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4 Mensch + Architektur 46 | 47 Pieter van der Ree Mensch und Natur als Inspirationsquelle Ursprung, Entwicklung und Aktualität der organischen Architektur Was wir organische Architektur nennen, ist kein Stil, kein Kult, keine Mode, sondern eine wirkliche Bewegung, welche sich auf die Vision einer neuen Integrität des menschlichen Lebens stützt, in dem Kunst, Wissenschaft und Religion eins sind, Form und Inhalt eine Einheit bilden. Frank Lloyd Wright Organische Architektur ist ein beliebter, oft verwendeter, aber auch ein komplizierter und umstrittener Begriff. Er ruft Vorstellun- gen von lebendig gestalteten Bauwerken hervor, die sich harmonisch in ihre Umge- bung einfügen. Er suggeriert sowohl etwas Natürliches als auch Künstlerisches und weckt die Erwartung an eine menschenge- rechte Architektur (Bild1). Was Wunder, dass der Begriff besonders bei Laien beliebt ist. Es ist aber auch ein problematischer Begriff, lässt er sich doch gegenüber anderen Architekturströmungen besonders schwer definieren oder abgrenzen. Sind es die run- den, »natürlichen« Formen, die ein Gebäude schon zu einem »organischen« machen, oder geht es vielmehr um die Frage, inwiefern die Gestaltung eine passende Antwort ist auf die Bauaufgabe? Beides lässt sich vertreten und wird auch tatsächlich zur Begründung herangezogen. Es ist also ein Begriff, der vieldeutig ist und in mannigfaltigster Weise verwendet wird. Noch dazu ist es ein Begriff, der Fach- leuten zuweilen widerstrebt, weil er in sich selbst schon einen Widerspruch zu enthalten scheint: Ist es nicht eindeutig, dass Archi- tektur leblos ist, nicht zur lebendigen Natur gehört? Wieso soll ihre Gestaltung sich dann an der lebendigen Natur orientieren, ja sogar selbst »organisch« werden? Ist das nicht eine gebaute Lüge, etwas Unechtes oder zumin- dest Gekünsteltes? Dieser Widerspruch entsteht durch die unbewusste Neigung, Architektur als etwas Selbständiges zu betrachten. Wir beurteilen Bauwerke oft als autonome Objekte auf Grund ihrer ästhetischen Reize oder tech- nischen Innovationen. Es gibt aber keine autonome Architektur. Gebäude sind immer eingebettet in be- stimmte Lebenszusammenhänge. Sie werden von Menschen zu einem spezifischen Zwecke errichtet und während ihrer Existenz von Menschen benutzt und instandgehalten. Die verwendeten Baumaterialien haben einen eigenen Charakter, sind aus den Kreisläufen 1

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Pieter van der Ree

Mensch und Natur a l s I n sp i ra t ionsque l l e

Ursprung, Entwicklung

und Aktualität der

organischen Architektur

Was wir organische Architektur nennen, istkein Stil, kein Kult, keine Mode, sondern eine wirkliche Bewegung, welche sich aufdie Vision einer neuen Integrität des menschlichen Lebens stützt, in dem Kunst,Wissenschaft und Religion eins sind, Formund Inhalt eine Einheit bilden.

Frank Lloyd Wright

Organische Architektur ist ein beliebter, oftverwendeter, aber auch ein komplizierterund umstrittener Begriff. Er ruft Vorstellun-gen von lebendig gestalteten Bauwerkenhervor, die sich harmonisch in ihre Umge-bung einfügen. Er suggeriert sowohl etwasNatürliches als auch Künstlerisches undweckt die Erwartung an eine menschenge-rechte Architektur (Bild 1). Was Wunder, dassder Begriff besonders bei Laien beliebt ist.

Es ist aber auch ein problematischerBegriff, lässt er sich doch gegenüber anderenArchitekturströmungen besonders schwerdefinieren oder abgrenzen. Sind es die run-den, »natürlichen« Formen, die ein Gebäudeschon zu einem »organischen« machen, odergeht es vielmehr um die Frage, inwiefern die Gestaltung eine passende Antwort ist aufdie Bauaufgabe? Beides lässt sich vertretenund wird auch tatsächlich zur Begründung

herangezogen. Es ist also ein Begriff, dervieldeutig ist und in mannigfaltigster Weiseverwendet wird.

Noch dazu ist es ein Begriff, der Fach-leuten zuweilen widerstrebt, weil er in sichselbst schon einen Widerspruch zu enthaltenscheint: Ist es nicht eindeutig, dass Archi-tektur leblos ist, nicht zur lebendigen Naturgehört? Wieso soll ihre Gestaltung sich dannan der lebendigen Natur orientieren, ja sogarselbst »organisch« werden? Ist das nicht einegebaute Lüge, etwas Unechtes oder zumin-dest Gekünsteltes?

Dieser Widerspruch entsteht durch dieunbewusste Neigung, Architektur als etwasSelbständiges zu betrachten. Wir beurteilenBauwerke oft als autonome Objekte aufGrund ihrer ästhetischen Reize oder tech-nischen Innovationen.

Es gibt aber keine autonome Architektur.Gebäude sind immer eingebettet in be-stimmte Lebenszusammenhänge. Sie werdenvon Menschen zu einem spezifischen Zweckeerrichtet und während ihrer Existenz vonMenschen benutzt und instandgehalten. Dieverwendeten Baumaterialien haben eineneigenen Charakter, sind aus den Kreisläufen

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der Natur herausgenommen und werdennach kürzerer oder längerer Zeit wiederzurückgeführt. Wenn man diese natürlichenund menschlichen Zusammenhänge mit insBewusstsein nimmt, löst sich der Wider-spruch sofort. Organische Architektur lässtsich dann charakterisieren als eine Architek-tur, welche sich bezüglich ihrer Gestaltungan den Lebenszusammenhängen orientiert,in die sie einverwoben ist, denen sie als»Organ« zu dienen sucht und in ihrer Ge-staltung Ausdruck verleiht. Eine derartigeGestaltung ist nicht Selbstzweck, sondernwird angstrebt, um das Leben des Menschenzu bereichern und Bewusstsein für dieseZusammenhänge zu wecken.

Pioniere der organischen ArchitekturEntstanden ist die organische Architektur inder Zeit um 1900 aus mehreren, teilweisesehr unterschiedlichen Quellen. Ihren Pio-nieren gemeinsam ist, dass sie sich gegen dieVeräußerlichung der Form in den Neo-Stilenwehrten und versuchten, die neuen Möglich-keiten der Technik auf künstlerisch befriedi-gende Weise in die Architektur zu integrieren.

Sie liessen sich dabei durch Prinzipiender lebendigen Natur inspirieren. So wie die

Natur zu ihren gleichermaßen vernünftigenwie ästhetischen Lösungen kommt, so solltenauch Architekten und Gestalter beim Entwurfihrer Kulturprodukte verfahren. Vorallem dieEinheit von Form und Inhalt, von Funktion,Konstruktion und Ästhetik war dabei höchstesIdeal.

Diesen Pionieren war Natur dabei mehrals ein zufälliges Zusammenwirken materi-eller Kräfte. Für Louis Sullivan (1856-1924)und Frank Lloyd Wright (1867-1959) war sieeine Art Lebenskraft, die der ganzen Natureinschließlich dem Menschen innewohnt. Für Antoní Gaudí (1852-1926) war sie dieSchöpfung Gottes, in der man Rat holenkonnte für die eigene Entwurfsarbeit; undfür Rudolf Steiner (1861-1925) war sie diesichtbare Seite einer schöpferisch-geistigenWelt.

An dieser geistdurchwobenen Wirklich-keit hat auch der Mensch als natürliches undgeistiges Wesen Anteil. Architektur verfolgtdaher nicht nur einen praktischen Zweck,sondern hat auch die Aufgabe, dem Men-schen diese Beziehung zur geistigen Seiteder Natur bewusst zu machen und ihn mitdiesem Urquell zu verbinden. Architektur sollalso nicht nur dem Körper Schutz bieten,

Bild 1Treppenhaus der Gasunie,Groningen, Niederlande,Alberts & Van Huut,1989-1994

Bild 2Whiting Residence, SunValley, Idaho, Bart Prince,1989-91

Bild 3Haus Fallingwater, BearRun, Pennsylvania, FrankLloyd Wright, 1935-39

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sondern auch eine Hülle sein für Seele undGeist. Somit ist es letztendlich die mensch-liche Würde selbst, die Ausgangspunkt undZiel alles organischen Bauens bildet.

Es liegt der organischen Architektur dieÜberzeugung zu Grunde, dass die gebauteUmwelt nicht nur Ausdruck ihrer Zeit undKultur ist, sondern auch auf das äußere undinnere Leben des Menschen zurückwirkt. DieUmgebung, in der wir leben, bietet bestimmteMöglichkeiten und nährt uns durch einenständigen Strom von Sinneseindrücken. Diesevermitteln Werte und lenken das Bewusst-sein in eine bestimmte Richtung. Deshalb istes nicht gleichgültig, in welcher Umgebungwir aufwachsen und später leben.

Diese Überzeugung ist allen organischenArchitekten gemeinsam. Die Art und Weise,wie sie sich durch die lebendige Natur inspi-rieren lassen und wie sie dem menschlichenWohle dienen wollen ist aber sehr unter-schiedlich. Es lassen sich dabei vier Haupt-richtungen unterscheiden. Die beiden Ersterenorientieren sich mehr an der äußeren, diebeiden Letzteren an der menschlichen Natur.

Die Beziehung zur umgebenden NaturDie erste Richtung entstand zum Ende des19. Jahrhunderts in den Vereinigten Statenund ging aus von den Werken Louis Sullivansund Frank Lloyd Wrights. Beide stammtenvon Emigranten aus Irland bzw. Wales ab undhatten ihren keltischen Wurzeln gemäß einestarke Beziehung zur Natur und Landschaft.

Louis Sullivan entdeckte, dass in derNatur Form und Funktion immer eine Einheitbilden, dass die Funktion oder das Weseneines Organismus das eigentliche Prinzip ist,das die Form schafft und organisiert. DieseEinsicht führte zu seiner berühmt geworde-nen Aussage: »Form follows Funtion«, welcheer zur Grundlage seiner Architektur machte.

Das Verhältnis von Architektur zu Land-schaft nimmt besonders im Werke FrankLloyd Wrights eine wichtige Stellung ein. Erwollte seine Bauten auf harmonische Weisein ihre natürliche Umgebung eingliedern.Wie die Pflanze aus der Erde hervorwächstund sich dem Lichte öffnet, wollte er seineBauten mit ihrem Standort verbinden undsie der Umgebung sich öffnen lassen. Umdies zu erreichen, bevorzugte er oft örtliche,natürliche Baumaterialien. So nahm er dieSteine für sein berühmtes Haus Fallingwateraus einem Steinbruch ganz in der Nähe undverlegte sie gemäß ihrer natürlichen Bruch-richtung. Dazu versuchte er, mittels gläsernerFassaden und auskragender Balkone dieBegrenzungen des Innenraumes weitgehendaufzulösen und eine lebendige Beziehungvon Innen und Außen herzustellen. Das Haus und seine Umgebung sollten einandergegenseitig bereichern (Bild 3).

Dieses Streben ist auch heute nochcharakteristisch für viele nordamerikanischeorganische Architekten. Zwar ist die Formen-sprache von Architekten wie Bart Prince undKendrick Bangs Kellogg viel freier und plas-tischer als die von Sullivan und Wright, ihre

Bild 4Gewölbe der SagradaFamilia, Barcelona,Antoní Gaudí, 1883-1926

Bild 5Planetarium der Stadtder Künste und derWissenschaften, Valencia,Spanien, SantiagoCalatrava, 1991-1998

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Gestaltung orientiert sich aber genauso ander umgebenden Natur, ja sie scheint fastaus der Morphologie der Landschaft heraus-zuwachsen (s.S.30ff und Bild 2).

Natürliche KonstruktionenDie zweite Richtung lässt sich ebenfalls primärvon der äußeren Natur inspirieren, tut diesaber auf ganz andere Art: Nicht die Land-schaft als Ganzes steht hier im Vordergrund,sondern deren einzelne Organismen. Wasdaran interessiert, ist deren Gestaltung, Konstruktion und Organisation der Lebens-prozesse. Wie ist zum Beispiel die tragendeStruktur eines Baumes aufgebaut? Wie nimmtdas Skelett eines Tieres oder Menschen Druck-und Zugkräfte auf?

Die Früchte dieser Blickrichtung lassensich sehr schön an den Arbeiten AntoníGaudís nachweisen. Als er einmal gefragtwurde, woher er die Inspiration für die Ge-staltung der verzweigten Säulen der SagradaFamilia erhielt, wies er auf den Baum nebenseiner Werkstatt: Wie der Schöpfer dessenStamm verzweigen lasse in einzelne Äste, diedas Blätterdach tragen, so verzweige er seineSäulen, um das Gewölbe des Kirchenschiffesaufzufangen (Bild 4).

Es ist auffallend, dass es besonders süd-europäische Architekten und Konstrukteuresind wie Pier Luigi Nervi (1891-1979) undSantiago Calatrava (geb. 1951), die sichdurch solche natürlichen Konstruktioneninspirieren lassen. Calatrava hat z.B. vieleStudien von Tierskeletten und der mensch-lichen Gestalt angefertigt. Seine Skizzen-bücher zeigen, dass viele seiner Entwürfekünstlerisch-technische Umsetzungen vonPrinzipien darstellen, die er dem Bau vonOrganismen abgelauscht hat (Bild 5).

Der Bezug zur Landschaft spielt beidiesen Architekten eine eher untergeordneteRolle. Meistens stehen ihre Gebäude alsunabhängige Objekte an ihrem Platze oderbilden sich, wie im Falle des Planetariums inValencia, sogar ihre eigene, künstliche Um-gebung. Besonders ausgeprägt hingegen istdas Interesse an Materialien, ihrer Leistungs-fähigkeit und Aussagekraft. Durch plastischeFormgebung und bei Gaudí auch durchüppige Farbigkeit wird die Gestalt eines Bau-werkes für die Sinne wie zum Leben erweckt.

Die Beziehung zum MenschenIm Mitteleuropa entstanden zwei Richtun-gen der organischen Architektur, die sich

weniger an der äußeren Natur als vielmehran dem menschlichen Leben orientierten. Die eine ist das »organhafte bauen« vonHugo Häring (1882-1958) und Hans Scha-roun (1893-1972), die andere die anthropo-sophisch-organische Architektur RudolfSteiners.

Für Häring und Scharoun sollte ein Ge-bäude das praktische, soziale und kulturelleLeben der Menschen unterstützen und wieein »Organ« seiner Funktion dienen. DieGestalt eines Gebäudes oder Gebrauchsge-genstandes sollte nicht von außen bestimmtwerden, durch irgendeinen ihm fremdenGesichtspunkt, sondern von innen heraus,aus dem Wesen der Entwurfsaufgabe selbst.

So handelte es sich für Scharoun beidem Entwurf der Philharmonie in Berlindarum, die Musik so nahe wie möglich andie Zuhörer zu bringen. Er stellte dazu dieMusiker buchstäblich in den räumlichenMittelpunkt (Bild 6). Im Gegensatz dazudienen die Foyerräume der Erholung, der Be-wegung und der zwanglosen Begegnung. Zudiesem Zwecke sind sie als fließendes Raum-kontinuum locker um den zentral gelegenenSaal gruppiert.

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und geistigen Welt repräsentieren. In diesemSpannungsfeld findet die Entwicklung desMenschen und der Welt statt. Ihren Ausdruckfindet diese Entwicklung in den Metamorpho-sen von Kapitellen und Sockeln, in den Kup-pelmalereien und farbigen Fenstern (Bild 7).

Auch in seinen anderen Entwürfenstrebte er eine Gestaltung an, in der die Teileeines Gebäudes sich untereinander wie Organeeines lebenden Organismus verhalten. Siemetamorphosieren sich aus einem Baumotiv,das bildhafter Ausdruck der Bauaufgabe ist(Bild 8). Mit dieser Gestaltung möchte er beidem Betrachter ein Bewusstsein wecken fürEntwicklungsprozesse und geistige Zusam-menhänge.

Es ist zu betonen, dass es sich bei dieserkurzen Charakterisierung der verschiedenenRichtungen um Schwerpunkte handelt undnicht um bloße Einseitigkeiten. Fast jeder der beschriebenen Aspekte taucht auch inden anderen Strömungen auf, nur bleibensie dort mehr im Hintergrund oder werdenanders behandelt. Auch machten die be-schriebenen Architekten im Laufe ihres

Lebens natürlich selbst Entwicklungen durch,in denen sie oft neue Aspekte ihrem ur-sprünglichen Ausgangspunkt hinzufügten.Obwohl ihre jeweiligen Schwerpunkte sehrunterschiedlich sind, können sie auch alseinander ergänzende Aspekte betrachtetwerden.

Die weitere Entwicklung der organischen ArchitekturNachdem die organische Architektur in den30 er Jahren des 20. Jahrhunderts fast völligzu verschwinden schien, erlebte sie nachdem Zweiten Weltkrieg und besonders abden 70 er Jahren eine überraschende Wieder-geburt. Diese fand nicht nur in Europa,sondern auch in Amerika und Australienstatt. Ermöglicht wurde dieser Aufschwungdurch die ökonomische Blüte, welche ab den 60 er Jahren einsetzte. Erklären lässt sie sich als eine Reaktion auf die oft mono-tone und trostlose Architektur der Wieder-aufbaujahre. Architektur sollte wieder ab-wechslungsreich und phantasievoll werden,der Mensch sollte wieder im Mittelpunktstehen!

Bemerkenswert ist auch die Sorgfalt, mitder Scharoun in seinen Entwürfen für Woh-nungs-, Siedlungs- und Städtebau versuchte,Raum zu schaffen für das menschliche Zu-sammenleben in Familie und Gesellschaft.

Das innere Leben des MenschenIn den Entwürfen Rudolf Steiners bildet dasInteresse an dem inneren Leben des Men-schen den Ausgangspunkt. Wie in seinerAnthroposophie nimmt auch in seiner Archi-tektur das Prinzip der Entwicklung eine zentrale Stellung ein. Entwicklung findetstatt im Spannungsfeld von Wesen undErscheinung und ist gekennzeichnet durchstufenweise Umgestaltung einer Form in diefolgende. Dieses Prinzip der »Metamorphose«wurde von Goethe (1749-1832) beim Stu-dium der Pflanzen- und Tierwelt entdecktund durch Steiner auf Kunst und Architekturübertragen. Besonders deutlich wird dies inseinem Entwurf für das Erste Goetheanum,dem Zentrum der anthroposophischen Be-wegung. Das Motiv dieses Gebäudes bestehtaus zwei sich durchdringenden Kuppeln,welche das Ineinanderwirken der materiellen

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Dieses Anliegen passte sehr wohl zu denursprünglichen Impulsen der organischenArchitektur. Zahlreiche Architekten ließensich denn auch inspirieren durch die Arbeitenvon Wright, Steiner, Aalto und Scharoun. Sieverbanden aber deren ursprüngliche Impulsemit örtlichen Bautraditionen, neuen Tech-niken und persönlichen Interessen. Hierdurchentstand eine neue Vielfalt an Annähe-rungen und Ausdrucksformen. So z. B. inSchweden, wo Erik Asmussen (1913-1998)aus anthroposophischer Inspiration herauseine neue Variante der schwedischen Holz-bautradition schuf (Bild 10). Oder in Ungarn,wo Imre Makovecz gegen den Plattenbau desKommunismus anging und in Anknüpfungan die ungarische Volksbaukunst eine ex-pressive, eigenständige Art von organischerArchitektur entwickelte (s.S. 44 und Bild 11).

Auch tauchten völlig neue Themen auf,wie in Kanada und Australien bei der Begeg-nung mit den einheimischen Kulturen:Anstatt diese zu unterdrücken, wie es früheroft geschah, wurde nun versucht, im Dialogneue Formen zu finden, in denen sie ihreEigenheit entfalten können. Besonders dieBauten, welche Gregory Burgess ab den 90 er Jahren in Australien für verschiedeneUreinwohner-Stämme entwarf, sind gelun-gene Beispiele für eine gegenseitige Be-fruchtung traditioneller und westlicherKultur. Durch ihre Gestaltung fügen sie sichnicht nur harmonisch in die Landschaft,sondern verkörpern für die Aborigines auchden Mythos des Ortes (siehe Seite 36 ff).

Neue Herausforgerungen Obwohl die organische Architektur sich anvielen Orten der Welt noch immer weiter-entwickelt, kann die Frage aufkommen, in-wiefern sie als eine über hundert Jahre alteArchitekturströmung noch Aktualitätswerthat. Sicherlich sind viele Beispiele, wie schönsie auch sein mögen, mittlerweile nicht mehrganz aktuell oder sogar überholt. Das dahin-terstehende Ideal aber, Rücksicht zu nehmenauf die natürlichen und menschlichen Zu-sammenhänge, in denen ein Gebäude steht,und diese durch die Architektur zu unter-stützen, kann kaum als überholt gelten. Vieleher ist es so, dass diese Rücksichtnahmenotwendiger ist denn je. Die Natur, an dersich die organische Architektur so gerne orientierte, ist durch Umweltverschmutzungstark gefährdet, die traditionellen sozialenZusammenhänge sind auseinandergefallenund das innere Leben des Menschen wirdüberflutet durch Medien, Informationen undZeitvertreib.

Bild 6Philharmonie Berlin,Deutschland, HansScharoun, 1960-63

Bild 7Innenansicht des ErstenGoetheanums, Dornach,Schweiz, Rudolf Steiner,1913-1922, Rekonstruk-tionszeichnung: Albertvon Baravalle

Bild 8Schornstein des Heiz-hauses, Dornach,Schweiz, Rudolf Steiner,1914

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Statt sich noch länger aus diesen tradi-tionellen Quellen nähren zu können, bedürfendiese selbst der Pflege. Besonders im städ-tischen Raum scheint die Zeit reif für eineArchitektur, die die Voraussetzungen schafft,neue Lebenszusammenhänge entstehen undsich entfalten lassen zu können. Anstatt einHaus – wie z. B. Fallingwater – wunderschönin unberührter Natur einzubetten, stellt sichheute viel eher die Aufgabe, wie im Falle derING Bank in Amsterdam, neue ökologischeOasen im städtischen Raum anzubieten(Bild 9).

Und dies gilt genauso für das soziale undkulturelle Leben. Auch im sozialen Bereichgibt es diesbezüglich interessante Beispiele,wo Bewohner selbst Projekte oder sogarSiedlungen initiieren. Durch den gemein-samen Prozess entstehen sowohl neue sozialeZusammenhänge als auch ein neues Verant-wortlichkeitsgefühl für die eigene Umwelt.

Bild 9Dachgarten der ING-Bank, Amsterdam, Alberts& Van Huut und Copijn,1979-1987

Bild 10Rudolf Steiner Seminar,Järna, Schweden, ErikAsmussen, seit 1968

Bild 11Turmdetail der Kirchevon St. Stephan inSzàzhalompatta, Ungarn,Imre Makovecz, 1993-96

Alle Fotos: P. van der Ree

Pieter van der Ree (geb.1958) arbeitet als selb-ständiger Architekt in den Niederlanden. Er ist Autordes Buches »Organische Architektur« und Kurator derWanderausstellung »Organische Architektur, Menschund Natur als Inspirationsquelle«.

Damit soll nicht gesagt sein, dass dieGestaltung selbst weniger wichtig gewordenist. Formen sind noch immer der unmittel-bare Ausdruck von Intentionen, Gefühlenund Gedanken ihrere Entwerfer und habenauch noch immer die Fähigkeit, bestimmteEmpfindungen bei den Menschen wach zurufen. Sie könnten sogar erheblich dazubeitragen, das Bewusstsein gerade auf dieseneuen Herausforderungen zu lenken.

So scheint mir die organische Architekturbesonders geeignet, dem Denken in Pro-zessen und Zusammenhängen – was ja demökologischen Bauen zu Grunde liegt – durchGestaltung sichtbaren Ausdruck zu verleihen.Sie kann uns Bilder vor Augen führen voneinem neuen Gleichgewicht von Natur undKultur, von Technik, Kunst und Ökologie,oder – mehr innerlich betrachtet – vonDenken, Fühlen und Wollen. Die Frage istnur, welche Intentionen wir unserer gebau-ten Umwelt zugrunde legen wollen.

Wir leben zunehmend in einer von Men-schen gestalteten und von Maschinen domi-nierten Welt. Dies macht die Frage nachihrer Gestaltung umso aktueller. Dabei ist zubedenken, dass unsere Umgebung nur dort,wo sie belebt und beseelt ist, auch belebendund beseelend auf uns zurückwirken kann.

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