alle welt: "Im Gespräch"

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alle welt 20 Im Gespräch WAIL YOUSIF wurde 1970 in der nordirakischen Stadt Kirkuk geboren. Er flüchtete während des Zweiten Golfkriegs und lebt seit 1991 in Österreich, wo er das Studium des Maschinenbaus an der Technischen Universität Wien abschloss. Yousif ist Mitglied des Kirchenrats der chaldäisch-katholischen Gemeinde in Wien und darüber hinaus Mitglied des Pastoralrats in der Erzdiözese Wien für die anderssprachigen Gemeinden. Stefan Beig: Herr Yousif, Sie stammen aus der nordirakischen Stadt Kirkuk. Haben Sie noch Verwandte dort? Wail Yousif: Mein Onkel lebt noch dort. Nach der Eroberung von Mossul durch die IS sind seine Frau und seine Kinder in die Türkei geflohen, nur er blieb im Irak zurück. Salem Hassan: Ich habe vor allem Verwandte in Bagdad. Meine Schwester wohnt in Kirkuk. Sie arbeitet in einer Pensionsversicherungs- anstalt, deren Direktor Christ ist. Er hat ihr erzählt, dass die meisten Christen die Stadt verlassen. Das hat mich schockiert. Bisher haben wir immer friedlich miteinander gelebt. Beig: Wird es künftig keine Christen mehr im Irak geben? Yousif: Vor 2003 lebten rund 1,5 Millionen Christen im Irak. Jetzt sind wir bei 400.000 angelangt. In Mossul gab es bis vor kurzem noch 50.000 Christen, nun, mit der Eroberung der Stadt, wurden sie vertrieben. Die restlichen Christen leben im kurdischen Gebiet im Nordirak. 80 Prozent von ihnen wollen das Land verlassen. Die anderen sagen: Wir bleiben und gehen zurück, wenn wir von der UNO oder den Amerikanern geschützt werden. Sie vertrauen niemanden mehr, weder der eigenen Armee noch der Regierung in Bagdad. Die Kirche ist gegen diesen Exodus. Sie weiß, unter welchen Umständen die Christen leben müssen, andererseits will sie nicht, dass alle das Land verlassen. In Mossul gibt es schon seit 1.860 Jahren Christen. Hassan: Die Regierung kann die Christen nicht schützen. Die Gefahr, dass sie ums Leben kommen, besteht überall. Die Hauptbetroffenen sind die Schiiten, die Christen, die Jessiden und andere Minderheiten. Beig: Wie ist die Lage der Schiiten? Hassan: Tausende Schiiten wurden von der IS bereits kaltblütig ermordet. Die schiitischen Soldaten, die jetzt gegen die IS kämpfen, haben keine Erfahrung. Es vergeht kein Tag in Bagdad ohne ein Blutbad an Schiiten. Beig: Warum breitete sich die IS so schnell aus? Hassan: Die IS hat Geld und die besten Waffen. Viele IS-Kämpfer waren Soldaten Saddam Husseins, und der hat drei Kriege geführt. Die irakische Regierung hat mit ihnen nicht koope- riert. Daher gab es lauter Arbeitslose, die nun zu islamistischen Profikämpfern wurden. Mehrere Sunniten haben sich ihnen angeschlossen, weil die bisherige Regierung sie ausgegrenzt hat. Die IS Ein Gespräch zwischen dem irakischen Christen WAIL YOUSIF und seinem Landsmann, dem Schiiten SALEM HASSAN, über die Terrorgruppe „Islamischer Staat“, moderiert von STEFAN BEIG, Leitender Redakteur in der Medienabteilung bei Missio. Der Vormarsch der IS im Irak

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Der Vormarsch der IS im Irak

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Im ✜ Gespräch

WAIL YOUSIF wurde 1970 in der nordirakischen Stadt Kirkuk geboren. Er flüchtete während des Zweiten Golfkriegs und lebt seit 1991 in Österreich, wo er das Studium des Maschinenbaus an der Technischen Universität Wien abschloss. Yousif ist Mitglied des Kirchenrats der chaldäisch-katholischen Gemeinde in Wien und darüber hinaus Mitglied des Pastoralrats in der Erzdiözese Wien für die anderssprachigen Gemeinden.

Stefan Beig: Herr Yousif, Sie stammen aus der nordirakischen Stadt Kirkuk. Haben Sie noch Verwandte dort?

Wail Yousif: Mein Onkel lebt noch dort. Nach der Eroberung von Mossul durch die IS sind seine Frau und seine Kinder in die Türkei geflohen, nur er blieb im Irak zurück.

Salem Hassan: Ich habe vor allem Verwandte in Bagdad. Meine Schwester wohnt in Kirkuk. Sie arbeitet in einer Pensionsversicherungs-anstalt, deren Direktor Christ ist. Er hat ihr erzählt, dass die meisten Christen die Stadt verlassen. Das hat mich schockiert. Bisher haben wir immer friedlich miteinander gelebt.

Beig: Wird es künftig keine Christen mehr im Irak geben?

Yousif: Vor 2003 lebten rund 1,5 Millionen Christen im Irak. Jetzt sind wir bei 400.000 angelangt. In Mossul gab es bis vor kurzem noch 50.000 Christen, nun, mit der Eroberung der Stadt, wurden sie vertrieben. Die restlichen Christen leben im kurdischen Gebiet im Nordirak. 80 Prozent von ihnen wollen das Land verlassen. Die anderen sagen: Wir bleiben und gehen zurück, wenn wir von der UNO oder den Amerikanern geschützt werden. Sie vertrauen niemanden mehr, weder

der eigenen Armee noch der Regierung in Bagdad. Die Kirche ist gegen diesen Exodus. Sie weiß, unter welchen Umständen die Christen leben müssen, andererseits will sie nicht, dass alle das Land verlassen. In Mossul gibt es schon seit 1.860 Jahren Christen.

Hassan: Die Regierung kann die Christen nicht schützen. Die Gefahr, dass sie ums Leben kommen, besteht überall. Die Hauptbetroffenen sind die Schiiten, die Christen, die Jessiden und andere Minderheiten.

Beig: Wie ist die Lage der Schiiten?

Hassan: Tausende Schiiten wurden von der IS bereits kaltblütig ermordet. Die schiitischen Soldaten, die jetzt gegen die IS kämpfen, haben keine Erfahrung. Es vergeht kein Tag in Bagdad ohne ein Blutbad an Schiiten.

Beig: Warum breitete sich die IS so schnell aus?

Hassan: Die IS hat Geld und die besten Waffen. Viele IS-Kämpfer waren Soldaten Saddam Husseins, und der hat drei Kriege geführt. Die irakische Regierung hat mit ihnen nicht koope-riert. Daher gab es lauter Arbeitslose, die nun zu islamistischen Profikämpfern wurden. Mehrere Sunniten haben sich ihnen angeschlossen, weil die bisherige Regierung sie ausgegrenzt hat. Die IS

Ein Gespräch zwischen dem irakischen Christen WAIL YOUSIF und seinem Landsmann, dem Schiiten SALEM HASSAN, über die Terrorgruppe „Islamischer Staat“, moderiert von STEFAN BEIG, Leitender Redakteur in der Medienabteilung bei Missio.

Der Vormarsch der IS im Irak

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SALEM HASSAN wurde 1960 in Bagdad geboren. Er floh 1980, während des Ersten Golfkriegs. Weil sein Cousin Saddam Hussein kritisiert hatte bestand Gefahr für seine Familie. Sein Vater und zwei seiner Brüder wurden später vom Regime ermordet. In Wien arbeitete Hassan zunächst als Islamlehrer, seit 1999 ist er bei Siemens angestellt. Hassan gründete 2013 die Islamisch-Schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich.

betrachtet ihr Territorium als Kalifat. Viele fühlen sich verpflichtet, sich für dieses Kalifat einzu-setzen. Jeder, der in Europa lebt und Komplexe hat, glaubt, dass er dort das Paradies findet, wenn er mit der IS kämpft. Leider gibt es viele Sympa-thisanten. Die Gefahr lauert in der ganzen Welt.

Yousif: Die IS weiß auch, wie wichtig die Medien sind. Sie haben die Enthauptung eines Journalisten gefilmt. So verbreiten sie Angst. Innerhalb weniger Stunden waren alle Dörfer um Mossul leer, weil die Menschen wussten: Die IS kommt jetzt. Der Westen hat zugeschaut.

Beig: Wer unterstützt die IS finanziell?

Hassan: Die Golfstaaten. Ich wundere mich, dass diese Staaten jetzt erklären, sie wollen die IS bekämpfen, denn sie haben sie ursprünglich gegründet. Als Al-Kaida im Irak stark wurde,

hat der jetzige IS-Führer im Irak alle anderen Al-Kaida-Führer – es waren seine internen Gegner – eliminiert und ist dann nach Syrien gezogen. Die Amerikaner dachten: Ein einziger Terrorist sei besser als viele unbekannte, und in Syrien kann man ihn steuern. So konnte die ISIS („Islamischer Staat im Irak und in Syrien“, wie sich IS bis vor kurzem nannte) entstehen. Ein wichtiger Punkt ist: Wenn der Krieg in Syrien nicht aufhört, bleibt Syrien eine offene Hölle, aus der dauernd neues Feuer kommt. Es gibt in Syrien mittlerweile mehr als 20 islamistische Gruppierungen.

Beig: Spielt der Iran im Kampf gegen die IS eine wichtige Rolle?

Hassan: Ohne die Unterstützung des Iran für

„Ist der Westen schuld an

der Lage im Irak?“

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Bagdad hätte IS den Irak schon erobert. Der Iran hat der Regierung mit Beratung und Waffen geholfen. Natürlich: Die Einmischung des Iran hat im Irak bisher viele Probleme verursacht. Zwar sind die Iraker und die Iraner großteils Schiiten, doch sind sie auch verschiedene Völker mit verschiedenen Interessen und Mentalitäten.

Beig: Hilft die chaldäische Gemeinde in Wien den Flüchtlingen im Nordirak?

Yousif: Wir haben an jede Tür geklopft und viele Pfarrgemeinden gebeten, uns zu unterstützen. Eine große Summe Geld schickten wir an unseren Erzbischof in Erbil. Nun konzentrieren wir uns auf Medikamente. Eine erste Lieferung mit 50 Kartons Medikamenten wurde nach Erbil geschickt. Eine zweite Lieferung ist ge-plant. Wir haben auch versucht ältere Menschen hierher zu bringen. Die Menschen leben jetzt in

Flüchtlingszelten und erhalten täglich ein Essenspaket von verschiedenen Organisationen.

Beig: Was sollte Europa tun?

Yousif: Ich finde, die Peschmerga müssen jetzt unterstützt werden. Sie schaffen Sicherheit, nicht nur für Kurden und Christen: Wenn Erbil erobert wird, werden als nächstes die Nachbar-länder drankommen.

Hassan: Man muss den Flüchtlingen helfen. Im Winter droht eine Katastrophe. Und warum gibt es keine Kooperation zwischen den irakischen und den europäischen Sicherheitskräften? Der Irak hat viele Informationen über die Terroristen, die nun nach Europa kommen. Europa schaut nicht genau hin und gewährt ihnen Asyl. ✜

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