgemeinen, dessen Erfahrung erst die auf Sauberkeit versessene Methode tabuiert, ist Vernünftigeres und Plausibleres über die Individuen abzuleiten als aus deren pseudo-naturwissenschaftlicher Beobachtung. So resigniert diese angesichts der Lieblingsfrage, was das Fernsehen den Menschen nun tatsächlich antue, weil durch keine Einzelstudie über die Wirkung einer Sendung oder Sendefolge meßbare Veränderungen in den Opfern zu eruieren wären. Selbst dem überbewer- teten common sense indessen müßte einleuchten, daß die kumulative Wirkung in Proportion steht zu den Stimuli. Gewiß ist auch der Vorrang des Allgemeinen dialektisch. Überlebte nicht in den Menschen, aus vormonopolistischen Zeiten, vieles, was mit Konsum- gut- und Kulturindustrie nicht blank harmoniert, und was jene wiederum berücksichtigen müssen, so wäre der Zustand negativer Utopie längst erreicht, den Schriftsteller mit Behagen ironisieren, weil sie die po- sitive nicht wollen. Dennoch dürften nur Interessenten verkennen, daß die subliminalen Wirkungen der Mas- senkommunikation als eines Gesamtsystems, sum- miert, von größter Gewalt sind - allein die Leiden- schaft, mit der Jugendliche an die Massenmedien sich anhängen, läßt das erwarten. Wer sich vorstellt, was das Fernsehen als das verkörperte Allgemeine kraft der in ihm konzentrierten Gewalt anrichtet: die Men- schen tatsächlich nach dem modelt, was die kultur- konservativen Feinde des Fernsehens so unverdrossen Leitbild taufen, hat unbeirrteren Menschenverstand, als wer vergebens den Effekt der Totalität aus kon- trollierbaren Einzelwirkungen zusammenzählt. Gleichwohl drückt Durkheims Soziologie das Mo- ment des Opaken, die Naturwüchsigkeit des Allge- meinen in der Geschichte aus, die Hegel wegphiloso- phiert; vielleicht ist es die Grenze der dialektischen Ansicht von Allgemeinem und Besonderem in der Ge- schichte, daß die Vormacht des Allgemeinen jene Dialektik prinzipiell zum Schein herabmindert. Daß allgemeine soziologische Gesetze denen der Natur gleichen, ist das stärkste empirische Argument für die Futilität des historisch Individuellen, das die deutsche geisteswissenschaftliche Tradition ängstlich als Be- sitz hütet. Die Differenz dessen, was neuerdings »Mehrzahlbereich« genannt wurde, vom Einzahlbe- reich und das Diktat des Mehrzahlbereichs ist solange evident, wie im sozialen Universum das Individuum, die Einzahl, tatsächlich als nicht mehr gedacht zu werden braucht denn als statistisches Element. Dann ist nichts anderes zu gewärtigen, als daß bei relativ konstanten sozialen und politischen Bedingungen und Bevölkerungsziffern, die auch Konstanz des sozialen Drucks registrieren, die Selbstmordziffern konstant bleiben, wie es übrigens schon um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Kierkegaard schockierte. Dessen Empörung über die Selbstmordstatistik, dar- über, daß Menschen wie Nummern traktiert werden, verschiebt nur, was ihnen von der Objektivität wider- fährt, nach bewährtem Muster auf die Erkenntnis, die dem sich adaptiert. Hundert Jahre nach ihm hat man die, welche man vergasen wollte, mit Nummern täto- wiert. Die Erfahrung der Ohnmacht des Individuums, gegen welche das Prinzip individueller Erfahrung sel- ber aufbegehrt, ist kaum in diese aufzunehmen. Ver- nunft aber, die ihr Erkenntnisideal am sozialen Gesetz mathematischen Stils hat, ist in solcher Objektivität die subjektive; nur dann reduziert das Subjekt sich zum Exemplar, wenn, wie im Begriff der statistischen Notwendigkeit, jeder objektive Sinn ausgelöscht ist. Einzig die bornierte Vernunft, die an der Aufbereitung und Ordnung der Fälle und der Extrapolation von Re- geln ihr Genügen hat, triumphiert in der glücklich- verzweifelten Konkordanz aller Fälle mit der Gesell- schaft und bedarf darum der Reflexion auf Gesell- schaft überhaupt nicht mehr. Der Konzeption des In- dividuums als Exemplar ist äquivalent die des objek- tiven Geistes als eines jeden Sinnes Baren; Antithesis von Geist. Damit erst führt der idealistische Geistbe- griff in seiner Macht und Herrlichkeit für anderes sich ad absurdum an sich. Hegel hat

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dagegen noch sich ge- sträubt und die nominalistische Gleichsetzung von Durchschnittlichkeit und Wahrheit kritisiert: »Die Fessel irgend eines Abstraktums, das nicht vom Be- griffe befreit ist«2, kann nichts anderes bedeuten als die klassifikatorischen Kategorien der subjektiven Vernunft, wie sehr auch ihr Charakter als »Fessel« der des ens realissimum sein mag. Man möchte hinter dem von Hegel abgewerteten Abstraktum jenes allge- mein Anerkannte argwöhnen, welches das wissen- schaftliche Bewußtsein aus dem Zerstreuten heraus- klaubte, um damit die Hegelsche Kritik auf jene All- gemeinheit auszudehnen: »Das einfache Verhalten des unbefangenen Gemüthes ist, sich mit zutrauensvoller Überzeugung an die öffentlich bekannte Wahrheit zu halten, und auf diese feste Grundlage seine Hand- lungsweise und feste Stellung im Leben zu bauen. Gegen dieses einfache Verhalten thut sich etwa schon die vermeinte Schwierigkeit auf, wie aus den unend- lich verschiedenen Meinungen sich das, was darin das allgemein Anerkannte und Gültige sei, unterscheiden und herausfinden lasse.«3 Aber die Frage demaskiert sich sogleich als rhetorisch: »man kann diese Verle- genheit leicht für einen rechten und wahrhaften Ernst um die Sache nehmen«4, während sie Hegels Kon- struktion zufolge eben das nicht ist, sondern bloßer Irrtum des räsonnierenden Denkens. Es wird sogleich abgekanzelt: »In der That sind aber die, welche sich auf diese Verlegenheit etwa zu Gute thun, in dem Falle, den Wald vor den Bäumen nicht zu sehen, und es ist nur die Verlegenheit und Schwierigkeit vorhan- den, welche sie selbst veranstalten; ja diese ihre Ver- legenheit und Schwierigkeit ist vielmehr der Beweis, daß sie etwas anderes als das allgemein Anerkannte und Geltende, als die Substanz des Rechten und Sitt- lichen wollen.«5 Hegel bedarf der Emphase auf der Objektivität des Geistes wider die Einzelsubjekte, um eine Zufälligkeit zu bannen, die ihrerseits herrührt von der Brutalität des Allgemeinen, in dem das Be- sondere sich nicht wiedererkennt, weil jenes ihm bloß widerfährt. Die Aporie nötigt ihn dazu, die Objektivi- tät der Idee und das »allgemein Anerkannte und Gel tende«, den Durchschnitt, der sie nach seiner Logik gerade nicht sein dürfte, über einen Kamm zu scheren. Die permanente Mißhandlung des Bewußtseins, das aufbegehrt gegen eine Identifikation, die keine ist son- dern nur Subsumtion, zeugt vom schlechten Gewissen der Instanz, die, nicht zufrieden mit ihrem Triumph, auch noch möchte, daß die Opfer mit ganzer Seele ihr sich überantworten, so wie es in der späteren Ge- schichte tatsächlich glückte. Hegel erpreßt Identifika- tion und leugnet die Selbständigkeit des Allgemeinen im gleichen Atemzug. Der Nutznießer ist der Nomi- nalismus, der Erkenntnis auf jene Nachkonstruktion des bloß Seienden nivelliert, gegen welche das Pathos des absoluten Idealismus anging, und die schon der Kant der Ideenlehre als »Kopie« verachtete. 1965 Fußnoten 1 Emile Durkheim, De la division du travail social, 4. Aufl., Paris 1922, S. 46. 2 Hegel, Sämtliche Werke, hrsg. von Hermann Glockner, Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Stuttgart 1928, S. 35. 3 a.a.O., S. 22. 4 a.a.O.

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