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Alexander Grasse • Carmen Ludwig • Berthold Dietz (Hrsg.) Soziale Gerechtigkeit

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Alexander Grasse • Carmen Ludwig • Berthold Dietz (Hrsg.)

Soziale Gerechtigkeit

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Alexander Grasse Carmen Ludwig Berthold Dietz (Hrsg.)

Soziale Gerechtigkeit Reformpolitik am Scheideweg

Festschrift fur Dieter EiBel zum 65.Geburtstag

VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

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Bibliografische information Der Deutschen NationalblblJothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikatlon in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im internet uber <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Das vorliegende Buch wurde gefordert durch die Max-Traeger-Stiftung, wissenschaftliche Stiftung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Stiftung, benannt nach Max Traeger (1887-1960), dem Grtin-dungsvorsitzenden der GEW, fordert die wissenschaftliche Erfor-schung von Erziehung, Schule, Hochschule und Weiterbildung.

Die Herausgeber bedanl<en sich hiermit herzlich fur die gewahr-te finanzielle Untersttitzung zur Realisierung des Projel<tes!

1. Auflage September 2006

AHe Rechte vorbehalten © VS verlag fur Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Frank Schindler / Nadine Kinne

Der VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Buslness Media. www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KiinkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany

ISBN-10 3-531-15021-9 ISBN-13 978-3-531-15021-5

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Fur Dieter Eijiel zum 65. Geburtstag

am 15. September 2006

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Inhalt

Klare Positionen und starkes Engagement Ein Grufiwort von Klaus Fritzsche 13

1 Einleitung

Alexander Grasse / Carmen Ludwig /BertholdDietz Problemfeld „soziale Gerechtigkeit" - Motive, Inhalte und Perspektiven 17

Ernst-Ulrich Huster Solidaritat und Gerechtigkeit als Lebensentwurf - eine personliche Hinfiihrung 37

2 Anspruch und Wirklichkeit von Gerechtigkeit in der deutschen Gegenwart

Friedhelm Hengsbach SJ. „Wer siegt, hat Recht"? Das kapitalistische Regime unter dem Anspruch der Gerechtigkeit 53

Benjamin Benz /Jurgen Boeckh Theorie, Struktur und Zukunft des Sozialstaats 71

Gottfried Erb Reichtum - ein Tabuthema. Wachsende soziale Ungerechtigkeit in Deutschland 89

Berthold Dietz / Carmen Ludwig Armut in Deutschland 99

3 Aktuelle Diskussionen, Politikfelder und territoriale Aspekte

Christoph Butterwegge Generationengerechtigkeit - politischer Kampfbegriff oder sinnvolle Neuinterpretation der sozialen Frage? Kritische Anmerkungen zu einem Kemaspekt des aktuellen Gerechtigkeitsdiskurses in Deutschland 117

Alexander Grasse Territoriale Gerechtigkeit im deutschen Bundesstaat - Reformen im Spagat von Wachstums- und Verteilungsproblemen 129

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Rudolf Hickel Offentliche Armut im privaten Reichtum - Kritik der allokativen und distributiven Wirkungen des Systemwechsels zu einer einheitlichen Untemehmensbesteuerung 151

Gerhard Backer Niedrig- und Kombi-Lohne: soziale Spaltung start Abbau der Arbeitslosigkeit 167

Jutta Trdger Soziale Gerechtigkeit fiir Familien und Frauen in Deutschland - umdenken im Bereich der staatlichen Forderungspolitik! 179

Bernd Kafiebaum Bildung und soziale Gerechtigkeit 191

Peter Henkenborg Freiheit bewaltigen - politische Bildung und die Herausforderung der Gerechtigkeit 203

Peter Schmidt /Phillip Winkelnkemper /Elmar Schluter / Carina Wolf Welche Erklarung fiir Fremdenfeindlichkeit: relative Deprivation oder Autoritarismus? 215

Adalbert Evers / Claudia Wiesner Das Programm „Soziale Stadt" in Hessen - veranderte Konzepte der Armutsbekampfiing verlangen neue Formen lokaler Politik und Steuerung 225

4 Europaische Entwicklungen und Internationale Perspektiven

Karl Georg Zinn Kulturelle Unterschiede als EinfluBgroBen auf das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Handeln - zu den nationalen Differenzen in der Wahmehmung sozialer Gerechtigkeit 243

Jeremy Leaman Soziale Gerechtigkeit in GroBbritannien - ein Modell fiir Deutschland und Europa? 257

Christine Stelzer-Orthofer / Johann Bacher Sozialabbau und Neokonservativismus in Osterreich 271

Ewa Rokicka / Wielislawa Warzywoda-Kruszynska Social Justice and Social Inequalities - Analysis of the Public Discourse in Poland 285

Procopis Papastratis Aspects of Unemployment in Greece 303

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Udo Bullmann /Johannes Loheide Europa als entscheidendes Feld sozialer Auseinandersetzungen 311

Jorg Huffschmid Emeuerung des Sozialstaates gegen die Herrschafl der Finanzmarkte -Herausforderungen demokratischer Wirtschaftspolitik in Europa 331

Margit Schratzenstaller Steuergerechtigkeit und personliche Einkommensbesteuerung - aktuelle Entwicklungen in europaischer Perspektive 345

Hanne-Margret Birckenbach Soziale Gerechtigkeit als Menschenrecht: zum Europaischen des europaischen Sozialmodells 359

Reimund Seidelmann Soziale Gerechtigkeit im intemationalen System - eine Problemskizze 373

Uta Ruppert Geschlechtergerechtigkeit in der Globalisierung: von Ungleichheitslagen zu Gerechtigkeitsanspruchen 383

5 Anhang

Verzeichnis der Schriften von Dieter EiBel 397

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 411

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Abkiirzungsverzeichnis

AEMR Allgemeine Erklamng der Menschenrechte AHC After Housing Costs ALG Arbeitslosengeld ALLBUS Allgemeine Bevolkerungsbefragung der Sozialwissenschaften ALQ Arbeitslosenquote AWO Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt BAG Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. BafbG Bundesausbildungsfbrderungsgesetz BEIGEWUM Beirat fiir gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Altemativen BFSFJ siehe BMFSFJ BGB Burgerliches Gesetzbuch BHC Before Housing Costs BIP Bruttoinlandprodukt BIS Bank fiir intemationalen Zahlungsausgleich BMAS Bundesministerium fiir Arbeit und Soziales BMBF Bundesministerium fiir Bildung und Forschung BMFSFJ Bundesministerium fiir Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMGSS Bundesministerium fur Gesundheit und Soziale Sicherung BSHG Bundessozialhilfegesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht BVJ Berufsvorbereitungsjahr CCCS Centre for Contemporary Cultural Studies CDU Christlich Demokratische Union CGT Confederation generale du travail; grofite franzosische Gewerkschaft CGIL Confederazione Generale Italiana del Lavoro; groBte italienische Gewerkschaft CIT Corporal Income Tax COMP Rat Wettbewerbsfahigkeit CSU Christlich Soziale Union DASS Direktion fiir Sozial- und Gesundheitsangelegenheiten DGB Deutscher Gewerkschaftsbund Difti Deutsches Institut fiir Urbanistik DIW Deutsches Institut fiir Wirtschaftsforschung DPWV Deutscher Paritatischer Wohlfahrtsverband EAGL Europaischer Ausrichtungs- und Garantiefonds fiir die Landwirtschaft EBA Eingliederungslehrgang in die Berufs- und Arbeitsgesellschaft ECOFIN Rat Wirtschaft und Finanzen ECTS European Credit Transfer System ECVET European Credit System for Vocational Education and Training EFRE Europaischer Fonds fiir Regionale Entwicklung EG Europaische Gemeinschaft EGV Vertrag zur Grundung der Europaischen Gemeinschaft EMRK Europaische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten EP Europaisches Parlament ESC Europaische Sozialcharta ESF Europaischer Sozialfonds ESPHCA Rat Beschaftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz

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ESZB EU EuGH EVP EVS EWG EZB FAG FDP FIAF FGTB FU Berlin FPO GATS GBB GD GDI GEM GEW GG GSEE/ADEDY

HIP lAB lAO IGBCE IGKE IG Metall IB IGLU ILO lOM ISSP IWF JuLis JSA KKS KMU KPMG

LAQ LAU MaBstG MGSFF NAP NGO NGP OECD OVP PASOK PDS PISA

Europaisches System der Zentralbanken Europaische Union Europaischer Gerichtshof Europaische Volkspartei Einkommens- und Verbraucherstichprobe Europaische Wirtschaftsgemeinschaft Europaische Zentralbank Finanzausgleichsgesetz Freie Demokratische Partei Finanzinstrument fur die Ausrichtung der Fischerei Federation Generate du Travail de Belgique; belgische Gewerkschafl Freie Universitat Berlin Freiheitliche Partei Osterreichs General Agreement of Trades in Services Gemeinsamer Beschafligungsbericht Generaldirektion Gender Development Index Gender Empowerment Measure Gewerkschafl Erziehung und Wissenschaft Grundgesetz Geniki Synomospondia Ergaton Ellados/Anotaki Diikisidis Enoseon Dimosion Ypalilon; griechische Gewerkschafl Human and Income Poverty Institut fiir Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Internationale Arbeitsorganisation Industriegewerkschafl Bergbau, Chemie, Energie Institut fiir Gesundheitsokonomie und klinische Epidemiologic Industriegewerkschafl Metall Incapacity benefits; „Arbeitsunfahigenhilfe" Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung International Labour Organization International Organization for Migration International Social Survey Programme Intemationaler Wahrungsfonds Junge Liberale Job Seekers Allowance; „Arbeitslosenhilfe" Kaufkraftstandards Kleine und Mittlere Untemehmen Klynveld, Peat, Marwick und Goerdeler; Wirtschaftspriifungs- und Beratungsuntemehmen Langzeitarbeitslosenquote Lemausgangslagen-Untersuchung MaBstabegesetz Ministerium fur Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie Nationaler Aktionsplan Non-Govemmental-Organisation National Gross Product; Bruttoinlandprodukt Organization for Cooperation and Economic Development Osterreichische Volkspartei Panhellenische Sozialistische Bewegung Griechenlands Partei des Demokratischen Sozialismus Programme for International Student Assessment

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PIT PRL SA SGB SGMG SOEP SPD SPO SSO StWG SVR

SYRIZA TAG UNCTAD UNDP UNICEF UNIFEM UNO uv VBE Ver.di VN VR WASG WHO WTO

Personal Income Tax Polish People's Republic Soziale Armut Sozialgesetzbuch Schweizerische Gesellschaft fiir medizinische Genetik Soziookonomisches Panel Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Osterreichs Sozialer Survey Ostereichs Stabilitats- und Wachstumsgesetz Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Koalition der radikalen Linken in Griechenland Tagesbetreuungsausbaugesetz United Nations Conference on Trade and Development United Nations Development Programme United Nations Children's Fund United Nations Development Fund for Women United Nations Organisation Unsicherheitsvermeidung Verband Bildung und Erziehung VereinteDienstleistungsgewerkschaft Vereinte Nationen Volksrepublik Wahlaltemative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit World Healing Organisation World Trade Organisation

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Klare Positionen und starkes Engagement

Ein Grufiwort von Klaus Fritzsche Dekan des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universitat Giefien

So einfach, wie es scheinen konnte, ist es mit diesem GruBwort nicht. Das hat mit der Per-son zu tun, um die es geht, und soil erklart werden.

Seit dreieinhalb Jahrzehnten ist Dieter EiUel nun Mitglied des Instituts fur Politikwis-senschaft, unseres Fachbereichs und der Justus-Liebig-Universitat GieBen. Er hat in dieser Zeit Ungezahlte gelehrt und geprtifl. Das ist angesichts der fast immer groBen Zahl unserer Studierenden unvermeidlich. Aber er hat sie, iiber das PflichtmaBige und Notwendige weit hinaus, intensiv beraten, gefordert und nicht wenige von ihnen bis zur Promotion gebracht; immer mit Nachdruck und vielfach mit Begeisterung. Dem entspricht die personliche Re-sonanz, die er bei den Studierenden hatte und hat - obwohl der von ihm vertretene fachli-che Schwerpunkt, die Politische Okonomie, auch fur manche Seufzer und heftigere Abnei-gungsbekundungen gut war.

Eine Vielzahl von Publikationen, Vortragen und Gutachten, mit dem Focus auf Gesell-schafts- und Sozialpolitik und mit einer Spannweite von Grundproblemen der Politischen Theorie bis zu ganz unterschiedlichen Tagesfragen, hat ihm Ansehen in der Profession eingetragen. Von diesen Zusammenhangen wird in der Festschrift noch eingehend die Rede sein. Aber er genieBt Respekt auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen unserer Universi-tat, die seinem Each und erst recht der von ihm bezogenen inhaltlichen Position, sagen wir, nicht iibermaBig nahe stehen. Mit seinen vielfaltigen fachlichen Aktivitaten, zudem mit seinen Kompetenzen in Fragen von Studienorganisation und Studienreform und mit seinem kontinuierlichen Einsatz fur den intemationalen Austausch von Studierenden und Lehren-den hat er einen erheblichen Beitrag zum Profil des Fachbereichs - sowohl in dessen friihe-rer, speziell sozialwissenschaftlicher, wie in der nun seit 1999 bestehenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Fasson - geleistet. Er ist, mit einem Wort, zu einer tragenden Saule unserer Arbeit geworden.

Dieter EiBel kommt politisch-wissenschaftlich aus der '68er-Generation, und er hat diesen Bezug nicht, wie bekanntlich viele, gewissermaBen mit den kurzen Hosen der Stu-denten- und Assistentenbewegung abgelegt, auch wenn die seitherigen, weitreichenden Veranderungen der gesellschaftlichen und politischen Welt, von den Hochschulen selbst bis zu den globalen Verhaltnissen, zweifellos ihre Spuren hinterlassen haben. Das konnte bei einem wachen Kopf, der zu keiner Zeit bereit war, das eigene Denken durch handliche Zitate aus blauen oder anderen Banden zu ersetzen, auch nicht anders sein. Aber aus seiner Spur hat er sich nicht bringen lassen. Seine kritischen Potenzen standen nie zur Disposition; Konjunkturen interessieren ihn nur unter fachlichem Aspekt. So ist er eine feste Adresse kritischer Sozialwissenschaft und solidarischen Engagements geblieben, im Institut und im Fachbereich ebenso wie in offentlichen und besonders gewerkschaftlichen Zusammenhan-gen, als eine deutlich vemehmbare Stimme, ein allezeit parteiloser Parteiergreifender der markanten Art.

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Wenn nun einer von dieser Konsistenz und Prasenz, der gewissen nordhessischen Sturheit - mit der er manchmal auch kokettiert - und dieser besonderen Mischung aus Be-scheidenheit und SelbstbewuBtsein ohne Attitude, radfahrend nur im physisch-realen, aber nicht im tibertragenen Sinn, 65 Jahre alt wird und aus dem aktiven Dienst der Justus-Liebig-Universitat ausscheidet, so kann der Umstand selbst keine Freude hervorrufen. Nicht diesem, wohl aber dem sehr geschatzten KoUegen und Mitstreiter gilt daher das GruBwort, mit Nachdruck und Dank - sowie naturlich den Autorinnen und Autoren sowie den Leserinnen und Lesem dieses Bandes.

Eines noch zum SchluB. Dieter EiBel hat verlauten lassen, daB er nach seiner Pensio-nierung einerseits privatisieren, anderseits Einladungen an auslandische Universitaten an-nehmen und sich deshalb in Zukunft aus Institut und Fachbereich heraushalten wolle. Als langjahriger Dekan und noch viel langerjahriger Kollege sage ich dazu: So sehr ihm die Befreiung von dem bisherigen, dicht gepackten Pflichtenkanon zu gonnen ist - wir wollen nicht hoffen, daB er seine Ankundigung wahr macht. Wir wtirden ihn vermissen.

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1 Einleitung

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Alexander Grasse / Carmen Ludwig /BertholdDietz

Problemfeld ,,soziale Gerechtigkeit" - Motive, Inhalte und Perspektiven

Das Thema „soziale Gerechtigkeit" ist in mehrfacher Hinsicht hochaktuell und wird wieder einmal kontrovers diskutiert. Mit dem Versprechen von sozialer Gerechtigkeit konnen Wahlen gewonnen werden, aber Regierungen konnen bei Nichterfullung dieses Postulats auch in Krisen geraten, wie das Beispiel der rot-griinen Koalition der Jahre 1998-2005 in Deutschland zeigt. Die Frage nach der Zukunft der „sozialen Gerechtigkeit" wurde von seiten dieser Bundesregierung - nach anfanglichen punktuellen sozialen Verbesserungen -schliefilich mit erheblichen Einschnitten, die den langfristigen Erhalt des deutschen Sozial-staatsmodells ermoglichen sollen, begriindet. Die durchgeftihrten Reformen im Gesund-heitssektor, im Bereich der Renten und vor allem die Arbeitsmarktgesetze (Hartz I-IV) haben jedoch bundesweite Proteste hervorgerufen, die wieder einen starkeren materiellen Ausgleich und eine Riicknahme der MaBnahmen einforderten. Inzwischen hat die seit den 1970er Jahren kontinuierlich gestiegene Massenarbeitslosigkeit die Hohe von 5 Mio. er-reicht und eine neue „soziale Frage" aufgeworfen. Dies hat mit der Griindung der „Wahlal-temative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG) indes sogar zu Veranderungen in der bundesdeutschen Parteienlandschaft gefuhrt. Die neue Linkspartei erhielt bei den Bundes-tagswahlen 2005 zumindest nicht unbetrachtlichen Zulauf.

Nicht zufalHg ist das Thema „soziale Gerechtigkeit" seither in aller Munde. Verbande, Gewerkschaften, zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und auch die Kirchen widmen sich ihm mit besonderer Intensitat; der „Katholikentag" im Mai 2006 etwa stand ganz im Zei-chen der „Gerechtigkeit". Nahezu alle Parteien, von ganz rechts bis ganz links, nehmen sich des Themas - zumindest rhetorisch - inzwischen ebenfalls wieder verstarkt an. Dabei ist der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit", welcher haufig der Beliebigkeit anheimfallt, auch vor populistischem MiBbrauch nicht gefeit, wie seine Instrumentalisierung im rechtsextre-men Spektrum zeigt, dort wo Auslanderfeindlichkeit und „soziale Gerechtigkeit" in einen Kontext geraten.

Die beiden groBen Volksparteien, SPD und CDU, haben soeben ihre Arbeit an neuen Grundsatzprogrammen eroffnet und dabei die „soziale Gerechtigkeit" wiederentdeckt. Wahrend die SPD nun den „vorsorgenden Sozialstaat" propagiert (und noch zu erklaren haben wird, was genau sich dahinter verbirgt), verlangt die CDU in ihrem neuen Pro-grammslogan „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit". Offensichtlich ist also nach Mei-nung der Parteistrategen etwas in Schieflage geraten in Sachen „Gerechtigkeit", wenn diese sogar neu definiert werden muB. Dabei hat die Union bereits klargestellt, daB ihr Ziel der beschleunigte Ruckzug des Staates ist.

Tatsachlich aber sehen nach den Ergebnissen der jiingsten Umfrage von McKinsey, Stem, ZDF und WEB.DE unter dem Titel „Perspektive Deutschland 2005/06", bei der zwischen Ende 2005 und Anfang 2006 uber 600.000 Btirgerinnen und Burger befragt wur-den, nur knapp die Halfte, namlich 54%, „mehr Markt" als den richtigen Weg zur Losung

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der drangenden Probleme in den Bereichen Arbeit, Gesundheit und Rente an. Dagegen lehnen iiber drei Viertel der Menschen eine Verscharfung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich in Deutschland ab, denn 76% der Befragten wiinschen sich geringere soziale Unterschiede; im Jahr 2004 waren es noch lediglich 57% (Perspektive Deutschland 2006: 30f.). Unabhangig von der Aussagekraft solcher Untersuchungen ist damit jedoch klar, daB die Themen „sozialer Ausgleich" und „soziale Gerechtigkeit" deutlich groBere Aufmerk-samkeit erlangt haben und Verteilungsfragen auf die politische Agenda zuriickkehren.

Es herrscht bislang allerdings weder Klarheit noch politischer oder gesellschafllicher Konsens dariiber, was tatsachlich „sozial gerecht" ist, was unter „sozialer Gerechtigkeit" zu verstehen ist, wie sie definiert und nicht zuletzt auch verwirklicht werden kann und soil. Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit dieses zentralen, weil politische Mobilisie-rung ermoglichenden Begriffes, ist neu entbrannt. Im Grundgesetz wurde mit der Veranke-rung des Sozialstaatsprinzips soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip festgeschrieben, an dem sich staatlich-politisches Handeln orientieren soil. Allerdings ist das Sozialstaatsprinzip in der Verfassung nicht naher ausgefuhrt, so daB ein weiter Interpretations- und Gestaltungs-spielraum fur die Gesetzgebung und die politischen Parteien besteht.

Hinzu kommt, daB soziale Gerechtigkeit komplex ist und mindestens fiinf verschiede-ne Dimensionen umfaBt (vgl. auch Becker/Hauser 2004 sowie Hengsbach und Dietz/Lud-wig in diesem Band):

(1) Chancengleichheit als eine Dimension sozialer Gerechtigkeit zielt auf den Ausgleich herkunftsbedingter Ungleichheiten im Lebenslauf, die unter anderem aus individuellen Handicaps, familiaren Rahmenbedingungen und geschlechtsspezifischen Rollenzuteilun-gen, aber auch aus Erbschaften resultieren konnen. Erbschaften stellen „beim Erben einen leistungslosen ZufluB von Einkommen dar und bewirken bei einer ungleichen Verteilung der Vermogen in der vererbenden Generation eine stark ungleiche Verteilung der Start-chancen bei der Erbengeneration" (Huffschmid/EiBel et al. 2004: 81). Mit dem Vermogens-reichtum wiederum konnen haufig auch die an die Vermogenswerte gekoppelten sozialen, okonomischen und politischen Funktionen „vererbt" werden (Huster/EiBel 2000). In der Konsequenz kommen insbesondere beim leistungslosen Vermogenserwerb durch Erbschaf-ten „standische Herkunftsprivilegien" zum Tragen.

Auf schichtspezifische Unterschiede in der Bildungsbeteiligung und damit auf die Be-deutung des im Eltemhaus vorhandenen okonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals (Bourdieu 1983) fiir den Bildungserfolg der Kinder haben in den letzten Jahren vor allem die PISA-Studien aufmerksam gemacht. Mit deren Ergebnissen ist wieder eine etwas aus dem Blick geratene Tatsache ins offentliche BewuBtsein geriickt: Die Minimierung familiar bedingter Ungleichheit in bezug auf die Startchancen des einzelnen ist und bleibt eine zen-trale Aufgabe des Staates. Durch verschiedene MaBnahmen, wie etwa die Erbschaftssteuer, eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung im Vorschulalter, individuell ausgerichtete FordermaBnahmen von benachteiligten Schiilerinnen und Schiilem u.v.a.m. kann und muB er korrigierend eingreifen, wenn er Chancengleichheit herstellen will.

(2) Chancengleichheit stellt zudem eine Voraussetzung ftir Letstungsgerechtigkeit als wei-terer Dimension sozialer Gerechtigkeit dar. Denn nur unter den Bedingungen einer gleichen Startchance kann iiberhaupt von einer Vergleichbarkeit von Leistungen gesprochen werden. Leistungsgerechtigkeit rekurriert auf das Kriterium „relativer Gleichheit" oder Gleichbe-

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handlung: Denn in dieser Dimension sozialer Gerechtigkeit erscheinen Ungleichheiten solange legitim, wie sie dem Resultat unterschiedlicher Leistungen entsprechen. Dabei liegt dem Leistungsprinzip allerdings eine „eigentumliche Ambivalenz" (Offe 1973: 43) zugrun-de, da es auf der einen Seite Gleichheit bedingt, auf der anderen Seite aber Ungleichheiten legitimiert. So entstammt die gesellschaftspolitische Intention des Leistungsprinzips einer-seits der Tradition des egalitaren Denkens: Nicht mehr die Geburt, wie in feudal-standischen Gesellschaften, oder askriptive Merkmale sollen in einer meritokratischen Gesellschaft uber den Status entscheiden. Stattdessen zeichnet sich der an Leistung orien-tierte gesellschaftliche Verteilungsmodus durch die individuelle Erbringung und Zurechen-barkeit von Leistung aus (Honneth 1994). Andererseits fungiert das Leistungsprinzip nicht nur als Norm, die Gleichheit gewahrleisten soil, sondem ebensosehr als Legitimationsprin-zip gesellschaftlicher Ungleichheiten (Offe 1973: 43f). Insbesondere Offe und Bourdieu haben dem Leistungsprinzip dabei eine „Ideologiefunktion" zugeschrieben und kritisiert, daB die Bezugnahme auf das Leistungsprinzip auch der Verschleierung gesellschaftlicher Machtverhaltnisse und Sonderinteressen dienen kann (Offe 1973; Bourdieu/Passeron 1971). Es ist in hohem MaBe umstritten, inwiefem die Verteilung gesellschaftlicher Posi-tionen und des Einkommens tatsachlich leistungsgerecht erfolgt. So haben im Jahr 2004 im Verlauf des sogenannten Mannesmann-Prozesses die Fragen nach dem leistungsgerechten Lohn und der Angemessenheit hoher Managergehalter, welche, verglichen mit dem Ein-kommen von Facharbeitem, um nahezu das Dreihundertfache gestiegen sind, eine breite offentliche Diskussion ausgelost. Wahrend in politischen Debatten rhetorisch unablassig die Forderung nach Leistung bemiiht wird („Leistung muB sich wieder lohnen"), zeichnet die Wirklichkeit ein ganz anderes Bild: Gegenwartig laBt sich die paradoxe Entwicklung einer Aushohlung des Leistungsprinzips an der Spitze des wirtschaftlichen Erfolges einer-seits bei gleichzeitiger Ausweitung des Leistungsprinzips bei den sozialen Verlierem ande-rerseits beobachten (Neckel/Droge 2002).

Dem Markt kommt im Kapitalismus die Funktion zu, iiber den Wert von Leistung zu befmden. Die Konkretisierung des Ziels der Leistungsgerechtigkeit iiber die Instanz des Marktes wird jedoch vielfach als unzureichend kritisiert. So weist der Markt - entgegen der neoklassischen Uberzeugung, daB dieser stets Leistungswettbewerbe organisiere - mit seinem Prinzip der okonomischen Rentabilitat grundlegende Unterschiede zum Leistungs-prinzip auf. Denn wahrend das Leistungsprinzip durch einen Zusammenhang von Aufwand und Ergebnis gekennzeichnet ist, fiinktioniert der Markt nach einer rein ergebnis- bzw. outputorientierten Logik. Zu den Merkmalen des Markterfolges gehort es, kurzfristig, hau-fig singular und wenig voraussehbar zu sein. Deshalb entscheiden nicht die Anstrengungen der Marktteilnehmer allein iiber Gewinne oder Verluste, sondem sie sind auch das Ergebnis zufalliger Ereignisse. Davon unterscheidet sich das Leistungsprinzip, das auf dem konstan-ten Austausch von Wissen, Arbeitskraft und Kompetenz gegen entsprechende Gratifikatio-nen beruht (Neckel/Droge 2002; Neckel/Droge/Somm 2004). Dariiber hinaus sind viele Leistungen einer Marktbewertung allein schon deshalb vollig entzogen, weil sie unentgelt-lich erbracht werden, zum Beispiel in der Familie. In der iiber den Markt gesteuerten Lei-stungsbewertung werden diese unentgeltlich erbrachten Leistungen weder beriicksichtigt noch honoriert, was als ein Gerechtigkeitsdefizit auf der Ebene der Leistungsgerechtigkeit beurteilt werden kann.

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(3) Die Aufrechterhaltung der in Art. 1, Abs. 1 Grundgesetz garantierten Unantastbarkeit der Menschenwiirde setzt ein gewisses MaB an Bedarfsgerechtigkeit voraus, unabhangig von erbrachten Leistungen. Damit werden dem Leistungsprinzip Grenzen gesetzt und es kommt zu einem Zielkonflikt zwischen diesen beiden Dimensionen. Was als „Bedarf' in welcher Entsprechung gesellschaftlich anerkannt wird, ist immer wieder Gegenstand sozia-ler und politischer Auseinandersetzungen. Insbesondere mit Bezug auf die Bedarfsgerech-tigkeit ist erkennbar, da6 die politischen Parteien sehr unterschiedliche Vorstellungen von einer angemessen Bedarfssicherung haben: Die Ansatze reichen dabei von der Forderung nach einem Ausbau der Bedarfssicherung zu einem bedingungslosen Grundeinkommen bis hin zur weiteren Kiirzung der derzeit bestehenden Sozialleistungen. Die Bedarfsgerechtig-keit fmdet jedoch nicht nur auf der Ebene der monetaren Transfers Anwendung, sondem erstreckt sich auch auf die Bereiche Gesundheit, Wohnen und Bildung. MaBnahmen, die z.B. einen gleichen Zugang zu Bildungseinrichtungen fbrdem, konnen Bedarfsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu einem kompiementaren Ziel verbinden. Bedarfsgerechtigkeit gerat jedoch - ahnlich wie die Leistungsgerechtigkeit - durch die zunehmende Dominanz des Marktprinzips und der okonomischen Rentabilitat auch in den Bereichen, die bislang primar nach Prinzipien wie Anrechten und SoHdaritat organisiert waren, zunehmend unter Druck. So kann mit NuUmeier (2004) davon gesprochen werden, daB sich die Legitimation des Sozialstaats weg von Gerechtigkeitsorientierungen hin zu Marktuberlegungen wandelt: Eine gute Sozialpolitik bemiBt sich danach nicht mehr am Kriterium der Bedarfsgerechtig-keit, sondem vielmehr an ihrem Beitrag zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfahig-keit im globalen Kontext. Mit der Okonomisierung des Sozialen geht die Forderung nach Eigenverantwortung einher und damit eine veranderte Zuweisung von Verantwortlichkeit insgesamt, so daB z.B. Arbeitslosigkeit nicht mehr als ein in erster Linie gesellschaftHches Problem erscheint, sondem in die individuelle Verantwortung verlagert wird.

(4) Verteilungsgerechtigkeit als weitere fundamentale Kategorie soil die Ungerechtigkeit in der Primarverteilung abmindem und im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit das Bereitstellen von Sozialleistungen gewahrleisten. Dies geschieht zum Beispiel durch eine progressive Ausgestaltung der Einkommenssteuer. Die Fordemng nach Verteilungsgerechtigkeit setzt die Annahme voraus, daB die Primarverteilung wirtschaftlicher Guter und sozialer Chancen in unserer Gesellschaftsordnung nicht gerecht oder zumindest nicht von selbst gerecht er-folgt. Sie zielt damit auf eine Ergebniskorrektur der ungleichen gesellschaftlichen Chancen-und Primarverteilung. Forst (2005) sieht in der „verteilenden" Gerechtigkeit gar einen iibergeordneten Gmndsatz der Gerechtigkeit.

(5) Die neuerdings zunehmend geforderte Generationengerechtigkeit liegt „quer" zu den vier zuvor genannten Dimensionen. Zu iiberpriifen ist, ob die Transferstrome zwischen den verschiedenen Generationen - Kindem und Jugendlichen, Erwachsenen mittleren Alters und alten Menschen - wie auch in der Generationenfolge den Anfordemngen an die Her-stellung von Chancengleichheit, Leistungs-, Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit genti-gen.

Die Zieldimensionen Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit sowie Chancengleichheit ste-hen in einer kompiementaren Beziehung zueinander. Insofem stellt die kontinuierliche Zunahme von offentlicher (und privater) Armut, wie sie ftir Deutschland und zahlreiche

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andere Industrienationen seit geraumer Zeit zu konstatieren ist, nicht nur eine Verletzung der Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit, sondem auch eine Vermindemng der Chancen-gerechtigkeit dar, ohne die wiederum Leistungsgerechtigkeit nicht denkbar ist. Mit anderen Worten: Ein handlungsfahiger Staat ist letztlich unverzichtbare Voraussetzung zur Herstel-lung samtlicher Zieldimensionen von Gerechtigkeit.

Die konservativ-liberalen Kohl-Regierungen schienen die Rolle des Staates deregulie-rend dem Chancenbegriff anpassen zu wollen, die rot-griine Bundesregierung versuchte dasselbe in der Not mangelnder Mittel und durch Umdefinition (aktivieren, fordem und fordem) wenigstens legitimatorisch zu unterfuttem. Der Gerechtigkeitsbegriff wurde von der rot-griinen Bundesregierung mehrfach modifiziert und primar als „Chancengerechtig-keit" interpretiert. So findet sich bereits im „Schroder/Blair-Papier" von 1999 die pro-grammatische Absage an verteilungs- und bedarfspolitische Fragen: „In der Vergangenheit wurde die Forderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleich-heit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstren-gung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Kon-formitat und MittelmaBigkeit verbunden statt mit Kreativitat, Diversitat und herausragender Leistung." Soziale Gerechtigkeit lasse „sich nicht an der Hohe der offentlichen Aufgaben messen", sie bestehe nicht nur in der „Verteilung von Geld", das Ziel sei vielmehr die „Ausweitung der Chancengleichheit" (Schroder/Blair 1999: 888 u. 894).

Weder das neoliberal-konservative noch das sozialdemokratisch-okologische Modell konnten sich bei den Bundestagswahlen im September 2005 durchsetzen. LFberzeugende wirtschafts- und sozialpolitische Antworten sind beide Lager nach Meinung der Wahlerin-nen und Wahler offensichtlich schuldig geblieben. Bereits jetzt zeichnet sich ab, daB auch von der GroBen Koalition aus CDU/CSU und SPD in naher Zukunft keine politische Neu-orientierung im Umgang mit dem Problem zunehmender Gerechtigkeitsdefizite zu erwarten ist. Was bleibt, ist das weit verbreitete, ungute Gefuhl, daB Chancen alleine nicht ausrei-chen, ja, daB sie ohne flankierende MaBnahmen im Bereich der Bedarfs- und Verteilungs-gerechtigkeit letztlich auch nicht herzustellen sind. Die Gesellschaft ist auf eine Ressour-cen- und Chancenverwirklichungsfrage zuruckgeworfen, die von Befunden angeschoben wird, die in dieser (aktuellen) Scharfe vielleicht noch nie zuvor in der Geschichte der Bun-desrepublik so deutlich ins BewuBtsein getreten sind. D.h., daB uns etwa die Bildungs-, Gesundheits- oder Partizipationsforschung mit Ergebnissen konfrontiert, die eine langst iiberwundene Stratifikation der Gesellschaft widerspiegelt. Man mag sogar den Eindruck haben, daB die Verteilung von Chancen sich eher denen in einer Standegesellschaft anna-hert, als denen einer - volkswirtschaftlich betrachtet - wohlhabenden, postindustriellen, hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft zu entsprechen. Die Annahme einer ausgepragten vertikalen sozialen Mobilitat, die kollektive Aufstiegschance vom Arbeiterkind zum An-walt, geschweige denn zum Aufsichtsratsvorsitz - diese soziologische Variante des US-amerikanischen „Tellerwascher"-Mythos ist uns heutzutage mehr denn je den Beweis schuldig.

Zunehmende Bedeutung gerade im Hinblick auf die Bedarfs- und Verteilungsgerech-tigkeit erhalt der Zusammenhang zwischen steigendem privatem Reichtum und wachsender offentlicher Armut. Die Armut der offentlichen Haushalte als Folge falscher Steuerpolitik und geringen Wachstums hat in Deutschland inzwischen dramatische AusmaBe angenom-men. Das Soziale gerat nicht nur ins Hintertreffen, weil Privatvermogen weiterhin einen unverhaltnismaBig hohen Anteil des Gesamtnettoeinkommens vereinen, sondem weil es

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nicht gelingt, steigende Privatvermogen zur Finanzierung offentlicher Aufgaben heranzu-ziehen. Insbesondere im Untemehmenssteuerrecht und bei der Korperschaftssteuer hat der Staat durch wirtschaftsfreundliche Reformen auf Milliardenmehreinnahmen verzichtet, ohne daB der Nachweis bislang gelungen ware, daB steigende („amnestierte") Gewinne die offentlichen Kassen und die privaten Haushalte „mitziehen" wiirden. Im Gegenteil sieht sich der Staat in einem Ausgabendilemma: Er kann nunmehr die Aufgaben nicht mehr erfiillen, die die Menschen von ihm erwarten, zugleich hat er aber auch keine Moglichkeit, die Menschen mit den Moglichkeiten auszustatten, soziale Probleme aus eigener Kraft zu bewaltigen.

Ganz besonders betroffen von der Armut der offentlichen Haushalte sind die Stadte und Gemeinden, die in Deutschland zwei Drittel aller Investitionen iibemehmen. Die Ein-nahmen der Kommunen waren iiber Jahre riicklaufig und haben seit dem Jahr 2004 nur geringfugig zugenommen, wahrend die Ausgaben seit 1997/98 stetig und steil angestiegen sind. Vor allem die Ausgaben fiir Soziales, aber auch fiir Personal, sind seit den 1970er Jahren geradezu explodiert, ebenso wie die Kassenkredite, also kurzfristig aufgenommene Kredite zur (voriibergehenden) Uberbrtickung entstandener Fehlbetrage. Mit anderen Wor-ten: Die Schere zwischen verfiigbaren Finanzen und tatsachlichem Bedarf an Geldmitteln der Kommunen geht immer weiter auseinander. Konsequenz dieser Entwicklung ist u.a. ein Riickgang der Investitionsausgaben der lokalen Ebene in den letzten 15 Jahren, insbesonde-re in Westdeutschland. Innerhalb der Europaischen Union ist Deutschland hinsichtlich des Anteils der offentlichen Bruttoinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt inzwischen SchluB-licht. Das Deutsche Institut fur Urbanistik hat 2001 in einer Schatzung des Investitionsbe-darfs der Kommunen eine erschreckende Bilanz vorgelegt: Allein der Ersatzbedarf fiir marode Strukturen in den alten Bundeslandem macht 60% (in den neuen Bundeslandem sogar 72%) des gesamten Investitionsbedarfs fur die Zeit von 2000 bis 2009 aus. Uber Jahrzehnte wurde insbesondere die technische Infrastruktur vemachlassigt und befmdet sich dementsprechend vielerorts in sehr schlechtem Zustand. Die Folgekosten unterlassener Reparaturen, etwa im Bereich der Wasserversorgung, sind immens. In teilweise katastro-phalem Zustand ist in beiden Teilen Deutschlands das kommunale StraBennetz (EiBel 2004: 53).

Erhebliche Liicken bestehen zudem in der Ausstattung mit sozialen Infrastrukturein-richtungen sowie im sozialen Wohnungsbau. Kommunale Planungsvorhaben lassen sich wegen fehlenden kommunalen Grundvermogens immer schwerer realisieren. Die Schlie-Bung von Schwimmbadem und anderen Sportstatten sind fiir den einzelnen im Alltag eben-so unmittelbar sichtbare Folge kommunaler Finanzprobleme. Investitionen fehlen aber noch in ganz anderen Bereichen, wie etwa dem Umweltschutz. Die Gewerbesteuer erweist sich als unzureichende Finanzierungsquelle der Kommunen. Ihre Finanznot ist inzwischen so groB, daB die Gemeinden und Gemeindeverbande in Deutschland kaum noch in der Lage sind, die ihnen per Grundgesetz (Art. 28, Abs. 2) und Landesverfassungen obliegenden Aufgaben noch ordnungsgemaB zu erfiillen (Farber 2004).

Dementsprechend groB ist auch die finanzielle Abhangigkeit der Stadte und Gemein-den von den Landem. Nicht wenige Lander aber versuchen, ihre eigenen Haushalte zu Lasten der lokalen Ebene zu konsolidieren, und das bereits seit einigen Jahren. Eine fodera-le Top-down-?o\itik, die sich auf das Abwalzen von Aufgaben und Kosten von Bund und Landem auf die kommunale Ebene beschrankt, miBachtet nicht nur das sogenannte Konne-xitatsprinzip, wonach jede Ebene die Kosten der eigenen politischen Entscheidungen iiber-

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nehmen muB, sondem auch das den sozialen Rechtsstaat bindende Subsidiaritatsprinzip. Die bewuBte Inkaufnahme der Uberforderung der kommunalen Ebene als Ergebnis fodera-ler Egoismen beschrankt sich aber langst nicht auf das Soziale, sondem erstreckt sich in-zwischen auf nahezu alle Politikfelder. Eine Reform der foderalen Finanzverfassung, die entsprechende Abhilfe schaffen konnte, ist noch immer Zukunftsmusik.

Dabei ist unbestritten, daB steuer- und finanzpolitische ebenso wie wirtschafts- und sozialpolitische Reformen in Deutschland notwendig sind. Doch uber den richtigen Weg wird weiter heftig gerungen, genauso wie iiber den Begriff der „Reform" an sich, der statt einer Verbesserung ftir die Vielzahl der Menschen inzwischen stets eine Verschlechterung ihrer sozialen Lebensbedingungen bedeutet. „Reformpolitik" steht an einem Scheideweg: Wahrend die Mehrheit der Gesellschaft nach mehr sozialer Gerechtigkeit ruft, sozialstaatli-che Leistungsniveaus halten will und zunehmend auch wieder groBere Verteilungsgerech-tigkeit verlangt, werden seitens wirtschaftsliberaler und neokonservativer Kreise weitere drastische Einschnitte in den Sozialstaat gefordert, um die Wettbewerbsfahigkeit des Wirt-schaftsstandorts Deutschland zu gewahrleisten, die angesichts der Intemationalisierung der Markte und Systeme in Frage zu stehen scheint. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit wird hier im Sinne der Neoklassik rein angebotsorientiert beantwortet, d.h. auf die Forde-rung von Wachstum durch Steuersenkungspolitik, Privatisierung und Deregulierung ver-engt. Eine Position, die in Wirtschaft und Gesellschaft zwar einigen Riickhalt hat, von Ar-beitgeberverbanden und den Dachverbanden von Industrie und Handel nach wie vor vertre-ten wird, die jedoch nicht mehrheitsfahig ist, wie die Bundestagswahlen vom 18. Septem-ber 2005 deutlich gemacht haben. DaB sie nicht mehrheitsfahig sind, ist dabei alles andere als selbstverstandlich, „investierten" doch verschiedene wirtschaftsliberale Verbande und Gruppierungen - wie etwa die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" des Arbeitgeber-verbandes Gesamtmetall - teilweise enorme Summen in eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz neoliberaler Positionen.

Die weit verbreitete These, die offentliche Abgabenbelastung (Staatsquote), mindere die private Wertschopftmg (Bruttoinlandprodukt), ignoriert die vielfaltigen Wechselbeziige, die in einer funktionierenden hoch entwickelten Wirtschaft zwischen Staat und Okonomie bestehen. Erfolgreiche Volkswirtschaften zeichnen sich nicht allein durch niedrige Steuer-satze, geringe Sozialabgaben und Lohnkosten aus, sondem vielmehr durch eine intelligente Vemetzung von Untemehmen, Wissenschaft und Staat (etwa in der Technologiepolitik), durch Faktoren wie Qualifikation und Leistungsbereitschaft der Arbeitskrafte, eine strategi-sche Infrastmkturpolitik sowie stabile rechtliche und politische Verhaltnisse u.v.a.m. (EiBel 2005: 5f.).

Trotzdem wurde die Staatsquote in Deutschland durch rigorose Kurzungen bei den of-fentlichen Investitionen, beim Personalbestand und vor allem durch die systematische Kiir-zung der Sozialleistungen bis zum Jahr 2004 auf 40,3% zuruckgeschraubt, ein Wert, der zuletzt 1973 erreicht wurde (Grasse 2005: 233). Dabei widerlegen Vergleichsdaten der OECD iiber Abgabenquoten die Behauptung, hohere Staatsquoten lahmten das Wachstum: Einzig in Irland geht eine niedrige Abgabenquote auch mit einer iiberdurchschnittlichen Wachstumsdynamik einher. Sonst ist nirgendwo ein derartiger Zusammenhang zu erken-nen. Im Gegenteil: Schweden, das mit 50,6% an der Spitze der Staatsquote steht, hat im Durchschnitt (1995-2002) ein doppelt so hohes jahrliches Wachstum wie Deutschland (2,8%) Wachstum in Schweden, 1,4%) in Deutschland), obgleich die Abgabenlast hierzulan-de mehr als 10% niedriger liegt. Auch Finnland (45,9% Staatsquote, 3,9% Wachstum) und

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Danemark (49,4% Staatsquote, 2,3% Wachstum) haben trotz hoherer Staatsquote ein star-keres Wachstum als Deutschland und konnen wie Schweden inzwischen sogar Haushalts-uberschiisse vorweisen. Das Beispiel Japans zeigt gar einen umgekehrten Sachverhalt: Trotz der sehr niedrigen Staatquote von 27,3% ist das Wirtschaftswachstum mit etwa 1% im intemationalen Vergleich klar unterdurchschnittlich (OECD 2004).

Noch eines wird haufig ubersehen: Obgleich das Wachstum in Deutschland gerade in den vergangenen funf Jahren tatsachHch sehr gering ausgefallen ist (2001-2005 durch-schnittlich 0,7%)), ist die deutsche Wirtschaft mit Ausnahme der Jahre 1993 (-0,8%)) und 2003 (-0,2%o) in den letzten 15 Jahren real bestandig gewachsen, so daB gewisse Vertei-lungsspielraume nach wie vor vorhanden sind: Inflationsbereinigt waren im Jahr 2004 im-merhin 216 Mrd. Euro mehr Geld verfugbar als 1995 (Statistisches Bundesamt 2004: 254). Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnten davon allerdings ebenso wenig profitie-ren wie die offentlichen Haushalte.

Das Durchschnittseinkommen der abhangig Beschaftigten ist in realer Kaufkraft seit 1991 um etwa 2% gesunken. Die Steuerpolitik zeichnet dafiir maBgeblich verantwortlich. Wahrend bei der Entwicklung der Lohnsteuem und der Sozialbeitrage kraftig aufgeschla-gen wurde und die Abgabenlast durch Lohnsteuem (+45,2%) und Sozialabgaben (+54,5%) schneller als die Bruttolohne und -gehalter stiegen, stellt sich die Situation bei den Kapital-einkommen vollig anders dar, denn hier wurde die Steuerlast in den vergangenen Jahren erheblich reduziert (Grasse 2005: 248f.; Deutsche Bundesbank 2005: 54). Noch starker als bei den Einkommen hat die Konzentration der Vermogen in Deutschland zugenommen. So werden insgesamt knapp 47%) des gesamten Nettovermogens von nur 10%) der erwachsenen Bevolkerung gehalten (Deutscher Bundestag 2005: 55).

Trotz dieser verteilungspolitischen Schieflage und anhaltender Konjunkturflaute wird in groBen Teilen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unverandert dafiir pladiert, die Sparpolitik der letzten Jahren fortzusetzen bzw. zu intensivieren und dazu notigenfalls weitere Einschnitte bei den Ausgaben vorzunehmen - meist mit dem Argument, nachkom-mende Generationen, welche diese Schulden bezahlen miissen, diirften nicht weiter belastet werden (was irrefiihrend ist, wie Christoph Butterwegge in seinem Beitrag zu diesem Buch herausarbeitet). Es gibt jedoch weiterhin auch gegenteilige Auffassungen, die angesichts der gegenwartigen Wirtschaftsschwache dafiir eintreten, eine weitere Verschuldung vorii-bergehend in Kauf zu nehmen, um wieder fiir eine steigende Binnennachfi*age zu sorgen, damit mehr Wachstum entsteht und in der Folge auch wieder steigende Steuereinnahmen des Staates erreicht werden (Bofinger 2005; Scherf 2005). Nicht nur die Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 109), vor allem die Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Euro-paischen Vertragen und dem Europaischen Stabilitats- und Wachstumspakt, setzen der Verschuldung allerdings Grenzen. Zweifellos wurde das erste Teilziel des Paktes, namlich Stabilitat, weitgehend erreicht (auch wenn im Jahr 2005 immerhin 10 der 25 Mitgliedstaa-ten zu hohe Defizite hatten). Das zweite Teilziel, also Wachstum, ist jedoch nicht im selben MaBe zu verzeichnen. Gerade die wichtigsten Volkswirtschaften Europas und Gninderstaa-ten der Europaischen Gemeinschaft, namlich Frankreich, Italien und Deutschland, die in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren gegen den Pakt verstoBen haben, leiden unter dieser Situation. GroBbritannien wird 2006 wohl ebenfalls die Neuverschuldungsobergrenze von 3%) des BIP iiberschreiten. Ungeachtet der im Marz 2005 beschlossenen Flexibilisierung des Stabilitats- und Wachstumspaktes stellt sich deshalb nach wie vor die Frage, ob bzw. inwiefem die aus dem Pakt resultierende rigide Sparpolitik nicht entscheidend zur anhal-

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tenden Wachstumsschwache in Europa beitragt und gar zu einer Abwartsspirale fiihrt, in-dem wichtige okonomische Impulse durch die offentliche Hand (im Sinne einer antizykli-schen Politik) systematisch unterbunden werden (Hickel 2005 und Huffschmid in diesem Band). Die Investitionstatigkeit lahmt trotz historisch niedriger Zinsen aber auch und gera-de aufgrund der seit Jahren stagnierenden Nachfrage der privaten Haushalte, was unmittel-bare Folge der bereits angesprochenen sinkenden Realeinkommen der mittleren und unte-ren Einkommensbezieher ist.

Die Grunde der staatlichen Finanzkrise wie auch der sogenannten „Sozialstaatskrise" liegen also mitnichten in einer etwaigen Anspruchsmentalitat der Burger. Vielmehr sind hierftir drei andere Faktoren verantwortlich: Erstens die hohen Folgekosten der Arbeitslo-sigkeit, zweitens die Lasten der deutschen Wiedervereinigung und drittens der Vorherr-schaft einer neoliberalen bzw. marktradikalen Politik, welche enorme Steuerausfalle produ-ziert hat, ohne jedoch das erhoffte Wirtschaftswachstum Wirklichkeit werden zu lassen. Weil die Politik die wachsenden fiskalischen Folgekosten der Massenarbeitslosigkeit und der Wiedervereinigung nicht durch eine Verbreiterung der Sozialversicherungspflicht oder aber durch eine angemessene Vermogensabgabe bzw. die Besteuerung hoher Einkommen und Gewinne finanziert hat, sondem den Ausweg lange Zeit in der Kreditfinanzierung suchte, entstanden akute Finanzierungsprobleme. Angesichts der durch die Europaische Wirtschafts- und Wahrungsunion erzwungenen Haushaltsdisziplin bleibt als einziger Weg die Mehrbelastung der Burger, wobei der Sozialbereich als groBter Haushaltsposten mehr und mehr zur Zielscheibe der Austeritatspolitik wird. Steuereinnahmen sind in ausreichen-der Hohe unverzichtbar. Doch genau die fehlen.

Der demokratische Wohlfahrtsstaat steckt aber nicht nur in einer Finanzkrise, sondem er gerat allmahlich auch in eine Legitimationskrise. Deutschland als ein Land, in dem der gesellschaflliche Konsens tiber die Notwendigkeit des Interessenausgleichs lange Zeit Ma-xime und ein wesentlicher Garant des Erfolges der sozialen Marktwirtschaft war, zeigt sich zunehmend polarisiert, wie u.a. auch an den allzu plakativen „Heuschrecken"-, „Neid"-sowie anderen simplifizierenden Debatten ablesbar ist. Die Armuts- und Reichtumsberichte der letzten Jahre (an denen Dieter EiBel mitgewirkt hat) sprechen eine deutliche Sprache: Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland geht tatsachlich immer weiter ausein-ander. So bilanzierte bereits der erste Armuts- und Reichtumsbericht: „Die Bestandsauf-nahme und Analyse der Entwicklung in Deutschland bis 1998 macht in fast alien Lebensbe-reichen deutlich, daB soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit ab-genommen hat" (Bundesministerium ftir Arbeit und Sozialordnung 2001: XV).

Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit stellt sich also mit Nachdruck und verlangt nach Erklarungen und Antworten. Unter Bezugnahme auf unterschiedliche theoretische Konzepte und Ansatze kommen im vorliegenden Sammelband die Bereiche Wirtschaft, Soziales, Arbeitsmarkt, Steuem, Finanzen, Bildung, Familie und Minderheiten ebenso zur Sprache wie Fragen der Gerechtigkeit zwischen den Generationen und Geschlechtem. Die Notwendigkeit einer Umkehr vielerorts gangiger Reformpolitik wird dabei sichtbar. Soziale Gerechtigkeit ist keine Nebensache, kein rein ethisch-moralisches Problem. Vielmehr diirf-te die Zukunftsfahigkeit (post-)modemer Demokratien und Wirtschaftssysteme maBgeblich tiber die Frage gesellschaftlicher Integrationskraft entschieden werden.

Dieter EiBel ist als politischer Okonom dem beschriebenen Themenkomplex seit Ian-gem verpflichtet, und zwar in Theorie und Praxis. Aufgrund der engen Verbindung und Affinitat zur Empiric wurde er einmal treffend als „theoretischer Praktiker" bezeichnet, in

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einem anderen Beitrag einmal schlicht zum „Gerechtigkeitsexperten" erklart. Was lag also naher, als Fragen im Zusammenhang mit dem Problem schwindender sozialer Gerechtig-keit in den Mittelpunkt der ihm anlaBlich seines 65. Geburtstages gewidmeten Festschrift zu stellen. Im vorliegenden Sammelband kommen einige der wissenschaftlichen, akademi-schen und nicht zuletzt der personlichen Wegbegleiter/innen von Dieter EiBel zu Wort. Bin ausdrticklicher Dank geht an alle Autorinnen und Autoren, die durch ihre Mitwirkung und ihr Engagement die Realisierung dieser Festschrift ermoglicht haben. Die Herausgeber, denen Dieter EiBel Doktorvater war bzw. ist und ihm fi-eundschaftlich verbunden sind, mochten ihm mit diesem Buch eine Freude machen, ihn als Mensch und Wissenschaftler wiirdigen und ihm ihren herzlichen Dank fur seine vielfaltigste Unterstiitzung aussprechen.

Das wissenschaftliche und politisch-praktische Wirken von Dieter EiBel ist auBerst vielfaltig, wie Ernst-Ulrich Huster in seinem Beitrag, der als „personliche Hinfiihrung" geschrieben wurde und den vorliegenden Sammelband eroffnet, deutlich macht. Bei all den Betatigungsfeldem, die von der Bildungsokonomie iiber Steuem und Finanzen, Arbeits-markt- und Beschaftigungspolitik, Kommunal- und Regionalpolitik, Umweltpolitik, zivil-gesellschaftliche Entwicklung und Demokratisierung sowie Partizipationsfi'agen, bis hin zur europaischen Integration sowie Internationale Wirtschaftspolitik und Globalisierung reichen, bildet das Thema „soziale Gerechtigkeit" doch einen gewissen Kristallisations-punkt seines Wirkens.

Das hier prasentierte Buch geht der Frage nach, welchen Stellenwert das Thema „so-ziale Gerechtigkeit" in Politik und Gesellschaft Deutschlands gegenwartig hat. Welche Aspekte sind in diesem Zusammenhang wirklich wichtig? Wie wandeln sich gegenwartig Leitbilder und Vorstellungen von Gerechtigkeit und das MaB an gesellschaftlich tolerierter und akzeptierter materieller Ungleichheit? Ist der Paradigmenwechsel bereits vollzogen? Damit werden faktische und ideologische Machtfragen beriihrt. Eine weitere Kemfi age ist, ob und wie der Sozialstaat weiterhin finanziert werden kann. Die Forderung von Wachstum und Entwicklung einerseits und die Herstellung des sozialen Ausgleichs andererseits sind in diesem Zusammenhang die zentralen Herausforderungen an die Politik. Wie nicht zuletzt im Bundestagswahlkampf 2005 deutlich geworden ist, stellt die Steuerpolitik hierbei eines der wichtigsten Felder dar.

Der Sammelband benennt in seinen verschiedenen Beitragen jedoch nicht nur beste-hende Gerechtigkeitsliicken, sondem stellt sich immer wieder bewuBt der Frage nach den Altemativen zu den medial orchestrierten gangigen Positionen. Dabei werden die eingangs dargelegten verschiedenen Dimensionen der Gerechtigkeitsfi-age aufgezeigt und Herausfor-derungen, Probleme sowie Standpunkte diskutiert. Wahrend „Gerechtigkeit" in der Ge-schichte der Arbeiterbewegung vor allem als Verteilungsgerechtigkeit gedacht wurde, wer-den inzwischen die vier anderen Dimensionen immer bedeutsamer. Neben Fragen der be-reits angesprochenen Generationengerechtigkeit gewinnen dabei insbesondere die Ausein-andersetzungen um gerechte Bildungschancen und territorialen Zusammenhalt an Brisanz. Eine weitere Frage ist schlieBlich, wie sich Gerechtigkeitsdefizite auf die Demokratie aus-wirken. Das Buch lotet die verschiedenen Aspekte des Themas in Theorie und Praxis aus und mochte Argumente fiir notwendige Reformen im Sinne des Erhaltes des Sozialstaates und einer moglichen Verbesserung sozialer Gerechtigkeit zur Diskussion stellen.

Ziel des Bandes ist es, die Debatte anzuregen und weiterzuentwickeln. Da soziale Ge-rechtigkeit mehrdimensional ist und bei zunehmender Transnationalisierung und Interde-pendenz Losungen in Mehrebenensystemen erzwingt, nimmt das Buch nicht nur die lokale.

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regionale und nationale Situation Deutschlands in den Blick, sondem gibt auch der europai-schen und intemationalen Dimension den notwendigen Raum. Dabei soil vor dem Hinter-grund der - trotz aller Widrigkeiten - voranschreitenden Europaisierung u.a. der Frage nach makrookonomischen Steuerungs- und Entwicklungspotentialen wie auch nach der Entwick-lung eines europaischen Sozialmodells nachgegangen werden. Landerstudien zu Fragen sozialer Gerechtigkeit in GroBbritannien, Polen, Osterreich und Griechenland helfen, die europaische Dimension zu vertiefen.

Die inhaltliche Auseinandersetzung startet zunachst jedoch mit einem theoretischen Beitrag von Friedhelm Hengsbach. Gerechtigkeit, so Hengsbachs Ausgangsanalyse, wird in verschiedenen jiingeren Diskursen umgedeutet, etwa zur Legitimation von Sozialreformen in der herrschenden Politik, oder in Gestalt beispielsweise tauschtheoretischer oder variab-ler Auslegungen von Gerechtigkeit. Hengsbach wendet sich vor allem gegen eine allzu leichtfertige und unreflexive Ubemahme modemistischer Leerformeln und stellt dem eine Deutung der Gerechtigkeit „als Gleichheitsvermutung" gegeniiber. Er fordert ein, da6 Ge-rechtigkeit auch die Rechtfertigung von Machtverhaltnissen im Sinne einer moralischen Gleichheit und damit von Gerechtigkeitsnormen beinhalten muB, damit alle Menschen an gesellschaftlichen Gutem partizipieren konnen. Schon an der Verwirklichung und Rechtfer-tigung von Beteiligungsrechten (demokratische Beteiligung an der Entscheidung uber Volksvermogen, Bildungs- und Gesundheitsressourcen) lassen sich mit Hengsbach Zweifel formulieren.

Soziale Gerechtigkeit kann nicht losgelost von historischen und systemimmanenten Logiken des Sozialstaats diskutiert werden. Benjamin Benz und Jurgen Boeckh machen in ihrem Beitrag zu Theorie, Struktur und Zukunft des Sozialstaats deutlich, daB der Bis-marcksche Sozialversicherungsstaat bis heute evolutionar behandelt wurde. Es kam in ihm mehr auf Kontinuitat denn auf radikale Reformen an. Dies lieB den reformerischen Inkre-mentalismus tiber die Amtszeit Schroders hinaus bis heute in einer Konzeptionslosigkeit zur Anpassung der sozialen Sicherung an eine veranderte Gesellschaft mit ihren Gerechtig-keitsliicken enden. Die Autoren zeigen, daB die strukturellen Voraussetzungen und die theoretischen Implikationen fiir eine Weiterentwicklung letztlich nicht auf einen zentral-staatlichen Sozialstaatsbegriff hindeuten, sondem in einer Ausbalancierung des Sozialen im politischen Mehrebenensystem zu fmden sein werden.

Gottfried Erb klart in seinem Beitrag iiber die Grundstruktur und die Dimensionen von Reichtum auf. Er tut dies anhand von jiingeren realokonomischen Entwicklungen, die ins-besondere die „arbeitslosen Einkommen aus Vermogen" ungebremst beforderten. Die An-nahmen zum Umfang des verdeckten Privatvermogens und der auseinanderdriftenden Ein-kommensverteilung fuhrt ihn zu der Wertung, daB die Entwicklung der Einkommens- und Vermogensverhaltnisse undemokratisch ist. Die Frage nach der Verantwortung der Vermo-genden fur eine gerechtere Entwicklung der Gesellschaft ist mithin langst zu einer Frage nach der Legitimation unseres politischen Systems geworden.

Berthold Dietz und Carmen Ludwig differenzieren in ihrem Komplementarbeitrag zu Gottfried Erb den Armutsbegriff und seine konzeptionellen Beriihrungspunkte zu verschie-denen Gerechtigkeitsdimensionen und -konzepten aus. Dabei zeigt sich, daB sowohl die Konzentration auf Einkommen als zentrale Ressource als auch eine in Beliebigkeit endende Ansammlung von Benachteiligungskategorien problematisch ist. Unter Einbeziehung des Armutsbegriffes des indischen Nobelpreistragers Amartya Sen zeigen Dietz/Ludwig exem-plarisch anhand struktureller Benachteiligungskategorien, wie sie auch von Hengsbach ins

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Zentrum seiner Untersuchung gestellt werden (demokratische Mitwirkung, Bildung, Ge-sundheit etc.), daB „Armut im Reichtum" Ergebnis eines strukturellen Vorenthaltens von Lebens- und Verwirklichungschancen ist. Dieser Mangel an Verwirklichungschancen wirft fiindamentale Fragen im Hinblick auf Freiheit und soziale Gerechtigkeit als zentrale Grundwerte demokratischer Gesellschaften auf.

Christoph Butterwegge setzt sich kritisch mit dem aktuellen Gerechtigkeitsdiskurs auseinander, in dessen Zentrum die Forderung nach Generationengerechtigkeit steht. Er geht der Frage nach, ob Generationengerechtigkeit dabei nur als politischer Kampfbegriff fungiert oder ob von einer sinnvoUen Neuinterpretation der sozialen Frage gesprochen werden kann. Das in vielen Medien gezeichnete Bild einer intergenerationalen Kluft halt nach Ansicht Butterwegges einer empirischen Uberprufung nicht stand. Die soziale Schei-dewand verlauft vielmehr unabhangig vom Lebensalter unverandert zwischen Arm und Reich. Durch das Schlagwort Generationengerechtigkeit wird die soziale Spaltung in der Gesellschaft „biologisiert" und auf ein Verhaltnis zwischen unterschiedlichen Alterskohor-ten reduziert. In der Konsequenz lenkt der gegenwartige Diskurs von der vermehrten sozia-len Ungleichheit innerhalb jeder Generation ab. Butterwegge pladiert daftir, die Verande-rungen der Demographic in den Zusammenhang von wissenschaftlich-technischer Innova-tion und Wachstumsprozessen der Okonomie zu stellen und so wieder zu einer Versachli-chung der Diskussion zu gelangen.

Alexander Grasse zeigt in seinem Beitrag, wie sich das deutsche Foderalismusmodell im Spannungsfeld zunehmender Wachstums- und Verteilungsprobleme bereits gewandelt hat und bei einem Voranschreiten der Wettbewerbsideologie weiter wandeln konnte. Ein Ergebnis seiner Analysen lautet: Gesamtgesellschaftliche Konflikte werden zunehmend „territorialisiert". Die 1994 durchgeftihrte Verfassungsreform in Gestalt der Anderung des Art. 72 GG, Abs. 2, weg von der Maxime der „Einheitlichkeit" hin zur „Gleichwertigkeit der Lebensverhaltnisse" in Deutschland, ist nach Auffassung Grasses ein Beleg far die zunehmende Akzeptanz des Leitbildes von mehr „Vielfalt", was jedoch ein groBeres MaB an kollektiver Ungleichheit impliziert. Die Auseinandersetzungen um den Landerfinanz-ausgleich, die Kontroversen um den Solidarpakt II und die Forderung nach einer Veranke-rung territorialer Solidaritat im Grundgesetz seitens der ostdeutschen Ministerprasidenten sind Ausdruck eines verscharften Verteilungskampfes und Wettbewerbs der regionalen Systeme, der nicht nur Deutschland erfaBt hat, sondem ein Phanomen in alien westlichen Wohlfahrtsstaaten ist. Ob bzw. inwiefem sich groBere materielle Unterschiede zwischen den Bundeslandem mit foderaler Theorie und der politischen Kultur in Deutschland verein-baren lassen, wird in diesem Beitrag vor dem Hintergrund der Foderalismusreform hinter-fragt und diskutiert.

Rudolf Hickel analysiert anhand des Vorschlags der „Kommission Steuergesetzbuch" zu einer einheitlichen Untemehmensbesteuerung sowie der Umgestaltung der Gewerbe-steuer, daB der vielfach geforderte Systemwechsel bei der Untemehmensbesteuerung letzt-endlich dem Ziel dient, die Steuersatze auf den Untemehmensgewinn massiv zu reduzieren. Dabei wird davon ausgegangen, daB durch eine bewuBt reduzierte soziale Gerechtigkeit iiber die Steuerlastverteilung am Ende „Wohlstand fiir alle" erzeugt wiirde. Der Autor wi-derspricht dieser Annahme, indem er darlegt, daB untemehmerische Steuerentlastungen nicht mit mehr beschaftigungsschaffenden Investitionen belohnt werden, sondem die unter der Finanznot erzwungenen Kiirzungen bei den Staatsausgaben zu einer Rationiemng fuh-ren, welche vor allem sozial Schwache belastet. Der Entlastung der Untemehmen soil das

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Prinzip der gerechten Verteilung der Steuerlast geopfert werden, was zu einem Defizit auf der Ebene der Verteilungsgerechtigkeit fuhrt. Sein Pladoyer ist klar: Die Steuerpolitik ist in das Zielsystem der Schaffiing sozialer Gerechtigkeit einzubinden. In diesem Sinne prasen-tiert Hickel ein alternatives steuerpolitisches Konzept, das sich an den Zielen der dauerhaf-ten Finanzierbarkeit eines zukunftsfahigen Staats zum einen sowie der gerechten Verteilung der Steuerlast zum anderen orientiert.

In Deutschland wurde mit den sogenannten Hartz-Gesetzen unter anderem eine um-strittene Reform bei der Arbeitslosenversicherung umgesetzt. Gerhard Backer durchleuch-tet in seinem Beitrag die Auswirkungen dieser Reform und deren Interpretationen. Zentra-ler Befund: Die Arbeitslosenzahl konnte bisher nicht bedeutsam gesenkt werden, die Zahl der Langzeitarbeitslosen nimmt sogar noch zu. ErwartungsgemaC fallen die Vorschlage zu den Konsequenzen unterschiedlich aus. Untemehmensfreundliche Positionen fordem die Schaffung eines Niedriglohnsektors und die Subventionierung von Lohnen durch staatliche Lohnerganzungen („Kombi-Lohne"), um fur „einfache Tatigkeiten" die Lohnkosten zu senken und damit Anreize zur Schaffiing neuer Arbeitsplatze zu setzen. Backer liefert iiber-zeugende Argumente gegen diese Strategic und sieht - neben den Finanzierungsrisiken -erheblichen sozialen Sprengstoff in ihr. Seine SchluBfolgerung: Die Arbeitsmarktprobleme lassen sich nur mittels einer breiten, offensiven Ausweitung von untemehmens- und perso-nenbezogenen Dienstleistungen, einer breiten Qualifizierung und bedarfsgenauen Einglie-derungshilfen flir Problemgruppen losen.

Ausgehend von der einfluBreichen, komparativen Wohlfahrtsstaatstheorie Esping-Andersons beschreibt und wertet Jutta Trdger die okonomische und sozialstaatliche Funk-tion der Familie in Deutschland. Sie zeigt, dafi ein leitbildhaftes Festhalten an einem oko-nomisch immer weniger tragfahigen Familienideal und eine sicherungsstrukturelle Verfest-igung desselben ein patriarchalisches Familienmodell zementierte, welches Deutschland in der Frage nach der Gender- und Familienperspektive von sozialer Gerechtigkeit einen un-iibersehbaren Entwicklungsruckstand bescherte. Sie weist nach und kritisiert, daB die Transferlastigkeit bundesdeutscher Familienpolitik der Vielfalt familialer Arrangements nicht entspricht und daB der Staat und seine Infrastruktur zur Familienfi)rderung schlecht vorbereitet in den Paradigmenwechsel vom vorherrschenden, auf den Mann fokussierten Emahrermodell zum Vereinbarkeitsmodell geht. Soziale Gerechtigkeit flir Familien wird daher mehr und mehr an der Frage zu messen sein, ob und wie die staatliche Forderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser gelingt.

Bernd Kafiebaum geht in seinem Aufsatz der ungleichen Verteilung der Bildungs-chancen und den daraus resultierenden Folgen flir die Chancengleichheit aus gewerkschaft-licher Perspektive nach. Bildung und soziale Gerechtigkeit stehen fiir den Autor in einem engen Zusammenhang: Die notwendige Realisierung von Chancengleichheit im Bildungs-system beinhaltet zum einen das Schaffen der strukturellen Voraussetzungen, um jedem die Moglichkeit zu eroffnen, iiber Bildung eine qualifizierte Arbeit zu erlangen, zum anderen Bildung als elementaren Bestandteil der Emanzipation von Individuum und Gesellschaft zu verstehen. Eine Politik der Bedarfsgerechtigkeit und Chancengleichheit muB an der Forde-rung derjenigen ansetzen, die sozial benachteiligt sind. Deshalb sieht KaBebaum die Bil-dungsfinanzierung als eine der wichtigsten Aufgaben des Staates an. Er fordert eine gute Schule fur alle Kinder sowie Durchlassigkeit und Gleichwertigkeit in der Gestaltung des europaischen Hochschulraumes, wahrend er den derzeitigen Bestrebungen zur Kommerzia-lisierung und Privatisierung des Bildungssektors eine entschiedene Absage erteilt.

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Peter Henkenborg befaBt sich mit der Herausforderung von Freiheit und Gerechtigkeit in der politischen Bildung. An den Ansatz von Amartya Sen ankniipfend, der durch die Idee der individuellen Befahigung den Freiheitsbegriff unmittelbar mit Gerechtigkeitsvorstel-lungen verbindet, geht Henkenborg der Frage nach, wie politische Bildung in der Schule gelingen und junge Menschen bei der Bewaltigung von Freiheit starken kann. Dabei wird das Grundproblem einer an Freiheit und Gerechtigkeit orientierten politischen Bildung anhand von Beobachtungen aus der Berufsschulpraxis illustriert. Die Bewaltigung von Freiheit, so die These Henkenborgs, setzt als Bedingung Gerechtigkeit und damit politische und soziale Teilhaberechte voraus. Eine wachsende Anzahl von Kindem und Jugendlichen hingegen macht die Erfahrung sozialer Desintegration, verweigerter Teilhabe und Aner-kennung. Der Erfahrung sozialer Anerkennung kommt fur die Entwicklung von Identitat, Autonomic und Mtindigkeit eine entscheidende Bedeutung zu. Der Autor skizziert, wie das Paradigma der Anerkennung einen Orientierungsrahmen fur die Theorie politischer Bildung darstellen kann und entwirfl Vorschlage, um das traditionelle Modell der Unterrichtsschule aufzubrechen und zu verandem.

Peter Schmidt, Phillip Winkelnkemper, Elmar Schliiter und Carina Wolf richtQn den Fokus ihrer Untersuchung auf die subjektive Wahmehmung sozialer (Un)gerechtigkeit und daraus resultierende auslanderfeindliche Einstellungen. Auf der Basis einer reprasentativen Bevolkerungsstudie aus dem Jahr 2005 wird empirisch der Frage nachgegangen, ob demo-graphische Merkmale, Schulbildung, Deprivationswahmehmungen sowie Autoritarismus direkte oder indirekte Ursachen von Auslanderfeindlichkeit sind. Wahrend sich die Deter-minante der „relativen Deprivation" auf Situationsfaktoren und die subjektive Wahmeh-mung von Benachteiligung bezieht, bezeichnet der Autoritarismus eine in der Sozialisation erworbene autoritare Personlichkeits- bzw. Charakterstruktur. Die Autoren liefem mit ihrer Feststellung, daB dem Autoritarismus und dem EinfluB der Bildung eine besonders groBe Bedeutung fur das Entstehen von Auslanderfeindlichkeit zukommt, einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Ursachen von Auslanderfeindlichkeit und mogliche Stra-tegien zu deren Bekampfung. Das Forschungsteam um Peter Schmidt pladiert im Ergebnis fiir gesellschaftspolitische Interventionen zum Abbau von Fremdenfeindlichkeit, die mog-lichst friih, namlich bereits im Kindergarten und in der Schule ansetzen. Damit wird die fimdamentale Bedeutung des Politikfeldes „Bildung", die bereits in den Beitragen von KaBebaum, Henkenborg und auch Dietz/Ludwig deutlich zum Vorschein gekommen ist, nochmals auf besondere Weise unterstrichen.

Im Beitrag von Adalbert Evers und Claudia Wiesner steht die lokale Politikebene im Blickpunkt. Anhand einer empirischen Untersuchung zum Programm „Soziale Stadt" in Hessen wird offengelegt, daB veranderte Konzepte der Armutsbekampfung neue Formen lokaler Politik und Steuerung erforderlich machen. Das Bund-Lander-Programm „Soziale Stadt" vertritt den Anspruch, an den Lebensverhaltnissen in Stadtteilen mit sich verschar-fenden sozialen und infrastrukturellen Problemlagen anzusetzen. Sowohl die soziale Lage als auch das SelbstbewuBtsein der Betroffenen und ihre Fahigkeiten sollen verbessert wer-den. Dabei geht es zum einen um die Verwirklichung von sozialraumlicher Chancengleich-heit, zum anderen um eine demokratischere Kultur im Sinne von Partizipation und Em-powerment. Die Autoren zeigen Schwierigkeiten und Chancen dieser neuen Form von Governance auf und formulieren Anforderungen fiir die Nachhaltigkeit der mit dem Programm angestoBenen oder erreichten Veranderungen.

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Karl Georg Zinn, mit dessen Beitrag das Buch die iiberwiegend deutsche Perspektive verlaBt und sich der europaischen und intemationalen Dimension zuwendet, nahert sich der Wahmehmung sozialer Gerechtigkeit von einer makrookonomisch-komparativen Seite. Es geht ihm um die Beantwortung der Frage, wie Staaten gleicher wirtschaftlicher Entwick-lungsstufe unterschiedlich mit globalen Tendenzen umgehen und an kontraren Fundamen-ten (hohe Staatsquote vs. niedrige Staatsquote) festhalten. Zinn sieht im wirtschaftstheoreti-schen Streben nach universell gultigen, mathematisierten Erklarungsmodellen ein hauptver-antwortliches, historisches Defizit. Dieses unterschatzt gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede als EinfluBgroBen auf das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Handeln. Gerade dieses bewirkt eine Art nationalokonomischer Eigensinnigkeit und Unbeirrbarkeit, die sich in hohem MaBe einer globalen Homogenisierung von wirtschaftstheoretischen Modellen widersetzt. Als Conclusio sieht Zinn die Bundesrepublik auf einem Kurs zuriick zu einer liberalistischen Kultur in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Diese Kultur ist nach Zinns Auffassung ihre „eigentliche", wahlverwandte, eine, die in anti-egalitaren Ideologien wurzelt und bisher von Legitimierungs- und Konsenszwangen der jungen Bon-ner Republik iiberlagert wurde.

Jeremy Leaman macht in seinem Artikel klar, daB der britische, sogenannte „dritte Weg" nur bedingt tauglich ist und erhebliche Gerechtigkeitsliicken aufweist. Einige der Reformen der rot-grunen Regierung, wie auch offensichtlich die der GroBen Koalition in Deutschland, ahmten Veranderungen unter New Labour in GroBbritannien nach. Zum einen sprechen nun aber die sozialen Realitaten in vielen Bereichen gegen die Modellhaftigkeit des ,J^ew Deals" und anderer Programme. Zum anderen sieht Leaman die Nachhaltigkeit der Reformen vor dem Hintergrund der enormen staatlichen Interventionen aus Steuermit-teln keineswegs bewiesen. Er vemeint insofem auch die Vorstellung, daB GroBbritannien als Vorbild fiir Europa taugt, wie wahrend der britischen EU-Ratsprasidentschaft im zwei-ten Halbjahr 2005 von Tony Blair postuliert wurde.

Christine Stelzer-Orthofer und Johann Backer belegen anhand empirischer Untersu-chungen in Osterreich, daB es in der Bevolkerung eine Mehrheit fiir alternative Politiken zu denen neoliberaler oder neokonservativer Pragung gibt, wenn diese Altemativen klare Ziele benennen und Perspektiven bieten. Damit wird die von Jorg Huffschmid in seinem Aufsatz vertretene Position bestatigt. Anhand mehrerer Beispiele verdeutlichen die Autoren den Abbau von Bedarfsgerechtigkeit durch den Umbau des osterreichischen Sozialstaats zum „schlanken Staat", der sich an neoliberalen und neokonservativen Politikkonzepten orien-tiert. Stelzer-Orthofer und Bacher iiberpnifen auf der Basis des Sozialen Surveys Oster-reichs, ob dies auch zu einer Zunahme von neoliberalen oder neokonservativen Einstellun-gen in der Bevolkerung gefuhrt hat. In ihrer Studie zeigt sich, daB dies nicht der Fall ist. Vielmehr ist die Attraktivitat einer Politik gestiegen, die sich als Gegenstrategie zum Neo-konservativismus versteht. Die Autoren ziehen den SchluB, daB der strukturelle Wandel der sozialen Sicherungssysteme in Osterreich nicht aufgrund einer Mehrheitsmeinung in der Bevolkerung entstand, sondem „von oben" initiiert wurde, weshalb eine politische Gegen-strategie durchaus Chancen auf Erfolg hatte.

Polen, so Ewa Rokicka und Wielislawa Warzywoda-Kruszynska, gehort zu den Staa-ten, in denen die Folgen der Transformation seit dem Kollaps der Kommandosysteme in Form von wachsender Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Armut in der Gesellschaft am wenigsten akzeptiert werden. Dies ist der Ausgangspunkt fur eine grundsatzlichere Analyse von Ungleichheit. Rokicka und Warzywoda-Kruszynska analysieren den offentlichen Dis-

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kurs zu sozialer Gerechtigkeit in Polen sprachlich und inhaltlich anhand zweier ausgewahl-ter Wochenzeitungen: Wprost und Przeglqd Ihr Befund: Die offentliche Debatte ist hoch ideologisiert und gepragt von „Gruppendenken". Diese Polarisierung bedient zweierlei, namlich eine „Kolonisierung" offentlicher Meinung und das mangelhafte Verstandnis fiir politische Prozesse. Die fehlende Konsensbereitschaft und die unterentwickelte offentliche Diskurskultur liegen den Autorinnen zufolge auch in der Schwache der polnischen Demo-kratie begriindet.

Einen historischen AbriB zur griechischen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik seit Ende des Zweiten Weltkrieges liefert Procopis Papastratis. Seine Eingangsanalyse macht er an der Frage fest, wie sich die griechische Politik mit Arbeitslosigkeit vor dem Hinter-grund einer konstant hohen Auswanderung auseinandersetzte. Zunachst, so Papastratis, milderte die Auswanderung Hunderttausender die sozialen Spannungen am Ende des Biir-gerkrieges. So liegt fur ihn die Hauptursache fur die Auswanderungswelle nach Westeuropa zwischen 1955 und 1974 (dem Ende der Militardiktatur) vor allem in der hohen Arbeitslo-sigkeit. Spaterhin fanden, wie auch anderenorts in Europa, Schlagworte wie „Aktivierung" und „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes" allmahlich Eingang in die griechische Politik. Allerdings, so Papastratis' Verdacht, geschah dies in erster Linie durch die hohen Forder-mittel seitens der Europaischen Union und einen damit einhergehenden neoliberalen Kurs Briisseler Wirtschaftspolitik, auf die schlieBlich auch die griechische Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik abstellte. Im Ergebnis haben die Reformen trotz eines ausgeweiteten offentlichen Sektors die Arbeitsmarktprobleme Griechenlands nicht gelost, sondem werfen vor dem Hintergrund einer weitgreifenden Privatisierungswelle staatlicher Dienste eher neue Fragen auf.

Udo Bullmann und Johannes Loheide sehen Europa als entscheidendes Feld sozialer Auseinandersetzungen, denn die Verflechtung der Okonomien im europaischen Binnen-markt macht eine europaische Strategic zum Ausbau von Sozialstaatlichkeit unabdingbar. Doch welche Perspektive bietet sich fiir eine emanzipatorische und soziale Politik in Euro-pa? Zur Beantwortung dieser Frage zeichnen die Autoren zunachst die noch zogerlichen Schritte zum Aufbau von Sozialstaatlichkeit und die allmahliche Ausweitung der re-distributiven Politik in der EU nach. Dabei wird deutlich, daB in der EU das Spannungsver-haltnis zwischen unbeschranktem Wettbewerb auf der einen Seite und sozial- und umwelt-politischen Belangen auf der anderen Seite in der Vergangenheit zugunsten des Wettbe-werbs aufgelost worden ist. Gleichwohl sind Fortschritte uniibersehbar und es bestehen Chancen zur Sicherung bzw. Verwirklichung eines europaischen Sozialmodells. Anhand aktueller Auseinandersetzungen um die Dienstleistungsrichtlinie, Leiharbeit, offentliche Auftragsvergabe und die Lissabon-Strategic zeigen Bullmann und Loheide, daB eine Politik der sozialen Emeuerung Europas jedoch nicht von der EU allein realisiert werden kann, sondem daB es vielmehr einer bewuBten Offnung von Gestaltungsraumen bedarf, die sich erst durch ein Zusammenspiel im gesamten politischen Mehrebenensystem ergeben. Die Nationalstaaten sind in besonderer Weise gefordert. Dabei kommt den Parteien, Gewerk-schaften, Kirchen und sozialen Initiativen eine entscheidende Bedeutung bei der offentli-chen Meinungsbildung fiir ein soziales Europa zu.

Auch Jorg Huffschmid beschaftigt sich mit den Herausforderungen demokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa. Er diagnostiziert, daB sich die europaische Wirt-schaft in einem Teufelskreis aus Wachstumsschwache, Massenarbeitslosigkeit und Umver-teilung von unten nach oben befmdet und geht der Frage nach, warum die gegenwartige.

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unter neoliberalen Vorzeichen stehende Politik auch unter wechselnden Regierungskonstel-lationen fortgefiihrt wird. Die Durchsetzungskraft der neoliberalen Gegenreform auf Keynesianismus und soziale Marktwirtschaft laBt sich dabei insbesondere anhand der Ent-wicklung der intemationalen Finanzmarkte und deren Eigenschaften erklaren. Die zentralen Charakteristika modemer Finanzmarkte, wie die Dominanz der Handelsgeschafte und der institutionellen Investoren, sowie die globale Mobilitat des angelegten Kapitals fuhren zu zunehmender Instabilitat und Unsicherheit, zu massivem Druck auf die Untemehmensfiih-rungen und zu verscharfter Standortkonkurrenz zwischen den Landem. Hier setzt Huffschmid mit seiner Formulierung von Altemativen zur Emeuerung des Sozialstaates an, die er insbesondere in der Kontrolle und Reform der Finanzmarkte sowie einer demokrati-schen Wirtschaftspolitik mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit sieht.

Margit Schratzenstaller gibt in ihrem Beitrag einen Uberblick iiber die Verwendung unterschiedlicher Steuermodelle in Europa und vergleicht sie hinsichtlich ihrer Folgewir-kungen. Steuem sollen neben eine Reihe anderer Funktionen die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermogen, die sich aus den Marktprozessen ergibt, abmildem und damit einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten. Die Autorin zeigt auf, daB in der neueren Steuerpolitik und -lehre jedoch - mit dem Argument notwendiger Effizienz - eine Abkehr von diesen traditionellen Grundsatzen und Zielen der Besteuerung stattfmdet und kniipft damit an die von Rudolf Hickel in seinem Beitrag vertretene Position an. Die zunehmende intemationale Mobilitat fahrt zu einem zwischenstaatlichen Steuerwettbewerb, der vor allem die direkten Steuem bzw. die Steuem auf mobile Steuersubjekte unter Anpassungs-dmck nach unten setzt. Im Zuge dessen erfreuen sich sowohl das Modell der sogenannten Flat Tax (Besteuemng samtlicher Einkiinfte mit einem niedrigen einheitlichen Steuersatz) als auch das Modell der dualen Einkommensteuer (unterschiedlich hohe Steuerlast auf Arbeits- und Kapitaleinkommen zugunsten letzterer) immer groBerer Beliebtheit. Im Ver-gleich zum synthetisch-progressiven Einkommensteuersystem fahren beide Modelle jedoch zu weitaus weniger vertikaler und horizontaler Steuergerechtigkeit, wie Schratzenstaller in ihrer Analyse klarstellt, obschon auch das Modell der synthetisch-progressiven Einkom-mensbesteuemng verschiedener ReformmaBnahmen bedarf, um wirklich sozial gerecht zu sein.

Hanne-Margret Birckenbach analysiert in ihrem Artikel Perspektiven eines europai-schen Sozialmodells. Dabei miBt sie der 1961 verabschiedeten und 1996 erweiterten Euro-paischen Sozialcharta des Europarates eine tragende Rolle bei. Diese verpflichtet die Staa-ten nicht nur zum politischen Dialog iiber ihre Sozialpolitik, sondem erzeugt durch ein komplexes intemationales Uberwachungssystem erheblichen Dmck zur Einhaltung der vereinbarten Normen und Zielvorgaben. Ahnlich wie der Begriff des „Friedens" wird auch der Begriff der „Gerechtigkeit" notwendigerweise als ProzeBkategorie konzipiert. Dabei sind die nordischen Staaten beispielgebend, wohingegen Deutschland bei der Umsetzung der Europaischen Sozialcharta wie auch bei der Unterzeichnung und Ratifiziemng ihrer Folgeabkommen zu den SchluBlichtem Europas gehort, wie Birckenbach zeigt. Im schwarz-roten Koalitionsvertrag von 2005 fmdet die Sozialcharta nicht einmal mehr Er-wahnung. Die Autorin wendet sich gegen die eingeschlagene Politik, bei der Verwirkli-chung eines europaischen Sozialmodells allein die Lissabon-Strategie der EU zu setzen, bei der der soziale Pfeiler bislang von einer Flexibilisiemngs- und Dereguliemngsphilosophie dominiert wird. Birckenbach macht deutlich, daB diese Strategic soziale Menschenrechtspo-litik nicht ersetzen kann, zumal sie sich nicht auf Gesamteuropa erstreckt.

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