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ALICE SCHALEK: JAPAN DAS LAND DES NEBENEINANDER

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EINE WINTERREISE DURCH

JAPAN, KOREA UND DIE MANDSCHUREI MIT 193 EIGENEN AUFNAHMEN

FERDINAND HIRT IN BRESLAU KÖNIGSPLATZ 1

1925

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UMSCHLAG-, EINBAND- UND VORSATZZEICHNUNG VON ADA STEINER, WIEN

COPYRIGHT 1924 By FERDINAND HIRT IN BRFSLAU MADE IN GERMANY

HUGO STINNES DEM KAUFMANN AUS MÜLHEIM AN DER RUHR

ZUM GEDÄCHTNIS

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EINIGE DER IN DIESEM BUCHE VORKOMMENDEN WORTE

INHALTSÜBERSICHTSeite

I. ANKUNFT IN JAPAN i. Ankunft t z. Erste Schritte 9 3. WieTokio ausgesehen hat 15

II. POLITISCHE BESUCHE 4. Offizielle Aufnahme 36 5. Besuche 406. Die Zeitung 45 7 . Japanische Politik 57

III. WAS IN TOKIO LOS IST

8. Unter Landsleuten 73 g. Die Kleidung 81 to. Einladungen 93

lt. Theater 98 12. Die No-Spiele 113 13.Im Vergnügungsbezirk 122 14. Bei denRingkämpfern 177 15. DasLeichenbegängnis des

Großadmirals 132

IV. DIE JAPANISCHE FRAUENBEWEGUNG

16. Das kommerzialisierte Laster 139 17.Ein Damentee 151 18. Bei Mrs.Gountlett 157 19. Die japanischey.W.C.A. 165 20. Frau Inouye 168 21.Die Freiheitsschule der Frau

Hani 174 2z. Moderne Japanerinnen 178

V. MODERNE STUDIEN

33. Vortragserfahrungen

IX. UNTERWEGS

26z

34. In der Eisenbahn 272

35. Ein Tag in Osaka 27836. Die Landschaft um Kobe z8837. Unterwegs zgt

X. BEI JAPANERN ZU GASTE 38. Das Ishi-Haus 29839. Die Universitätsassistentin 31140. Zwei Wochen in ei.,er Pro

vinzstadt 313

XI. IM SÜDEN 41. Der Wallfahrtsort Dasaifu

32542. In Kagoshima 33z

43. Teezeremonie und Blumen arrangement 335

44. Auf den Aso-san 341

XII . IM LUXUSZUG DURCH KOREA

UND DIE MANDSCHUREI

23. Unterricht 1gt

24. Ein Ausflug nach Sendai 200 25. Bei dem Direktor des Irren

hauses zo8 26. Moderne Malerei 210 27. Europäische Musik z14

Vl. AUSFLÜGE 28. Ein Tempelbesuch

___ 29. Ein Besuch in Enoshima 233

45. Durch die koreanische Öde 347

46. Das Selbstbestimmungsrecht der Mandschurei 365

47. Voni Räuber zum Marschall 37148. Das Kohlenbergwerk von

Fudhun 378

49. Dairen, der Schaffensmittel punkt der Südmandsc huri sehen Bahn 387

5o. Die Chinesische Ostbahn 390

Seite30. Ini Auto auf den Takaosan 237

31. Ein Sonntag auf dem Zehn=Provinzen=Paß 240

VII. AUS DEM GESCHÄFTSLEBEN

3z. Handel, Industrie und Kaufmannschaft

247

VIII.LETZTETAGE IN TOKIO

Ama Kindermädchen Daimiyo Fürst der Feudalzeit Fujin die verheiratete Frau Futon Schlafsack Gai musho Auswärtiges Amt Geta Holzschuh Hanamichi Blumenweg im Theater Hashi Eßstäbc hen Haori Winterkimono Hibachi Holzkohlenurne Katakana Silbenschrift Komageta niederer Holzschuh Kurumaya Rikshakuli Maru Mage Kinderfrisur Montsuki Herrenkimono mit Familienwappen Musme Tochter Nagahala Schmetterlingsfrisur Nesan Kellnerin (ältere Schwester) Niku Nabe Nationalgericht Obi Gürtel Obi dome Gürtelschmuck Riksha Handwagen Sake Reisbranntwein Samurai feudaler Ritter Shogun feudaler Herzog Shoji Papierwand Shoju japanische Sauce Tabi Strumpfschuh Takageta hoher Holzschuh Tatami Matte Zori Zimmersandalen

Aussprache: ch - tsch, shi - schi, u - tonlos, j - dsch Wert des japanischen Geldes: 1 Yen <too Seil> = z,zo Goldmark - z sh 2 d

Wert des chinesischen Geldes: 1 Dollar mex. <Silberdollar> - 2,5 Goldmark - 2 sh 8 d

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I. A N K U N F T IN JAPAN,

1. Ankunft mit dem neuen Hugo Stinnes.Dampfer zu Neujahr i9z3.

T Tnser »Emil Kirdorf«, der erste deutsche Passagierdampfer nach dem Kriege, bringt das halbe Hundert seiner deutschen Rückwanderer nur

nach den englisch=asiatischen Südhäfen und nach Shanghai, nicht nach Japan, welches -- stärker als China, das der Forderung der En. tente nach Ausweisung der Deutschen endlich nachgeben mußte -- die Feinde nicht landesverwiesen hatte. Wiederaufzunehmende fahren also nicht nach Japan, aber auch keine Neuangestellten -- der geschäftlichen Krise halber, die alle europäischen Unternehmen zwingt, mit den billigeren japanischen Kräften vorliebzunehmen. Da die Einfuhr vorläufig England und Amerika an sich gerissen haben und die Deutschen die ver< lorenen Handelsbeziehungen erst wieder anknüpfen müssen, gibt es auch wenig Ladung. Von Shanghai an ist der »Emil Kirdorfs nahezu mein Privatdampfer, nur ein deutsches Ehepaar, das zehn Jahre in Japan gelebt hatte, kehrt nach einem zweijährigen Versuch in Shanghai reuig dahin zurück und ein dicker Kanadier wagt es als erster ehemaliger Gegner, mit einem deutschen Dampfer zu reisen.

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Al i ce Sd ia l ek , J apan . 1

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In Kobe, dem Hafenplatz, wo die Europäer wohnen, die mit Osaka, dem Manchester Japans, zu tun haben, gibt unser schönes neues Schiff, das erste der eben eröffneten Ostasienlinie der Hugo Stinnes=Reederei, ein Fest, auf welchem deutsches Bier und deutsche Wurststullen bei den deutschen Ostasiaten begeisterten Anklang finden. Dicht neben uns legt ein »Rund um die Welt«=Dampfer mit vierhundertfünfzig amerikanischen Vergnügungsreisenden an. Das Schiff ist englisch -- des Alkohols halber - und die britischen Offiziere erzählen uns in der gemütlichen Kabine des Zahlmeisters vom »Emil Kirdorf« von dieser kuriosen »Weltreise', die fünf Tage für Yokohama und fünf für Kobe vorgesehen hat, ferner zwei für Peking, womit für vierhundertfünfzig Amerikaner der Osten erledigt ist.

Mit Paketen beladen rollen die Amerikaner in langer Rikshareihe durch Kobe - die Ladenbesitzer klagen freilich, daß sie zumeist nur billige »Curios« einhandeln. Japan ist augenblicklich auch für Amerikaner zu teuer, denn seine Preise sollen um die Hälfte höher sein als die der Ver= einigten Staaten. Unter den Weltreisenden sind manche Witzblattfiguren, wohlbekannte Typen, die ich abends im Oriental=Hotel bei einem den Amerikanern gegebenen Balle näher studieren kann.

In den europäisch geführten Hotels geht solch einem Ball das Diner im Speisesaal voran und die erste Überraschung, die ich als symptomatisch für den Umschwung der Sitten durch den Krieg bezeichnen möchte, kommt mir von den langen, von Japanern besetzten Tischen; zu= meist sind es nur Herren, doch sieht man auch ganze Familie Männer, Frauen, Mädchen, Kinder, welche von dem japanischen Kellner ._1it größ= ter Zuvorkommenheit -- mit viel größerer als wir - bedient werden und die ganze Speisenfolge, die aus siebenundvierzig Gerichten besteht, durch= essen. Noch vor zwölf Jahren, als ich das erstemal in Japan war, hätte dies beiden Seiten als unmöglich gegolten. Die Hotels waren zwar von Japanern geleitet, aber ausschließlich den Weißen vorbehalten, die sich mit Japanern grundsätzlich nicht in demselben Raum zum Speisen nieder= gesetzt hätten. Die Japaner ihrerseits hielten sich teils verachtungsvoll, teils scheu, ebenso aus Unkenntnis unserer Gebräuche und Manieren wie aus Abneigung gegen unsere Kochweise von ihnen fern. Jetzt sind diese in Masse auftretenden Speisegesellschaften, bei denen es vorkommen soll, daß die Fingerschale ausgetrunken oder der Teller zum Munde geführt wird, die wichtigste Einnahmequelle der Hotels, die mit Ausländern kaum mehr rechnen. Den japanischen Preisen gegenüber sind diese nicht mehr kaufkräftig genug, einträglich sind nur die japanischen Bankette, deren es täglich mehrere gibt - im Imperial=Hotel in Tokio essen manch

mal gleichzeitig achthundert Japaner. Gilden und Aktiengesellschaften, die ihr Jahresfest feiern, Parteien, die ein Geschäft abgeschlossen haben oder auch nur Vorverhandlungen pflegen, geben ein Essen im Hotel. Manch ein Japaner, der mitten im Erwerbsleben steht, hat täglich solch ein Riesendiner vor, zu welchem die Herren im Montsuki, dem Fest kimono mit eingewebtem Familienwappen, kommen und bei dem sie stundenlang sitzen. Die Gattinnen nehmen nicht daran teil, allenfalls werden, wenn die Gastgeber nobel sind, Geishas dazu gemietet.

DieAusländer erscheinen zu den Hotelbällen meist erst nach dem Diner, und zwar immer paarweise, entweder der Gatte mit der Gattin oder der Junggeselle mit der von ihm geladenen Dame, die miteinander alle Tänze durchtanzen, so daß es keine Mauerblümchen gibt und auch eine anmutlose oder grauhaarige Tänzerin von ihrem Ritter eifrig und voll gesammelter Tanzaufmerksamkeit durch die Menge geschoben wird. Ein Herr allein kann hier niemals zu einem Balle gehen, weil es unmöglich ist, sich im Saale einer Dame vorstellen zu lassen.

Das Kurioseste ist für mich die Teilnahme von Japanerinnen am Fox-trott. Im Kimono, hochfrisiert, in ihren Zori, den Zimmersandalen, deren aus Samt gefertigtes Halteband sie zwischen der großen und der zweiten Zehe halten - der Tabi, der Strumpfschuh, hat dort eine Trennungsnaht - werden sie durch den Saal geschleift, einige von europäischen Herren, einige von Japanern, die ihrem Foxtrott sehr drollige Bewegungen, ganze Beugungen des Körpers, beifügen. Wiewohl man gar nicht begreift, wie die Tänzerinnen mit dieser Beschuhung überhaupt mitkommen können, tanzen sie mit vollendeter Anmut und Lieblichkeit und ihre Biegsamkeit macht den Tanz viel züchtiger als die Derbheit der Amerikanerinnen, die sich hemmungslos in den Hüften wiegen und eng an ihreTänzer schmiegen.

Von den Deutschen, die mich zu diesem Balle eingeladen haben, erfahre ich, wie es ihnen während des Krieges ergangen ist. Es war mir aufgefallen, daß sie beim Hereinkommen niemanden gegrüßt hatten, und sie berichten mir nun, daß sie von den Engländern und Amerikanern noch immer geschnitten werden und daß nur vereinzelte persönliche Annäherungen stattfinden - bezeichnenderweise immer dann, wenn man einem der früheren Feinde allein begegnet, trifft man sie zu zweien, so scheut sich einer vor dem andern. Auch Neutrale vermeiden es, in Gegenwart von Entente= angehörigen mit Deutschen allzu freundlich zu sein. Im Osten hatte der Krieg einen völligen Bruch aller einstigen Beziehungen zwischen den Wei= ßen verschiedener Fronten mit sich gebracht, Herren, die in gemein= samem Haushalt miteinander gelebt hatten, grüßten, Freunde kannten ein= t '

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ander nicht mehr. Die Wohlerzogenen unter den Engländern taten bei Begegnungen, als müßten sie nach der Uhr sehen, viele aber starrten ganz offen dem ehemaligen Klub= oder Wohnungsgenossen ins Gesicht. Eine englische Dame sagte einmal einem Deutschen, der sie an ihre gemein= same Jugend mahnte: »Ja, Sie sind mein toter Bruder!« Die englische Presse hatte auch hier alle Seelen vergiftet und die Hetzereien der ge= IesenstenTokiozeitung, die ein von Deutschen stammender Amerikaner in englischer Sprache herausgibt, waren so grotesk, daß die auf sie als einzige Nachrichtenquelle angewiesenen Deutschen jeden Morgen Zornanfälle be= kamen. Eine einzige, rühmenswerte Ausnahme machte der zwar ebenfalls völlig englische »KoberChronicle«, der unparteiisch und gerecht blieb. Da die Deutschen aus allen internationalen Klubs ausgestoßen wurden, machen sie sich jetzt daran, wenn auch der schlechten Zeit halber unter großen Schwierigkeiten, eigene Vereinigungen zu gründen.

Abgesehen von solchen seelischen Leiden blieben die Deutschen in Japan anfangs im vollen Genuß ihrer Rechte. In dem gleich nach Aus= bruch des Krieges von dem damaligen Premier Grafen Okuma erlassenen kaiserlichen Edikt wurde ihnen Schutz von Leben und Eigentum zugesagt und die Erlaubnis erteilt, ihren Geschäften weiter nachzugehen. Erst das am 14. Mai 1917 erschienene »Gesetz über den Handel mit dem Feinde« brach Graf Okumas feierliches Versprechen und verbot den Deutschen, innerhalb Japans geschäftliche Verfügungen zu treffen. Die unfreiwillige Muße wurde von jedem nach besonderem Geschmack zu Bergwanderungen, Bridgepartien oder Studien der japanischen Sprache ausgenützt. Wohl sah man sich stets von Detektivs umgeben, aber man freundete sich allmählich mit ihnen an, so daß sie den Damen die Einkaufspäckchen heimtrugen und mit den Herren manche Friedenspfeife rauchten. Am 25. Dezember 1916 war dieser geschäftlichen Kaltstellung das »Postverbot« vorangegangen, selten wurde von der Zensur ein Brief ins Ausland durch= gelassen, nicht einmal eine offene, englisch geschriebene Postkarte an die Eltern. Zeitungen aus der Heimat bekam man nur insgeheim von den aus Tsingtau gebrachten Kriegsgefangenen, denen in ihren Lagern, dem internationalen Kriegsgesetze zufolge, ihre Post zugestellt werden mußte. Als der Friedensvertrag die Klausel erhielt, daß das deutsche Eigentum beschlagnahmt werden dürfe, folgte ein neuer Erlaß, welcher ungeachtet des kaiserlichen Schutzbriefes sämtlichen deutschen Besitz unter Aufsicht stellte; es mußten Listen ausgefüllt werden, welche genaue Angaben des Aktienbesitzes, Bargeldes, Kapitals, Firmen= und Privateigentums forder= ten und von der Polizei nachgeprüft wurden. Während die höheren Stellen

höfliche Formen einhielten, erlaubten sich untere Polizeiorgane derbe Über= griffe, drangen bis in die Schlafzimmer der Damen, nahmen Uhren, Ringe, das Kleingeld aus den Börsen weg, ja sogar Manschettenknöpfe. Als aber der tapfere »Kobe=Chronicle« darüber einen beißenden Bericht erstattete und ein Deutscher Gelegenheit bekam, dem amerikanischenHandelsattache auf einer Omnibusfahrt Einzelheiten dieser Art zu erzählen, wurden solche Quälereien eingestellt und die Schmuckgegenstände zurückgegeben.

Viel Zeit war jedenfalls den Deutschen gelassen worden, auf Auswege zu sinnen; wenngleich die meisten Japaner große Angst vor der Polizei hatten, wurden fast alle Firmen auf Japaner überschrieben, eine sogar ungefähr zwanzigmal, einmal auf den Namen des Laufburschen. Die japani= sehen Behörden hätten nicht allzuscharf dahintergesehen Lind so erstaunlich genau sie über Liegenschaften, Hausbesitz, Warenlager und Bankguthaben Bescheid wußten, sie forschten nie, wo die Mittel für die Lebensführung der Deutschen herrührten, wohl wissend, daß mit dem monatlich ausbe= zahlten Prozentsatz des Vermögens niemand auskommen könne; aber der englische Handelsattache überwachte die Listen im japanischen Rathause und fragte die Beamten aus.

Am i. Juli 1919 erschien die Verordnung, daß Vermögen bis zu zehntausend Yen zurückgegeben, von den zweiten Zehntausend angefangen die Hälfte beschlagnahmt werden solle, wobei auf Verluste keine Rück= sicht zu nehmen sei. Die Häuser wurden in Feilbietungen, die nicht öffent= lich und nur Japanern zugänglich waren, versteigert, wobei die Behörden bestimmten, wer mitbieten dürfe. Angebote mußten in geschlossenem Umschlag gemacht werden. Manchem gelang es, durch befreundete Ja= paner sein eigenes Haus zurückzukaufen, andere wohnten zur Miete im verlorenen. Interessant ist, daß dieses Überwachungsgesetz noch immer besteht, wenn auch de facto alles so ist wie vor dem Kriege; auch die vorbehaltenen fünfzig Prozent sind noch nicht wirklich dem Staatsschatze einverleibt worden.

Feindselig sind die Japaner nie gewesen und manche Deutschen er= zählen rührende Züge von Schutz= und Hilfsangeboten ihrer treugeblie= benen Freunde, die ihre Höflichkeit noch verdoppelten, als Deutschland geschlagen wurde und seine Bürger überall auf Erden Opfer von Ver= folgungen waren. Einem an der Akademie angestellten deutschen Sprach= lehrer bot ein japanischer Berufsgenosse sein Haus an, falls er sich in seinem eigenen nicht sicher fühle. Und es muß dabei ausdrücklich festgestellt wer= den, daß für die Deutschen Japan das sicherste Land der Welt gewesen ist.

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Den zweiten Abend unseres Kobe=Aufenthaltes verlebe ich in völlig anderer Umgebung. Zwei der »Kirdorf«=Offiziere laden mich ein, mit ihnen dem dunkelsten Japan einen Besuch abzustatten. Von unserem Ziel wissen wir nichts anderes als den Namen »Minetogawa«, den in der Straßenbahn ein sehr einfach gekleideter Japaner hört; darauf= hin bietet er uns in gebrochenem Englisch an, uns zu führen das erste Zeichen der Gastfreundschaft dieses Landes, deren ich noch oft und in allen Spielarten teilhaftig werden soll. Wir steigen also in »Minetogawa« aus, sehen eine breite, glänzend beleuchtete Kinostraße, mit Fahnen, riesigen roten, bedruckten Lampions, Kunstblumen und bunten Wimpeln, in welcher zwischen Hunderten von Buden Tausende von Menschen auf und ab wandeln; wir sind ja mitten in der Neujahrswoche, der einzigen Feriaizeit Japans, deren Symbol die uralten Neujahrszeichen vor den Häusern sind -- die Fichte bedeutet langes Leben, der Bambus Kraft und die Pflaumenblüte Schönheit.

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Spielzeug, Zuckerwerk, geblumte Frauenkleiderstoffe und grellbunten Tand gibt es in abenteuerlichen Massen und Farben. Die Kinos selbst sind mit schreienden Riesenbildern geschmückt, mit je drei bis vier überlebens= großen, von elektrischen Lichtern umrahmten Tafeln, welche die wildesten Szenen aus den Films darstellen.

In einem Branntweinlädchen trinken wir eine Tasse Tee. Hier singen und spielen zwei Mädchen, Geishas minderer Klasse, die sich gelegentlich zwischen dem Alkoholgeschäft selbst verkaufen. Neben uns sitzt ein Ja= paner hinter seinem Schälchen Sake, dem japanischen Reiswein, der sich uns in einem Kauderwelsch aus allen Sprachen als Verkäufer aus einem Schneiderladen vorstellt und uns sofort erzählt, er habe »natürlich« Pro= fessor Einstein auf dem Pier bewillkommt, nur leider seiner Geschäftsstunden halber nicht zum Vortrage selbst gehen können.

Es ist mein zweiter Japan= tag. Alles ist mir neu und die Begriffe Geisha und Einstein zu verschmelzen - die Kunst, die man vor allem lernen muß, wenn man das heutige Japan begreifen will - fällt mir noch schwer. Der jüngere meiner Begleiter, einer der »Funker« vom »Emil Kirdorf«, verliebt sich Hals über Kopf in die hübsche Barmaid, in das lebende Bild seiner Vorstellung. Sie lächelt zärtlich und gibt ihm schmeichelnd die Hand, knixt und neigt das Köpfchen genau so, wie er's ge= träumt hat aber sie sagt, er möge doch die Papiermark zuerst in der Bank wechseln und dann wiederkommen. Draußen vor der Türe gehen zwei andere Kimonopuppehen an uns vorüber, aber da der junge Funker auch sie ansprechen will, reißt ihn der uns führende Japaner zurück: »Halt, das sind Damen!« »Japanische Damen?! Ha=ha=ha -« Die Offi= ziere lachen. Das gibt's doch gar nicht! Das wissen sie besser Ich selbst bin nun schon zum zweitenmal in Japan, also nicht mehr so unbekannt mit dem Lande wie sie. Daß nicht alle Japanerinnen Geishas sind, weiß ich bereits; aber japanische Damen, die abends allein spazieren

gehen, nein, davon weiß auch ich nichts, noch nichts - ^ Und so lachen wir noch eine Weile über den Zwischenfall.

Durch die grandiosen neuen Hafenanlagen, die den Dampfern in Kobe

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erst seit ganz kurzer Zeit erlauben, an Brücken anzulegen, kehren wir zum »Emil Kirdorf« zurück. Vor zwölf Jahren ankerten wir noch draußen vor der Reede. Und da sagt mir der aus Shanghai zurückkehrende Japan= Deutsche: »Sie wundern sich über die Veränderungen, die Japan in zwölf Jahren durchgemacht hat, ich aber staune über die Entwicklung dieser letzten zwei Jahre. Sind doch zwölf Monate augenblicklich für dieses Land, was für andere Länder ein Menschenalter bedeutet.« Als typisch japanische Begleiterscheinung dabei verzeichnet er die Tatsache, daß den Erbauern der Hafendocks, Vater und Sohn Kawasaki, die dabei millionenreich geworden sind, von ihrer Familie öffentliche Denkmäler gesetzt werden durften.

Wir schiffen in Kobe unsern ersten Offizier mit einer Magenblutung aus. Ein lieber, geselliger Mensch, der daheim eine junge Frau und ein Söhnchen hat. Seemanns-Schick= sal! Der »Emil Kirdorf« aber muß weiterfahren und gerade, da das Tele-gramm mit der To= desnachricht nach Yokohama kommt, dort alle seine bunten Wimpel hissen, denn die Ankunft des ersten deutschen Passagierdampfers seit dem Kriege an seinem End= ziele muß durch ein rauschendes Fest gefeiert werden. Fast alle deutschen Residenten<Terminus technicus für in Japan lebende Ausländer> aus Tokio und Yokohama und auch zahlreiche Japaner haben sich dazu eingefunden; bei dem glänzenden Bankett spricht der deutsche Gesandte tiefbewegte Worte über die Wiederanknüpfung des Verkehrs und rühmt die deutsche Energie, verkörpert durch die Namen, die auf unserm Schiffsleib zu lesen sind: Emil Kirdorf und Hugo Stinnes.

Nun noch eine Nacht auf dem zur Heimat gewordenen deutschen Dampfer, dann heißt es zeitig morgens von ihm scheiden. Als der letzte europäische Passagier stehe ich unten auf dem Pier neben dem Agenten und sehe zu, wie aus de-- Hafen von Yokohama das schmucke, neue Schiff hinausgeschleppt wird. Mein Zeiss füllt sich noch mit den Abschieds=

aufnahmen, dann verschwindet der »Emil« hinter den Dutzenden hier verankerter Schiffe aller Nationen. Die deutsche Heimat ist fort - ich bin in Japan.

2. Erste Schritte auf japanischem Boden. Ein wenig ratlos und unentschlossen stehe ich auf dem Pier in Yokohama

und überlege. Die Warnung des japankundigen Reisegefährten klingt mir noch im Ohr: ja niemandem zu verraten, daß ich für Zeitungen schreibe, denn die japanische Regierung lasse alle ausländischen Journalisten überwachen und schikanieren, ja, einer von ihnen, der eine Geschichte des Bolschewismus geschrieben habe, ein rein wissenschaftlich-theoretisches Werk, sei von heute auf morgen ausgewiesen worden. Das stimmt genau mit meinen eigenen Erfahrungen vor zwölf Jahren, da ich unter ständiger polizeilicher Bewachung reiste. Fuhr ich zur Bahn, flugs kundschaftete der Kurumaya, der Rikshakuli, mein Reiseziel aus und meldete es der Polizei. Nach kurzer innerer Beschlußfassung aber lehne ich endgültig den Rat ab. Zu verheimlichen, daß ich für ausländische Zeitungen schreibe, ist auf jeden Fall undurchführbar, in Kobe schon haben es die Reporter vom Stinnesagenten erfahren, die ersten zwei Interviews sind bereits dort über mich niedergegangen. Ferner hat mir derWiener japanische Gesandte eine Empfehlung an das Presseamt in Tokio gegeben, deren Abschrift - wie ich den japanischen Nachrichtendienst kenne - längst in Tokio liegt. Vor allem aber - und dies gibt den Ausschlag - will ich diesmal gerade das japanische System kennenlernen.

Ich überreiche also dem Zollbeamten das Laisser passer des Wiener japanischen Gesandten. Und dabei mache ich gleich die Bekanntschaft mit der hervorstechendsten japanischen Eigenschaft, mit der Langsamkeit, und habe Gelegenheit, mich in der hierzulande wichtigsten europäischen zu üben, in der Geduld. Das Schreiben liest zuerst der Vorstand und, da es englisch geschrieben ist, braucht er für die wenigen Zeilen eine gute Viertelstunde. Er zeigt sich selbst jedes Wort mit dem Finger, murmelt dazu halblaut mit den Lippen. Dann gibt er den Brief seinem im Rang nächsten Mitarbeiter und dieser liest nun seinerseits mühselig jedes Wort. Wie einfach wäre es, erzählte der erste das auf so schwierige Weise Erforschte allen übrigen Anwesenden zugleich. Nein, japanische Gehirnanlage bedarf anderer Methoden. Jeder der fünf Beamten liest das Schrift= stück selbst durch, was ungefähr vierzig Minuten dauert. Endlich sind alle damit zu Ende. Kommt jetzt die Amtshandlung? 0 nein -jetzt setzen

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Wohl ist Yokohama mit den breiten, rechtwinkligen Verkehrsadern des Geschäftsbezirkes, in dessen Steinhäusern eine Ausländerfirma neben der

andern arbeitet, keineswegs eine rein japanische Stadt, weil die aus. ländischen Im= und Exportfirmen ihren Sitz nicht in den großen Binnen. städten, sondern in den Hafenplätzen aufschlagen, aber in den auch hier ungeordneten und jeder Gassenfront entbehrenden Straßen sind nach einem Regen genau dieselben tiefen Pfützen wie überall zu durchwaten. Die Ausländer wohnen zusammen auf dem »Bluff« oben, dein nahen Hügel, der an klaren Tagen eine wunderbare Fernsicht über den ge. waltigen Hafen bietet. Die schönen, hochgelegenen Villen mit den gut. gehaltenen Gärten gehören natürlich nicht ausschließlich den Fremden; auch hier wohnen Japaner, freilich nur die europäisierten, so daß der Aus. länder die rein japanischen Viertel, sucht er sie nicht eigens auf, überhaupt gar nicht sieht. In Yokohama gibt es auch die meisten Fremdenhotels, weil hier fast alle Touristen bleiben; steht doch imWeltreiseführer, inTokio, für welches »zwei Tage genügen«, sei »nichts zu sehen«.

sie sich zusammen und lachen. Denn das ist ein Spaß. Daß dies ein kind. liches Volk ist, auch in goldgeschmückten Uniformen, mit Wappenknöpfen und mit Amtskappen, mit Telephon- und Radiostation, bleibt nicht lange verborgen. Sie kommen heraus und begucken mich neugierig, gänzlich ungeniert. Da gibt es doch etwas nicht Alltägliches zu sehen: eine weiße Frau, alleinreisend,vonwelcherderjapanische Gesandte aus fernen Landen schreibt, man solle ihr Gepäck nicht öffnen. Ich lächle freundlich, denn endlich, endlich dürfen meine Koffer auf die Karre des Trägers verladen werden. Aber nun bleibt auch dieser wie angewurzelt stehen. Erst soll ich zustimmen, fünf Yen für die Überstellung zur Bahn, ungefähr zehn Minuten Weges, zu zahlen. Die Träger beginnen ein Gespräch miteinander, lachen, achten gar nicht auf mich. »Fünf Yen?« fragen sie, als sie meine auffordernden Handbewegungen nicht mehr übersehen können, und ich muß endlich der unberechtigten For= derung zustimmen. Von der kriecherischen Demut der Kulis von einst ist keine Spur mehr vorhanden.

Wir ziehen nun los, ich zu Fuß, denn eine Riksha zu neh• men, ist selbst den Residenten zu teuer. Meist ;werden sie von Japanern benützt, von Geishas, reichen Damen und Kaufleuten. Für eine einfache Fahrt begehrt der Kuruma ungefähr zwei Yen und steigert den Preis je nach der Wetterlage. Während des Krieges, als der riesige Reichtum sich so jäh über Japan ergoß, mußte man die Herren sehr höflich um eine Fahrt bitten. Jetzt, bei sinkender Marktlage, bieten sie sich durch Zuruf wieder an, etwa wie das »Fahr'n ma, Euer Gnad'n« unserer Fiaker von einst, aber es kommt nicht mehr vor, daß sie dem Fußgänger stürmisch und zudringlich nachlaufen und ihn einkreisen, wie das in China üblich ist. Meist hocken sie zu viert an den Straßenkreuzungen in einer mit Brettern eingezäunten Grabenvertiefung, wärmen sich an einem Hibachi, einer aschengefüllten Urne, in welcher ein Holzkohlenfeuer glimmt, und lesen dabei die Zeitung, wie denn überhaupt kein Japaner im Ruhezustand ohne Lektüre zu sehen ist; viele lesen auch im Gehen.

Auf diesem ersten Wege sehe ich, daß sich in der Zeit seit meinem ersten Besuch der Zustand japanischer Straßen nicht geändert hat.

An Fernsicht ist bei dem heutigen dicken, nassen Winternebel natür= lich nicht zu denken und so trachte ich, so rasch ich die Wasserlachen umgehen kann, vorwärts zu kommen, aber als mich beim Bahnhofe eine gewaltige Menschenansammlung aufhält, lasse ich die Kulis mit meinem Gepäck stehen und laufe ungeachtet der aufspritzenden Rinnsale voraus, um den Volkshaufen, aus dem hohe, schmale, mit Schriftzeichen und der Kriegsflagge bedruckte Fahnen ragen, Bansairufe schallen und knallende Feuerfrösche abgebrannt werden, zu photographieren. Die Suche nach der Erklärung lasse ich vorläufig fallen, denn ich muß mich wieder meiner Karre widmen und das Aufgeben des Gepäcks beaufsichtigen. Jetzt bin ich schon ein wenig mit der Langsamkeit bekannt, ich überlege nur, was geschähe, wenn gleichzeitig mehrere Reisende ihr Gepäck aufgeben wollten. Ich allein brauche eine halbe Stunde dazu. Vier Beamte beschäftigen sich mit mir. DieTatsache, daß ich eine Kiste mit deutschenAgfa=Platten zum Photographieren bei mir habe, macht ihnen schweres Kopfzerbrechen: ist es Reisegepäck, ist es kaufmännische Fracht? Endlich entschließen sie sich zu letzterem, die Kiste muß gesondert aufgegeben werden, was eben nur Zeit kostet und die ist in Japan wertlos. Da ich aber in der großartigen elektrischen Bahn sitze, die Yokohama mit Tokio verbindet, bekomme ich eine Ahnung von dem augenblicklich schwersten Konflikt dieses Volkes, der sein Interesse für alle ausländischen Angelegenheiten zurückdrängen muß: dem Zusammenstoß seines kindisch=hilflosen Getues, wie bei der Gepäckaufgabe, mit dem weltstädtisch-großzügigen

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Streben, das sich in der Anlage solcher unvergleichlichen Schnellbahnen ausdrückt, der jedem Japaner im großen wie im kleinen einen Zwiespalt in die Seele setzt, gegen den er unaufhörlich und hoffnungslos kämpft.

Diese elektrische Bahn steht auf der Höhe moderner Zivilisation. Wien oder sogar Berlin könnten sich beglückwünschen, verbände diese Städte mit ihren Nachbarstädten eine ähnlich prächtige Schnellbahn. Geräumige Waggons, glänzend beleuchtet, je sechs zu einem Zuge vereinigt, ver= kehren alle zwölf Minuten und bringen ihre Passagiere in weniger als drei Viertelstunden vom Meere, von Yokohama, nach der Hauptstadt. Eine

erste Klasse gibt es in dieser Bahn nicht und auch die dritte hat gepolsterte Bänke; der Unterschied im Preise bedeutet nicht die Verurteilung zu hartem Sitze wegen Geldmangels. Kaum bin ich untergebracht, so höre ich die lärmende Menge, die ich vor dem Bahnhof ahnungslos photographiert hatte, auf den Perron strömen und nun gibt mir ein Mitreisender die Erklärung: Zwei Soldaten rücken ein, wie jetzt zur Neujahrszeit üblich, und mit diesen zwei »G'haltenen«, wie wir in Wien zu sagen pflegten, zieht ihre ganze Gasse mit, nicht nur Verwandte, Freunde und Bekannte, nein, fast alle Mit= bewohner ihres Viertels. Jeder löst eine Bahnsteigkarte und die 'Menschen= masse wogt an allen Waggons vorbei. Zum erstenmal habe ich Gelegen= heit, diese japanische Sitte des Begleitens zum Bahnhof zu sehen, auch die raschen japanischen Zeitungsphotographen, die hier überall dabei sind. Dann

fährt der Zug ab, unter dem ohrenbetäubenden Geheul der Begleiter= schar und dem Prasseln der Knallerbsen.

Kaum mache ich Miene, auf dem Straßenplan, der in jedem Wagen zu finden ist, die mir angegebene Haltestelle zu suchen, so springen drei bis vier Herren auf mich zu und fragen mich in dem drollig gestotterten Englisch, das ich jetzt schon kenne, mehr in Wortbrocken als in Sätzen, wohin ich fahre. Die Hilfsbereitschaft und Höflichkeit der Japaner Fremden gegenüber ist eine neue Errungenschaft, denn früher überwogen Abneigung und Verlegenheit; freilich paart sich ihnen die ebenso unausbleibliche Neugier und unentrinnbar folgt die Frage: »Woher kommen Sie?« Sie wird von Schaffnern, Gepäckträgern, Studenten auf der Straße und Ladenverkäufern, kurz von jedermann gestellt.

Den Namen der nächsten Haltestelle ruft der Schaffner zwar schon nach jeder Abfahrt aus, aber Europäer, die nicht mindestens einige Jahre die so schwierige japanische Sprache ins Ohr bekommen haben, vermögen auch bekannte Namen beim Hören nicht zu erfassen. In der Station Shim= basi indessen machen mich alle Mitreisenden darauf aufmerksam, dalß ich auszusteigen habe, und helfen mir bei dem Gepäck; schwieriger gestaltetsich der Fall bei den Bahnhofskurumaya, die eine längere Beratung darüber abhalten, wo wohl das Yamagata=Hotel liegen möge, in welchem der Stinnes= agent aus Yokohama telephonisch ein Zimmer für mich bestellt hat. So wenig ausländische Hotels es in Tokio gibt - Japaner wissen fast nie Bescheid. Fragt man einen um Auskunft, so legt er meist den Kopf auf die rechte Schulter, kratzt sich im Haar und schlürft den Speichel zwischen den Zähnen ein aber Bescheid weiß er nicht.

Eine Wohnung in Tokio zu finden, ist für Ausländer sehr schwer; Fremdenpensionen oder Familien, die Zimmer vermieten, wie ich es mir vorgestellt hatte, gibt es nicht. Ich preise also den glücklichen Zufall, der mich in das Yamagata=Boarding House führt, so kurios es auch ist. Das Gebäude hat früher einer Gesandtschaft gehört und ist sozusagen europäisch gebaut, wenngleich aus Fachwerk und einstöckig, mit schmalen Holzwendeltreppen, wie alle Häuser ausländischen Stils, so daß es japani= sehen Wohnstätten an Hellhörigkeit nichts nachgibt. Es wird von Herrn Yamagata geführt, einem halbverausländerten Japaner, dem die Schrift= zeichen seiner Sprache nicht mehr recht geläufig sind, weshalb bei der Adressierung von Briefen die Boys zugezogen werden. Als er seinerzeit mit einer Gauklerbande durch Europa reiste, hat er auch etwas Deutsch

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gelernt, und sogar seine Frau, die die Küche führt, radebrecht etwas Englisch. Jetzt ist er dick und bequem, hat fünf Kinder und liebt es, mit seinen männlichen Pensionären bei Grammophonbegleitung und in Anwesenheit sämtlicher grinsenden Boys bis ein oder zwei Uhr nachts in der Bar um »Drinks« zu würfeln. Oft würfelt auch der Barboy mit. Ini Hause gibt es keine Durchreisenden oderTouristen und das ansässige, sehr internationale Publikum hält einträchtig und freundschaftlich zusammen, wenn auch die Landsleute an gemeinsamen Tischen essen. Meist sind sie Angestellte ausländischer oder großer japanischer Firmen, die sich den Luxus fremder Korrespondenten erlauben können, oder Mitglieder von Gesandtschaften. So wohnt der Schweizer Konsul hier, an dessen Tisch ein sehr populärer Schweizer Maler speist, stadtbekannt wegen seiner bevorstehenden Vermählung mit einer Geisha, vier Schweden, ein englischer Offizier der Botschaft und mehrere andere Engländer, der tschechische Gesandtschaftssekretär, ein deutscher und ein ungarischer Buchhalter, ein indischer Sanskritstudent, ein siamesischer Kaufmann, der Französisch spricht und immer Pantoffel trägt, und ein paar Japaner, die meist nur kurz bleiben; außer mir sind nur noch zwei Damen da: eine englische Sprachlehrerin und eine russisch-polnische Typistin, welche einen originellen Zweig dieses sonst so banalen Berufs ausfindig gemacht hat: sie geht von einem japanischen Bureau zum andern, bleibt überall nur zwei Stunden und nimmt die wichtigen ausländischen Diktate auf. Sie verdient damit viel Geld und die Japaner ersparen eine eigene ausländische Kraft, eine Methode, die wohl nur hier unter diesen verzwickten Verhältnissen möglich ist. Wer aus dieser buntgemischten Geaellschaft abends frei ist, findet sich in der Bar ein, so daß man bei noch so später Heimkehr die Hausgenossen, mehr oderweniger angeheitert, wach beisammen sieht. »Have a drink!« ist die stehende Begrüßung und nicht einmal die eindringlichste Versicherung, daß man dem Alkohol nicht huldige, rettet vor ihm. Die Durchschnitts-Getränkerechnung unsererTokioresidenten beträgt im Hotel allein, abge. sehen von anderswo gemachten Zechen, ungefähr dreißig Pfund monatlich. Und da bei uns Wohnung und Verpflegung allein, ohne Lunch, den niemand im Hause nimmt, monatlich zwanzig Pfund kosten - was außerordentlich billig ist, denn im großen Imperial-Hotel ist alles dreimal so teuer -, so geht fast der gesamte Gehalt dieser Leute für Genußmittel auf, zumal von dieser Angestelltensorte nur wenige mehr als sechzig Pfund im Monat verdienen. Gespart wird nicht viel, trotz der besten Vorsätze an jedem Ersten; die Langweile der beschäftigungslosen Abende und Sonntage verführt zur Verschwendung. Nach zehnjährigem Aufenthalt im Osten kehren die meisten vermögenslos heim -- mitAusnahme der Deutschen, welche diese Sitten nur in den seltensten Fällen mitmachen, sich vielmehr meist zu zweit ein Häuschen mieten, in dem ganz geordnet gewirtschaftet wird. Das Schlimme bei den anderen ist nicht nur, daß sie besitzlos, sondern, daß sie grenzenlos

verwöhnt heimkehren. Sämtliche weißen Bewohner des Ostens meinen nämlich, wie die Fürsten leben zu müssen. So besteht beispielsweise das Diner in unserem drittklassigen »einfachen« Hotel aus Hors d'oeuvres, Suppe, Fisch, Entree, Braten, Geflügel <die letzteren drei Gänge sind doppelt zur Auswahl vorhanden), verschiedenen Gemüsen, Kompott, Pudding, Kuchen, Obst, Käse, Biskuit, Tee oder Kaffee. Dazu gibt es Toast mit Butter, Pickles, Gurken. Zum Frühstück bekommt man Eier in allen Formen mit Schinken oder Speck, kaltes Fleisch, Marmeladen, Obst und Backwerk, von allem so viel man will. Zweifellos ist von diesen Leuten niemand von zu Hause an solche Üppigkeit gewöhnt, während sie ihnen hier unerläßlich scheint, vielleicht weil es sonst nicht viel gibt, was das Dasein aufhellt. Ich wäre natürlich froh, wenn ich einfacher und billiger leben könnte, aber das findet man in ganz Tokio nicht. Die Japaner freilich bescheiden sich in einer Genügsamkeit, die fast nicht zu unterbieten ist, aber sie halten die Ansprüche der Weißen für so selbstverständlich, daß niemand ein Fremdenhaus auf schlichterer Grundlage führen wollte. Kehren sie selbst in ausländische Gasthöfe ein, so schlemmen sie in derselben Speisenfolge mit wie die Europäer. Dieser Gegensatz ist auch für alle anderen Lebensformen typisch; in jeder gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, zwischen denen die Wahl zu treffen sich auch der All= tagsmensch fortwährend genötigt sieht.

3. Wie Tokio ausgesehen hat. Das erste, was ich in Tokio unternehme, ist die telephonische Erkundigung

nach meiner Post beim österreichischen Konsulat. Da die Telephon= Fräulein nur Japanisch verstehen, kein Europäer aber die Landessprache so weit erlernt, daß er telephonierte Worte erfassen könnte, braucht jeder Europäer beim Telephonieren die Hilfe eines Japaners. Daß man bei den meisten Gesprächen falsch verbunden und etlichemal unterbrochen wird, ist nicht nur unangenehm, sondern auch kostspielig, weil jede Verbindung einzeln bezahlt werden muß. Der Jahresmiete, für die man bis vor zwei Jahren uneingeschränkt telephonieren konnte, müssen jetzt zwei Sen für jeden Anruf beigefügt werden.

Da Herr Yamagata meinen telephonischen Dienst persönlich besorgt, nennt er sich etwas süßsauer meinen »Sekretär«, Seine Beschaulichkeit im

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Barliegestuhl sieht er nämlich ungern gestört. Im Telephonkämmerchen wiederholter jedesmal, daß an dem elenden Betriebe das Regierungsmonopol die Schuld trage, denn ohne Wettbewerb gebe es keinen Fortschritt, wo, mit er, gleich den meisten seiner Landsleute, seiner großen Abneigung gegen jede Verstaatlichung oder gar Sozialisierung Ausdruck gibt. Dann schärft er mir ein, alle neuen Bekanntschaften um ihre Telephonnummern zu bitten, weil ihm das Suchen danach jedesmal eine gute Viertelstunde nimmt. Name, Vorname, Beruf und Adresse genügen nicht; das Telephonbuch ist nur nach der Reihenfolge der sechsunddreißig Silben des Katakana, des japanischen Alphabets, nicht aber innerhalb der Silben

geordnet, was bei den unzähligen gleichen und ähnlich klingenden Namen derjapaner eine Kalamität bedeutet; so fmdet man beispielsweise Yamagata,

Yamagouchi, Yamanouchi, Yamata und ähnliche wild durcheinander. Das Telephonieren ist den Japanern ein noch neuer Zeitvertreib und

übermütige Geishas denken bei jedem Automaten auf der Straße nach, an wen sie telephonieren könnten, der Betrieb ist durch solche über=

flüssige Gespräche heillos überlastet. Die in Tokio noch mehr als anderswo geschmähten Telephonfräulein, die der Staat wie alle seine Beamten sehr schlecht bezahlt, sind in Wirklichkeit Kinder, vierzehnjährige Mädchen, die durch Anschläge in den Straßenbahnwagen zum Dienst aufgefordert werden, wobei die Regierung damit rechnet, daß diese Aufrufe von Ausländern nicht gelesen werden können.

Österreich hat keine Gesandtschaft in Japan, geschweige eine Bot= schaft wie einst. Das die Stadt beherrschend auf einem Hügel gelegene ehemalige österreichisch=ungarische Botschafterpalais, eines der schön= steh Gebäude von ganz Tokio, ist von der italienischen Regierung »auf Reparationskonto angekauft« worden. Da uns die spanische Gesandtschaft auch jetzt noch »in diplomatischen Dingen« vertritt und der Wunsch eines Österreichers, das leerstehende Kronprinzenpalais zu besichtigen, das Millionen gekostet hat, aber infolge seiner unpraktischen Lage nach Norden als unbewohnbar gilt, über sie geleitet werde, müßte, läßt man ihn natürlich fallen, obgleich es interessant wäre, das Schloß zu sehen, das wie alles, was die Japaner ohne Hilfe der Ausländer in ausländischem Stile hervorbringen, eine nachträgliche Umarbeitung erheischt. Vor dem Erdbeben hat das Parlament hiefür eine große Summe bewilligt, die nunmehr nur langsam flüssig gemacht werden dürfte.

Seit kurzem hat Österreich wenigstens ein Honorarkonsulat in Tokio, ein unhonoriertes Amt, welches der Tokioter Vertreter eines österreichischen Stahlwerks -- so ziemlich der lustigste, gemütlichste

Wiener, den man im Ausland finden kann - versieht, dessen lachende Gastfreundschaft und treue Hilfe, vor allem durch sein Automobil, in Tokio gar nicht genug gewürdigt werden können, weil der Winter in dieser

durch den Krieg so ungemein verteuerten Stadt bedeutende Schwierigkeiten bereitet.

Als ich vor dem Krieg mit kaufkräftigem Gelde, in bester Jahres= zeit zum erstenmal in dieses damals billigste Land der Welt kam, stieg ich ohne weiteres in dem alten, seither abgebrannten Imperial-Hotel ab, dessen an Fremdenverkehr gewöhntes Personal mich, wenn ich aus= fahren wollte, einem eingeübten Rikshamann übergab - und natürlich wollte ich nur ins Theater, in Museen, Tempel, Vergnügungsparks, Sehenswürdigkeiten, die - ich möchte das Paradoxon wagen - die Globetrotter verhindern, das Land selbst kennenzulernen, weil die zahl= losen Tempel, Steinlaternen, heiligen Wälder und künstlichen Gärten an einer die Sehfähigkeit lähmenden Gleichförmigkeit leiden und den Be= sucher rasch ermüden. Mein zweiter japanischer Aufenthalt hat zwar den Vorteil, daß ich sie schon kenne, ebenso Nikko, Nara, Nagoya, Kyoto, IvIiyajima, Futami, yamada und andere Orte, doch er bringt mir den Nachteil des strengen, teils eiskalten, teils schneenassen japanischen Winters mit allen seinen Schrecken. Steht mir das Auto des Kon= sulats nicht zur Verfügung, so wird die Aufgabe, ein Buch über Japan zu schreiben, durch die bloße Schwierigkeit, die Leute und Anstalten zu finden, über die man schreiben will, zu einer großen Leistung; aller=

dings ist die Art, wie in Tokio die Menschen einander suchen, an sich ein ergiebiges Thema.

Begreiflicherweise bin ich sehr entzückt, als mich eines Sonntags der österreichische Konsul einlädt, ein wenig mit ihm spazierenzufahren. Es

ist ein strahlend schöner Tag und so lasse ich das Auto alle Augenblicke zum Photographieren halten, bis es richtig zu spät wird, um in einem

Hotel noch etwas zum Essen zu bekommen. Und da wir eben durch die Ginza, die Hauptgeschäftsstraße, rollen, schlägt er mir vor, mit dem Lift in den siebenten Stock des neuen Versicherungsgebäudes zu fahren und oben in dem ä=la=earte=Restaurant zu speisen, aus dessen Fenster man

die wunderbarste Aussicht über die ganze Stadt genießen und von wo ich sehr typische Aufnahmen von Tokio machen könne, von der belebtesten Verkehrsader der Hauptstadt mit ihren winzigen Dorfhäuschen und den dazwischengestellten Wolkenkratzern und von dem uralten Kanal, dessen

malerisches Chaos inmitten der Stadt noch von keinerlei moderner Architektur beunruhigt wird.

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Kaum steht die Suppe vor uns, so fängt das ganze Haus zu Schwanken an, der Turmaufbau, in dem wir sitzen, macht Bewegungen wie die Scenic=Railway im tollsten Schwung, so daß wir in einem Augenblick auf dieser Seite, im nächsten auf der andern zur Straße hinuntersehen. Es ist ein Erdbeben der »bessern« Qualität, das uns Unglücksmenschen gerade auf dem höchsten Punkte der ganzen Stadt erwischt. Offenbar ist mir ebenso wie dem Konsul jeder Blutstropfen aus dem Antlitz ent= wichen. Er reißt mich geistesgegenwärtig unter den Türstock, denn das Haus hat ein Eisengerippe und man vermutet, daß dieses stehenbleiben wird, wenn alles andere einstürzt. Es wäre natürlich keine allzu beneidens= werte Lage. Diesmal aber begnügt sich das Erdbeben damit, alle Teller und Gläser umzuwerfen, worauf es sich für befriedigt erklärt und abstoppt.

Kaum läßt sich erkennen, daß die Sache glimpflich verläuft, so kehrt dem Konsul sein in der ganzen Stadt berühmter Humor zurück und er verbeugt sich im förmlichsten Diplomatenstil vor mir: »Wie hat das Tokioter Konsulat das wieder einmal für Sie arrangiert? Was? Jetzt sagen Sie aber nie mehr, daß die österreichischen Vertretungen im Ausland nichts für ihre Landsleute tun!« Nun es vorüber ist, bin ich ja sehr dankbar für das Gebotene. Übrigens hätte ich auch in meinem Hotel etwas davon ab= bekommen, denn bei meiner Rückkehr finde ich ein paar Pfeiler geborsten.

Es gibt hier beinahe täglich ein Erdbeben, in zwei Monaten habe ich in Tokio ungefähr zehn erlebt. Ein so starkes nicht wieder, aber bald darauf ein mittelstarkes und mehrere geringfügige bei Nacht, bei denen man - wie auf unserem guten neuen Stinnes=Dampfer »Emil Kirdorf«, wenn er auf hoher See durch die Dünung schnitt - bloß für einige Augenblicke aufwacht, ein bißchen im Bett hin und her rollt und dann weiterschläft. Niemand nimmt das tragisch, die alten, leichten japanischen Papierhäus= chen stürzen selten ein, nur die neuen modernen Häuser sind in Gefahr.

Die am meisten gefürchtete Folge eines Erdbebens sind die Brände. Irgendeiner der Millionen Hibachis, der Steingut= oder Bronzetöpfe, welche die einzige Heizung japanischer Innenräume vorstellen und in welchen stets ein offenes Holzkohlenfeuer glimmt, oder ein brennender Lampion braucht nur umzufallen und die nächste Papierwand Feuer zu fangen, dann gibt es keine Hilfe mehr für die übrige Straße, oft nicht einmal für den Häuserblock oder den Distrikt. Die Feuerglocke kennt man in der ganzen Stadt. Hallt sie über das Häusermeer hin, so gruselt es jeden. Das Feuer selbst heißt »die Blume Tokios«. Es gibt mindestens drei bis vier Brände an jedem Tage; wann immer man die Stadt von einem höher gelegenen Punkte überschaut, kann man einige rotaufglühende 2S

Zg

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Fenster sehen. Feuergeschichten bilden eines der unerschöpflichsten Themen Tokios, denn jeder ist hier mindestens einmal abgebrannt, Wer ein alter Resident ist, weiß freilich, daß man ini Falle eines Brandes das Haus schön zumachen und die Nachbarn höflich bitten muß, die Ver= nichtung ja nicht durch unangebrachte Hilfeleistungen zu stören - sie tun es ja doch nur dann, wenn ihr eigenes Haus gefährdet ist, Lind es gibt so= gar ein Sprichwort für diesen Fall: »Das Feuer am andern Ufer geht mich nichts an«, - denn nur, wenn nichts gerettet wird, zahlt die Versicherungs= gesellschaft vollen Ersatz. Verbrennen bloß drei Viertel aller jahrelang gesammelten Kunstwerke und Einrichtungsgegenstände, so erkämpft man sich mit Mühe und Not zirka fünfzehn Prozent des Wertes. Das letzte gerettete Viertel wird dann obendrein gestohlen. Anderseits verlangt die japanische Sitte,

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einem abgebrannten Freunde Geschenke zu bringen. Seit neuerer Zeit kommt wenigstens nach

zwei Minuten eine wunderbar organi= sierte und automo= bilisierte Feuerwehr, die auch in Yoko= hama und Kobe be= reits fünf Auto= spritzen hat und in Osaka in noch großartigerem Stile auftritt ,.• die traditionelle Parade der Feuerwehr am 4. Januar, in der Neujahrswoche, gehört zu den volles= tümlichsten Schauspielen.

Die in Japan so sehr gefürchteten Erdbeben sind es, die seit Jahrhun= derten das äußere Bild der Städte bestimmt haben. Hauptsächlich wegen dieser unaufhörlich drohenden Gefahr leben alle Japaner in kleine„ eben= erdigen oder höchstens einstöckigen Häuschen, so daß die Straßen im kleinsten Dorf völlig denen in der Hauptstadt gleichen - abgesehen von ihrer Ausdehnung und ihren modernen Gebäuden - und daß, wer eine japanische Stadt gesehen hat, alle kennt.

Erst wenn man diese Riesenstadt in einer Riksha durchmißt, fort= bewegt von einem menschlichen Motor, kann man sich einen Begriff von der Größe des Gebietes machen, welches für eine Bevölkerung von Millionen nötig ist, die im

Gegensatz zu dem Ivlietkaser= nendasein europäischer Groß= städter in winzigen Papiervillen wohnt. Fährt man durch die endlosen Straßen Tokios oder geht man durch die schmalen Seitengäßchen, so erblickt man ab und zu zwischen Holzhäus= chen, Lädchen, Stälichen, Hof chen, Gärtchen und Werk= stättchen einen riesigen, sechs Stock hohen Ziegelbau, der irgendwohin gestellt ist, ohne Richtung nach einer Straße, ohne Zusammenhang mit einer möglichen künftigen Stadtgestaltung, wie in ein Chaos mitten hineingeschneit Das ist dann ein Amt oder ein Hauptbureau einer großen Gesellschaft oder sonst irgend= ein Gebäude von Bedeutung. Daß etwa an der Frontseite Schutt ab~ geladen ist, eine Morastpfütze sich vor ihm ausbreitet oder ein baufälliger Stall sich daran lehnt, dessen Kaninchen und Hühner auch durch die Gänge des Ziegelkolosses laufen, daran scheint von den hier Aus= und Eingehenden niemand Anstoß zu nehmen.

In der Mitte dieser ungeheuern Stadt, die vielleicht dreimal so groß ist wie Wien, liegt der Kaiserpalast. Er ist ein Nationalheiligtum und die Heiligkeit äußert sich durch Unsichtbarkeit und Unnahbarkeit. Die Innengebäude liegen so tief ini Park vergraben, daß man nicht einmal

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vom Dach des unmittelbar an den Sehloßgraben angebauten neuen Palast= Hotels, von dem aus man das j anze Sehloßgebiet überblickt, mehr als den Giebel sehen kann. Nur di,' uralte, heilige Zugangsbrücke Niju= bashi bietet sich nebst den tausendmal gemalten und photographierten Kastelltürmen auf der Mauer dem Vclke dar; vor ihr neigen sich die neu

eingekleideten Rekruten und zu diesem Tun nehmen sie sogar das zum Schutz gegen die Influenza getragene, groteske Mundtuch ab. Dieser kaiserliche, unzugängliche Riesenstadtteil, das Symbol der allerhöchsten Macht des göttlich verehrten Herrschers, wird von ausgedehnten Garten

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Japin destens vier Stunden in der Straßenbahn zu verbringen. Diese riesige Ausdehnung des Kaiserpalastes inmitten der Großstadt ist nur in Japan möglich, das zur Aufnahme alles Neuen und Ausländischen und zur Ehr= furcht für alles Alte, insbesondere für das Kaiserhaus, das gleiche Maß von Bereitwilligkeit aufbringt. Im Parke gibt es eine Stelle, von welcher ich das älteste und das jüngste Japan in ein Bild einfangen kann, denn die uralte kaiserliche Fichtenmatter wird jenseits des Kanals gerade von den modernsten Bauten eingerahmt, und hier fällt mir für dieses Buch der Titel ein: »Japan, das Land des Nebeneinander«, eine Bezeichnung, die an so ziemlich durch alles gerechtfertigt wird. Nach links fliegt der Blick über künstlerisch unübertreffliche Linien, in denen sich die Voll= endung antiker japanischer Geschmackskultur offenbart, nach rechts über die schmutzige, unordentliche moderne Hauptstraße mit ihren häßlichen, banalen ausländischen Ziegelbauten, zwischen welchen ungleiche, ver wahrloste, baufällige Japanerhäuschen und zwei riesige neue Prunk= gebäude, das Kaiserliche Theater und das neue Palace=Hotel, stehen, die hier wie aus einem Steinbaukasten, ohne jeden Schönheitssinn, nebenein. ander aufgestellt sind. Die Japaner sind zwar überzeugt, daß sie wie den chinesischen, auch den Stil der Weißen schließlich japanisieren wer= den, doch ist das meiste, was sie bisher außerhalb ihrer Überlieferung

anlagen umfriedet, deren breite, gut gehaltene Wege Fußgängern, Riksha, Automobilen und Wagen, nicht aLer der Straßenbahn geöffnet sind. Um sie windet sich eine zweite hohe Mauer, die von den legendären, kürst= lieh nach dem jetzt zugefrorenen Ka,ial hinab gezüchteten Fichten bewachsen ist. Die Maßlosigkeit japanischer Raumverschwendung, deren Kontrast zu der Zusammendrängung zahlloser Häuser auf dem engsten Raum das charakteristische Merkmal der japanischen Städte ist, macht dieses kaiserliche Schloß zu einem Verkehrshindernis, das jede Fahrt mit der Straßenbahn von Ost nach West oder von Nord nach Süd um eine gute halbe Stunde verlängert; es gibt um den Kanal nicht einmal eine Rundlinie, der Halbkreis muß auf einem viel weitern, äußern Gürtel be= fahren werden, so daß mäh niemals auf dem kürzesten Wege ztt der ent= gegengesetzten Seite kommt. Daß Herr YYamagata sein Hotel als »nahe dem Stadtmittelpunkt« anpreist, lerne ich mit der Zeit verstehen; braucht man doch bis zum Imperial=Hotel »nur« eine halbe Stunde, während die Durchschnittsentfernung von irgendeiner Wohnung zur andern oder zum Amt eine Straßenbahnstunde und darüber beträgt. Ein Diner, das einen Kleiderwechsel bedingt, zwingt den Eingeladenen, an diesem Tage min

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geschaffen haben, ziemlich gesehmaek= und talentlos, ohne eigene Ideen. Die Häßlichkeit des amerikanischen architektonischen Ausdruckes für das Geschäft haben sie urteilslos übernommen. Wir finden hier die amerikanische Bank mit den griechischen Säulen - die Mitsubishi=Bank, eine der bedeutendsten der Welt, die übrigens ihre Kassen bereits am Tage nach dem Erdbeben wieder eröffnet hat - und natürlich das amerikanische Rie= senbureauhaus, hier Marunouchi=Building genannt und dem Hauptbahn

hof so schief gegenüber gestellt, daß seine Fassade auf dem riesigen leeren Platze sozusagen zerfließt. Täglich gehen etwa fünfzigtausend Menschen hier aus und ein. Wiederum schief zu Marunouchi erhebt sich der Kyogo= Klub der Industriellen, dessen elegante Silhouette in der Zerfahrenheit des Platzes ebenfalls nicht zur Geltung kommt.

Wer meint, daß die Straßen in diesem europäischen oder vielmehr amerikanischen Hauptviertel in einem bessern Zustande seien, irrt ge= waltig. Von der Ecke des Hibiya=Parkes, des Kreuzungspunktes aller inneren Linien der Straßenbahn, des größten der mit japanischer Raum= verschwendung angelegten Plätze, muß man fünf Minuten zu Fuß zu dem grandiosen neuen Imperial=Hotel gehen und vor dieser Strecke bangt mir

immer am meisten, weil man da zumeist in Gesellschaftstoilette ist und es für die Füße keinen Halt, keinen rettenden Fleck fester Erde gibt.

Dieses phantastische, unvergleichliche Hotel, das im Vorjahre an Stelle des abgebrannten von dem Architekten Frank Lloyd Wright aus Chicago für sechs Millionen Yen erbaut wurde, ist wie alles Absonderliche und Einzigartige Gegenstand vielfacher Kritik, insbesondere seitens der Japa~ ner, die verlangen, daß ein ausländisches Hotel im Orient nicht orienta= lisch aussehen solle. Nahezu jeder Gast findet einen andern Vergleich für dieses kuriose Bauwerk; einen erinnert es an ein türkisches Bad, einen andern an ein babylonisches Grabmal, den dritten an eine Moschee. Der rote Ziegelkasten hat nicht eine einzige wirkliche Mauer, sogar die Pfeiler sind durchbrochen, wie das ä=jour=Kleid einer modernen Frau. Diese

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u Durchbrucharbeit ist mit Glas=

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fensterchen verputzt und abends durchscheinend, so daß jeder Stütz= pfeiler des Hauses lichtdurchflutet ist. Die Einrichtung ist in dieselbe Stimmung abgetönt, auf den hell=

grauen Teppichen laufen bizarre Muster, auf den lichtgelben, grotesken Möbeln prangen exotische Stoffe, jede Ampel, jede Türklinke, jeder Beleuchtungskörper, ja jeder Läuttaster hat eine ungewöhnliche Form. In den Zimmern wirken die durchbrochenen Säulen höchst un= ruhig, außerdem sollen sie schalt= undicht, unheizbar und sehr unge= mütlich machen; die Gesellschafts= räume aber sind jenseits jedes Tadels, geradezu grandios. Ein Theaterehen mit einer runden Bühne hat zwischen den ä-jour=Pfeilern einen grellblauen, goldgestickten Samtvorhang, der sich seitlich öffnet - kurz, Schmiß und Erfindungsgabe sind diesem eigen artigen Hotel unbedingt zuzubilligen. interessant ist, daß ihm von allen beteiligten Kreisen ein Erdbebenende prophezeit worden ist - in Wirklichkeit ist es eines der wenigen Gebäude, di; dem Erdbeben widerstanden haben,wohl infolge der Verwendung der in San Fran-cisco erprobten Stahlrippen.

Unmittelbar vor diesem Palast ver-sinkt man bis an die Knöchel in nassen, klebrigen Schlamm, den die heranrasendenAu. tos meterweit um

sich spritzen, denn auch der sogenannte Gehsteig ist ein glitschiger, grundloser Bach und vollkommen unpassierbar. In den Seitengassen ohne Geh= steig watet man durch Seen, so daß auch bei den besten Überschuhen, ohne die man bei Schneeregen überhaupt nicht ausgehen kann, nach vier Wochen die Gummisohlen durchgeweicht sind. Erst wenn man einen japanischen Winter mitgemacht hat, erfaßt man die Zweckmäßigkeit der Geta, insbesondere der Takageta, der Sandalen mit fünf Zentimeter hohen Holzstöckeln <an trockenen Tagen werden niedrigere, Komageta, getragen> und der Sitte des Schuhablegens vor dem Eintritt ins Haus. Für die= jenigen, die Lederschuhe tragen, stehen vor den Geschäftshäusern aus=

ländischen Stils Wasserbottiche mit darangeketteten langstieligen Bürsten, mit denen man sie abwäscht.

In den ersten Tagen meines Tokioter Aufenthaltes scheint es mir unmöglich, mich zurechtzufinden. Es gibt keine Straßenaufschriften, ja nicht einmal Straßennamen. Steige ich aus der Straßenbahn an irgend= einer Ecke aus, so bin ich nicht imstande, sie später wiederzuerkennen. Irgendeinen Halt für das Auge bieten die niedrigen Wohnstätten mit dem Warengemengsel unten und dem oben aufgesetzten Schlafraum nicht. Überall die gleichen Gassen, dieselben Häuser mit den offenen Lädchen, in denen dieselben Waren auf den großen, niedrigen Auslagebrettern liegen oder von der Decke hängen: Obst, Süßigkeiten, Kinderspielzeug,

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Baumwollwaren, Kimonostoffe und Bücher, letztere in riesigen Haufen, Zeitungen, IvIonatsschriften, Korbwaren, Bäckereien, Kopfschmuck für Frauen -- so daß man trotz der Menschenfülle der gigantischen Stadt nicht begreifen kann, wo für diese Masse von Lädchen und Waren die Käufer herkommen.

Die meisten Straßenbahnwagen haben eine europäische Nummer, auch eine japanische Aufschrift, die das Ziel angibt, aber welchen Weg sie nehmen, ist nicht einmal während der Fahrt festzustellen. Der Ver= such, in dem Stadtplan, der die Hauptstraßen und Haltestellen ziemlich

gut erkennen läßt, die kürzeste Route zwischen zwei Punkten auszuarbeiten, scheitert daran, daß weder die in Tokio lebenden Ausländer noch die Japaner wissen, ob und wo direkte Wagen laufen oder wo •nan umsteigen muß; jeder ist froh, wenn er seinen eigenen täglichen -Weg kennt, und jeder muß selbst fragen, wenn er einmal anderswohin geht. Da die Namen der Straßenbahnhaltestellen dieselben sind wie die des sie umgebenden Blocks, ermöglicht es die stete Mitnahme des Stadtplans, diese zu finden, sich aber von ihnen bis zu dem gesuchten Hause durchzufragen, ist eine sich stets erneuernde Qual, auch wenn man die oft zehn Worte lange Adresse - Bezirk, Unterbezirk <Ichome, Nichome oder Sanchome>,

Block, Nummer, Straßenkreuzung, Hausname - japanisch aufgeschrieben mitbringt. Nicht einmal die in derselben Gasse Wohnenden wissen Be= scheid über die Häusernummern des oft sehr ausgedehnten Distrikts, so daß man zehn Jahre lang in Nummer Zoo wohnen mag, ohne zu ahnen, wo Nummer ioi liegt. Es kommt auch vor, daß zwei Häuser dieselbe Nummer tragen. Nach Nummer 37 kommt vielleicht 78 und dann etwa 155 und man kann sich zwei Minuten vom Ziel tadellos verirren wie in einem Urwald. Ich kenne Tokioter Residenten, die jahrelang hier leben, ohne zu wissen, wie die Straße hinter ihrem Hause heißt und wie nahe von ihnen Bekannte ebenso lang hausen; sie brauchen einander in diesem Gewirr von Gäßchen nie zu begegnen. Es gibt ihnen keinerlei VorsteL lung von der Lage, wenn sie einander ihre Adresse sagen. Findet doch der Briefträger nicht immer die Adressaten, so daß viele Poststücke nicht zugestellt werden. Die letzte Rettung bringt die Polizeimannschaft, die in runden Glashäuschen an jeder Straßenkreuzung ein Telephon, ein Adreß= buch und einen ziemlich groß angelegten Plan der nächsten Umgebung zur Verfügung hat und höflichste Auskunft gibt; fast jeder Wachmann besitzt eine Füllfeder, mit welcher er den Weg auf ein Blatt aus seinem Notizbuch aufzeichnet. Auf bedeutenderen Verkehrsbrennpunkten sind zwei oder gar drei Polizisten zu finden. Chauffeure oder Rikshakuli lassen ihre Fahrgäste alle Augenblicke irgendwo warten, um jene um Auskunft zu fragen, denn sie kennen sich um nichts besser aus als die übrigen Bür= ger. Auch müssen sie sehr höflich - mit dem Hut in der Hand und mit gebeugtem Rücken - um die Erlaubnis zur Durchfahrt durch enge Gäß= chen bitten, wobei es darauf ankommt, wer der Fahrgast ist. Eine weiße Dame erhält sie fast immer. Biegt die betreffende Gasse vor der Kreu= zung, an welcher der Wachmann steht, ab, so muß der Chauffeur vorerst an ihr vorüberfahren, dann wenden und wieder zurückfahren, was einem Japaner nicht allzuviel ausmacht; Eile kennt man hier nicht. Die reich= sten und vornehmsten Einwohner können ihre Häuser nur durch winklige Engpässe voll der schlimmsten Gerüche, des gräßlichsten Schmutzes und des ärgsten Volkslärms erreichen und müssen von der letzten Stelle, wo= hin ihr Auto noch dringen kann, zu Fuße gehen. Ein Ausländerviertel gibt es nicht, jeder wohnt mitten unter Japanern irgendwo in der endlosen Stadt und so sehen manche Ausländer einander nicht viel öfter als jeder seine europäischen Verwandten, die er alle fünf Jahre auf seiner Urlaubs= reise besucht. Es gibt auch nirgends ein Stadtbild, trotzdem der Bürger= meister von Tokio, der berühmte Viscount Goto, einen amerikanischen Städtebaumeister hat kommen lassen, dessen größter bisheriger Erfolg

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sein eigenes riesiges Gehalt gewesen ist. Immer wieder fällt es dem Neu= angekommenen schwer, es für Wirklichkeit zu halten, wenn sich ihm hinter zerborstenen Buden plötzlich ein wundervolles altes Tor öffnet, wenn ihn ein entzückender Garten umfängt und ein reizendes Gebäude aufnimmt. Wohnen aber Japaner in der verborgenen Pracht, dann gibt es mitten in prangender Schönheit doch sicher irgendeinen Misthaufen, irgendeine Unordnung oder etwas Abfall, zerbrochene Scheiben oder abgestürzte Dachtraufen. Dieses »Nebeneinander« scheint große Seelen nicht zu stören, ebensowenig wie in den Wohnungen neben köstlichen alten Kunstwerken der billige, moderne Kitsch.

Der furchtbare Zustand der Straßen und die unglaubliche Unord= nung und Unübersichtlichkeit ihrer Namen und Nummern verursachen so viel Zeitverlust, daß sich die Ausländer nach zweimaliger Bewältigung des Weges zur Arbeitsstätte nur schwer zu einer Verabredung für den Abend entschließen, noch schwerer natürlich, wenn es regnet; Japaner sind bei schlechtem Wetter überhaupt nicht aus dem Haus zu bringen, was nebenbei auch noch in ihrer ungeeigneten Kleidung begründet ist. Riksha verlangen bei schlechtem Wetter das Doppelte und man kann sich ihrer Forderung nicht verschließen, wenn man sieht, wie sie durch die Wasserlachen hindurchrennen müssen. Nicht einmal ein Auto sichert die Verabredung unbedingt, weil der Chauffeur die Fahrt einfach ablehnt, wenn er fürchtet, auf dem Rückwege zu der auf einem Hügel gelegenen Garage ins Gleiten zu kommen. Auch sind die Autos die Hälfte der Zeit über beim Herrichten, weil auf die Dauer kein Gummireifen diesen Straßen standhält. Ist es eine Zeitlang tro^ken, dann zerbröselt der nie wegge= kehrte Straßenschmutz in Staub und füllt die Lungen an, so daß eigent= lich niemand weiß, was er mehr fürchtet, schönes oder schlechtes Wetter, Sommer oder Winter.

Eine wirkliche Folter ist die Elektrische, in die um die Hälfte mehr Menschen hineingepfercht werden, als Plätze vorhanden sind. Hie und da wird ein kleines Kindchen totgedrüekt; daß es nicht täglich geschieht, ist nur ein Wunder. Mindestens jede dritte Frau hat eines at.i dem Rücken, denn die Japanerinnen tragen die Sprößlinge bis zum zweiten Lebensjahre huckepack. Mit einer langen Stoffschnur, die ihnen unter den Knien durchgezogen wird, sind sie an den Leib der Mutter gebunden, und der Haori, der dicke Winterkimono, wird über sie angezogen, so daß nur das meist rotznasige Gesichtchen hervorguckt. Um Luft zu schnaps pen, hält das Kind das Köpfchen nach oben gedreht, so daß die Augen durch zuviel Belichtung geschwächt werden; die bei Japanern so häufige Kurzsichtigkeit soll von dieser Art des Tragens herrühren, ebenso wie die auffallende Kleinheit, Gebücktheit der Haltung und Schwäche der Brust der Frauen und als weitere Folge die hohe Sterbeziffer der Neu= geborenen. In der Elektrischen bilden die meist auch noch schwangeren Mütter mit dem

Riesenbündel auf dem Rücken nicht nur beim Ein= und Aussteigen, sondern auch beim Sitzen ein Verkehrshindernis, weil das Bündel die Bankbreite einnimmt und die Trägerin halb in den Mittel= gang hineindrängt. Schieben sich diese armen Weiber durch die Massen,

so schwenken sie das Kind auf ihre Schulter und klopfen es, wenn es schreit, von der Seite -- oft können sie es nicht zum Schweigen bringen - aber nie sieht man jemanden ihnen ausweichen oder ihrethalben aufstehen. Den Chinesen in Shanghai haben die Engländer solche Höflich= keiten beigebracht, aber hier verschwinden die Ausländer in der Riesen= stadt, so daß man nur ab und zu einem in der Straßenbahn begegnet, und zu einer Hofmeisterrolle besitzen sie keine Befugnis. Stehe ich für solch eine geplagte Mutter auf, so treffen mich Blicke, als ereigne sich Uner= hörtes. Für Frauen kennt man hierzulande keine Rücksicht, im Gegen=

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teil, die kleinen Schulbuben drängen sich eidechsenartig zwischen der zusammengepferchten Menge durch, um einer schwerbeweglichen Frau einen leergewordenen Sitz wegzuschnappen. Diese Buben pfeifen in der Straßenbahn und benehmen sich überhaupt recht ungebunden, man merkt es ihnen an, daß sie die verwöhnten Herrchen des Hauses sind, oft die ganze Familie tyrannisieren. So bescheiden die Mädchen auftreten, so herausfordernd' zeigen sich die Jungen; mein Frauenherz empört sich manchmal darüber und ich schiebe einen weg oder deute ihm gar an, für ein schwerbepacktes Weib aufzustehen, und da amüsiert mich der auf= zündende Blitz aus seinen Augen, den nur der Respekt vor meinem Ausländertum zügelt. Von einer eingeborenen Frau nähme er dies wahrlich nicht ruhig hin.

Bei allen Kreuzungen obliegt es dem Schaffner, die Kontaktbogen zu der andern Leitung hinüber= zuziehen; die Fahrgäste müssen sich meist zu dem Vielbeschäftigten hindrängen, um eine Karte zu lösen. Dies beansprucht übermäßig viel Zeit, weil er Ausgangspunkt, Umsteigstelle und Ziel einzulochen hat, außerdem soll die Karte beim Aussteigen vom Wagenführer oder vom Schaffner zerrissen werden, lauter Aufenthalte, die jede Fahrt über die schlimmste Berechnung hinaus verlängern. Deshalb kommen alle Japaner überallhin zu spät. Zu der Verschw?ndung an Zeit gesellt sich eine ebenso große an Sachwerten, weil Datuin und Stunde auf die Scheine gedruckt sind. Trotzdem wird hier nach Herzenslust schwarzgefahren. Wenn des Morgens die Wagen so voll sind, daß oft vier, fünf vorüber= sausen, ohne zu halten, entwischen Dutzende von Fahrgästen bei den Übersetzungen, insbesondere diejenigen, die sich an die Trittbretter klammern - hängt doch von fast jedem Wagen vorn und hinten eine Menschentraube weg. In den neuen, geschlossenen Wagen, bei deren einzigem Mittelausgang beständig ein Schaffner steht, wird das Sch~c_arz= fahren wohl verhindert, da aber das Nachrücken ganz und gar nicht Sache der Japaner ist, die niemals ausweichen oder Platz machen (ihr Höflichkeitskodex aus der Zeit der Samurai enthält natürlich keinerlei Vorschriften über das Benehmen in der Elektrischen>, so stauen sich an beiden Seiten die zuletzt Eingestiegenen und an vielen Haltestellen kann niemand hinzusteigen, während es im Innern leer ist. Wer schon nach

kurzer Fahrt wieder aussteigen will, muß sich mit Lebensgefahr hindurch= quetschen; erreicht er den Schaffner erst, bis der Wagen schon steht, so hält dieser auch auf den geschäftstobenden Hauptstraßen so lange, bis das ganze Verfahren des Kartenlösens erledigt ist, unbekümmert darum, wie lange der dichte Verkehr gehemmt wird. Gar nicht selten wird erst nach dem Aussteigen ein Yen gewechselt. Fehlt ein Sen, so sucht ihn der Fahrgast in allen Taschen - inzwischen bleiben sämtliche Wagen ruhig hintereinander stehen. Erst die Fahrkartenhefte haben einen einigermaßen großstädtischen Verkehr ermöglicht.

Über diese heillosen Zustände wird aber nur vom Ausländer ge= schimpft, niemals hört man eine Klage vom Japaner, der ein viel zu sehr gedrilltes, schweigendes Objekt seiner Verwaltung ist und sich nicht ein= mal zu dem »Subjekt«, als welches der Untertan vom deutschen selbstherr= lichen Fürsten angesehen wurde, erhebt. Der Japaner stellt nichts Persön= liches vor, kein Ich, er ist nur ein Teil einer Masse, die nach dem Belieben der Polizei geschoben oder gebremst wird. Die lautlose Ergebung des Publikums ist oft geradezu erschütternd. Der Japaner ist so gewöhnt zu dulden, daß er sicherlich auch die augenblicklichen Leiden durch das Erd= beben klaglos hingenommen hat. Und nirgends kann man dieses Volk so kennen lernen wie in der Straßenbahn, was mich darüber tröstet, daß ich sie leider mehrmals im Tage benützen muß. Die einzige, freilich passive Resistenz, die sich das japanische Verwaltungsobjekt erlaubt, ist, bei schlechtem Wetter - bei dem der ganze Straßenschmutz in die Wagen mitgeschleppt wird, so daß sie oft von Wasserlachen überschwemmt sind -- zu Hause zu bleiben. Und die Wendung in dem Willkommsbrief eines Japaners, an den ich empfohlen bin: »Sie werden wohl bis zum Frühling auf die Erfüllung Ihrer Pläne warten müssen, im Winter läßt sich in Japan nichts beginnen«, lerne ich in der Elektrischen begreifen.

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Japanern, die bei »fremder Tracht« zumeist auffallend salopp, in der Un= bedenklichkeit ihrer Zusammenstellung oft geradezu grotesk sind; die Gepflogenheit, den ausländisch eingerichteten Räumen ebensowenig Sorg= falt

zuzuwenden, teilt allerdings auch er. Aus der Sitte, vor dem Betreten der eigenen, mit Matten belegten Zimmer die Schuhe abzulegen, ziehen die Japaner die seltsame Folgerung, alle Orte als »draußen« zu betrach.. ten, in denen man die Schuhe nicht abzulegen braucht, das Bureau ebenso wie die Straße und die Elektrische - und »draußen« ist jede Nachlässigkeit gestattet. Wo die Sitte nicht Vorsorge getroffen hat, läßt sich der apaner hemmungslos gehen, trotz der Jahrhunderte alten Satzungen über Ordnung und Sauberkeit. So ist also auch Herrn Kasamas Bureau kahl und ungemütlich, irgendwie korridormäßig; wie in einer Schutzhütte oder wie bei uns nach dem Kriege, als man die Kamine nicht benützen durfte, steht mitten im Zimmer der typische eiserne Ofen. Offenbar ist er nach= träglich eingebaut worden, als sich der Bewohner an ausländisches Heizen gewöhnt hatte. Da verausländerte Japaner nur selten das richtige Maß im Nachahmen finden, sind diese ausländischen Zimmer stets überheizt. Der Gleichmut des Japaners erträgt indessen übergroße Wärme ebenso wie übergroße Kälte.

I I . POLITISCHE BESUCHE.

4. Off iz ie l le Aufnahme. ein Vorhaben, in Japan Vorträge über Österreich zu halten und den Erlös daraus der Wiener Wohlfahrtsfürsorge zu überweisen, wird mir von den

Residenten deshalb als aussichtslos bezeichnet, weil ich es nicht monatelang vorher in Tokio angekündigt habe. Nun sei es zu spät. Nur dann bringe es ein Name hier zu Erfolg und Ansehen, wenn er dem Publikum ins Gehirn getrommelt werde und bereits vor der Ankunft der erwartete, vielbesprochene sei. Dem japanischen Leser sei man Sensation oder nichts; der Ankömmling könne nur durch die ersten Interviews frisch serviert, nachher nicht mehr aufgewärmt werden. Habe doch ein großer Geiger seines Managers Unkenntnis der japanischen Psyche mit einem Gutteil seiner amerikanischen Einnahmen bezahlen müssen, weil er erst in San Francisco, in der Hochstimmung der glänzend gelungenen Durchquerung der Vereinigten Staaten, auf die Idee verfiel, sich die Heimreise über die andere Seite des Globus zu erspielen.

Im Auswärtigen Amt aber ermangle ich dieser so nötigen voraus-geeilten Einführung nicht. Herr Hirota, der Chef des Pressedienstes, zieht aus einem Folianten das mich betreffende Schriftstück und sagt: »Wir haben Sie lange erwartet.«

Daß Herr Hirota im Kimono amtiert, ist eine große Ausnahme, denn die meisten Japaner tragen im Amte ausländische Kleidung. In der starren Seide sieht er sehr würdevoll aus und auch sein Wesen ist äußerst zeremoniell. Nach den üblichen steifen Einleitungsphrasen, die jeder Japaner aus seinem Sprachbuch lernt, läßt er Herrn Kasama hereinbitten und stellt mir anheim, mich mit jedem erfüllbaren Anliegen an diesen zu wenden.

Zeigt sich mir Herr Hirota als der japanische Diplomat unveränderten alten Stils, ebenso höflich wie zurückhaltend, zugeknöpft bis an den Hals und überlegen lächelnd, mit der überlieferten Idee, daß Japan nach außen eine Maske zu tragen habe, so ist Herr Kasama ein äußerlich gemodelter neuer Typ derselben alten Art, nämlich genau so verschlossen und unerreichbar, aber Weltmann bis in die Fingerspitzen, vor allem in seiner ausländischen Kleidung, die ziemlich sorgfältig, einigermaßen nach dem Modeheft ausgewählt ist. Hierin unterscheidet er sich von anderen

Unter Beobachtung aller internationalen Kavalierspflichten führt mich Herr Kasama zum Lunch in das Imperial=Hotel. Daran erkennt man, daß er viel und -- was wesentlich ist - erst kürzlich im Ausland gewesen ist. Er nimmt noch einen Kollegen mit, der deutsch spricht, das Mahl wird dadurch anstrengend, daß entweder ich es nicht verstehe, wenn die beiden Herren miteinander japanisch sprechen, oder Herr Sato nicht, wenn ich mit Herrn Kasama englisch spreche, oder dieser nicht, spreche ich mit Herrn Sato deutsch, ein Sprachenwirrsal, das hier leider nur zu häufig den Verkehr lähmt. Fast kein Japaner spricht eine fremde Sprache gut, überhaupt verständlich nur einer, der in dem betreffenden Lande gewesen ist, Englisch noch am ehesten, weil es in Amerika praktisch ge. lernt wird, Französisch ist so selten, daß es kaum in Betracht kommt, sagt einer aber, er »könne« Deutsch, so beschleicht mich - wiewohl die deutsche Sprache in der Aussprache und im Satzbau der japanischen am nächsten liegen soll - eine geheime Angst, weil meist nur die gangbarsten Sätze aufgesagt werden, während Seitenfragen zu dem niemals ausbleibenden Schlürfen des Speichels führen.

Der Zweck dieser Einladung ist, mich einem Freunde des Herrn Kasama zu übergeben, nennen wir ihn Dr. Issa Kawado, dem Chef eines vor wenigen Tagen im Hotel eröffneten, neuartigen »Informations~

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bureaus«, das beileibe nicht mit einem Touriste/nbureau verwechselt werden dürfe, denn es wolle -- und zwar unentgeltlich - ausländische Künstler, Journalisten, Gelehrte und Kaufleute mit den japanischen Berufs genossen in Verbindung bringen. Herr Dr. Kawado <der Doktorgrad soll aus Amerika stammen> stürzt sich mit Begeisterung auf sein erstes Versuchsobjekt - sein erstes Opfer, meine ich später und sein Wort= schwall bricht über mich herein wie eine Lawine. Offenbar hat er in Amerika vergessen, da man in Japan von sich selbst nichts als Herab= setzendes sagen dürfe und es dem andern zu überlassen habe, das Lob= lied anzustimmen.

Ich solle volles Vertrauen zu ihm haben, ja, nichts tun, ohne ihn zu Rate zu ziehen, und ihn über alle meine Schritte auf dem laufenden halten. Für mich, die ich ihm vom Auswärtigen Amte übergeben worden sei, im besonderen von seinem teuern Freunde Kasama - die beiden kennen einander erst seit zwei Tagen -- werde er natürlich Vorträge veranstalten, überhaupt das Großartigste leisten .. .

So also sieht das einstige Detektivbureau jetzt aus! Vermutlich hat der findige Herr Kawado der Regierung diese neue Form der über= wachung »gefährlicher« Fremder angeboten und ihr echt japanischer Grundgedanke: Fremden, die nicht harmlose Touristen sind, zu helfen, damit sie einen guten Eindruck bekommen, und dabei ganz unaufdring= lich ihr Tun zu beaufsichtigen, hat der noch ganz auf den alten Stil ein= gestellten Staatsverwaltung sichtlich gefallen.

Wiewohl ich nicht einen einzigen Augenblick wirklich auf den Köder anbeiße, beschließe ich rasch, den Dingen ihren Lauf zu lassen, um auf diese Weise einen Begriff von japanischer Arbeits= und Denkweise zu erhalten.

Ich muß Kawado also vor allem meine Empfthlungsbriefe übergeben und ihm außerdem versprechen, keinen einzigen Interviewer zu empfangen, denn mit einer Unterredung, die ich einem einzelnen gewährte, verscherzte ich mir die ganze Tokioter Presse. Und dann weiht er mich mit der bemerkenswerten Offenheit, die Japaner so gut mit verzwicktester Hinter= list vereinigen können Lind die in krassestem Gegensatz zu der im Aus= lande verbreiteten Legende von ihrer Verschlossenheit steht, in die Art ein, wie man sich in Japan in Szene zu setzen habe, eine Lehrstunde, welcher der Impresario des bedauernswerten Violinvirtuosen leider nicht teilhaftig geworden ist.

Kawado lebt erst seit ganz kurzer Zeit in Tokio, aber er ist bereits ein Herz und eine Seele mit der Presse, mit ihr arbeitend, gegen sie Ränke schmiedend. Wie alle Japaner muß er die Kunst des Doppelspiels, eine Person der andern als wichtig darzustellen und sich selbst als unentbehrlich dazwischenzuschieben, in die Wiege mitbekommen haben; bisher war er Schafzüchter gewesen, ein literarischer allerdings, denn er hat ein Buch über Schafzucht verfaßt -- und es persönlich dem Präsidenten Harding übergeben. Jeder Japaner, der etwas auf sich hält, muß miede= stens ein Buch geschrieben

haben. Auch Kawados erstes Bedauern gilt der versäumten Vorreklame, aber er meint, meine Erstmaligkeit werde aus mir noch jetzt eine leicht zu lancierende Nummer machen. Genau so hingebungsvoll nämlich, wie das leidenschaftliche Volk der Japaner das Alte anbetet, läuft es dem Neuen nach. Hier ist nur des Erfolges sicher, was entweder sechshundert ahre alt ist oder noch nicht da war; sagt man Amerika nach, daß es sich jährlich erneuere, so kann man von Japan behaupten, daß es sich täglich umstelle,

monatlich häute - um dabei doch stets dasselbe zu bleiben. Ebenso urteilslos, wie an Unmöglichem festgehalten wird, weil es sich auf Jahrhunderte berufen kann, wird Besseres minder Brauchbarem, aber Neuerem geopfert. Der ersten Schriftstellerin aus den besiegten Staaten, der ersten österreichischen Journalistin sei schon durch die bloße Tate sache, daß sie den Japanern von dem ihrem Lande angetanen Unrecht erzählen wolle und dadurch die japanische Öffentlichkeit als ein Forum anerkenne, die allgemeine Anteilnahme sicher.

Aus meinen Einführungsschreiben scheidet Kawado alle aus, die an Leute außerhalb Tokios gerichtet sind: »`YTer nicht in Tokio lebt, ist un= bedeutend; wäre er bedeutend, lebte er in Tokio.« Hier wird vom Wohn= sitz auf Persönlichkeit und Wert rückgeschlossen. Dann fallen alle Briefe an Private weg. »Davon haben Sie nichts.« Die an reiche Geschäftsleute dünken ihm überaus wertvoll, vor allem derjenige an Mitsui Mitsui ist der japanische Stinnes - und er erbietet sich, sogleich an dessen Sekretär zu telephonieren. Aus den sich pausenlos, ohne Heben und Senken, sozusagen in einer Ebene dahinwälzenden Lauten, die nur am Ende jedes Satzes wie ermüdet auf ein kurzes, hartes e fallen, höre ich immer wieder das Wort Gaimusho - Auswärtiges Amt. Die japanische Sprache soll nicht wie die deutsche Umstellungen nötig haben, um in Verse gegossen zu werden, im Umgang aber klingt sie wie ein Eisen= Bahnzug, der über Weichen dahinrattert. Will sich der Japaner beim Sprechen ein wenig ausruhen oder bedenken, dann sagt er »Anone« oder »Södeska«, welche beiden Worte ungefähr unserm »Wissen Sie!« oder »Nicht?« entsprechen und vom Japaner in jeder Minute mehrmals gebraucht werden.

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Endlich, endlich legt Kawado das Hörrohr weg. »Nun?« frage ich, atemlos vom Zuhören. Aber Kawado hat erst mit dem Bureaudiener gesprochen, der es dem Privatdiener des Sekretärs melden soll. Darüber klagt er selbst: »Man muß in diesem umständlichen Lande alles erst dem Boy erzählen!« Vom amerikanischen Schnellzugstempo scheint aber auch er nicht viel abbekommen zu haben, denn der Versuch, eine zweite Angelegenheit anzuschneiden, während wir auf den Angerufenen warten, scheitert daran, daß er genau so wenig wie andere Japaner den nächsten Gedanken fassen kann, wenn der erste noch nicht verarbeitet ist.

Wir sitzen in seinem Zimmer und es geschieht nichts. Ab und zu bringt der Boy eine Visitkarte herein, aber Kawado weist alle Besuche ab. »Das sind Japaner«, sagt er wegwerfend, »die können mir gestohlen werden.« Ich bin schon wie seekrank vom Warten und Zuhören, denn ganze Satzkaskaden in einem barbarischen, aber geläufigen Englisch stürzen über mich her. Um fünf Uhr kommt Tee mit Schlagsahne, Sand= wiches und Kuchen. Wer vergütet ihm dies? Um sieben Uhr, als noch immer nicht das geringste erledigt ist, erzwinge ich gewaltsam, fast un= höflich, meinen Abgang, werfe mich zu Hause aufs Bett und kühle die schmerzenden Schläfen mit nassen Tüchern - Kawado hat mich halb zu Tode geredet.

5. Besuche. Kawado schreibt mir in einem offiziellen Briefe, daß die »gesamte

Presse Tokios« mir einen Begrüßungsabend in dem luxuriösesten Restau= rant, dem Maple=Klub, geben und auch den österreichischen Konsul dazu laden werde. überdies wiederholt er telephonisch die Weisung, vorher keinen Journalisten zu empfangen. Die Interviewer, Reporter und Photographen, die mir inzwischen dutzendweise auf die Bude gerückt sind, sitzen stundenlang im kalten Wartezimmer, lassen sich vom Hotelier nicht abweisen und fragen ihn nach mir aus. Ich empfange aber nicht einmal die Redactrice des »Asahi«, des zweitgrößten Blattes von Tokio; an die ich sogar eine Privatempfehlung habe und die ich brennend gerne kennen lernen möchte, um neben meine Vorstellungen von Geishas und Butterflies die von einer japanischen Journalistin stellen zu können. Eines Abends aber sagt dem Hotelier ein Photograph, er sei von Kawado ge= schickt, und dringt mir direkt ins Zimmer. »Entschuldigen Sie«, bemerkt er, während sein Gehilfe das Blitzlicht vorbereitet, »daß ich zu viel Sake getrunken habe.«

Mit diesem Bilde erscheinen am nächsten Tage in den Zeitungen »Hochi« und »Kokumin« zwei Interviews mit mir. Kawado lächelt. Er

habe sie gegeben. Was der japanische Leser verlange, wisse er besser als ich, da ich die in Japan nötige Diplomatie noch nicht beherrsche. Unter den Journalisten, welche die Fremden im Imperial=Hotel zu inter= viewen haben, stehen dem Informationsbureau die Vertreter dieser zwei Zeitungen am

nächsten und erweisen ihm für solche kleine Gefälligkeiten wichtige Gegendienste.

Die Tage gehen hin und der Journalistenabend wird zweimal ver= schoben, jedesmal muß der Konsul verständigt, ein neuer Abend frei= gehalten werden. Zuerst sei im Maple=Klub kein Zimmer zu haben, dann könnten sich die Herren nicht auf das Datum einigen, kurz, Kawado telephoniert mir täglich. Endlich bekennt er, daß der Abend überhaupt abgesagt werden müsse. Meine europäischen Freunde, die von Anfang an behauptet haben, daß die Japaner von dem, was sie im ersten Enthusias= mus planen, nur ein Zehntel wirklich ausführen, lächeln dazu.

Nur wenige Fremde leben im japanischen Volke, die von ihm mit Freundschaft, ja auch nur mit Verständnis und Duldung sprechen, und im Umkreis des Reiches hat es fast gar keine Verteidiger. Der Anti= japanismus im Osten übertrifft den Antisemitismus oder den Anti= germanismus in der übrigen Welt, er lodert um das japanische Inselgebiet wie die rote Glut Loges und glimmt heimlich im Herzen jedes Residenten. Seit meinem ersten Besuch hat sich dieser Haß auch noch des Touristen bemächtigt, der sich früher dem Japanertum mit einer übertriebenen, durch die poetische und malerische Verklärung Leafcadio Hearns und Orliks genährten Vergötterung nahte und nun durch ein genau entgegengesetztes Werk von dieser Richtung abgedrängt wird, so daß er mit einer ebenso vorurteilsvollen Abneigung ankommt. Hat Hearn nur das Schöne ge= sehen und sind die Japaner für ihn »vierzig Millionen der allerliebens= wertesten Menschen der Erde« gewesen, so sind sie für John Paris, Pseudonym des zweiten Botschaftssekretärs Englands in Japan, der auch die Reise des Kronprinzen begleitet hat, nur Mißgebilde. Sein Haß> und Rachegesang »Kimono«, ein Schlüsselroman, der nach der Auflösung des englisch=japanischen Bündnisses erschien, ist augenblicklich das im Osten meistgelesene Buch, dessen jedermann bekannte Heldin, eine Halbblut=Japanerin, sogar die Absicht haben soll, den Autor zu klagen. Die schlechten Eigenschaften der Japaner liegen aber so unverhüllt zutage, daß es eine billige Kunst ist, sie zu sehen.

Vor Jahren war ich voll Sehnsucht nach japanischem Edelrittertum, nach japanischer Kunst und Schönheit, nach zierlichen Geishas, die ster= ben, wenn sie der Geliebte verläßt, kurz, erfüllt von Kokoro, Madame

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Chrysantheme, Butterfly und Geishas nach Japan gekommen und ange> sichts der blinden Begeisterung der Globetrotter von bitterste Zorn über den Trug erfaßt worden. Willig hatte ich mich damals zim Sprachrohr des Hasses der Residenten gemacht. Jetzt erst erkenne ich, daß die tiefste Ursache dieses Hasses nicht nur in der beständigen Aufreizung durch das wachsende Mißverhältnis zwischen dem poetischen Stil der Japaner und ihrem so viel unpoetischeren Wesen liegt, sondern vor allem darin, daß die Japaner die Bewunderung der Welt für ihre erstaunliche Entwicklung zur Großmacht des Ostens einheimsen, während die weißen Kolonisten meinen, daß diese Erfolge größtenteils auf ihrer Arbeit beruhen. Statt nun, wie sie erwartet hatten, für ihre hingebenden Erzieherdienste das japanische Volk ohne Ende beherrschen und ausbeuten zu dürfen, sehen sie sich durch dessen jäh aufgeschossenes Selbstbewußtsein nicht nur um Dank und Gewinn, sondern auch um die Stellung geprellt. Je nach ihrem Temperament ballen die Ausländer entweder die Fäuste in der Tasche oder sie machen sich insgeheim darüber lustig, daß die Japaner im Verkehr volle Ebenbürtigkeit verlangen, ohne der raschen Entwicklung mit ihrer Ausbildung nachkommen, im geschäftlichen und technischen Zusammen arbeiten die ihrem Auftreten entsprechenden Leistungen aufweisen zu können. Sich trotz ihrer unleugbar noch heute bestehenden Unentbehrlich, keif von anmaßendem Hochmut abhängig zu sehen, verbittert natürlich die Residenten, den unbeteiligten Beobachter hingegen muß es ergreifen, wie rasch sich der aus dem Russisch=Japanischen Kriege zurückgebliebene Siegesrausch der Japaner in den Wunsch gewandelt hat, die Weißen nicht nur zu schlagen, sondern auch einzuholen.

Vertrete ich diesen Standpunkt, von dem aus sich meine Betrachtung Japans unter einen andern Gesichtswinkel stellt, einen Residenten gegen über, so bekomme ich oft genug zu hören, ich sei voi' der Regierung »eingewickelt« worden. Sind es wirklich deren moderne Machenschaften, die mich vom Japanhaß, wenn auch nicht zur widerspruchslosen Liebe, so doch zum Verständnis, zur Anerkennung, ja sogar zum Respekt bekehrten, dann alle Achtung vor ihnen! Ungewarnt, unaufgeklärt bin ich wahrlich nicht geblieben. Dutzende von Residenten haben mich beschworen, ihnen mehr zu glauben als meinen eigenen Augen. Alles um mich herum sei nichts als Lug und Trug, jeder Japaner tue alles, sein Vaterland im rosigsten Licht erscheinen zu lassen, insbesondere, wenn er wisse, daß die Berichte in ausländische Zeitungen kommen. Je freundlicher Japaner seien, desto mehr müsse man achtgeben, denn sie zeigten sich nur dann gastfrei, wenn sie einen starken Anlaß dazu hätten. Ja, manche ver

42 stiegen sich bis zu der Behauptung, daß jede einem Journalisten erwiesene Gastfreundschaft von der Regierung ersetzt, jede Unterlassung einer solchen bestraft werde.

Herr Tsurumi, der Beamte des Eisenbahnministeriums, mit dem mich ebenfalls HerrKasamabekannt gemacht hat, behauptet allerdings, er müsse die Nächte hindurch Artikel für die Zeitung schreiben, um die Mittel aufzu= bringen,

die derVerkehr mit Weißenkoste,aber trotzdem hielten er und seine Gruppe es für ihre Pflicht, eine Annäherung an die Ausländer anzubahnen.

Herr Kasama hatte mir diese Empfehlung gegeben, als ich eines Tages - unter dem ein wenig schadenfrohen Zwinkern der beobachtenden Residenten - ganz ehrlich zu ihm gekommen war, um ihm zu sagen, daß ich der Komödie des Informationsbureaus keinen Spaß mehr abzugewinnen vermöge. Wohl hatte Kawado mir täglich telephoniert, mich auch des öftern in sein Bureau berufen, mich aber nicht einmal mit den Adressaten meiner eigenen Empfehlungsbriefe in Fühlung gebracht. Immer wurde ich ausgefragt. Es scheint, daß Kawado seine Aufgabe Herrn Kasama gegenüber viel zufriedenstellender gelöst hat: so oft ich diesem etwas von meinen Erlebnissen erzählen wollte, antwortete er immer: »Ich weiß.«

Herr Tsurumi, der wie Ende der Zwanzig aussieht, aber am Ende der Dreißig steht, ist auch innerlich der neue japanische Typ. Er ist glatt= rasiert, sehr lebhaft, spricht fließend Englisch, etwas Deutsch und Franzö= sisch, war vier Jahre im Ausland, schreibt Bücher, Broschüren, Zeitungsartikel, hält Vorträge, vorzugsweise in Frauenvereinen, interessiert sich für die ankommenden Ausländer und vertritt »die japanische Jugend«. Das umfaßt Freisinnigkeit, Internationalität, Individualismus, Frieden, Abrüstung, ein wenig Sozialisierung. Doch jeder Japaner, sei er noch so modern, denkt japanisch und so sagt Tsurumi : »Bei jedem Umsturz muß ein Pfeiler übriggelassen werden«, womit er seine unbedingte Anhänger schaft an das Kaisertum in der heutigen Form ausdrückt. Japanische Logik verurteilt alles, was in der Leidenschaft restlos geschieht -- »daran nicht gedacht zu haben, ist der Fehler Deutschlands gewesen«, fügt er hinzu.

Er bleibt auch trotz wildester Worte der wohlerzogene Ministerialbeamte, der an unsere Herren aus der Statthalterei erinnert, ist er doch - was die Brauseköpfe unserer Sturm= und Drangzeit nicht zu sein pflegten - der Schwiegersohn eines einstigen Premiers; seine Gattin ist die Tochter Gotos, des listigsten Fuchses aus der imperialistischen Militaristenkaste.

Wie es denn aber möglich sei, daß so offene Aufrührer in der Re-gierung mitarbeiten können, frage ich ihn. Und wie sich das in der Familie abspiele, wenn der Schwiegersohn gegen den Schwiegervater auftrete?

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Ja, bei der Eisenbahn sei eben nur Bureaudienst zu leisten, im übrigen aber habe man - zum Unterschied vom politischen Beamter- die Freiheit, zu denken, was man wolle. Und die japanische Farrfilie halte auch bei auseinanderstrebenden Anschauungen zusammen.

Der Ansturm der jetzigen Generation -- so fügt er hinzu - richte sich gegen die Ergebung in die Daseinsbedingungen dervorhergegangenen, jede Jugend solle ihr eigenes Leben leben. Der Wahlspruch sei : Los von der Massenerziehung, vom Massenschicksal, von der Opferung an den feudalen Geist. Jede Regierung, die sich dagegen stemme, müsse gestürzt werden.

Damit rührt er an die augenblicklich am heißesten umstrittene japa. nische Schicksalsfrage, an die von der Jugend geforderte Individualisierung, die von einsichtigen Kennern der Schwächen der Nation als Gefahr betrachtet wird, als der Weg zum Zusammenbruch der auf der Kraft aller beruhenden japanischen Vormachtstellung. Das bei einem Japaner Er= staunlichste ist aber, daß Tsurumi hinzufügt: »Japan hat nun jahrzehntelang vom Ausland nur genommen, es muß geben lernen.« Das alte Japan hat bisher noch nie an eine Gegenleistung gedacht, sondern den Grundsatz geprägt: »Was man bezahlt hat, dafür braucht man nicht dankbar zu sein!« Die Mehrzahl der Bevölkerung hat keineAhnung, wer hier Straßen bahn und Fernsprecher, Luftschiff und Kino eingeführt hat, ja, man wird mitunter gefragt, ob es dort, woher man komme, »auch Eisenbahnen gebe«; sollen sich doch einst die Bauern auf dem Lande beim Anblick der ersten Weißen gewundert haben, daß außerhalb Japans Menschen leben.

Unter den Residenten kennt wohl jeder Tsurumis Namen, aber man betont, daß er die Frist von drei Jahren noch nicht hinter sich habe, die jeder Japaner nach seiner Rückkehr aus dem Auslande brauche, um wieder ganz Japaner zu werden. Diesem ebenso allgemeii:'n wie unerbittlichen Urteil widerspricht es jedoch, daß nicht nur jeder, de; einmal im Auslande war, hinfort als höhere Klasse gilt und daß man es ihm ai:sieht, liege es auch ein Vierteljahrhundert zurück, sondern daß bei jeder Erwähnung seines Namens gleich hinzugefügt wird: »Der -- oder auch die ist ein. mal fort gewesen ! «

Bei Tsurumi und Genossen -- ich soll die ganze Gruppe noch kennen lernen - geht die Sache tiefer. Man darf schlankweg behaupten, daß Ja; pan mehr als die kriegführenden Länder vom Krieg gelernt und sich mehr als Gebiete, über die Revolutionen hinweggebraust sind, durch den Krieg verändert hat. Tsurumi sagt es mirglatt heraus, daß Deutschlands Schick= sal von Japan abgewendet werden solle. Der japanische Feudalismus habe sich gewissermaßen in der von Deutschland übernommenen preu=

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ßischen Zucht fortgesetzt, der Anschauungsunterricht lehre aber nun, daß sie zwar Deutschland wie Japan Haß und Mißtrauen eingetragen, die Niederlage aber nicht verhindert habe. Japan müsse also nicht nur von ihr und vom Militarismus überhaupt loskommen, sondern genau entgegen gesetzt wie das heutige Deutschland, das aus seinen Kriegserfahrungen nicht die richtigen

Lehren ziehe, seine bisherige Taktik im privaten wie im diplomatischen Verkehr mit anderen Nationen ändern, um aus dem Dunstkreise des Hasses herauszukommen. Frankreich habe eben seinen gefeiertsten Mann, den Dichter Claudel, als Botschafter nach Tokio ge. sendet, der eine Uraufführung seiner Werke dem Kaiserlichen Theater gewidmet habe und dem die Herzen der japanischen Jugend zufliegen, während aus Deutschland nur Professoren und Techniker kommen, die mit dem Publikum keine Fühlung gewännen. Daß es jetzt mit dem ersten Passagierschiff der neuen Stinnes=Linie eine Publizistin mitgeschickt habe, sei allgemein sehr günstig vermerkt worden und jedermann sei bereit, mich in seinen Verkehr zu ziehen.

Aus der stürmischen und enthusiastischen Aufnahme bei Herrn Tsurumi und aus seinen Anerbietungen, mich mit allen seinen Gesinnungsgenossen zusammenzubringen, die Schlußfolgerung zu ziehen, ich hätte für meinen Tokioter Aufenthalt ausgesorgt und steuere im richtigen Fahrwasser, scheint verkehrt. Denn wochenlang höre ich nichts mehr von ihm.

6 . Die Ze i tung .

Natürlich empfange ich jetzt einige Journalisten, vor allem Fräulein Takenaka, die Redaktrice des »Asahi«. Diese Bekanntschaft bringt mir zum Bewußtsein, wie unvertraut das Ausland mit den wirklichen Verhältnissen dieses so viel bereisten Landes ist. In Kobe hatte ich selbst noch mit den Offizieren des »Emil Kirdorf« darüber gelacht, daß bürgerliche japanische Damen abends allein ausgehen sollten, nun zieht hier eine Jour nalistin eine Füllfeder aus ihrem Obi, dem Brokatgürtel, - ihr Notizbuch hat sie freilich noch, wie hier im Volke bei Paketen allgemein üblich, in ein buntes Tuch eingeschlagen - und schreibt damit ganz ernsthafte Dinge auf, vielleicht von einer höheren Warte als ihre Kolleginnen bei uns. Fräulein Takenaka, eine unverheiratete ältere Dame, spricht recht gut Englisch. Ihr Gebiet umfaßt Unterredungen mit Fremden und Einheimischen, Männern oder Frauen, hauptsächlich aber letzteren, gesellschaftliche Ereignisse, Frauenfragen oder Sorgen der Frauen in ihrer Häuslichkeit. Bei der größten Zeitung Japans, dem »Osaka Mainichi«, und bei dessen Schwesterausgabe, dem »Tokio Nichi Nichi«, ist keine Frau zugelassen, aber bei allen übrigen

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Page 31: ALICE SCHALEK: JAPAN - | Sophiesophie.byu.edu/.../Schalekjapandasland/japan1.pdf · Japan ist augenblicklich auch für Amerikaner zu teuer, denn seine ... verachtungsvoll, teils scheu,

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Tokioter Zeitungen arbeitet je eine ständige, monatlich bezahlte Journalistin. Mit den Redakteurinnen der zahlreichen Wochenyund Monats. schriften für Frauen, Mädchen und Kinder gibt es in Tokio insgesamt ungefähr zwanzig festangestellte Journalistinnen, also viel mehr als bei uns; da die Doyenne erst seit zehn Jahren tätig ist, konnte ich bei meinem ersten Aufenthalt in Japan vor zwölf Jahren natürlich noch keine einzige vorfinden.

Mit unserm Begriffe von den Geishas, als die wir Europäer, sehr zum Kummer der japanischen Frauen, mehr oder weniger alle Japanerinnen ansehen, lassen sich diese Journalistinnen nun freilich nicht mehr vereinen, aber die Selbständigkeit ihrer weißen Berufsgenossinnen besitzen sie noch nicht ganz. Diese sozusagen gebildeten und in geistigen Berufen tätigen Japanerinnen sind ein sehr eigenartiges Gemisch von Mittelalter und Neuzeit; über dem orientalischen Innern liegt ein dünner amerikanischer Firnis und der Sicherheit und schon gar der Persönlichkeit entbehren sie noch ganz und gar.

Natürlich erscheint Fräulein Takenaka wie alle Interviewer mit einem Photographen; Blitzlichtpulver wird hier kiloweise verbraucht. Aber wie immer die Aufnahme ausfällt, Reproduktionsverfahren und Papiersorte lassen andere als gänzlich undeutliche und verwischte Bilder nicht heraus= kommen. Es bleibt mir vollkommen rätselhaft, was für ein Interesse die Leserwelt an solchen nahezu unkenntlichen Bildern haben kann. Und doch wird der Fremde auf dem Schiff, dann in jeder Gesellschaft, bei Besichtigungen, Festen oder gar bei eigenen Vorträgen mehrere Male für die Zeitung geknipst.

Die Presse, die sich in Japan überhaupt erst in diesem letzten Dezen= nium durchgesetzt hat, übertrumpft bereits die amerikanische. Sie spielt allerdings eine andere Rolle als jene. Ist es die Zeitung, die in Amerika zur Gesellschaft drängt, so drängt umgekehrt in Japan die Gesellschaft zur Zeitung. Der Reporter wird vom Publikum selbst, auch von der Wissenschaft, überallhin zugezogen.

Es gibt Zeitungen für jedes Lebensalter, vom sechsten Jahre angefangen. In dem Hause eines Universitätsprofessors mit acht Kindern weist mir jedes sein Abonnement vor, die Sechsjährige ihre Monatsschrift »Der Freund der Kleinen« mit Eisenbahn= und Motorbootbildern, die Zehn= jährige ihr illustriertes Geschichtenheft »Gemälde aus Schule und Leben«, die Vierzehnjährige ein Magazin »Die Mädchenwelt«, aus dem sie bereits Kunde von »draußen« schöpfen kann. Die Mutter hält »Das Weib«, eines der Frauenjournale, deren es in Tokio dreißig bis vierzig gibt; ungefähr zehn davon werden von Frauen herausgegeben, darunter zwei ganz große illustrierte Blätter, die zweihundert Seiten stark sind. Da der Herr des Hauses regelmäßig mehrere Tageszeitungen, daneben wissenschaftliche, politische und soziale Schriften bezieht, kommen elf Zeitungen in das eine Haus; ein beträchtlicher Teil jedes Einkommens geht auf Lese= Stoff auf und, da jeder Herausgeber das Allerneueste bringt, erklärt sich wohl daraus der Hang der

Japaner nach Sensation. Die Zeitungen sieht man in jeder Straße, auch der kleinsten Stadt, in den zahlreichen Buch= Läden und der Buchhandel liegt nicht in der Hand des Bürgertums, sondern in der des Volkes. Bedrucktes Papier, in welcher Form immer, ist einer der bedeutendsten Handelsartikel der Japaner und in bezug auf Lesefreude

muß ihnen unbedingt die Palme zugesprochen werden. Sogar im Park lesen die Kindermädchen, wenn sie mit ihren Babies auf dem Rücken spa= zierengehen, und die Straßenverkäuferinnen widmen die Pausen im Handel dem Studium ihrer Zeitung. Der Leitungsverkauf auf der Straße wird nicht ausgerufen, sondern ausgeläutet, und dieser Glockenklang ist einer der charakteristischsten Töne im japanischen Straßengeräusch.

Was alles in der japanischen Zeitung über die Ausländer steht, er= fahren diese natürlich selten, denn auch nach zwanzigjähriger Anwesen= heit,auch nach regelrechtem Unterricht, vermögen nur wenige, ihreZeichen zu lesen. Dazu gehört das jahrelange Schulstudium des Kindes, das in der sogenannten Vorschule fast nichts anderes lernt als diese schwierigste