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Analysis I–III (2012–14) Frank M¨ uller 10. Februar 2014

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Analysis I–III (2012–14)

Frank Muller

10. Februar 2014

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Dieses Skript umfasst den Stoff der Vorlesungen Analysis I bis III gehalten imWintersemester 2012/13, Sommersemester 2013 und Wintersemester 2013/14. Diekleingedruckten Passagen enthalten erganzende Informationen (in den ersten funfKapiteln ist das der Stoff der in fruheren Semestern angebotenen Erganzungen).

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Inhaltsverzeichnis

1 Zahlen, Folgen, Reihen 1

1 Zahlen und Korper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

2 Vollstandige Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3 Die Definition der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

4 Folgen und Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

5 Vollstandigkeit reeller Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

6 Punktmengen in R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

7 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

8 Konvergenzkriterien fur Reihen (in C) . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

9 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

10 Der d-dimensionale Raum und metrische Raume . . . . . . . . . . . 67

2 Funktionen und Stetigkeit 81

1 Beispiele und Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . 81

2 Der Stetigkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

3 Kompakta und gleichmaßige Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

4 Funktionenfolgen und gleichmaßige Konvergenz . . . . . . . . . . . . 94

3 Differential- und Integralrechnung 99

1 Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

2 Lokale Extrema, Mittelwertsatz, Konvexitat . . . . . . . . . . . . . . 106

3 Die elementaren Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

4 Das eindimensionale Riemannsche Integral . . . . . . . . . . . . . . . 124

5 Integration und Differentiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

6 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

7 Die Taylorsche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

4 Differentialrechnung 157

1 Partielle Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

2 Mittelwertsatz und Differentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

3 Partielle Ableitungen hoherer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

3

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4 Taylorformel und lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1775 Inverse Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1856 Der Satz uber implizite Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

5 Das n-dimensionale Riemannsche Integral 1991 Das Integral uber Quader . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1992 Unstetigkeitsstellen und Heine-Borel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2073 Integration uber quadrierbare Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2164 Die Transformationsformel fur Testfunktionen . . . . . . . . . . . . . 2255 Uneigentliche Integrale & Transformationsformel . . . . . . . . . . . 2316 Anhang: Verwendetes und Weiterfuhrendes . . . . . . . . . . . . . . 239

6 Integration auf Mannigfaltigkeiten 2431 Multilinear- und Differentialformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2432 Untermannigfaltigkeiten des Rn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2573 Der Satz von Stokes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2654 Gaussscher und klassischer Stokesscher Satz . . . . . . . . . . . . . . 270

7 Lebesguesche Integrationstheorie 2791 Das Lebesguesche Maß und messbare Raume . . . . . . . . . . . . . 2802 Messbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2913 Lebesgue-integrierbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2964 Vergleich mit Riemanns Integral; der Satz von Fubini . . . . . . . . . 3095 Die Lp-Raume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

8 Gewohnliche Differentialgleichungen 3231 Elementare Losungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

(A) Gleichungen mit getrennten Variablen . . . . . . . . . . . . . 323(B) Lineare Differentialgleichungen 1.Ordnung . . . . . . . . . . . 325(C) Die Differentialgleichung y′ = f( yx) . . . . . . . . . . . . . . . 327

2 Exakte Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3283 Der Banachsche Fixpunktsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3314 Existenz und Eindeutigkeit bei Systemen 1.Ordnung . . . . . . . . . 3335 Lineare Systeme 1.Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3366 Lineare Gleichungen n-ter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

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Kapitel 1

Zahlen, Folgen, Reihen

1 Zahlen und Korper

Grundlegend fur alle Mathematik sind selbstverstandlich die Zahlen. Und nach demdeutschen Mathematiker Leopold Kronecker sind die

”einzig gottlichen Zahlen“ die

naturlichen ZahlenN := 1, 2, 3, . . .

oder zusammen mit dem Nullelement 0:

N0 := N ∪ 0 = 0, 1, 2, 3, . . ..

Nehmen wir noch die negativen Zahlen hinzu, so erhalten wir die ganzen Zahlen:

Z := x : x ∈ N0 oder − x ∈ N = 0,±1,±2,±3, . . ..

(Hier sehen Sie ubrigens die drei typischen Schreibweisen von Mengen: die aufzahlen-de Schreibweise, die Definition als Vereinigung, Durchschnitt, Differenz, ... von an-deren Mengen und die Definition durch Angabe der Eigenschaften ihrer Elemente.)

Je zwei Zahlen a, b ∈ Z lassen sich verknupfen durch Addition a + b ∈ Z undMultiplikation a · b = ab ∈ Z, wie wir sie aus der Schule kennen. Bezuglich derAddition von ganzen Zahlen haben wir folgende Rechenregeln, die wir als gegebenannehmen wollen:

Axiome der Addition.

(A1) Kommutativitat: Fur alle a, b ∈ Z gilt a+ b = b+ a.

(A2) Assoziativitat: Fur alle a, b, c ∈ Z gilt (a+ b) + c = a+ (b+ c).

(A3) Existenz des Nullelements 0: Es existiert ein neutrales Element 0 ∈ Z, d.h. furalle a ∈ Z gilt a+ 0 = a.

(A4) Existenz des Negativen: Fur alle a ∈ Z existiert ein −a ∈ Z, so dass a+(−a) =0 richtig ist.

1

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2 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Die Existenz des Negativen (A4) zeichnet die ganzen Zahlen gegenuber N0 aus.Zusatzlich haben wir das folgende

Distributivgesetz.

(D) Fur alle a, b, c ∈ Z gilt a · (b+ c) = a · b+ a · c.

Bemerkung: Man kann die naturlichen Zahlen mittels der Peanoschen Axiome zu-sammen mit der Addition und Multiplikation induktiv erklaren und anschließenddurch die Losung der Gleichungen n+x = 0 fur n ∈ N formal auf die ganzen Zahlenerweitern; siehe z.B. Rannachers Skript, Abschnitt 1.2.

Innerhalb der ganzen Zahlen konnen i.A. keine Gleichungen der Form

q · x = p fur gegebene p ∈ Z, q ∈ N (1.1)

gelost werden. Hierzu erweitern wir Z auf die Menge der rationalen Zahlen

Q :=x =

p

q: p ∈ Z, q ∈ N

,

wobei x = pq fur die (eindeutige) Losung der Gleichung (1.1) steht. Wir verzichten

auf die formal exakte Definition uber Aquivalenzklassen und verweisen wieder aufRannachers Skript, Abschnitt 1.2. (Mit x = p

q lost auch apaq fur jedes a ∈ N die Glei-

chung (1.1); diese”ungekurzten“ Bruche mussten identifiziert werden.) Die Arbeit

mit Aquivalenzklassen werden wir spater bei der Konstruktion der reellen Zahlenuben. Man beachte noch, dass sich fur q = 1 die Losung von (1.1) zu x = p ∈ Zergibt, d.h. wir haben Z ⊂ Q.

Wir zeigen unten in Satz 1.1, dass in Q zusatzlich zu den Gesetzen (A1)–(A4)und (D) (nun naturlich fur a, b, c ∈ Q) auch die folgenden Regeln gelten:

Axiome der Multiplikation.

(M1) Kommutativitat: Fur alle a, b ∈ Q gilt a · b = b · a.(M2) Assoziativitat: Fur alle a, b, c ∈ Q gilt (a · b) · c = a · (b · c).(M3) Existenz des Einselements 1: Es existiert ein neutrales Element 1 ∈ Q \ 0,

d.h. fur alle a ∈ Q gilt a · 1 = a.

(M4) Existenz der Inversen: Fur alle a ∈ Q \ 0 existiert ein a−1 ∈ Q, so dassa · a−1 = 1 richtig ist.

Naturlich gelten (M1)–(M3) schon in Z, wesentlich ist also die Existenz derInversen (M4). In obigen Axiomen haben wir ubrigens Addition und Multiplikationwie folgt auf Q fortgesetzt: Fur x1 =

p1q1, x2 =

p2q2

∈ Q setzen wir

x1 + x2 :=p1q2 + p2q1

q1q2∈ Q, x1 · x2 = x1x2 :=

p1p2q1q2

∈ Q. (1.2)

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1. ZAHLEN UND KORPER 3

Dies scheint Ihnen naturlich aus der Schule vollig klar (Regeln der Bruchrechnung),ergibt sich aber erst aus der Definition der rationalen Zahlen und den gewunschtenRechenregeln als einzig sinnvolle Wahl!

Definition 1.1: Ein Tripel (K,+, ·) heißt Korper mit der nichtleeren GrundmengeK und den Rechenoperationen +, ·, wenn mit a, b ∈ K auch a+b ∈ K und a·b ∈ K giltund die Korperaxiome (A1)–(A4), (M1)–(M4) und (D) fur beliebige Elemente ausK erfullt sind. Wenn klar ist, welche Rechenoperationen benutzt werden, schreibenwir auch einfach K fur den betrachten Korper.

Bemerkung: In einem Korper konnen wir noch Subtraktion und Division erklaren:

a− b := a+ (−b) ∈ K fur a, b ∈ K,a

b:= a · b−1 ∈ K fur a ∈ K, b ∈ K \ 0.

Wie bereits oben behauptet haben wir den:

Satz 1.1: Die Menge Q der rationalen Zahlen ist (zusammen mit + und ·) einKorper.

Beweis: Fur den Beweis durfen wir die Rechenregeln (A1)–(A4), (M1)–(M3) und (D) nur in Zanwenden, wo wir diese ja als bekannt vorausgesetzt haben; wir schreiben dafur (A1)Z usw.

1. Wir beginnen mit den Axiomen der Addition: (A1) konnen wir direkt nachrechnen: Mitx1 = p1

q1, x2 = p2

q2haben wir wegen (A1)Z, (M1)Z und der Definition (1.2):

x1 + x2 =p1q2 + p2q1

q1q2

(A1)Z,(M1)Z=p2q1 + p1q2

q2q1= x2 + x1.

Ist zusatzlich x3 = p3q3, so finden wir weiter

(x1 + x2) + x3 =p1q2 + p2q1

q1q2+p3q3

=(p1q2 + p2q1)q3 + p3(q1q2)

(q1q2)q3

(D)Z,(M1)Z=((p1q2)q3 + (q1p2)q3) + p3(q2q1)

(q1q2)q3

(A2)Z,(M2)Z=p1(q2q3) + (q1(p2q3) + (p3q2)q1)

q1(q2q3)

(M1)Z,(D)Z=p1(q2q3) + (p2q3 + p3q2)q1

q1(q2q3)

=p1q1

+p2q3 + p3q2

q2q3= x1 + (x2 + x3),

also (A2). Zum Beweis von (A3) und (A4) sei zunachst q ∈ N beliebig. Dann gilt nach (A3)Zund (D)Z:

q · 0 = q · (0 + 0) = q · 0 + q · 0,also q · 0 = 0 nach Subtraktion von q · 0 auf beiden Seiten unter Beachtung von (A2)Z und(A4)Z. Folglich lost x = 0 die Gleichung (1.1) mit p = 0, d.h. wir haben nach der Definitionder rationalen Zahlen:

0 =0

qfur alle q ∈ N.

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4 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Sei nun x = pqmit p ∈ Z, q ∈ N beliebig. Dann erhalten wir mit (1.2):

x+ 0 =p

q+

0

1=p · 1 + q · 0

q · 1(M3)Z=

p+ 0

q

(A3)Z=p

q= x,

also (A3). Schließlich folgern wir mit dem Negativen −x := −pq

∈ Q von x noch:

x+ (−x) = p

q+

−pq

=pq + (−p)q

q · q(M1)Z,(D)Z=

(p+ (−p))qq · q

(A4)Z=0

q· qq

(M3)Z=0

q= 0,

d.h. (A4) ist erfullt.

2. Die Axiome der Multiplikation: Die Gesetze (M1) und (M2) folgen in einfacher Weise aus derDefinition (1.2) und den entsprechenden Gesetzen in Z, ganz analog zum Beweis von (A1),(A2) in Teil 1. Wegen 1 = 1

1haben wir fur x = p

q:

x · 1 =p

q· 11=p · 1q · 1

(M3)Z=p

q= x,

also (M3). Das Inverse zu x = pq= 0 (d.h. p = 0) erklaren wir zu

x−1 :=

qp, falls p ∈ N

−q−p , falls − p ∈ N

∈ Q.

Im ersten Fall ist dann offenbar x · x−1 = 1, wenn man noch pp

(M3)Z= 1 fur beliebige p ∈ Nbeachtet. Im zweiten Fall benotigen wir noch die folgende Beobachtung: Fur beliebiges p ∈ Zgilt

p+ (−1) · p (M3)Z,(M1)Z= p · 1 + p · (−1)(D)Z= p · (1 + (−1)) = p · 0 = 0,

also −p = (−1)p. Damit berechnen wir

x · x−1 =p

q· −q−p

(M1)Z=p · ((−1) · q)

(−p) · q(M1)Z,(M2)Z=

(−p) · q(−p) · q = 1,

also (M4).

3. Schließlich beweisen wir das Distributivgesetz (D) in Q: Mit x1 = p1q1, x2 = p2

q2, x3 = p3

q3berechnen wir

x1 · (x2 + x3) =p1q1

· p2q3 + p3q2q2q3

(D)Z=p1(p2q3) + p1(p3q2)

q1(q2q3)

(M3)=

(p1(p2q3) + p1(p3q2))q1(q1(q2q3))q1

(D)Z,(M2)Z=((p1p2)q3)q1 + ((p1p3)q2)q1

((q1q2)q3)q1

(M2)Z,(M1)Z=(p1p2)(q1q3) + (p1p3)(q1q2)

(q1q2)(q1q3)

=p1p2q1q2

+p1p3q1q3

= x1 · x2 + x1 · x3.

Also ist Q ein Korper. q.e.d.

Es stellt sich nun heraus, dass auch der Bereich der rationalen Zahlen i.A. nichtausreicht. Z.B. besitzt die einfache Gleichung

x2 = 2 (1.3)

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1. ZAHLEN UND KORPER 5

keine Losung in Q. Ware namlich x = pq eine Losung mit p ∈ Z, q ∈ N teilerfremd,

so musste also (pq )2 = p2

q2= 2 bzw. p2 = 2q2 gelten. Damit ware aber p2 und daher

auch p durch 2 teilbar, d.h. p = 2l mit einem l ∈ Z und folglich

q2 =p2

2= 2l2.

Also ware auch q2 und somit q durch 2 teilbar, im Widerspruch zur Annahme, dassp und q teilerfremd sind.

Bemerkung: Wir haben soeben ein wichtiges Beweisprinzip in der Mathematik be-nutzt, den indirekten Beweis oder Beweis durch Widerspruch: Um unter den Voraus-setzungen (V) eine Aussage (A) zu beweisen, nimmt man an, dass (A) falsch ist undzeigt, dass dann eine der Voraussetzungen (V) oder eine andere, bereits bewieseneAussage (B) nicht erfullt sein kann. Hierbei benutzt man eine der Grundannahmender Mathematik: Eine Aussage (A) ist entweder wahr oder falsch.

Aus der Schule wissen wir, dass x =√2 ein guter Kandidat zur Losung von (1.3)

ist. Nach dem eben Gesagten ist aber√2 keine rationale Zahl. Wir werden spater

Q konstruktiv durch einen Abschlussprozess auf den Bereich der reellen Zahlen Rerweitern. R entspricht dann der gesamten Zahlengeraden.

Um schließlich auch Gleichungen wie

x2 + 1 = 0

losen zu konnen, werden wir R zu den komplexen Zahlen C erweitern; diese kannman sich in der Gaußschen Zahlenebene veranschaulichen. Insgesamt haben wir alsodie Zahlenbereiche

N ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R ⊂ C.

Die großten Bereiche Q,R,C haben die Eigenschaft, Korper im Sinne der Definiti-on 1.1 zu sein; fur Q haben wir dies bereits gezeigt, fur R und C wird dies aus derKonstruktion folgen. Hingegen sind N und Z keine Korper; beiden fehlt die Inverse,d.h. (M4) ist verletzt, den naturlichen Zahlen fehlt auch das Negative und sogar dasNullelement 0.

Ein Korper muss nach (A3) und (M3) mindestens zwei Elemente enthalten,namlich das Nullelement 0 und das Einselement 1. Umgekehrt kann man jede zwei-elementige Menge M = x, y durch geeignete Definition der Verknupfungen zueinem Korper machen:

+ x y

x x yy y x

und

· x y

x x xy x y

(1.4)

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6 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Hierbei wird x als Nullelement und y als Einselement interpretiert.Wir werden nun einige Folgerungen der Korperaxiome angeben, deren Aussagen

Ihnen zum Teil offensichtlich erscheinen mogen. Allerdings gelten diese Rechenre-geln in beliebigen Korpern, also z.B. auch fur die komplexen Zahlen. Durch dieseVorgehensweise ersparen wir uns spater ermudende Wiederholungen.

Satz 1.2: In einem Korper (K,+, ·) gelten folgende Rechenregeln:

(a) Die Gleichung a + x = b besitzt fur beliebig vorgegebene a, b ∈ K genau eineLosung x ∈ K. Insbesondere sind das Nullelement 0 und das negative Elementeindeutig bestimmt.

(b) Die Gleichung ax = b besitzt fur beliebig vorgegebene a ∈ K \ 0, b ∈ K genaueine Losung x ∈ K. Insbesondere sind das Einselement 1 und das inverseElement eindeutig bestimmt.

(c) Fur alle x ∈ K gilt x · 0 = 0 und (−1) · x = −x.

(d) Fur alle x ∈ K gilt −(−x) = x und falls zusatzlich x = 0 auch (x−1)−1 = x.

(e) Fur alle x, y ∈ K \ 0 ist xy = 0 richtig.

(f) Fur alle x, y ∈ K ist −(x + y) = −x − y richtig und falls zusatzlich x, y = 0gilt auch (xy)−1 = x−1y−1.

Beweis:

(a) Wir zeigen zunachst, dass x := b+ (−a) = b− a die Gleichung a+ x = b lost,d.h. wir beweisen die Existenz einer Losung :

a+ x = a+ (b− a)(A1)= a+ ((−a) + b)

(A2)= (a+ (−a)) + b

(A4)= 0 + b

(A1)= b+ 0

(A3)= b.

Die Eindeutigkeit der Losung ergibt sich wie folgt: Angenommen es gibt zweiLosungen x1, x2, d.h.

a+ x1 = b = a+ x2.

Addieren wir von rechts auf beiden Seiten −a, so folgt

(a+ x1) + (−a) = (a+ x2) + (−a)(A1),(A2)=⇒ x1 + (a+ (−a)) = x2 + (a+ (−a))(A4)=⇒ x1 + 0 = x2 + 0(A3)=⇒ x1 = x2,

wie behauptet.

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1. ZAHLEN UND KORPER 7

(b) Existenz: x := a−1b ist Losung, denn

ax = a(a−1b)(M2)= (aa−1)b

(M4)= 1 · b (M1)

= b · 1 (M3)= b.

Eindeutigkeit: Fur zwei Losungen x1, x2 hatten wir ax1 = b = ax2 und nach Multiplikationmit a−1 von rechts:

(ax1)a−1 = (ax2)a

−1

(M1),(M2)=⇒ x1(aa

−1) = x2(aa−1)

(M4)=⇒ x1 · 1 = x2 · 1(M3)=⇒ x1 = x2.

(c) x · 0 = 0: Nach (A3) gilt 0 + 0 = 0 und folglich

x · 0 + x · 0 (D)= x · (0 + 0) = x · 0.

Addition von −(x ·0) auf beiden Seiten von rechts (und Ausnutzen der Axiome(A2), (A4) und (A3)) liefert die Behauptung.

(−1) · x = −x: Es gilt

x+ (−1) · x (M3),(M1)= x · 1 + x · (−1)

(D)= x · (1 + (−1))

(A4)= x · 0 = 0.

Die Eindeutigkeit des Negativen – siehe (a) – liefert die Behauptung.

(d) −(−x) = x: Per Definition ist −(−x) erklart durch die Gleichung −x+ (−(−x)) = 0. Ande-rerseits gilt auch

−x+ x(A1)= x+ (−x) (A4)

= 0.

Da aber die Losung y ∈ K der Gleichung −x+y = 0 nach (a) eindeutig ist, folgt x = −(−x).

(x−1)−1 = x: Wegen x = 0 ist auch x−1 = 0; ware namlich x−1 = 0, so hatten wir

1 = x · x−1 = x · 0 (c)= 0,

im Widerspruch zu (M3). Also ist (x−1)−1 erklart, namlich als Losung von x−1(x−1)−1 = 1.Andererseits haben wir

x−1x(M1)= xx−1 (M4)

= 1.

Da aber die Gleichung x−1y = 1 nach (b) eine eindeutige Losung y ∈ K besitzt folgt x =

(x−1)−1.

(e) Beweis durch Widerspruch: Angenommen, es gibt x, y ∈ K \ 0 mit xy = 0.Nach Multiplikation mit y−1 (beachte y = 0) von rechts folgt

x(M3)= x · 1 (M4)

= x(yy−1)(M2)= (xy)y−1 = 0 · y−1 (c)

= 0,

also ein Widerspruch zur Voraussetzung x = 0. Somit ist die Behauptungrichtig.

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8 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(f) −(x+y) = −x−y: Per Definition ist (x+y)+(−(x+y)) = 0 richtig. Andererseits berechnenwir m.H. von (A1)-(A4):

(x+ y) + (−x− y) = x+ (y + (−y − x)) = x+ ((y + (−y))− x)

= x+ (0− x) = x+ ((−x) + 0) = x+ (−x) = 0.

Da wieder nach (a) die Gleichung (x+y)+z = 0 eindeutig losbar ist, folgt −(x+y) = −x−y.(xy)−1 = x−1y−1: Da sowohl z = (xy)−1 als auch z = x−1y−1 die Gleichung (xy)z = 1 losen– letzteres sieht man analog zur obigen Rechnung unter Benutzung von (M1)-(M4) – liefertdie Eindeutigkeitsaussage in (b) sofort (xy)−1 = x−1y−1.

q.e.d.

Bemerkung: In Mehrfachsummen und Mehrfachprodukten lassen wir i.F. die Klam-mern meist weg, also a+b+c+ . . . und a ·b ·c · . . . fur a, b, c, . . . ∈ K, denn wegen (A2)und (M2) spielt die Reihenfolge der Summierung bzw. Multiplikation keine Rolle.Ebenso konnen wir in Mehrfachsummen und Mehrfachprodukten die Reihenfolgeder Summanden bzw. Faktoren beliebig vertauschen.

Fur das in der Analysis wesentliche Rechnen mit Ungleichungen benotigen wirnoch eine

”Anordnung“, wir mussen also entscheiden konnen, ob ein Element eines

Korpers”großer“ oder

”kleiner“ als ein anderes Element ist. Hierzu verwenden wir

die folgende

Definition 1.2: Wir nennen einen Korper K angeordnet, wenn gewisse Elementex ∈ K als positiv ausgezeichnet sind (in Zeichen: x > 0), wobei folgende Regelnerfullt seien:

Anordnungsaxiome

(O1) Fur jedes x ∈ K gilt genau eine der drei Beziehungen

x > 0, x = 0, −x > 0.

Die x ∈ K mit −x > 0 heißen die negativen Elemente.

(O2) Fur alle x, y ∈ K mit x > 0 und y > 0 gilt

x+ y > 0 und xy > 0.

Bemerkungen:

1. (O1) ist das sogenannte Trichotomiegesetz, bei (O2) spricht man von der Ab-geschlossenheit von

”>“ bezuglich der Addition und Multiplikation.

2. Der Korper Q der rationalen Zahlen ist naturlich angeordnet mittels

x > 0 :⇐⇒ x =p

qmit p, q ∈ N

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1. ZAHLEN UND KORPER 9

Dann sind die x = pq mit −p, q ∈ N gerade die negativen Zahlen. Dies entspricht

unserer Vorstellung der Anordung von Q auf der Zahlengeraden (vgl. auchDefinition 1.3 unten).

3. Aus der Konstruktion von R wird folgen, dass auch die reellen Zahlen einenangeordneten Korper bilden. Hingegen stellt sich C als nicht angeordneterKorper heraus.

4. Auch der Korper (x, y,+, ·) mit den in (1.4) erklarten Relationen +, · kannnicht angeordnet werden: Da x das Nullelement ist, musste fur y entweder y >x oder −y > x gelten. Per Definition ist −y ∈ x, y Losung von y+(−y) = x.Nach (1.4) ist dann aber −y = y, Widerspruch!

Definition 1.3: (Großer- und Kleinerrelation)In einem angeordneten Korper definieren wir:

x > y :⇐⇒ x− y > 0,

x < y :⇐⇒ y > x ⇐⇒ y − x > 0,

x ≥ y :⇐⇒ x > y oder x = y,

x ≤ y :⇐⇒ x < y oder x = y.

Satz 1.3: In einem angeordneten Korper K gelten folgende Aussagen:

(a) Fur je zwei Elemente x, y ∈ K gilt genau eine der Relationen

x < y, x = y, x > y.

(b) Transitivitat: Fur alle x, y, z ∈ K gilt: x < y und y < z implizieren x < z.

(c) Translationsinvarianz: Fur alle x, y, a ∈ K gilt: Aus x < y folgt x+ a < y + a.

(d) Skalierungsinvarianz: Fur alle x, y, a ∈ K mit x < y und a > 0 gilt xa < ya.

(e) Spiegelung: Fur alle x, y ∈ K mit x < y haben wir −x > −y.

(f) Fur alle x ∈ K \ 0 ist x2 > 0 richtig; insbesondere gilt 1 > 0.

(g) Fur jedes x ∈ K mit x > 0 ist x−1 > 0 erfullt.

(h) Fur alle x, y ∈ K mit 0 < x < y gilt x−1 > y−1.

Bemerkung: Wegen Satz 1.3 (a) sind in einem angeordneten Korper fur je zwei Ele-mente x, y ∈ K das Minimum und Maximum wohl definiert:

minx, y :=

x, falls x ≤ y

y, sonst, maxx, y :=

x, falls x ≥ y

y, sonst.

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10 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis von Satz 1.3: Wir werden die Korperaxiome und deren Folgerungen ausSatz 1.2 ohne Kommentar benutzen.

(a) Wende (O1) auf x− y an und benutze Definition 1.3.

(b) Per Voraussetzung ist y − x > 0 und z − y > 0, so dass (O2) liefert

z − x = (y − x) + (z − y) > 0 bzw. x < z.

(c) Aus der Voraussetzung y − x > 0 folgt sofort

(y + a)− (x+ a) = y − x > 0 bzw. x+ a < y + a.

(d) Wegen y − x > 0 und a > 0 liefert (O2)

ya− xa = (y − x)a > 0 bzw. xa < ya,

wie behauptet.

(e) Es gilt (−x)− (−y) = y − x > 0 nach Voraussetzung, also −x > −y.

(f) Fur x > 0 folgt x2 = x · x > 0 aus (O2).

Fur x < 0 multiplizieren wir diese Ungleichung mit −x > 0 durch und erhaltenaus (d): −x2 < 0 bzw. x2 = −(−x2) > 0 nach Definition 1.3.

Schließlich beachten wir noch 1 = 1 · 1 > 0.

(g) Es sei x > 0 und angenommen es gilt x−1 < 0, d.h. −x−1 > 0. Aus (O2) folgt dann aber

−1 = −xx−1 = x(−x−1) > 0 bzw. 1 < 0,

im Widerspruch zu (f).

(h) Wegen x > 0 und y > x erhalten wir aus (b) auch y > 0 und (O2) liefert xy > 0: Aus (g)folgt also

x−1y−1 = (xy)−1 > 0.

Wenden wir nun (d) mit a = x−1y−1 auf die Ungleichung x < y an, so folgt

y−1 = x−1y−1x(d)< x−1y−1y = x−1,

wie behauptet. q.e.d.

Wie bereits angemerkt, gibt es Korper, die nicht angeordnet werden konnen,wie etwa die komplexen Zahlen C. Manchmal kann man aber zumindest einen

”Ab-

standsbegriff“ einfuhren, die Elemente also in einem gewissen Sinne”bewerten“:

Definition 1.4: Ein Korper K heißt bewerteter Korper, wenn eine Abbildung | · | :K → K existiert, die jedem Element x ∈ K eindeutig ein Element |x| ∈ K zuordnetund fur die folgende Regeln gelten:

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1. ZAHLEN UND KORPER 11

(a) Positivitat: Fur jedes x ∈ K gilt |x| ≥ 0 und |x| = 0 ⇐⇒ x = 0.

(b) Multiplikativitat: Fur alle x, y ∈ K gilt |x · y| = |x| · |y|.

(c) Dreiecksungleichung: Fur beliebige x, y ∈ K haben wir |x+ y| ≤ |x|+ |y|.

Die Abbildung | · | : K → K nennt man dann auch Betragsfunktion.

Wir werden spater sehen, dass C ein bewerteter Korper ist. Bevor wir Rechen-regeln in bewerteten Korpern ableiten wollen, zeigen wir, dass jeder angeordneteKorper auch bewertet ist; dies gilt also insbesondere fur Q und spater auch fur R:

Satz 1.4: Zu einem x ∈ K aus dem angeordneten Korper K erklaren wir den(Absolut-)Betrag als

|x| :=

x, falls x ≥ 0

−x, sonst. (1.5)

Dann ist K mit der Betragsfunktion aus (1.5) ein bewerteter Korper.

Bemerkung: Fur den in (1.5) erklarten Absolutbetrag gilt

|x| = maxx,−x fur alle x ∈ K

und folglich−|x| ≤ x ≤ |x| fur alle x ∈ K;

dies folgt sofort aus Satz 1.3 (b) und (e) .

Beweis von Satz 1.4: Wir haben die drei Eigenschaften (a)-(c) aus Definition 1.4nachzuprufen (die Regeln aus Satz 1.2 benutzen wir kommentarlos).

(a) Sowohl |x| ≥ 0 fur alle x ∈ K als auch die Aquivalenz |x| = 0 ⇐⇒ x = 0entnimmt man sofort der Definition des Betrages und Definition 1.3.

(b) Falls x ≥ 0, y ≥ 0, so gilt xy ≥ 0 gemaß (O2) und folglich auch

|xy| = xy = |x| |y|.

Falls x < 0, y ≥ 0, so folgt xy ≤ 0 nach Satz 1.3 (d); also finden wir

|xy| = −(xy) = (−x)y = |x| |y|.

Entsprechend lasst sich der Fall x ≥ 0, y < 0 behandeln.

Gelte schließlich x < 0, y < 0, also −x > 0,−y > 0. Dann liefert (O2):

xy = −(−x)y = (−x)(−y) > 0.

Also haben wir auch in diesem Fall

|xy| = xy = (−x)(−y) = |x| |y|.

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12 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(c) Wegen x ≤ |x|, y ≤ |y| haben wir nach Satz 1.3 (c):

x+ y ≤ |x|+ y ≤ |x|+ |y|.

Entsprechend folgt aus −x ≤ |x|, −y ≤ |y| auch

−(x+ y) = −x− y ≤ |x|+ |y|.

Insgesamt ergibt sich also

|x+ y| = maxx+ y,−(x+ y) ≤ |x|+ |y|,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 1.5: (Rechnen in bewerteten Korpern)Sei K ein bewerteter Korper mit Betragsfunktion | · | : K → K.

(a) Fur jedes x ∈ K ist | − x| = |x| richtig.

(b) Fur jedes x ∈ K \ 0 ist |x−1| = |x|−1 erfullt.

(c) Fur beliebige x, y ∈ K gilt |x− y| ≥∣∣|x| − |y|

∣∣.(d) Fur alle x, y ∈ K mit y = 0 gilt

∣∣∣xy

∣∣∣ = |x||y|

.

Beweis:

(a) Die Multiplikativitat liefert fur x = y = 1 zunachst |1| = |1 · 1| = |1| · |1|bzw. 1 = |1|. Setzen wir x = y = −1 ein, so folgt 1 = |1| = |(−1)(−1)| = |−1|2.Wegen der Positivitat ist | − 1| > 0 richtig. Aufgrund von

0 = | − 1|2 − 12 = (| − 1| − 1)(| − 1|+ 1),

muss also | − 1| = 1 gelten. Fur beliebige x ∈ K finden wir nun

| − x| = |(−1)x| = | − 1| |x| = 1 · |x| = |x|,wie behauptet.

(b) Wegen xx−1 = 1 und |1| = 1 liefert die Multiplikativitat:

|x| |x−1| = |xx−1| = |1| = 1.

Also ist |x−1| das inverse Element zu |x|, d.h. |x|−1 = |x−1|.

(c) Mit der Dreiecksungleichung berechnen wir

|x| = |(x− y) + y| ≤ |x− y|+ |y| bzw. |x| − |y| ≤ |x− y|

und

|y| = |(y − x) + x|(a)

≤ |x− y|+ |x| bzw. − (|x| − |y|) ≤ |x− y|,also

|x− y| ≥ max|x| − |y|,−(|x| − |y|)

=∣∣|x| − |y|

∣∣.

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2. VOLLSTANDIGE INDUKTION 13

(d) Mit der Relation (b) und der Multiplikativitat berechnen wir∣∣∣xy

∣∣∣ = |xy−1| = |x| |y−1| = |x| |y|−1 =|x||y| ,

wie behauptet. q.e.d.

Beispiel: Im Korper R erklart man das arithmetische bzw. geometrische Mittel zweier Zahlen x, y ≥ 0gemaß

mA(x, y) :=1

2(x+ y), mG(x, y) :=

√xy.

Fur diese gilt die Ungleichung mA(x, y) ≥ mG(x, y). In der Tat haben wir fur a :=√x und b :=

√y:

0 ≤ (a− b)2 = a2 − 2ab+ b2 ⇐⇒ 1

2(a2 + b2) ≥ ab,

also1

2(x+ y) ≥ √

xy.

Gleichheit tritt ubrigens genau dann auf, wenn x = y richtig ist. Das Rechnen in R, insbesonderemit rationalen Potenzen, werden wir spater genauer entwickeln.

Fur den spateren Gebrauch bemerken wir noch, dass Q sogar ein archimedischangeordneter Korper ist, d.h. neben den Ordnungsaxiomen (O1) und (O2) gilt nochFolgendes:

Archimedisches Axiom.

(O3) Zu je zwei Elementen x, y ∈ Q mit x, y > 0 existiert eine naturliche Zahln ∈ N, so dass gilt

nx > y.

Zum Beweis von (O3) in Q seien x = pq , y = r

s mit p, q, r, s ∈ N zwei beliebiggewahlte, positive rationale Zahlen. Wahlen wir dann n := rq + 1 ∈ N, so folgt

nx = (rq + 1)p

q= rp+

p

q=r

s(ps) +

p

q≥ y · 1 + x > y,

wie behauptet. Wir werden hieraus folgern, dass auch R archimedisch angeordnetist.

Bemerkung: Archimedes hat (O3) geometrisch formuliert: Hat man zwei Streckenauf einer Geraden, so kann man, in dem man die kurzere hinreichend oft abtragt,die langere ubertreffen.

2 Vollstandige Induktion

Wir lernen nun ein wichtiges Beweisprinzip kennen und anwenden, welches daraufberuht, dass jede Zahl n ∈ N0 = N ∪ 0 einen eindeutig definierten Nachfolger,

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14 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

namlich n + 1 ∈ N, besitzt. Will man jetzt eine Aussage A(n) fur alle n ≥ n0 miteinem n0 ∈ N0 beweisen (d.h. man mochte eigentlich unendlich viele Aussagen A(n)in Abhangigkeit von n zeigen), dann geht man wie folgt vor:

Beweisprinzip der vollstandigen Induktion.Eine Aussage A(n) gilt fur alle n ∈ N0 mit n ≥ n0 ∈ N0, falls man folgendes beweisenkann:

(IA) Induktionsanfang: Die Aussage A(n0) ist richtig.

(IS) Induktionsschritt: Fur alle n ≥ n0 gilt: Wenn A(n) richtig ist, so ist auchA(n+ 1) richtig.

Die Wirkungsweise ist klar: Sind (IA) und (IS) erfullt und angenommen, esexistiert ein n > n0, fur das A(n) nicht gilt. Wegen (IS) ist dann auch A(n − 1)falsch und dann A(n− 2), A(n− 3) usw. Nach n− n0 Schritten wurde also folgen,dass auch A(n0) falsch ist, im Widerspruch zu (IA).

Als erste Anwendung beweisen wir den

Satz 2.1: (Bernoullische Ungleichung)Sei K ⊃ N ein angeordneter Korper und x ∈ K mit x ≥ −1 sei gewahlt. Dann giltfur alle n ∈ N0 die Ungleichung

(1 + x)n ≥ 1 + nx.

Bemerkung: Die n-te Potenz ist dabei fur a ∈ K wie folgt induktiv erklart:

a0 := 1, an+1 := an · a fur n ∈ N.

Fur a = 0 erhalten wir dann auch negative Potenzen:

a−n := (a−1)n fur alle n ∈ N.

Rechenregeln: Fur alle a, b ∈ K \ 0 und n,m ∈ Z gilt:

(i) anam = an+m.

(ii) (an)m = anm.

(iii) anbn = (ab)n.

Beweis von Satz 2.1: mittels vollstandiger Induktion.

(IA) n = 0: Wir haben zu zeigen, dass A(0) gilt, also in unserem Fall

(1 + x)0 ≥ 1 + 0 · x.

Das ist offenbar richtig.

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2. VOLLSTANDIGE INDUKTION 15

(IS) n→ n+1: Es sei A(n), also (1+x)n ≥ 1+nx, fur ein n ∈ N0 richtig (genanntInduktionsvoraussetzung (IV)). Zu zeigen ist A(n+ 1), d.h.

(1 + x)n+1 ≥ 1 + (n+ 1)x.

Hierzu berechnen wir m.H. der Induktionsvoraussetzung (beachte 1 + x > 0):

(1 + x)n+1 = (1 + x)n(1 + x)(IV )

≥ (1 + nx)(1 + x)

= 1 + nx+ x+ nx2 ≥ 1 + (n+ 1)x,

d.h. A(n + 1) gilt. Also ist auch der Induktionsschritt (IS) erfullt und nachdem Prinzip der vollstandigen Induktion gilt die Aussage fur alle n ∈ N0.

q.e.d.

Satz 2.2: Fur jede naturliche Zahl n ∈ N gilt

1 + 2 + 3 + . . .+ n =n(n+ 1)

2.

Bemerkung: Die Punkte deuten an, dass die Summation in der gleichen Weise fort-gesetzt wird. Dies kann man m.H. von Summen- und Produktzeichen wie folgt kom-pakter schreiben:

Hat man viele, eventuell unendlich viele Variablen, so benutzt man statt a, b, c, . . .sinnvoller die Bezeichnungen a1, a2, a3, . . .. Die naturlichen Zahlen 1, 2, 3, . . . heißenhierbei Indizes und dienen der Unterscheidung der Variablen ak, k ∈ N.

Fur n ∈ N Variablen a1, a2, . . . , an setzen wir

n∑k=1

ak := a1 + a2 + . . .+ an (Summe),

n∏k=1

ak := a1 · a2 · . . . · an (Produkt).

Hierbei kann man die Indexmenge 1, . . . , n naturlich auch durch andere (endliche)Teilmengen von N oder allgemeiner von Z ersetzen. Die Formel in Satz 2.2 liest sichnun (ak := k fur k = 1, . . . , n):

n∑k=1

k =n(n+ 1)

2.

Beweis von Satz 2.2: mit vollstandiger Induktion.

(IA) n = 1: Offenbar gilt1∑

k=1

k = 1 und 1·(1+1)2 = 1, d.h. A(1) ist korrekt.

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16 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(IS) n→ n+1: Die Induktionsvorraussetzungn∑k=1

= n(n+1)2 gelte fur ein n ∈ N. Fur

den Beweis von (IS) berechnen wir m.H. der Induktionsvoraussetzung (IV):

n+1∑k=1

k =

n∑k=1

k + (n+ 1)(IV )=

n(n+ 1)

2+ (n+ 1)

=n(n+ 1) + 2(n+ 1)

2=

(n+ 1)(n+ 2)

2,

d.h. es folgt A(n+ 1). Somit gilt die Aussage fur alle n ∈ N. q.e.d.

Satz 2.3: (geometrische Reihe)Fur alle x ∈ K \ 1 im Korper K und alle n ∈ N gilt

n−1∑k=0

xk =1− xn

1− x.

Beweis (vollstandige Induktion):

(IA) n = 1: Es gilt∑0

k=0 xk = x0 = 1 und 1−x1

1−x = 1, also A(1).

(IS) n → n + 1: Die zu beweisende Relation gelte fur festes n ∈ N (IV). Wirberechnen dann

(n+1)−1∑k=0

xk =

n∑k=0

xk =

n−1∑k=0

xk + xn(IV )=

1− xn

1− x+ xn

=1− xn + xn(1− x)

1− x=

1− xn+1

1− x,

wie behauptet. q.e.d.

Definition 2.1: Wir erklaren fur n, k ∈ N0 die Binomialkoeffizienten(n

k

):=

k∏j=1

n− j + 1

j=n(n− 1) · . . . · (n− k + 1)

1 · 2 · . . . · k.

Bemerkung: Offenbar gilt(n

k

)=

n!

k!(n−k)! , falls k ≤ n

0, falls k > n

mit der bekannten Fakultat :

0! := 1, n! :=n∏l=1

l.

Insbesondere halten wir(n0

)= 1,

(n1

)= n und

(nk

)=(n

n−k)fur k ≤ n fest.

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2. VOLLSTANDIGE INDUKTION 17

Hilfssatz 2.1: Fur alle naturlichen Zahlen k, n ∈ N gilt die Relation(n

k

)=

(n− 1

k − 1

)+

(n− 1

k

).

(Veranschaulichung: Pascalsches Dreieck).

Beweis: Fur k ≥ n ist nach obiger Bemerkung nichts zu zeigen. Sei also k < n. Dannfinden wir (

n− 1

k − 1

)+

(n− 1

k

)=

(n− 1)!

(k − 1)!(n− k)!+

(n− 1)!

k!(n− k − 1)!

=k(n− 1)! + (n− 1)!(n− k)

k!(n− k)!

=n!

k!(n− k)!=

(n

k

),

wie behauptet. q.e.d.

Satz 2.4: (Binomischer Lehrsatz)Sei K Korper und n ∈ N0 beliebig. Dann gilt fur alle a, b ∈ K die Identitat

(a+ b)n =

n∑k=0

(n

k

)akbn−k. (2.1)

Beweis: durch vollstandige Induktion uber n.

(IA) n = 0: Wegen x0 = 1 fur alle x ∈ K haben wir

0∑k=0

(0

k

)akb0−k = 1 = (a+ b)0,

d.h. (IA) gilt.

(IS) n→ n+ 1: (2.1) gelte fur festes n ∈ N0. Wir beachten

(a+ b)n+1 = (a+ b)na+ (a+ b)nb

und formen die Terme getrennt um. Zunachst gilt

(a+ b)nb(IV )=

n∑k=0

(n

k

)akbn−k+1 =

n+1∑k=0

(n

k

)akbn−k+1,

wobei wir noch(nn+1

)= 0 benutzt haben. Zur Behandlung des Terms (a + b)na verwenden

wir noch die offensichtliche Beziehung

n∑k=0

xk+1 =

n+1∑k=1

xk (Indexverschiebung)

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18 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

fur beliebige Summanden x1, x2, . . . , xn+1 ∈ K. Wir erhalten

(a+ b)na(IV )=

n∑k=0

(n

k

)ak+1bn−k =

n+1∑k=1

(n

k − 1

)akbn−k+1.

Insgesamt ergibt sich also unter Beachtung von Hilfssatz 2.1:

(a+ b)n+1 =

n+1∑k=1

(n

k − 1

)akbn−k+1 +

n+1∑k=0

(n

k

)akbn−k+1

=

n+1∑k=1

[(n

k − 1

)+

(n

k

)]akbn−k+1 +

(n

0

)a0bn+1

HS 2.1=

n+1∑k=1

(n+ 1

k

)akbn+1−k +

(n+ 1

0

)a0bn+1−0

=

n+1∑k=0

(n+ 1

k

)akbn+1−k,

also Relation (2.1) fur n+ 1. q.e.d.

3 Die Definition der reellen Zahlen

Wir haben die Notwendigkeit der Einfuhrung der reellen Zahlen bereits erkannt, dadie Losung von x2−2 = 0 nicht rational ist, was ubrigens schon in der Antike bekanntwar. Aus der Schule wissen wir, dass die positive Losung x =

√2 eine unendliche

Dezimalbruchdarstellung besitzt

√2 = 1, 414213562 . . .

(bekannt sind ungefahr die ersten 5 Millionen Nachkommastellen!) Wenn wir dieDarstellung an der n-ten Nachkommastelle abbrechen, haben wir

xn :=

n∑k=0

ak10k

∈ Q fur n = 1, 2, . . . (3.1)

mit Zahlen ak ∈ 0, 1, 2, . . . , 9 fur alle k ∈ N0 (a0 = 1, a1 = 4, a2 = 1, . . . ).

Definition 3.1: Eine Abbildung f : N → K vermoge n 7→ xn := f(n) heißtZahlenfolge xnn∈N (oder xnn, xnn=1,2,...) im Korper K. Wir schreiben kurzxnn∈N ⊂ K. Das Element xn heißt n-tes Glied der Zahlenfolge. Fur K = Q spre-chen wir von rationalen (Zahlen-)Folgen.

Die Idee ist nun, die rationale Zahlenfolge xnn∈N mit den in (3.1) erklartenGliedern mit der irrationalen Zahl

√2 zu identifizieren. Dazu schatzen wir die

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3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 19

”Streuung“ der Folge wie folgt ab: Fur beliebiges N ∈ N seien m,n ≥ N undo.B.d.A. n > m. Dann folgt

|xn − xm| =

∣∣∣∣ n∑k=0

ak10k

−m∑k=0

ak10k

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ n∑k=m+1

ak10k

∣∣∣∣Def. 1.4 (c)

≤n∑

k=m+1

∣∣∣ ak10k

∣∣∣ ≤n∑

k=m+1

10

10k=

n∑k=m+1

( 1

10

)k−1

l:=k−m−1=

n−m−1∑l=0

( 1

10

)l+m=( 1

10

)m n−m−1∑l=0

( 1

10

)lSatz 2.3

=( 1

10

)m 1− ( 110)

n−m

1− 110

≤( 1

10

)m 1

1− 110

= 109

(110

)m≤ 10

9

(110

)N.

(3.2)

Wir benotigen nun noch folgenden

Hilfssatz 3.1: Sei b ∈ Q positiv, so gilt:

(a) Ist b > 1, so existiert zu jedem K ∈ Q mit K > 0 ein n ∈ N mit der Eigenschaftbn > K.

(b) Ist 0 < b < 1, so existiert zu jedem δ ∈ Q mit δ > 0 ein n ∈ N mit derEigenschaft bn < δ.

Beweis:

(a) Wegen b > 1 ist x := b− 1 > 0 richtig. Also ist die Bernoullische Ungleichung,Satz 2.1, anwendbar: Fur alle n ∈ N gilt

bn = (1 + x)n ≥ 1 + nx.

Nach dem Archimedischen Axiom (O3), welches ja in Q gilt, konnen wir nunn ∈ N speziell so wahlen, dass nx > K ausfallt. Dann folgt

bn ≥ 1 + nx > 1 +K > K.

(b) Wegen 0 < b < 1 ist b := 1b > 1 richtig. Nach (a) existiert zu K := 1

δ ein n ∈ Nmit

bn > K ⇐⇒ bn = (bn)−1 < K−1 = δ,

wie behauptet. q.e.d.

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20 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass die Aussage von Hilfssatz 3.1 richtig bleibt, wennwir Q durch einen beliebigen, archimedisch angeordneten Korper K ⊃ N ersetzen.

Wir wenden nun Hilfssatz 3.1 auf unsere Ungleichung (3.2) an mit b = 110 < 1

und δ = 910ε > 0 fur beliebig gewahltes ε ∈ Q mit ε > 0. Es existiert also ein

N = N(ε) ∈ N mit

|xn − xm| ≤10

9

( 1

10

)N<

10

9δ = ε fur alle m,n ≥ N(ε). (3.3)

Das bedeutet, die”Streuung“ der Folge xnn wird fur hinreichend große Glieder

beliebig klein.

Die Ungleichung (3.2) und damit auch (3.3) gilt ubrigens fur beliebige rationaleFolgen der Form (3.1) mit ak ∈ 0, 1, 2, . . . , 9.

Definition 3.2: Eine rationale Zahlenfolge xnn heißt Cauchyfolge, wenn gilt: Zujedem ε ∈ Q mit ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N so, dass

|xn − xm| < ε fur alle m,n ≥ N(ε)

erfullt ist.

Definition 3.3: Eine rationale Zahlenfolge xnn heißt Nullfolge, falls gilt: Zu je-dem rationalen ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N so, dass

|xn| < ε fur alle n ≥ N(ε)

richtig ist. Man sagt auch, xnn konvergiert gegen 0.

Bemerkungen:

1. Jede Nullfolge ist auch Cauchyfolge: Wahle N = N(ε) ∈ N so, dass |xn| < ε2

fur alle n ≥ N(ε) gilt. Dann folgt fur m,n ≥ N(ε):

|xn − xm| ≤ |xn|+ |xm| <ε

2+ε

2= ε.

Die Umkehrung ist naturlich falsch, wie etwa das Beispiel xnn = 1+(12)nn

zeigt.

2. Beispiel: 1nn ist Nullfolge. In der Tat existiert nach (O3) zu jedem rationalen

ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N mit Nε > 1. Also folgt∣∣∣ 1n

∣∣∣ = 1

n≤ 1

N< ε fur alle n ≥ N(ε).

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3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 21

Wir wollen nun die reellen Zahlen durch rationale Cauchyfolgen darstellen. Daaber einige Folgen, wie wir sehen werden, die gleiche reelle Zahl darstellen, mussenwir diese identifizieren im Sinne einer Aquivalenzrelation:

Definition 3.4: Eine Aquivalenzrelation auf einer beliebigen Menge M ist eineBeziehung zwischen je zwei ihrer Elemente a, b ∈M , in Zeichen a ∼ b, mit folgendenEigenschaften: Fur jedes geordnete Paar (a, b) ∈M ×M steht fest, ob a ∼ b richtigoder falsch ist, und es gelten:

(R) Reflexivitat: Fur alle a ∈M gilt: a ∼ a.

(S) Symmetrie: Fur alle a, b ∈M gilt: a ∼ b =⇒ b ∼ a.

(T) Transitivitat: Fur alle a, b, c ∈M gilt: a ∼ b und b ∼ c =⇒ a ∼ c.

Zwei Elemente a, b ∈ M nennen wir aquivalent, wenn a ∼ b gilt. Zu a ∈ M heißtdie Menge

[a] :=x ∈M : x ∼ a

die zugehorige Aquivalenzklasse. Ein x ∈ [a] nennen wir dann Reprasentant derAquivalenzklasse [a].

Bemerkung: Jedes Element a ∈ M gehort zu genau einer Aquivalenzklasse. Wirkonnen also M als disjunkte Vereinigung ihrer Aquivalenzklassen darstellen:

M =∪a∈M

[a].

Bevor wir auf der Menge aller rationalen Cauchyfolgen eine Aquivalenzrelationerklaren, geben wir noch ein paar einfache

Beispiele:

1. Die Gleichheitsrelation auf einem geordneten Korper K ist eine Aquivalenzre-lation. Fur je zwei Zahlen a, b ∈ K gilt namlich entweder a = b oder a = b undoffenbar sind (R), (S) und (T) erfullt.

2. Die Ungleichrelation (nicht reflexiv und transitiv), die Kleinerrelation (nicht reflexiv undsymmetrisch) und die Kleinergleichrelation (nicht symmetrisch) sind z.B. keine Aquivalenz-relationen.

3. Auf der Menge G aller Geraden in der Ebene ist durch die Relation

g1 ∼ g2 :⇐⇒ g1 ist parallel zu g2

eine Aquivalenzrelation definiert. Die Aquivalenzklasse von g ∈ G sind die zu g parallelenGeraden.

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22 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

4. Fur M = Z definiert

a ∼ b :⇐⇒ a− b

2∈ Z

eine Aquivalenzrelation. Die zugehorigen Aquivalenzklassen sind die geraden und die unge-

raden Zahlen.

Satz 3.1: Auf der Menge F := xnn ⊂ Q : xnn ist Cauchyfolge der rationa-len Cauchyfolgen ist durch

xnn ∼ ynn :⇐⇒ xn − ynn ist Nullfolge

eine Aquivalenzrelation definiert. Zwei Folgen xnn, ynn sind also aquivalent,wenn zu jedem rationalen ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit |xn − yn| < ε furalle n ≥ N .

Beweis: Wir prufen (R), (S) und (T) nach:

(R) Ist klar, denn xn − xnn = 0n ist die konstante Nullfolge.

(S) Falls xnn ∼ ynn, dann existiert also zu jedem rationalen ε > 0 ein N(ε) ∈N mit

|yn − xn| = |xn − yn| < ε fur alle n ≥ N(ε).

Somit ist auch yn − xnn Nullfolge, d.h. ynn ∼ xnn.

(T) Seien xnn ∼ ynn und ynn ∼ znn. Dann gibt es zu jedem rationalenε > 0 Zahlen N1(ε), N2(ε) ∈ N mit

|xn − yn| <ε

2fur alle n ≥ N1(ε),

|yn − zn| <ε

2fur alle n ≥ N2(ε).

Setzen wir nun N = N(ε) := maxN1(ε), N2(ε)

∈ N, so folgt

|xn − zn| ≤ |xn − yn|+ |yn − zn| <ε

2+ε

2= ε fur alle n ≥ N(ε),

also xnn ∼ znn, wie behauptet. q.e.d.

Beispiel: Die Folgen 1+ (12)nn und 1n sind z.B. aquivalent. Ebenso gilt 1

nn ∼(13)

nn, da beide und somit auch ihre Differenz Nullfolgen sind.

Wir kommen nun zur zentralen

Definition 3.5: (Die reellen Zahlen)Die Menge der reellen Zahlen R erklaren wir als die Menge aller Aquivalenzklassenrationaler Cauchyfolgen im Sinne von Satz 3.1. Jede rationale Cauchyfolge anndefiniert also genau eine reelle Zahl α ∈ R durch

α := [an] := [ann].

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3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 23

Bemerkung: Wir nennen α ∈ R rational, falls ein Reprasentant ann von α existiertmit an = p

q (mit p ∈ Z, q ∈ N) fur alle n ∈ N; sonst heißt α irrational.

Die konstanten rationalen Folgen sind also Reprasentanten der rationalen reellenZahlen. In diesem Sinne gilt Q ⊂ R, wir schreiben kurz p

q := [pq ]. (Hier ist ubrigens

auch die Aquivalenzklassenbildung enthalten, die wir bei der etwas laxen Definitionder rationalen Zahlen in § 1 unterschlagen haben:

”Ungekurzte“ rationale Zahlen

werden mit”gekurzten“ identifiziert, denn apaqn mit a ∈ N und pqn gehoren

offenbar zur gleichen Aquivalenzklasse.)

Im Folgenden zeigen wir uber Definition 3.5, dass R ein archimedisch angeord-neter Korper ist, wobei wir naturlich noch die Rechenoperationen und den Begriffder Positivitat in R erklaren mussen. Wir beginnen mit dem

Hilfssatz 3.2: Jede rationale Cauchyfolge xnn ist beschrankt, d.h. es existiertein rationales c > 0, so dass |xn| ≤ c fur alle n ∈ N gilt.

Beweis: Gemaß Definition 3.2 gibt es speziell zu ε = 1 ein N ∈ N mit |xn − xm| < 1fur alle n,m ≥ N . Damit folgt insbesondere fur m = N :

|xn| = |(xn − xN ) + xN | ≤ |xn − xN |+ |xN | < |xN |+ 1 fur alle n ≥ N.

Setzen wir c := max|x1|, . . . , |xN−1|, |xN |+ 1, so folgt die Behauptung.

q e.d.

Hilfssatz 3.3:

(a) Sind ann, bnn ⊂ Q Cauchyfolgen, so gilt dies auch fur an + bnn undan · bnn.

(b) Sind xnn, ynn ⊂ Q weitere Cauchyfolgen mit ann ∼ xnn und bnn ∼ynn, dann folgt

an + bnn ∼ xn + ynn und an · bnn ∼ xn · ynn.

Beweis:

(a) Es existiert zu vorgegebenem δ > 0 ein N = N(δ) ∈ N, so dass

|an − am| < δ, |bn − bm| < δ fur alle m,n ≥ N(δ).

Wahle nun ε > 0 rational beliebig. Setzen wir N1(ε) := N( ε2), so folgt

|(an + bn)− (am + bm)| ≤ |an − am|+ |bn − bm| < ε fur alle m,n ≥ N1(ε),

also ist an + bnn Cauchyfolge.

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24 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Nach Hilfssatz 3.2 existiert ferner ein rationales c > 0 mit |an| ≤ c, |bn| ≤ c fur alle n ∈ N.Setzen wir nun N2(ε) := N( ε

2c), so folgt auch

|anbn − ambm| = |an(bn − bm) + bm(an − am)|≤ |an| |bn − bm|+ |bm| |an − am|

< c( ε2c

2c

)= ε fur alle m,n ≥ N2(ε),

d.h. anbnn ist Cauchyfolge.

(b) Fur den Beweis der ersten Aussage ist zu zeigen, dass (an+ bn)− (xn+ yn)nNullfolge ist. Wegen |an − xn| < ε, |bn − yn| < ε fur beliebiges ε > 0 und allen ≥ N(ε), erhalten wir

|(an + bn)− (xn + yn)| ≤ |an − xn|+ |bn − yn| < 2ε fur alle n ≥ N(ε).

Da ε > 0 beliebig war, folgt die Behauptung (gehe uber ε→ ε2).

Um zu zeigen, dass auch anbn − xnynn Nullfolge ist, beachten wir wieder|an|, |yn| ≤ c fur alle n ∈ N und mit geeignetem c > 0 gemaß Hilfssatz 3.2. Wirfinden dann

|anbn − xnyn| = |an(bn − yn) + yn(an − xn)|≤ |an| |bn − yn|+ |yn| |an − xn|< 2εc fur alle n ≥ N(ε),

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Mit Hilfssatz 3.3 konnen wir bereits Addition und Multiplikation sowiedas Negative in R erklaren; siehe Definition 3.7 unten. Um aber auch die Existenzder Inversen zu sichern, benotigen wir noch zwei weitere Hilfssatze, fur deren Beweiswir die folgende Definition nutzen:

Definition 3.6: Ist xnn ⊂ K eine Zahlenfolge und seien unendlich viele naturli-che Zahlen 1 ≤ n1 < n2 < n3 < . . . gewahlt (also nkk ⊂ N mit nk < nk+1 fur allek ∈ N). Dann heißt

xnkk∈N = xn1 , xn2 , xn3 , . . .

Teilfolge von xnn.

Hilfssatz 3.4: Es sei xnn ⊂ Q eine Cauchyfolge. Dann tritt genau einer derfolgenden Falle ein:

(a) xnn ist Nullfolge.

(b) Typ A+: Es existiert ein rationales δ > 0 und ein N ∈ N mit xn > δ fur allen ≥ N .

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3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 25

(c) Typ A−: Es existiert ein rationales δ > 0 und ein N ∈ N mit −xn > δ fur allen ≥ N .

Beweis: Wir zeigen, dass, falls (a) nicht gilt, genau einer der Falle (b) oder (c)eintreten muss. Sei also xnn keine Nullfolge. Dann gibt es also ein rationales δ > 0und eine Teilfolge xnkk mit |xnk | ≥ 2δ fur alle k ∈ N. Da xnn Cauchyfolge ist,existiert andererseits ein N ∈ N mit |xn − xm| < δ fur alle m,n ≥ N . Wahlen wirp ∈ N so groß, dass np ≥ N ist, so folgt speziell fur m = np:

|xn − xnp | < δ fur alle n ≥ N.

Wir unterscheiden nun zwei Falle:

(i) xnp ≥ 2δ: Dann folgt

xn = xnp + (xn − xnp) ≥ 2δ − |xn − xnp | > 2δ − δ = δ fur alle n ≥ N,

also gehort xnn zum Typ A+.

(ii) xnp ≤ −2δ: Dann haben wir

−xn = −xnp − (xn − xnp) ≥ 2δ − |xn − xnp | > δ fur alle n ≥ N,

d.h. xnn gehort zum Typ A−. q.e.d.

Die Definition der Inversen ergibt sich nun aus dem folgenden

Hilfssatz 3.5: Seien die Cauchyfolgen xnn, ynn ⊂ Q zueinander aquivalent undkeine Nullfolgen. Ferner gelte xn, yn = 0 fur alle n ∈ N. Dann sind auch x−1

n nund y−1

n n Cauchyfolgen, und es gilt

x−1n n ∼ y−1

n n.

Beweis:

1. Nach Hilfssatz 3.4 existiert ein δ > 0, so dass |xn| > δ, |yn| > δ fur alle n ∈ N gilt. Damitfolgt: ∣∣∣ 1

xn− 1

xm

∣∣∣ = ∣∣∣xm − xnxnxm

∣∣∣ < 1

δ2|xn − xm| fur alle m,n ∈ N.

Da xnn Cauchyfolge ist, existiert zu beliebigem ε > 0 ein N(ε) ∈ N, so dass |xn−xm| < εδ2

richtig ist. Es folgt |x−1n − x−1

m | < ε fur alle m,n ≥ N(ε), d.h. x−1n n ist Cauchyfolge. Die

entsprechenden Uberlegungen zeigen, dass auch y−1n n Cauchyfolge ist.

2. Wegen ∣∣∣ 1xn

− 1

yn

∣∣∣ = ∣∣∣yn − xnxnyn

∣∣∣ < 1

δ2|xn − yn| fur alle n ∈ N

folgt aus der Nullfolgeneigenschaft von xn − ynn sofort x−1n n ∼ y−1

n n, wie behauptet.

q.e.d.

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26 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkung: Die Bedingung xn = 0 fur alle Glieder einer Nicht-Nullfolge xnnkann immer durch Ubergang zu einer aquivalenten Folge xnn mittels eventuellerAddition von 1

n zum n-ten Glied erreicht werden. Alternativ kann man das durchWegstreichen der (gemaß Hilfssatz 3.4) endlich vielen Glieder xn = 0 erreichen, denn:Jede Teilfolge einer Cauchyfolge ist zu ihr aquivalent.

Definition 3.7: (Rechenoperationen in R)

• Fur α = [an] ∈ R, β = [bn] ∈ R setzen wir

α+ β := [an + bn] ∈ R (Summe),

α · β = αβ := [anbn] ∈ R (Produkt).

• Die neutralen Elemente der Addition und Multiplikation sind erklart als

0 := [0] ∈ R, 1 := [1] ∈ R.

• Das Negative und das Inverse erklaren wir wie folgt:

– Zu α = [an] setzen wir −α := [−an] ∈ R.– Zu α = [an] = 0 mit einem Reprasentanten ann, der an = 0 fur allen ∈ N erfullt, setzen wir α−1 := [a−1

n ].

Bemerkung: Wegen der Hilfssatze 3.3 und 3.5 sind alle Großen wohl definiert. ZumBeispiel ist nach Hilfssatz 3.3 (a) mit ann und bnn auch anbnn eine rationaleCauchyfolge, also [anbn] ∈ R. Und nach Hilfssatz 3.3 (b) ist die Definition von αβunabhangig von der Wahl der Reprasentanten ann, bnn.

Definition 3.8: (Positivitat in R)Eine reelle Zahl α = [an] heißt positiv, in Zeichen α > 0, falls ann zum Typ A+

aus Hilfssatz 3.4 gehort.

Bemerkung: Da fur ein weiteres Element bnn der Aquivalenzklasse [an] die Fol-ge an − bnn Nullfolge ist, ist auch Definition 3.8 unabhangig von der Wahl desReprasentanten.

Satz 3.2: (R,+, ·) mit den in Definition 3.5, 3.7 und 3.8 erklarten reellen Zahlen,Rechenoperationen und Positivitat ist ein archimedisch angeordneter Korper.

Beweis:

1. Dass R ein Korper ist, folgt per Konstruktion aus der Tatsache, dass Q einKorper ist. Z.B. ist 1 = [1] in der Tat das neutrale Element der Multiplikation:Ist namlich α = [an], so folgt an · 1n ∼ ann, also gilt

α · 1 = [an · 1] = [an] = α fur alle α ∈ R.

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4. FOLGEN UND REIHEN 27

2. R ist auch angeordnet, denn nach Hilfssatz 3.4 und Definitionen 3.7, 3.8 giltfur jede reelle Zahl α genau eine der Beziehungen α > 0, α = 0 oder −α > 0,also (O1). Und (O2) ist aus Definition 3.7 wieder offensichtlich.

Die in Definition 3.8 erklarte Positivitat auf R impliziert also in der Tat eineOrdnung. Mit ihr konnen wir wie in den Definitionen 1.3 und 1.4 die Großer-bzw. Kleinerrelationen und den Betrag erklaren.

3. Schließlich ist in R auch das Archimedische Axiom (O3) erfullt: Sind namlichα = [ak] > 0, β = [bk] > 0 gewahlt, so suchen wir n ∈ N mit nα > β.

Da α > 0 gilt, ist akk vom Typ A+, siehe Hilfssatz 3.4. Also gibt es einrationales δ > 0 und ein N ∈ N, so dass ak > δ fur alle k ≥ N richtigist. Andererseits ist bkk nach Hilfssatz 3.2 beschrankt, d.h. es existiert einrationales c > 0 mit 0 < bk < c fur alle k ≥ N .

Wir wahlen nun n ∈ N mit nδ > c (beachte: Q ist archimedisch!) und berech-nen

nak > nδ = c+ (nδ − c) > bk + (nδ − c) fur alle k ≥ N.

Wegen nδ − c > 0 ist also die Folge ckk mit ck := nak − bk vom Typ A+,d.h.

[n][ak]− [bk] = [nak − bk] > 0

und somit ist nα− β > 0 bzw. nα > β, wie behauptet. q.e.d.

4 Folgen und Reihen

Wir betrachten nun reelle Zahlenfolgen xnn ⊂ R, vgl. Definition 3.1. Analog zumrationalen Fall erklaren wir

Definition 4.1:

• Eine Folge xnn ⊂ R heißt Cauchyfolge, falls zu jedem (reellen) ε > 0 einN = N(ε) ∈ N existiert mit

|xn − xm| < ε fur alle m,n ≥ N(ε).

• Eine Folge xnn ⊂ R heißt Nullfolge, falls zu jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ Nexistiert mit

|xn| < ε fur alle n ≥ N(ε).

Definition 4.2: Eine Folge xnn ⊂ R nennen wir konvergent gegen α ∈ R, wennxn − αn eine Nullfolge ist. Wir schreiben dann

limn→∞

xn = α oder xn → α (n→ ∞).

α heißt der Grenzwert der Folge xnn. Schließlich nennen wir eine Folge divergent,wenn sie nicht konvergiert.

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28 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkungen:

1. ∞ ist das Symbol fur den unendlich fernen Punkt oder einfach Unendlich.

2. Offenbar gilt xn → α (n→ ∞) genau dann, wenn |xn − α| → 0 (n→ ∞).

3. Geometrische Deutung: Das Intervall (α− ε, α+ ε) := x ∈ R : |x− α| < εfur α ∈ R und ε > 0 enthalt alle reellen Zahlen, die von α einen Abstandkleiner ε haben. Wir nennen (α− ε, α+ ε) eine ε-Umgebung von α. Eine Folgekonvergiert genau dann gegen α, wenn in jeder ε-Umgebung von α fast alleGlieder der Folge liegen. Dabei bedeutet

”fast alle“, alle bis auf endlich viele

Ausnahmen.

4. Der Grenzwert einer Folge xnn ⊂ R ist eindeutig bestimmt. Gabe es namlichα, β ∈ R mit xn → α und xn → β fur n → ∞, dann finden wir zu beliebigvorgegebenem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N mit |xn − α| < ε

2 und |xn − β| < ε2 fur

alle n ≥ N . Daher folgt insbesondere fur n = N :

|α− β| ≤ |α− xN |+ |β − xN | < ε.

Also muss α = β gelten.

Aus der Konstruktion der reellen Zahlen folgt nun unmittelbar der

Hilfssatz 4.1: Ist xnn eine rationale Cauchyfolge und α := [xn], so folgt xn →α (n→ ∞).

Beweis: Ist ε = [εn] ∈ R mit ε > 0 beliebig, so haben wir zu zeigen, dass ein N(ε) > 0 existiert mit|xk − α| < ε fur alle k ≥ N(ε).

Wegen ε > 0 gibt es per Definition ein δ > 0 und ein N(ε) ∈ N, so dass εn > δ fur allen ≥ N(ε) gilt. Da nun xnn Cauchyfolge ist, gibt es ein N(ε) ≥ N(ε), so dass |xk − xn| < δ

2fur

alle k, n ≥ N(ε) gilt. Also ist εn − |xk − xn|n vom Typ A+ fur jedes feste k ≥ N(ε). Und wegen|β| = [|yn|] fur beliebiges β = [yn] ∈ R erhalten wir

0 <[εn − |xk − xn|

]= [εn]−

∣∣[xk − xn]∣∣ = ε− |xk − α|,

bzw. |xk − α| < ε fur alle k ≥ N(ε). q.e.d.

Wir werden ubrigens in § 5 zeigen, dass auch jede reelle Cauchyfolge einen Grenz-wert in R besitzt.

Beim Umgang mit Grenzwerten haben wir nun folgende Rechenregeln:

Satz 4.1: Seien xnn, ynn ⊂ R zwei Folgen mit xn → α, yn → β (n→ ∞). Danngelten

(a) Es konvergieren auch xn + ynn und xnynn mit

limn→∞

(xn + yn) = α+ β, limn→∞

(xnyn) = αβ.

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4. FOLGEN UND REIHEN 29

(b) Falls zusatzlich β = 0 und yn = 0 fur alle n ∈ N richtig ist, so konvergiertauch xnyn n mit

limn→∞

xnyn

β.

(c) Gilt xn ≥ yn fur alle n ≥ N mit einem N ∈ N, so ist auch α ≥ β erfullt.

(d) Jede Teilfolge xnkk ⊂ xnn (vgl. Definition 3.6) konvergiert und es giltlimk→∞ xnk = α.

Wir halten noch die folgende direkte Konsequenz aus Satz 4.1 (a) fest:

Folgerung 4.1: Konvergieren xnn, ynn ⊂ R und sind a, b ∈ R beliebig, so kon-vergiert auch axn + bynn mit

limn→∞

(axn + byn) = a limn→∞

xn + b limn→∞

yn.

Beweis von Satz 4.1: (a) folgt analog zu den entsprechenden Aussagen uber rationaleCauchyfolgen, Hilfssatz 3.3 (a), aus der Dreiecksungleichung und der Beschranktheitkonvergenter Folgen (siehe Satz 4.2 unten). Die Beweise von (c) und (d) sind Ubungs-

aufgaben. Wir zeigen (b): Wegen |β| > 0 gibt es ein N ∈ N mit |yn − β| < |β|2 fur

alle n ≥ N . Wir folgern |yn| ≥ |β| − |yn − β| > |β|2 > 0 und somit∣∣∣xn

yn− α

β

∣∣∣ = 1

|yn| |β||βxn − αyn| ≤

2

|β|2|βxn − αyn| fur n ≥ N.

Nach (a) bzw. Folgerung 4.1 konvergiert βxn − αyn → βα − αβ = 0 (n → ∞), alsoist xnyn − α

β n Nullfolge, wie behauptet.q.e.d.

Beispiele:

1. Die konstante Folge an = a, a, a, . . . fur ein a ∈ R konvergiert trivialerweisegegen a.

2. limn→∞3nn+1

= 3. Denn es gilt fur beliebiges ε > 0:∣∣∣ 3n

n+ 1− 3∣∣∣ = ∣∣∣3n− 3(n+ 1)

n+ 1

∣∣∣ = 3

n+ 1< ε,

falls n ≥ N(ε) mit N(ε) ≥ 3ε.

3. limn→∞n2n

= 0. Mit vollstandiger Induktion zeigt man namlich 2n ≥ n2 fur alle n ≥ 4(Ubungsaufgabe). Es folgt 1

2n≤ 1

n2 bzw. n2n

≤ 1nund somit∣∣∣ n

2n− 0∣∣∣ = n

2n≤ 1

n< ε fur n ≥ N > max

3,

1

ε

.

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30 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

4. Die Folge xnn = (−1)nn konvergiert nicht. Sonst musste z.B. fur ε = 1 einN ∈ N existieren mit |xn − α| < 1 fur alle n ≥ N , wobei α ∈ R der Grenzwertder Folge sei. Insbesondere fur xn und xn+1 mit n ≥ N hatten wir dann denWiderspruch

2 = |xn − xn+1| ≤ |xn − α|+ |xn+1 − α| < 2.

Also ist (−1)nn divergent.

5. limn→∞5n3+8n2

n3−4= 5. Wir kurzen

5n3 + 8n2

n3 − 4=

5 + 8 1n

1− 4n3

.

Da 1nn Nullfolge ist, konvergieren nach Satz 4.1 (a) und Folgerung 4.1 auch

5 + 8 1nn und 1− 4 1

n3 n, namlich gegen 5 bzw. 1. Satz 4.1 (b) liefert dann

limn→∞

5n3 + 8n2

n3 − 4=

limn→∞

(5 + 8 1n)

limn→∞

(1− 4n3 )

=5

1= 5.

Bevor wir weitere Beispiele untersuchen, benotigen wir noch die folgende

Definition 4.3: Eine Folge xnn ⊂ R heißt nach oben (bzw. unten) beschrankt,falls ein c ∈ R existiert mit

xn ≤ c (bzw. xn ≥ c) fur alle n ∈ N.

Falls sogar |xn| ≤ c fur alle n ∈ N gilt, heißt die Folge beschrankt.

Bemerkung: Eine Folge ist genau dann beschrankt, wenn sie nach oben und untenbeschrankt ist.

Satz 4.2: Jede konvergente Folge xnn ⊂ R ist beschrankt.

Beweis: Zu ε = 1 existiert ein N ∈ N mit |xn − α| < 1 fur alle n ≥ N , wobeiα = limn→∞ xn sei. Wir haben also

|xn| ≤ |xn − α|+ |α| < 1 + |α| fur alle n ≥ N.

Also ist xnn beschrankt mit c := max1 + |α|, |x1|, . . . , |xN−1|. q.e.d.

Bemerkung: Die Umkehrung des Satzes gilt naturlich nicht; z.B. ist (−1)nn offen-bar beschrankt aber nach obigem Beispiel 4 nicht konvergent.

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4. FOLGEN UND REIHEN 31

Beispiele:

1. Fibonacci-Zahlen: f1 := 0, f2 := 1 und rekursiv fn := fn−1 + fn−2. Das gibt fnn =0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, . . ..

Die Folge fnn ist unbeschrankt: Durch vollstandige Induktion zeigt man namlich fn ≥ n−2

fur alle n ∈ N, und n− 2n ist offensichtlich nicht nach oben beschrankt. Nach Satz 4.2 ist

die Folge der Fibonacci-Zahlen also divergent.

2. Die Folge xnn fur ein x ∈ R. Das Konvergenzverhalten hangt von x ab, wirunterscheiden vier Falle.

(i) Fur |x| < 1 gilt limn→∞ xn = 0, da nach Hilfssatz 3.1 (b) – der nunnaturlich auch in R gilt – zu jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit|x|N < ε und folglich

|xn − 0| = |x|n ≤ |x|N < ε fur alle n ≥ N(ε).

(ii) Fur x = 1 haben wir die konstante Folge 1nn = 1n mit limn→∞ 1n =1.

(iii) Fur x = −1 haben wir die divergente Folge (−1)nn.(iv) Fur |x| > 1 ist xnn unbeschrankt nach Hilfssatz 3.1 (a), also divergent

gemaß Satz 4.2.

Definition 4.4: (Bestimmte Divergenz)Eine Folge xnn ⊂ R heißt bestimmt divergent gegen +∞ (bzw. gegen −∞), wennzu jedem c ∈ R ein N ∈ N existiert, so dass

xn > c (bzw. xn < c) fur alle n ≥ N

richtig ist. Wir schreiben dann

limn→∞

xn = +∞ (bzw. limn→∞

xn = −∞).

Bemerkung: Offensichtlich divergiert xnn genau dann bestimmt gegen +∞, wenn−xnn bestimmt gegen −∞ divergiert.

Beispiele:

1. Die Folge nn divergiert bestimmt gegen +∞. Das erklart auch die Schreib-weise limn→∞, die nun eigentlich genauer limn→+∞ lauten musste.

2. Nach obigem Beispiel divergiert die Folge der Fibonacci-Zahlen bestimmt gegen +∞.

3. Fur b > 1 divergiert bnn bestimmt gegen +∞, vgl. Hilfssatz 3.1 (a).

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32 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

4. Die Folge (−1)nnn ist divergent, aber nicht bestimmt divergent. Ist namlich (−1)nn > cfur ein n ∈ N und ein c ≥ 1

2, so folgt fur das (n+ 1)-te Glied der Folge:

(−1)n+1(n+ 1) = −(−1)nn− (−1)n < −c+ 1 ≤ c.

Satz 4.3:

(a) Es sei xnn ⊂ R bestimmt divergent gegen +∞ oder −∞. Dann gilt xn = 0fur alle n ≥ n0 mit einem n0 ∈ N, und x−1

n n≥n0 ist eine Nullfolge.

(b) Es sei xnn Nullfolge mit xn > 0 (bzw. xn < 0) fur alle n ≥ N . Dann istx−1

n n≥N bestimmt divergent gegen +∞ (bzw. gegen −∞).

Beweis: Wir zeigen nur (a) und uberlassen (b) zur Ubung.

Sei xnn bestimmt divergent gegen +∞. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 einN(ε) ∈ N mit xn >

1ε fur alle n ≥ N(ε). Insbesondere folgt xn > 0 fur n ≥ n0 :=

N(1). Weiter finden wir

0 < x−1n < ε bzw. |x−1

n | < ε fur alle n ≥ N(ε),

d.h. x−1n n≥n0 ist Nullfolge. Gilt schließlich limn→∞ xn = −∞, so gehen wir zur

negativen Folge −xnn uber.q.e.d.

Bemerkung: Mit den Symbolen +∞,−∞ wird R zu der erweiterten ZahlengeradenR := −∞ ∪ R ∪ +∞, die wir gemaß −∞ < x < +∞ fur alle x ∈ R anordnenkonnen. Allerdings ist R kein Korper, wie auch immer Addition und Multiplikationin R erklart werden.

Definition 4.5: (Unendliche Reihen)Sei xkk ⊂ R eine Folge, so erklaren wir die zugehorigen Partialsummen

sn :=n∑k=1

xk = x1 + x2 + . . .+ xn.

Die Folge snn ⊂ R der Partialsummen heißt dann (unendliche) Reihe. Konvergiertsnn, so sagen wir, dass die zugehorige Reihe konvergiert und schreiben fur denGrenzwert

∞∑k=1

xk := limn→∞

sn = limn→∞

( n∑k=1

xk

).

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4. FOLGEN UND REIHEN 33

Bemerkungen:

1. Etwas lax schreiben wir meist auch∑∞

k=1 xk fur die Folge der Partialsummen,also als Symbol fur die Reihe selbst (unabhangig von deren Konvergenz).

2. Eine Reihe ist also eine spezielle Folge, namlich die von Partialsummen. Um-gekehrt kann man jede Folge ynn auch durch eine Reihe darstellen, denn esgilt

yn = y1 +

n∑k=2

(yk − yk−1) (Teleskopsumme).

3. Aus Folgerung 4.1 angewendet auf die Folge der Partialsummen ergibt sichsofort: Konvergieren

∑∞k=1 xk und

∑∞k=1 yk und sind a, b ∈ R, so konvergiert

auch∑∞

k=1(axk + byk), und es gilt

∞∑k=1

(axk + byk) = a∞∑k=1

xk + b∞∑k=1

yk.

Beispiele:

1. Es gilt limn→∞nn+1

= limn→∞1

1+ 1n

= 1. Setzen wir yn = nn+1

, so folgt andererseits

yk − yk−1 =k

k + 1− k − 1

k=k2 − (k2 − 1)

k(k + 1)=

1

k(k + 1)fur k ≥ 2

und somit

n

n+ 1= yn = y1 +

n∑k=2

(yk − yk−1) =1

2+

n∑k=2

1

k(k + 1)=

n∑k=1

1

k(k + 1).

Wir erhalten also

∞∑k=1

1

k(k + 1)= limn→∞

n∑k=1

1

k(k + 1)= limn→∞

n

n+ 1= 1.

2. Unendliche geometrische Reihe:∞∑k=0

xk. Fur |x| < 1 gilt nach Satz 2.3 und

einem der obigen Beispiele:

∞∑k=0

xk = limn→∞

n∑k=0

xk = limn→∞

1− xn+1

1− x=

1

1− x

(1−x lim

n→∞xn)=

1

1− x. (4.1)

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34 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

5 Vollstandigkeit reeller Zahlen

Wir widmen uns nun wieder dem Studium der reellen Zahlen. Insbesondere werdenwir die sogenannte

”Vollstandigkeit“ von R beweisen, die der eigentliche Grund fur

die Konstruktion von R war und die reellen Zahlen gegenuber den rationalen Zahlenauszeichnet. Aus der Vollstandigkeit folgt auch die Losbarkeit der Gleichung xs = cin R, wobei s ∈ N beliebig und c ∈ R positiv ist. Wir beginnen mit der

Definition 5.1: Eine Menge M ⊂ R heißt dicht in R, falls es zu jedem x ∈ R eineFolge xnn ⊂M so gibt, dass lim

n→∞xn = x gilt.

Bemerkung: Ist M ⊂ R dicht in R, so lasst sich jede reelle Zahl also beliebig gutdurch Elemente aus M approximieren. Naturlich liegt R selbst dicht in R. ErstesHauptziel des Paragraphen ist der folgende

Satz 5.1: Q liegt dicht in R.

Fur den Beweis benotigen wir noch die anschließende einfache Folgerung desArchimedischen Axioms:

Hilfssatz 5.1: Zu jeder Zahl x ∈ R existiert genau ein ν ∈ Z, so dass ν ≤ x < ν+1richtig ist.

Beweis: Ubungsaufgabe!

Beweis von Satz 5.1: Zu gegebenem x ∈ R konstruieren wir mittels vollstandigerInduktion eine Folge xnn ⊂ Q von Dezimalbruchen

xn =n∑k=0

ak · 10−k ∈ Q mit a0 ∈ Z, ak ∈ 0, 1, . . . , 9 fur k ∈ N,

so dass xn → x (n→ ∞) erfullt ist.

1. Sei zunachst 0 ≤ x < 1 richtig. Wir behaupten, dass dann eine Folge akk ⊂0, 1, . . . , 9 und eine Nullfolge ξnn ⊂ R so existieren, dass fur alle n ∈ Ngilt

x =n∑k=1

ak · 10−k + ξn und 0 ≤ ξn < 10−n. (5.1)

Offenbar folgt daraus die Behauptung mit a0 = 0.

(IA) n = 1. Wegen 0 ≤ x · 10 < 10 und Hilfssatz 5.1 existiert ein a1 ∈0, 1, 2, . . . , 9, so dass a1 ≤ x·10 < a1+1 richtig ist. Mit ξ1 := x−a1 ·10−1

haben wir dann

x = a1 · 10−1 + ξ1 und 0 ≤ ξ1 < 10−1.

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5. VOLLSTANDIGKEIT REELLER ZAHLEN 35

(IS) n → n+ 1: Angenommen wir haben die Darstellung (5.1) fur ein n ∈ N.Dann ist 0 ≤ ξn ·10n+1 < 10 richtig und wieder nach Hilfssatz 5.1 existiertein an+1 ∈ 0, 1, . . . , 9 mit an+1 ≤ ξn ·10n+1 < an+1+1. Setzen wir nochξn+1 := ξn − an+1 · 10−(n+1), so finden wir

x(IV )=

n∑k=1

ak10−k + ξn =

n+1∑k=1

ak · 10−k + ξn+1

und 0 ≤ ξn+1 < 10−(n+1), wie behauptet.

2. Sei nun x ∈ R beliebig. Nach Hilfssatz 5.1 existiert ein ν ∈ Z mit ν ≤ x < ν+1.Dann gilt fur y := x − ν naturlich 0 ≤ y < 1 und nach 1) existiert eine Folgeynn mit yn =

∑nk=1 ak · 10−k, ak ∈ 0, 1, . . . , 9, so dass yn → y (n → ∞)

richtig ist. Also hat xn := ν + yn die gesuchte Form mit a0 := ν ∈ Z, und esgilt xn → x (n→ ∞), wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkung: Der Beweis von Satz 5.1 bestatigt ubrigens unsere Vorstellung, dasssich jede reelle Zahl als (unendlicher) Dezimalbruch darstellen lasst. Wir haben hiernamlich

x = limn→∞

∞∑k=0

ak · 10−k = a0, a1a2a3 . . .

gezeigt. Allerdings ist diese Darstellung nicht eindeutig, denn z.B. lasst sich die Zahl1 sowohl als 1, 00000 . . . schreiben, als auch als

0, 999999 . . . =

∞∑n=1

9 · 10−n = 9 ·∞∑n=0

( 1

10

)n− 9

(4.1)=

9

1− 110

− 9 = 1.

Das zentrale Ergebnis dieses Paragraphen (und eigentlich des gesamten Kapitels)ist nun der folgende

Satz 5.2: (Cauchysches Konvergenzkriterium)Eine Folge xnn ⊂ R ist genau dann konvergent, wenn xnn eine Cauchyfolge ist.

Definition 5.2: Ein bewerteter Korper K heißt vollstandig, wenn jede Cauchyfolgexnn ⊂ K einen Grenzwert x ∈ K besitzt.

Bemerkungen:

1. Obiger Satz enthalt also die Aussage, dass R vollstandig ist; genau das ist diezusatzliche Eigenschaft von R gegenuber Q.

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36 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

2. Wir haben Cauchyfolgen und Konvergenz bisher nur in R erklart. Hierzubenotigt man aber nur einen

”Abstandsbegriff“, der in bewerteten Korpern

erklart ist; vgl. Satz 1.4 und die anschließende Bemerkung. Insbesondere istDefinition 5.2 in C sinnvoll, vgl. § 7.

Beweis von Satz 5.2:

•”⇒“: Sei xnn konvergent mit Grenzwert x ∈ R. Dann existiert zu jedemε > 0 ein N = N(ε) ∈ N mit |xn − x| < ε

2 fur alle n ≥ N . Folglich haben wir

|xn − xm| ≤ |xn − x|+ |xm − x| < ε fur alle m,n ≥ N(ε),

d.h. xnn ist Cauchyfolge.

•”⇐“: Sei nun xnn Cauchyfolge. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 einN = N(ε) ∈ N, so dass |xn − xm| < ε

2 fur alle m,n ≥ N(ε). Zu jedem xn,n ∈ N, existiert nach Satz 5.1 ein an ∈ Q mit |xn − an| < ε

4 . Somit folgt

|an − am| ≤ |an − xn|+ |xn − xm|+ |xm − am| < ε fur alle m,n ≥ N(ε).

Also ist ann eine rationale Cauchyfolge und nach Hilfssatz 4.1 gilt an →x (n→ ∞) mit der reellen Zahl x := [an]. Wahlen wir noch N(ε) ∈ N so groß,dass |x− an| < 3ε

4 fur alle n ≥ N(ε), so erhalten wir schließlich

|x− xn| ≤ |x− an|+ |an − xn| <3ε

4+ε

4= ε fur alle n ≥ N(ε),

d.h. die Folge xnn konvergiert gegen x. q.e.d.

So kompakt sich das Cauchysche Konvergenzkriterium auch formulieren lasst, soist es doch etwas unanschaulich. Genau umgekehrt verhalt es sich mit dem folgenden,praktischen Intervallschachtelungs-Prinzip: Zunachst benotigen wir aber noch die

Definition 5.3: (Intervalle reeller Zahlen)Zu a, b ∈ R erklaren wir:

• offenes Intervall: (a, b) := x ∈ R : a < x < b.

• abgeschlossenes Intervall: [a, b] := x ∈ R : a ≤ x ≤ b.

• halboffene Intervalle:

(a, b] := x ∈ R : a < x ≤ b, [a, b) := x ∈ R : a ≤ x < b.

Die Punkte a und b heißen Endpunkte des Intervalls.

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5. VOLLSTANDIGKEIT REELLER ZAHLEN 37

Bemerkungen:

1. Fur a > b sind alle angegebenen Intervalle leer. Fur a = b sind offene undhalboffene Intervalle leer, wahrend das abgeschlossene Intervall [a, a] nur denPunkt a enthalt.

2. Es kann auch a = −∞ und b = +∞ gewahlt werden, wenn der jeweiligeEndpunkt nicht zum Intervall gehort.

3. Mit |I| = diam(I) := b − a ≥ 0 bezeichnen wie den Durchmesser oder Langeeines nichtleeren Intervalls I mit den Endpunkten a ≤ b. Offensichtlich gilt furbeliebige x, x′ ∈ I dann |x− x′| ≤ |I|.

Satz 5.3: (Intervallschachtelungsprinzip)Es sei I1 ⊃ I2 ⊃ . . . ⊃ In ⊃ In+1 ⊃ . . . eine absteigende Folge von nichtleerenabgeschlossenen Intervallen in R mit der Eigenschaft

limn→∞

|In| = 0. (5.2)

Dann gibt es genau eine reelle Zahl x mit x ∈ In fur alle n ∈ N, d.h. x =∩n∈N

In.

Bemerkung: Die Aussage scheint offensichtlich: Eine Folge von ineinander liegendenIntervallen, deren Durchmesser gegen 0 geht, zieht sich auf einen Punkt zusammen.Jedoch wird die Aussage in Q falsch, da der gemeinsame Punkt dann keine rationaleZahl sein muss.

Beweis von Satz 5.3: Schreiben wir In = [an, bn], so besagt Formel (5.2), dass zujedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit 0 ≤ bn− an < ε fur alle n ≥ N(ε). Sindnun m,n ≥ N , so folgt am, an ∈ IN und somit

|an − am| ≤ |IN | = bN − aN < ε fur alle m,n ≥ N(ε),

d.h. ann ist eine Cauchyfolge. Nach Satz 5.2 existiert daher ein Punkt x ∈ R mitlimn→∞ an = x.

Nun gilt am ≤ an ≤ bm fur beliebiges m ∈ N und alle n ≥ m. Gemaß Satz 4.1 (c)liefert der Grenzubergang n→ ∞ nun am ≤ x ≤ bm bzw. x ∈ Im fur alle m ∈ N.

Gabe es schließlich ein weiteres Element x′ ∈∩n∈N In, so hatten wir fur beliebiges

ε > 0:|x− x′| ≤ bN − aN < ε

mit dem oben bestimmten N = N(ε). Also folgt x = x′. q.e.d.

Bemerkung: Die Konstruktion zeigt, dass fur eine Intervallschachtelung mit In =[an, bn] und x =

∩n∈N

In gilt

limn→∞

an = x = limn→∞

bn.

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38 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Satz 5.4: Sei c > 0 eine beliebige reelle Zahl. Dann besitzt die Gleichung xs = c furjedes s ∈ N genau eine positive Losung x ∈ R.

Beweis:

• Eindeutigkeit: Sind x1, x2 ∈ R zwei positive Losungen von xs1 = xs2 = c, so folgt aus derSummenformel der geometrischen Reihe:

0 = xs1 − xs2 = (x1 − x2)

s−1∑j=0

xj1xs−j−12 ,

also x1 = x2.

• Existenz:

(i) Sei zunachst c ∈ (0, 1). Wir konstruieren induktiv eine Intervallschachtelung I1 ⊃ I2 ⊃. . ., fur die gilt:

In := [an, bn], |In| =(12

)n−1

, asn ≤ c ≤ bsn fur alle n ∈ N. (5.3)

Setzen wir I1 = [a1, b1] := [0, 1], so gilt (5.3) offenbar fur n = 1. Haben wir die gesuchteSchachtelung bis zu einem n ∈ N konstruiert, so setzen wir xn := 1

2(an + bn) ∈ In und

erklaren

In+1 = [an+1, bn+1] :=

[an, xn], falls xsn ≥ c

[xn, bn], falls xsn < c.

Dann ist offenbar In+1 ⊂ In richtig, und wir haben |In+1| = 12( 12)n−1 = ( 1

2)n sowie

asn+1 ≤ c ≤ bsn+1, also (5.3) fur n+ 1.

Nach Satz 5.3 existiert nun genau ein x ∈∩n∈N In, d.h. an ≤ x ≤ bn und somit

asn ≤ xs ≤ bsn fur alle n ∈ N. Nun liefert auch Jn := [asn, bsn] eine Intervallschachtelung,

denn offenbar gilt Jn+1 ⊂ Jn fur alle n ∈ N und wir berechnen

|Jn| = bsn − asn = (bn − an)

s−1∑j=0

ajnbs−j−1n ≤ s

(12

)n−1

→ 0 (n→ ∞).

Da aber nun c, xs ∈∩n∈N Jn richtig ist, liefert Satz 5.3: xs = c.

(ii) Fur c = 1 lost offenbar x = 1 die Gleichung xs = c. Fur c > 1 ist c := c−1 ∈ (0, 1)erfullt. Mit der in (i) konstruierten positiven Losung x der Gleichung xs = c lost dannx := x−1 > 0 die Gleichung xs = c.

q.e.d.

Definition 5.4: Die in Satz 5.4 konstruierte eindeutige Losung x > 0 von xs = cheißt s-te Wurzel von c > 0, und wir schreiben s

√c. Ist q = r

s ∈ Q (r ∈ Z, s ∈ N)beliebig, so setzen wir fur die q-te Potenz von c > 0:

cq = crs := ( s

√c)r.

Bemerkung: Fur alle x, y > 0 und p, q ∈ Q gelten die Rechenregeln

xpyp = (xy)p, xpxq = xp+q, (xp)q = xpq.

Ebenfalls mittels Intervallschachtelung beweisen wir den fundamentalen

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5. VOLLSTANDIGKEIT REELLER ZAHLEN 39

Satz 5.5: (Bolzano–Weierstraß)Jede beschrankte Folge xnn ⊂ R besitzt eine konvergente Teilfolge.

Beweis: Da xnn beschrankt ist, existiert ein c > 0 mit −c ≤ xn ≤ c fur alle n ∈ N.Wir konstruieren nun eine Intervallschachtelung I1 ⊃ I2 ⊃ . . . mit den Eigenschaften

• Ik enthalt unendlich viele Glieder der Folge xnn,

• |Ik| = 2c · (12)k−1 fur alle k ∈ N.

Wir starten dazu mit I1 := [−c, c] und definieren im k-ten Schritt Ik+1 wie folgt: IstIk = [ak, bk], so setzen wir yk :=

12(ak + bk) und erklaren

Ik+1 = [ak+1, bk+1] :=

[ak, yk], falls [ak, yk] unendlich viele Glieder

von xnn enthalt

[yk, bk], sonst

.

Wir konstruieren nun eine Teilfolge xnkk mit xnk ∈ Ik fur alle k ∈ N induktiv wiefolgt:

• Fur k = 1 setzen wir n1 = 1, also xn1 = x1 ∈ I1.

• Ist xnk ∈ Ik fur ein k ∈ N, so existiert per Konstruktion ein nk+1 > nk mitxnk+1

∈ Ik+1 (da in Ik+1 wieder unendlich viele Glieder von xnn liegen).

Wir haben also ak ≤ xnk ≤ bk fur alle k ∈ N. Nach Satz 5.3 und der anschließendenBemerkung liefert der Grenzubergang k → ∞:

x = limk→∞

ak ≤ limk→∞

xnk ≤ limk→∞

bk = x

mit einem x ∈ R. Also konvergiert xnkk gegen x, wie behauptet. q.e.d.

Definition 5.5: x ∈ R heißt Haufungswert einer Folge xnn, wenn es eine Teil-folge xnkk gibt mit lim

k→∞xnk = x.

Satz 5.5 besagt also: Jede beschrankte Folge hat einen Haufungswert.

Beispiele:

1. (−1)nn besitzt die Haufungswerte −1 und +1.

2. nn besitzt keine Haufungswerte, da jede Teilfolge unbeschrankt und damitnach Satz 4.2 divergent ist.

3. Es gibt aber auch unbeschrankte Folgen mit Haufungswerten, z.B. hat [1 +(−1)n]nn den Haufungswert 0, da gilt x2k−1 = 0 fur alle k ∈ N.

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40 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Definition 5.6: Eine Folge xnn ⊂ R heißt

(i) monoton wachsend (bzw. fallend), falls xn ≤ xn+1 (bzw. xn ≥ xn+1) fur allen ∈ N gilt.

(ii) streng monoton wachsend (bzw. fallend), falls xn < xn+1 (bzw. xn > xn+1)fur alle n ∈ N richtig ist.

Bemerkung: Die Sprechweise ist leider nicht eindeutig. In der Literatur wird haufigz.B. fur monoton wachsende Folge auch

”schwach monoton wachsende“ oder

”mo-

noton nicht fallende“ Folge geschrieben.

Satz 5.6: (Monotone Konvergenz)Jede beschrankte monotone Folge xnn ⊂ R ist konvergent.

Beweis: Sei xnn monoton fallend. Da xnn beschrankt ist, existiert nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß eine konvergente Teilfolge xnkk. Aus der Relation xnk ≥ xnl fur alle k ≤ l erhaltenwir nach Grenzubergang l → ∞ die Ungleichung

xnk ≥ x := liml→∞

xnl fur alle k ∈ N.

Zu beliebigem ε > 0 gibt es nun ein k0 = k0(ε) ∈ N mit |xnk − x| < ε fur alle k ≥ k0(ε). Wir setzenN = N(ε) := nk0(ε). Fur jedes n ≥ N existiert dann ein k ≥ k0 mit nk ≤ n < nk+1. Die Monotonieliefert nun

xnk ≥ xn ≥ xnk+1 ≥ x,

bzw. xnk − x ≥ xn − x ≥ 0. Zusammen mit der Konvergenz der Teilfolge xnkk folgt

|xn − x| ≤ |xnk − x| < ε fur alle n ≥ N(ε),

wie behauptet. Der Fall einer monoton wachsenden Folge xnn ergibt sich nun durch Ubergangzur monoton fallenden Folge −xnn.

q.e.d.

Bemerkung: Satz 5.6 liefert ein handliches Konvergenzkriterium. Z.B. ist jeder De-zimalbruch monoton wachsend.; vgl. Satz 5.1. Ubrigens ist jede monoton wachsendeFolge nach unten beschrankt, namlich durch x1. Entsprechend ist jede monotonfallende Folge nach oben durch x1 beschrankt.

6 Punktmengen in R

IstM eine Menge mit endlich vielen Elementen, so kann man diese mittels 1, 2, . . . , ndurchnummerieren: M = a1, a2, . . . , an mit n =Anzahl der Elemente. Wir sagen,M ist abzahlbar. Um die Situation fur unendliche Mengen zu untersuchen, erinnernwir zunachst an den Begriff einer Bijektion oder bijektiven Abbildung f : M → Nzwischen zwei Mengen M,N :

• f ist surjektiv, falls zu jedem y ∈ N ein x ∈ M mit f(x) = y existiert,d.h. f(M) = N .

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6. PUNKTMENGEN IN R 41

• f ist injektiv, falls fur x1, x2 ∈M mit x1 = x2 gilt f(x1) = f(x2).

• f ist bijektiv, wenn f surjektiv und injektiv ist.

Definition 6.1: Eine unendliche Menge M heißt (unendlich) abzahlbar, wenn eineBijektion f : N →M existiert. Anderenfalls heißt M uberabzahlbar.

Bemerkungen:

1. IstM unendlich abzahlbar, so gibt es also eine Folge xnn, so dassM = xn :n ∈ N. Wir schreiben auch kurz (und etwas unexakt) M = xnn.

2. Zwei Mengen M,N , fur die eine Bijektion f : M → N existiert, heißengleichmachtig. Eine unendlich abzahlbare Menge ist also gleichmachtig zu dennaturlichen Zahlen.

Beispiele:

1. Die Menge N der naturlichen Zahlen ist abzahlbar mit der identischen Abbil-dung f : N → N, n 7→ n.

2. Die ganzen Zahlen Z sind abzahlbar mit der Bijektion

f(n) :=

12n, falls n gerade ist

12(1− n), falls n ungerade ist

, n ∈ N.

3. Sind M und N abzahlbar, so ist auch M ∪N abzahlbar. Deutlich allgemeinergilt der folgende

Satz 6.1: Die Vereinigung abzahlbar vieler abzahlbarer Mengen Mn, n ∈ N, istabzahlbar.

Beweis: Wir schreiben Mn = xnm : m ∈ N fur n ∈ N. Die Elemente der Vereini-gungsmenge ∪

n∈NMn = xnm : m,n ∈ N

konnen wir wie folgt abzahlen:

M1 : x11 → x12 x13 → x14 . . .

M2 : x21 x22 x23 x24 . . .↓

M3 : x31 x32 x33 x34 . . .

M4 : x41 x42 x43 x44 . . .... ↓

......

...

,

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42 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

also mit der Abzahlung y1 := x11, y2 := x12, y3 := x21, y4 := x31, . . . Eventuelldoppelt auftretende Elemente werden bei der Abzahlung einfach ubergangen.

q.e.d.

Folgerung 6.1: Die Menge der rationalen Zahlen ist abzahlbar.

Beweis: Wir setzen Mn := mn : m ∈ Z fur n ∈ N. Da Z abzahlbar ist, ist auchMn abzahlbar fur jedes n ∈ N. Und nach Satz 6.1 gilt dies auch fur die Vereinigung∪

n∈NMn =

mn

: m ∈ Z, n ∈ N= Q,

wie behauptet. q.e.d.

Folgerung 6.1 besagt, dass die rationalen Zahlen gleichmachtig zu den naturli-chen Zahlen sind. Diese Aussage wird fur die reellen Zahlen falsch:

Satz 6.2: Die Menge der reellen Zahlen ist uberabzahlbar.

Beweis (Cantorsches Diagonalverfahren): Wir zeigen, dass bereits die Menge (0, 1) = x ∈ R : 0 <x < 1 uberabzahlbar ist. Ware namlich (0, 1) abzahlbar, so gabe es eine Folge xnn mit (0, 1) =

xn : n ∈ N. Nach Satz 5.1 konnen wir jedes xn als Dezimalbruch darstellen: xn =∞∑m=1

anm ·10−m

mit anm ∈ 0, 1, . . . , 9 fur alle n,m ∈ N, also

x1 = 0, a11a12a13a14 . . . ,

x2 = 0, a21a22a23a24 . . . ,

x3 = 0, a31a32a33a34 . . . ,

x4 = 0, a41a42a43a44 . . .

Wir betrachten nun y =∞∑m=1

cm · 10−m ∈ (0, 1) mit

cm :=

amm + 2, falls amm ≤ 4,

amm − 2, falls amm > 4.

Dann gilt also |cm − amm| = 2 fur alle m ∈ N. Also unterscheidet sich y von xm an der m-tenNachkommastelle mindestens um 2, so dass folgt

|y − xm| ≥ 10−m fur alle m ∈ N

und insbesondere y ∈ xn : n ∈ N. Also war die Annahme falsch, d.h. (0, 1) und damit auch Rsind uberabzahlbar.

q.e.d.

Folgerung 6.2: Die Menge der irrationalen Zahlen R \Q ist uberabzahlbar.

Beweis: Anderenfalls ware nach Folgerung 6.1 auch (R \ Q) ∪ Q = R abzahlbar, imWiderspruch zu Satz 6.2.

q.e.d.

Wir untersuchen nun Teilmengen von R genauer und beginnen mit der

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6. PUNKTMENGEN IN R 43

Definition 6.2: Eine Menge M ⊂ R heißt nach oben (bzw. unten) beschrankt,wenn ein c ∈ R existiert mit

x ≤ c (bzw. x ≥ c) fur alle x ∈M.

Man nennt dann c obere (bzw. untere) Schranke vonM . Schließlich heißt die MengeM beschrankt, wenn sie sowohl nach oben als auch nach unten beschrankt ist.

Bemerkungen:

1. M ist genau dann beschrankt, wenn ein c > 0 existiert mit |x| ≤ c fur allex ∈M .

2. Die zu einer beschrankten Folge xnn ⊂ R gehorige Menge xn : n ∈ N istoffenbar beschrankt.

Definition 6.3:

(a) Ist M ⊂ R nach oben beschrankt, so heißt σ ∈ R kleinste obere Schranke oderSupremum von M , i.Z. σ = supM , falls folgendes gilt:

(i) σ ist obere Schranke von M , d.h. x ≤ σ fur alle x ∈M .

(ii) Fur jede weitere obere Schranke σ von M gilt σ ≤ σ.

(b) Entsprechend heißt τ ∈ R großte untere Schranke oder Infimum, i.Z. τ =infM , zu einer nach unten beschrankten Menge M ⊂ R, wenn gilt

(i) τ ist untere Schranke von M .

(ii) Fur jede weitere untere Schranke τ von M gilt τ ≥ τ .

Aus der Definition ist sofort klar, dass Infimum und Supremum, wenn sie existie-ren, eindeutig bestimmt sind. Außerdem haben wir die folgende Charakterisierungvon Infimum und Supremum:

Hilfssatz 6.1: Sei M ⊂ R nach oben beschrankt. Dann gilt σ = supM genau dann,wenn σ obere Schranke ist und zu jedem ε > 0 ein x ∈ M existiert mit x ≥ σ − ε.Entsprechend ist τ = infM fur eine nach unten beschrankte Menge M ⊂ R genaudann richtig, wenn τ untere Schranke ist und zu jedem ε > 0 ein x ∈ M existiertmit x ≤ τ + ε.

Beweis: Ubungsaufgabe!

Satz 6.3: Jede nichtleere, nach oben (bzw. unten) beschrankte MengeM ⊂ R besitztein Supremum (bzw. Infimum).

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44 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Wir zeigen nur die Existenz des Supremums. Die des Infimums folgt danndurch Ubergang zur Menge −M := x ∈ R : −x ∈M.

Zum Beweis betrachten wir wieder eine Intervallschachtelung: Wir konstruierenIntervalle In = [xn, cn] mit In+1 ⊂ In fur alle n ∈ N, so dass gilt:

|In| ≤(12

)n−1(c1 − x1), xn ∈M, cn ist obere Schranke an M. (6.1)

• n = 1: DaM nichtleer und nach oben beschrankt ist, existiert ein x1 ∈M undein c1 mit x ≤ c1 fur alle x ∈M .

• n → n + 1: Sei In = [xn, cn] konstruiert mit den Eigenschaften (6.1). Dannsetzen wir yn := 1

2(xn + cn) und erklaren In+1 wie folgt:

(i) Falls M ∩ [yn, cn] = ∅, dann ist yn obere Schranke an M und wir setzenxn+1 := xn ∈M , cn+1 := yn.

(ii) Falls M ∩ [yn, cn] = ∅, so existiert ein xn+1 ≥ yn mit xn+1 ∈ M . Dannsetzen wir cn+1 := cn.

Offenbar ist dann (6.1) erfullt fur In+1 und wir haben In+1 ⊂ In.

Nach Satz 5.3 und der anschließenden Bemerkung konvergieren die Folgen xnnund cnn gegen σ ∈

∩n∈N In. Wir zeigen noch σ = supM :

Wegen x ≤ cn fur alle x ∈ M und n ∈ N liefert Grenzubergang x ≤ σ fur allex ∈ M , d.h. σ ist obere Schranke. Gabe es eine obere Schranke σ < σ, so wareσ − σ > 0. Wegen limn→∞ xn = σ existierte dann ein N ∈ N mit |xN − σ| < σ − σund folglich

xN ≥ σ − |xN − σ| > σ − (σ − σ) = σ,

im Widerspruch zu xN ∈M . q.e.d.

Beispiele:

1. Sei [a, b) ein halboffenes Intervall mit a < b. Dann gilt

inf[a, b) = a, sup[a, b) = b.

In der Tat ist a offenbar untere Schranke von [a, b) := x ∈ R : a ≤ x < b. Und jede weitereuntere Schranke a′ muss a′ ≤ a erfullen, d.h. a = inf[a, b).

Andererseits ist offenbar b obere Schranke fur [a, b). Und ist ε > 0 beliebig gewahlt, so setzenwir x := maxa, b− ε. Dann ist x ∈ [a, b) und x ≥ b− ε richtig, und nach Hilfssatz 6.1 giltb = sup[a, b).

2. Fur A := n+1n

: n ∈ N ist inf A = 1 erfullt, denn es gelten n+1n

> 1 fur alle n ∈ N undlimn→∞

n+1n

= 1, also auch n+1n

≤ 1 + ε fur beliebiges ε > 0 und hinreichend großes n ∈ N.

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6. PUNKTMENGEN IN R 45

Bemerkungen:

1. Obige Beispiele zeigen, dass infM zur MengeM dazu gehoren kann oder nicht.Wenn infM ∈M gilt, so schreiben wir auch minM := infM fur das Minimumvon M . Ebenso sprechen wir vom Maximum von M , falls supM ∈M gilt undschreiben dann maxM := supM . Man beachte, dass fur Mengen mit endlichvielen Elementen immer minM = infM und maxM = supM erfullt sind.

2. Fur nach oben bzw. nach unten unbeschrankte Mengen M ⊂ R schreiben wirauch

supM = +∞ bzw. infM = −∞.

Wir wenden uns nun wieder reellen Folgen zu. In Definition 5.5 haben wir denBegriff des Haufungswertes einer Folge xnn als Grenzwert einer Teilfolge xnkkerklart. Betrachtet man alle Haufungswerte einer Folge, wird man auf die folgendenBegriffe gefuhrt:

Definition 6.4: Sei xnn ⊂ R eine beschrankte Folge und bezeichne H die Mengeihrer Haufungswerte. Wir setzen dann

lim infn→∞

xn := infH (Limes inferior),

lim supn→∞

xn := supH (Limes superior).

Bemerkung: Offenbar ist H beschrankt, wenn xnn beschrankt ist. Man beachtenoch

lim infn→∞

(−xn) = − lim supn→∞

xn, lim supn→∞

(−xn) = − lim infn→∞

xn.

Beispiel: Die Folge xnn = (−1)n + 1nn ist offenbar beschrankt und wir haben

die konvergenten Teilfolgen

x2k = 1 +1

2k→ 1 (k → ∞), x2k−1 = −1 +

1

2k − 1→ −1 (k → ∞).

Also gilt H = −1, 1 und lim infn→∞ xn = −1, lim supn→∞ xn = 1. Man beachte,dass lim infn→∞ xn und lim supn→∞ xn zu H gehoren. Dies ist immer so:

Satz 6.4: lim infn→∞ xn ist der kleinste, lim supn→∞ xn der großte Haufungswerteiner beschrankten Folge xnn ⊂ R, d.h.

lim infn→∞

xn = minH, lim supn→∞

xn = maxH.

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46 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Wir haben zu zeigen, dass ξ := lim infn→∞ xn = infH ∈ H richtig ist, also eine Teilfolgexnkk mit limk→∞ xnk = ξ existiert. Angenommen es gabe keine solche Teilfolge. Dann existiertalso ein ε > 0 und ein N ∈ N, so dass

|ξ − xn| ≥ ε fur alle n ≥ N (6.2)

erfullt ist. Andererseits ist ξ = infH, nach Hilfssatz 6.1 gibt es also ein y ∈ H mit

ξ ≤ y ≤ ξ +ε

2. (6.3)

Zum Haufungswert y ∈ H existiert eine Teilfolge xnkk von xnn mit xnk → y (k → ∞).

Wir wahlen nun k so groß, dass nk ≥ N und |xnk− y| < ε

2gilt. Wegen ξ ≤ y haben wir dann

ξ − xnk≤ y − xn

k< ε

2und folglich liefert (6.2) sogar ξ ≤ xn

k− ε. Aus (6.3) folgt schließlich

xnk<ε

2+ y

(6.3)

≤ ξ + ε ≤ xnk− ε+ ε = xn

k,

also der Widerspruch xnk< xn

k. Somit muss doch lim infn→∞ xn ∈ H gelten. Durch Ubergang zur

Folge −xnn folgt schließlich noch lim supn→∞ xn ∈ H.q.e.d.

Satz 6.5: (Charakterisierung von lim sup)Sei xnn ⊂ R eine beschrankte Folge und η ∈ R. Dann ist η = lim supn→∞ xngenau dann erfullt, wenn gilt:

(i) η ist Haufungswert von xnn.

(ii) Fur alle ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N, so dass gilt

xn < η + ε fur alle n ≥ N(ε).

Beweis:

•”⇒“: Sei also η = lim supn→∞ xn. Nach Satz 6.4 ist dann η ∈ H, also (i) erfullt.Ware (ii) falsch, so gabe es ein ε > 0 und eine Teilfolge x′kk = xnkk mit

x′k ≥ η + ε fur alle k ∈ N. (6.4)

Da x′kk beschrankt ist, existiert nach dem Satz von Bolzano–Weierstraß eineweitere Teilfolge x′kll ⊂ x′kk ⊂ xnn und ein ζ ∈ R mit x′kl → ζ (l → ∞).Also ist ζ ∈ H und somit ζ ≤ η. Andererseits liefert aber (6.4) angewendet aufx′kll nach Grenzubergang l → ∞: ζ ≥ η + ε, Widerspruch!

•”⇒“: Seien nun (i) und (ii) erfullt. Ware η = lim supn→∞ xn = maxH, so gabees ein ζ ∈ H mit ζ > η. Wir setzen ε := ζ−η

2 . Fur die Teilfolge xnkk mit

limk→∞ xnk = ζ existiert dann ein k ∈ N, so dass nk ≥ N(ε) und |xnk− ζ| < ε

richtig ist. Aus (ii) fur n = nk erhalten wir dann

xnk < η + ε = η +ζ − η

2= ζ − ζ − η

2= ζ − ε < xnk ,

Widerspruch! Also ist η = maxH, wie behauptet. q.e.d.

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7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 47

Wir halten noch die entsprechende Aussage fur den Limes inferior fest:

Satz 6.6: (Charakterisierung von lim inf)Sei xnn eine beschrankte Folge und ξ ∈ R. Dann ist ξ = lim infn→∞ xn genaudann erfullt, wenn gilt:

(i) ξ ist Haufungswert von xnn.

(ii) Fur alle ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N, so dass gilt

xn > ξ − ε fur alle n ≥ N(ε).

Bemerkungen:

1. Ohne Beweis notieren wir die Identitaten

lim supn→∞

xn = limn→∞

(supxk : k ≥ n

),

lim infn→∞

xn = limn→∞

(infxk : k ≥ n

).

Diese Darstellungen werden haufig auch als Definition von lim sup und lim infverwendet. Sie sind zwar etwas unanschaulich, haben aber den Vorteil, dasssie auch fur unbeschrankte Folgen Sinn machen: Ist xnn etwa nach obenunbeschrankt, so ist supxk : k ≥ n = +∞ fur alle n ∈ N. Dann setzen wir

lim supn→∞

xn = +∞.

Entsprechend ist fur eine nach unten unbeschrankte Folge

lim infn→∞

xn = −∞.

2. Als Ubungsaufgabe zeige man: Eine Folge xnn ⊂ R ist genau dann konver-gent gegen α ∈ R, wenn sie beschrankt ist und wenn gilt

lim infn→∞

xn = α = lim supn→∞

xn.

7 Die komplexen Zahlen

Ausgehend von der reellen Ebene R2 = R×R der geordneten Paare z = (x, y) ∈ R2,wollen wir nun den Korper der komplexen Zahlen C definieren. Hierzu erklaren wirAddition und Multiplikation wie folgt: Fur z1 = (x1, y1), z2 = (x2, y2) setzen wir

z1 + z2 := (x1 + x2, y1 + y2) (komplexe Addition),

z1 · z2 = z1z2 := (x1x2 − y1y2, x1y2 + x2y1) (komplexe Multiplikation).(7.1)

Geometrisch entspricht die Addition in C der Vektoraddition in R2. Eine geometri-sche Deutung der komplexen Multiplikation folgt erst im 3.Kapitel.

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48 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Satz 7.1: (R2,+, ·) ist ein Korper mit

Nullelement: 0 := (0, 0),

Einselement: 1 := (1, 0),

negativem Element: zu z = (x, y) setzen wir −z := (−x,−y),inversem Element: zu z = (x, y) = 0 setzen wir z−1 :=

(x

x2+y2, −yx2+y2

).

Wir schreiben (C,+, ·) oder einfach C fur den Korper der komplexen Zahlen.

Beweis:

1. Die Axiome (A1) und (A2) sind offensichtlich, indem man die entsprechenden Gesetze furR komponentenweise benutzt. Ebenso folgt auch (A3) mit dem oben erklarten Nullelement.Schließlich haben wir fur z = (x, y):

z + (−z) (7.1)=(x+ (−x), y + (−y)

)= (0, 0) = 0,

also (A4).

2. (M1) ist wieder klar, da die komplexe Multiplikation symmetrisch bezuglich der Vertau-schungen x1 ↔ x2 und y1 ↔ y2 ist. Zum Beweis von (M2) betrachten wir z1 = (x1, y1),z2 = (x2, y2), z3 = (x3, y3) und berechnen

(z1z2)z3 = (x1x2 − y1y2, x1y2 + x2y1) · (x3, y3)=((x1x2 − y1y2)x3 − (x1y2 + x2y1)y3, (x1x2 − y1y2)y3 + (x1y2 + x2y1)x3

)und

z1(z2z3) = (x1, y1) · (x2x3 − y2y3, x2y3 + x3y2)

=(x1(x2x3 − y2y3)− y1(x2y3 + x3y2), x1(x2y3 + x3y2) + y1(x2x3 − y2y3)

).

Ein Vergleich der rechten Seiten zeigt (M2). Mit dem oben erklarten Einselement (1, 0) habenwir fur beliebiges z = (x, y) ∈ C:

z · 1 = (x, y) · (1, 0) = (x · 1− y · 0, x · 0 + y · 1) = (x, y) = z,

also (M3). Schließlich gilt auch (M4), denn wir berechnen mit der Inversen zu z = (x, y) = 0:

zz−1 = (x, y) ·( x

x2 + y2,

−yx2 + y2

)=

(x

x

x2 + y2− y

−yx2 + y2

, x−y

x2 + y2+ y

x

x2 + y2

)= (1, 0) = 1.

3. Das Distributivgesetz lasst sich leicht als Ubungsaufgabe nachrechnen. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Wir konnen wieder Subtraktion und Division erklaren:

z1 − z2 := z1 + (−z2),z1z2

:= z1 · z−12 , falls z2 = 0.

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7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 49

2. Es gelten alle fur beliebige Korper abgeleiteten Rechenregeln. Insbesonderesind Null- und Einselement sowie negatives und inverses Element eindeutigbestimmt.

Wir wollen nun den Korper R als Unterkorper von C identifizieren: Hierzu be-trachten wir die Teilmenge

CR :=z = (x, y) ∈ C : y = 0

.

Fur beliebige z1 = (x1, 0), z2 = (x2, 0) ∈ CR erhalten wir dann aus (7.1):

(x1, 0) + (x2, 0) = (x1 + x2, 0),

(x1, 0) · (x2, 0) = (x1 · x2, 0).

Also sind mit z1, z2 ∈ CR auch z1 + z2, z1 · z2 ∈ CR. Ferner gilt 0, 1 ∈ CR. Und mitz ∈ CR ist offenbar auch −z ∈ CR und fur z = 0 auch z−1 ∈ CR richtig. Also ist CRein Unterkorper von C, d.h. eine Teilmenge von C, die bez. der Rechenoperationenin C einen Korper bildet.

Da außerdem die komplexe Addition und Multiplikation von Elementen aus CRin der ersten Komponente den reellen Operationen entsprechen, konnen wir CR mitR identifizieren durch den Korperisomorphismus:

i : R → CR, x 7→ (x, 0).

In diesem Sinne gilt alsoR ⊂ C.

Geometrisch: In der komplexen Ebene C werden die Zahlen auf der x-Achse alsreelle Zahlen aufgefasst; man spricht daher von der reellen Achse. Die y-Achse heißtimaginare Achse.

Die wichigste komplexe Zahl ist die imaginare Einheit

i := (0, 1).

Sie hat die Eigenschaft

i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1, (7.2)

d.h. z = i ist Losung der Gleichung

z2 + 1 = 0.

Mit i berechnen wir fur beliebige z = (x, y) ∈ C:

x+ iy = (x, 0) + (0, 1)(y, 0) = (x, y) = z.

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50 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Die linke Seite dieser Gleichung werden wir i.F. als Schreibweise fur die komplexeZahl z verwenden, also

z = x+ iy, x, y ∈ R.

Dabei heißt x Realteil und y Imaginarteil von z, und wir schreiben

x = Re z, y = Im z.

Zwei Zahlen z1, z2 ∈ C stimmen genau dann uberein, wenn sowohl ihr Real- als auchihr Imaginarteil ubereinstimmen.

Wir bemerken, dass man mit komplexen Zahlen wie mit reellen rechnen kann,wenn man (7.2) beachtet. Z.B. ist

z2 = (x+ iy)2 = x2 + 2ixy + (iy)2

= x2 + 2ixy + i2y2(7.2)= x2 + 2ixy − y2

richtig, also

Re(z2) = x2 − y2, Im(z2) = 2xy.

Schließlich sei angemerkt, dass C nicht angeordnet werden kann: Gabe es namlichden Begriff der Positivitat, so dass (O1) und (O2) aus Definition 1.2 erfullt sind, sofolgte daraus z.B. fur i = 0 nach Satz 1.3 (f): i2 > 0. Wegen Formel (7.2) ist aberi2 = −1 < 0, denn es gilt 1 = 12 > 0, Widerspruch! Wir werden aber gleich sehen,dass wir C bewerten konnen.

Definition 7.1: Sei z = x+ iy ∈ C, so heißt

z := x− iy

die konjugiert komplexe Zahl zu z; Sprechweisen:”z konjugiert“ oder

”z quer“. Mit

|z| :=√x2 + y2

bezeichnen wir den Betrag von z.

Bemerkungen:

1. Die Konjugation z 7→ z entspricht geometrisch einer Spiegelung an der reellenAchse. Es gelten die Rechenregeln

Re z =1

2(z + z), Im z =

1

2i(z − z) (7.3)

sowie

z = z, z1 + z2 = z1 + z2, z1 · z2 = z1 · z2. (7.4)

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7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 51

2. Der Betrag |z| von z ∈ C entspricht geometrisch dem Abstand zum Nullpunkt(gemessen in der euklidischen Metrik). Es gilt

|z|2 = z · z, |z| = |z|. (7.5)

Satz 7.2: Der Betrag in C hat folgende Eigenschaften:

(a) Es gilt |z| ≥ 0 fur alle z ∈ C und |z| = 0 ⇔ z = 0.

(b) Fur alle z1, z2 ∈ C ist |z1z2| = |z1| |z2| erfullt.

(c) Fur alle z1, z2 ∈ C ist |z1 + z2| ≤ |z1|+ |z2| richtig.

Also ist C ein bewerteter Korper im Sinne von § 1.

Bemerkung: Die geometrische Deutung der komplexen Addition als Vektoradditionim R2 erklart nun auch den Begriff Dreiecksungleichung fur die Relation (c).

Beweis von Satz 7.2:

(a) |z| ≥ 0 fur alle z ∈ C ist per Definition klar. Und wir bemerken |z| =√x2 + y2 = 0 gdw. x2 + y2 = 0 gdw. x = y = 0 gdw. z = 0.

(b) Fur z1, z2 ∈ C berechnen wir

|z1z2| =√

|z1z2|2(7.5)=

√(z1z2)(z1z2)

(7.4)=

√(z1z2)(z1 z2)

=√

(z1z1)(z2z2)(7.5)=

√|z1|2|z2|2 = |z1| |z2|,

wie behauptet.

(c) Wir beachten |z| ≥ |Re z| fur beliebige z ∈ C. Damit erhalten wir

|z1 + z2|2(7.5)= (z1 + z2)(z1 + z2)

(7.4)= z1z1 + (z1z2 + z2z1) + z2z2

(7.4),(7.5)= |z1|2 + (z1z2 + z1z2) + |z2|2

(7.3)= |z1|2 + 2Re(z1z2) + |z2|2

(b),(7.5)

≤ |z1|2 + 2|z1| |z2|+ |z2|2 = (|z1|+ |z2|)2,

und die Behauptung folgt. q.e.d.

Wir wollen nun Punktfolgen znn im Korper C betrachten und erklaren inAnalogie zu den Definitionen 4.1-4.3:

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52 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Definition 7.2: Eine Folge znn ⊂ C heißt

• beschrankt, falls ein c > 0 existiert mit |zn| ≤ c fur alle n ∈ N.

• Cauchyfolge, falls fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ N existiert mit

|zn − zm| < ε fur alle m,n ≥ N(ε).

• konvergent gegen z ∈ C, falls fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ N existiert mit

|zn − z| < ε fur alle n ≥ N(ε).

Wir schreiben limn→∞

zn = z oder zn → z (n→ ∞).

• Nullfolge, falls znn gegen 0 konvergiert.

Bemerkung: Nennen wir ζ ∈ C : |z−ζ| < ε wieder eine ε-Umgebung von z ∈ C, sokonvergiert znn genau dann gegen z, wenn in jeder (noch so kleinen) ε-Umgebungvon z fast alle Glieder der Folge liegen. In C ist eine ε-Umgebung von z, geometrischgesehen, eine (offene) Kreisscheibe um z vom Radius ε > 0; wir schreiben daherauch

Kε(z) :=ζ ∈ C : |z − ζ| < ε

.

Wir wollen nun zeigen, dass C auch vollstandig ist. Zur Vorbereitung notierenwir den folgenden

Hilfssatz 7.1: Eine Folge znn ⊂ C ist genau dann konvergent (bzw. Cauchyfolge,Nullfolge, beschrankt), wenn die reellen Folgen Re(zn)n und Im(zn)n konvergent(bzw. Cauchyfolgen, Nullfolgen, beschrankt) sind. Fur konvergente Folgen znn gilt

limn→∞

zn = limn→∞

Re(zn) + i limn→∞

Im(zn).

Beweis: Die Aussagen ergeben sich sofort aus den Relationen

|Re z| ≤ |z|, |Im z| ≤ |z|, |z| ≤ |Re z|+ |Im z|,

die man leicht als Ubungsaufgabe bestatigt. q.e.d.

Satz 7.3: (Cauchysches Konvergenzkriterium in C)Eine Folge znn ⊂ C ist genau dann konvergent, wenn sie Cauchyfolge ist. Insbe-sondere ist C ein vollstandiger (bewerteter) Korper.

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8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 53

Beweis: Aus Hilfssatz 7.1 und dem Cauchyschen Konvergenzkriterium in R folgernwir:

znn ist konvergentHS 7.1⇐⇒ Re(zn)n, Im(zn)n ⊂ R sind konvergent

Satz 5.2⇐⇒ Re(zn)n, Im(zn)n ⊂ R sind Cauchyfolgen

HS 7.1⇐⇒ znn ist Cauchyfolge,

wie behauptet. q.e.d.

Als Ubung beweist man noch den folgenden

Satz 7.4: (Rechenregeln fur komplexe Grenzwerte)

• Ist znn ⊂ C eine konvergente Folge, so konvergiert auch znn und es gilt

limn→∞

zn = limn→∞

zn.

• Ist ζnn ⊂ C eine weitere konvergente Folge, so konvergieren auch zn+ζnnund zn · ζnn mit

limn→∞

(zn + ζn) = limn→∞

zn + limn→∞

ζn,

limn→∞

(zn · ζn) =(limn→∞

zn)·(limn→∞

ζn).

• Gilt schließlich noch ζn = 0 fur alle n ∈ N und limn→∞ ζn = 0, so konvergiertauch znζn n mit

limn→∞

(znζn

)=

limn→∞

zn

limn→∞

ζn.

8 Konvergenzkriterien fur Reihen (in C)

In § 4 haben wir Reihen in R definiert und den Begriff der Konvergenz einer Reiheeingefuhrt. Mit dem in § 7 gegebenen Konvergenzbegriff fur Folgen in C sagen wirnun entsprechend: Ist zkk∈N ⊂ C, so heißt die Reihe

∑∞k=1 zk konvergent, wenn

die Folge der Partialsummen snn mit sn :=∑n

k=1 zk, n ∈ N, konvergiert. Wirschreiben wieder

∑∞k=1 zk sowohl fur die Reihe als auch, wenn existent, fur den

Grenzwert

limn→∞

sn = limn→∞

( n∑k=1

zk

)=:

∞∑k=1

zk,

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54 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

also den Wert oder die Summe der Reihe. Wenden wir Hilfssatz 7.1 auf die Folgesnn der Partialsummen an, so folgt noch: Die komplexe Reihe

∑∞k=1 zk konvergiert

genau dann, wenn∑∞

k=1Re(zk) und∑∞

k=1 Im(zk) konvergieren, und es gilt

∞∑k=1

zk =∞∑k=1

Re(zk) + i∞∑k=1

Im(zk).

Wenn die Reihe∑∞

k=1 zk nicht konvergent ist, heißt sie divergent. Wenn zk =xk ∈ R fur alle k ∈ N und

limn→∞

sn = ±∞

gilt, so heißt die Reihe bestimmt divergent (gegen ±∞).

Es sei schließlich angemerkt, dass wir naturlich auch Reihen der Form∑∞

k=k0zk

mit einem k0 ∈ N0 (oder sogar k0 ∈ Z) betrachten konnen (und werden). Fallsklar ist, uber welche k summiert wird, schreiben wir auch kurz

∑k zk fur die Reihe

bzw. ihren Wert.

Im vorliegenden Paragraphen werden wir eine Anzahl wichtiger Konvergenzkri-terien fur Reihen kennenlernen, die wir (soweit sinnvoll) in C formulieren und dieals Spezialfall naturlich auch fur reelle Reihen gelten. Wir beginnen mit dem

Satz 8.1: (Cauchysches Konvergenzkriterium fur Reihen)Eine Reihe

∑∞k=1 zk in C konvergiert genau dann, wenn fur beliebige ε > 0 ein

N = N(ε) ∈ N existiert, so dass gilt∣∣∣∣ n∑k=m+1

zk

∣∣∣∣ < ε fur alle n > m ≥ N(ε). (8.1)

Beweis: Wir bemerken

|sn − sm| =∣∣∣∣ n∑k=1

zk −m∑k=1

zk

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣ n∑k=m+1

zk

∣∣∣∣ fur alle n > m.

Also ist (8.1) aquivalent dazu, dass snn eine Cauchyfolge bildet und somit nachSatz 7.3 auch aquivalent zur Konvergenz der Folge snn bzw. der Reihe

∑k zk.

q.e.d.

Bemerkung: Satz 8.1 zeigt ubrigens auch: Die Reihe∑∞

k=1 zk konvergiert (bzw. di-vergiert) genau dann, wenn fur beliebige k0 ∈ N die Reihe

∑∞k=k0

zk konvergiert(bzw. divergiert). Die ersten endlich vielen Glieder beeinflussen das Konvergenzver-halten der Reihe also nicht (aber naturlich ihren Wert).

Das folgende Kriterium eignet sich eher zum Ausschluss der Konvergenz:

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8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 55

Satz 8.2: Wenn∑∞

k=1 zk (zk ∈ C fur alle k ∈ N) konvergiert, so muss gelten

limk→∞

zk = 0.

Beweis: Sei∑

k zk konvergent und ε > 0 beliebig gewahlt. Nach Satz 8.1 existiertdann ein N(ε) ∈ N mit |zn| < ε fur alle n > N(ε) (wende (8.1) mit m = n− 1 an).Also ist znn Nullfolge.

q.e.d.

Zum Beispiel divergiert also die Reihe∑∞

k=1(−1)k, da (−1)kk keine Nullfol-ge ist. Wie wir am Beispiel der harmonischen Reihe jetzt sehen werden, ist dasKriterium aus Satz 8.2 nicht hinreichend:

Beispiel: Harmonische Reihe∞∑k=1

1k .

Zwar bildet 1kk eine Nullfolge, aber die Reihe ist nicht konvergent. In der Tat gilt

fur beliebiges m ∈ N:

∣∣∣∣ 2m∑k=m+1

1

k

∣∣∣∣ ≥ 2m∑k=m+1

1

2m=

m

2m=

1

2.

Also ist das Cauchysche Konvergenzkriterium (8.1) fur ε < 12 nicht erfullbar.

Fur reelle Reihen mit nichtnegativen Eintragen gilt der folgende

Satz 8.3: Die Reihe∑∞

k=1 xk mit xk ∈ R und xk ≥ 0 fur alle k ∈ N konvergiertgenau dann, wenn die zugehorige Folge der Partialsummen beschrankt ist.

Bemerkung: Falls die Folge der Partialsummen einer (komplexen) Reihe∑∞

k=1 zkbeschrankt ist, sagen wir die Reihe ist beschrankt und schreiben∣∣∣∣ ∞∑

k=1

zk

∣∣∣∣ < +∞.

Die Folge∑∞

k=1(−1)k ist ein Beispiel einer beschrankten, aber nicht konvergentenReihe.

Beweis von Satz 8.3: Wegen xk ≥ 0 ist die Folge der Partialsummen sn =∑n

k=1 xkmonoton wachsend. Satz 5.6 uber die monotone Konvergenz liefert also die Konver-genz der Reihe, wenn wir ihre Beschranktheit voraussetzen. Umgekehrt ist naturlichjede konvergente Reihe auch beschrankt.

q.e.d.

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56 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Im Falle sogenannter alternierender Reihen haben wir die folgende Aussage:

Satz 8.4: (Konvergenzkriterium von Leibniz)

Ist xkk ⊂ R eine monoton fallende Nullfolge, so konvergiert die Reihe∞∑k=1

(−1)kxk.

Wir verzichten an dieser Stelle auf einen Beweis, da sich Satz 8.4 als Spezialfallvon Satz 9.3 ergeben wird.

Beispiel: Die Reihen

∞∑k=1

(−1)k

k( alternierende harmonische Reihe),

∞∑k=0

(−1)k

2k + 1(Leibnizreihe)

konvergieren offenbar nach Satz 8.4. Wir werden spater berechnen

∞∑k=1

(−1)k

k= − log 2,

∞∑k=0

(−1)k

2k + 1=π

4.

Definition 8.1: Eine komplexe Reihe∑∞

k=1 zk heißt absolut konvergent, wenn dieReihe

∑∞k=1 |zk| konvergiert.

Bemerkungen:

1. Jede absolut konvergente Reihe konvergiert auch im gewohnlichen Sinn: Dennnach der Dreiecksungleichung in C gilt∣∣∣∣ n∑

k=m+1

zk

∣∣∣∣ ≤ n∑k=m+1

|zk| fur alle n > m,

und Satz 8.1 liefert die Behauptung.

2. Es gibt Reihen, die zwar im gewohnlichen Sinn aber nicht absolut konvergieren,z.B. die alternierende harmonische Reihe.

3. Sind∑∞

k=1 zk und∑∞

k=1 ζk zwei absolut konvergente Reihen, so ist auch jede(komplexe) Linearkombination

∑∞k=1(αzk + βζk) mit α, β ∈ C absolut kon-

vergent; dies folgt aus Satz 7.4 angewendet auf die Folge der Partialsummen.Entsprechendes gilt naturlich auch fur Linearkombinationen konvergenter Rei-hen.

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8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 57

Eines der wichtigsten Konvergenzkriterien enthalt nun der folgende

Satz 8.5: (Majorantenkriterium)Zwei Folgen zkk ⊂ C und µkk ⊂ R mit

|zk| ≤ µk fur alle k ∈ N

seien gegeben. Dann gilt: Konvergiert die Reihe∑∞

k=1 µk, so konvergiert∑∞

k=1 zkabsolut. Die Reihe

∑k µk heißt Majorante von

∑k zk.

Beweis: Zu beliebigem ε > 0 existiert nach Satz 8.1 ein N(ε) ∈ N mit

n∑k=m+1

|zk| ≤n∑

k=m+1

µk < ε fur alle n > m ≥ N(ε).

Wiederum nach Satz 8.1 konvergiert also auch∑

k |zk|, d.h.∑

k zk konvergiert abso-lut.

q.e.d.

Folgerung 8.1: (Minorantenkriterium)Sind xkk, µkk ⊂ R gegeben mit

xk ≥ µk ≥ 0 fur alle k ∈ N

und divergiert∑∞

k=1 µk, so divergiert auch∑∞

k=1 xk. Die Reihe∑

k µk heißt Mino-rante von

∑k xk.

Beweis: Ware namlich∑

k xk konvergent, so ware∑

k µk nach Satz 8.5 ebenfallskonvergent, Widerspruch!

q.e.d.

Beispiele:

1. Die Reihe∑∞

k=0 zk konvergiert absolut fur |z| < 1 und divergiert fur |z| > 1.

Ersteres folgt aus Satz 8.5, da

∞∑k=0

|z|k (4.1)=

1

1− |z|

eine konvergente Majorante ist. Und letzteres aus Satz 8.2, da zkk keineNullfolge ist fur |z| > 1.

2. Die Reihe∑∞k=1

1kα

konvergiert (absolut) fur rationales α ≥ 2. Wir haben namlich

0 <1

kα≤ 1

k2≤ 2

k(k + 1)fur alle k ∈ N,

also ist∑∞k=1

2k(k+1)

eine Majorante, die gemaß des vorletzten Beispiels in § 4 konvergiertmit

∞∑k=1

2

k(k + 1)= 2

∞∑k=1

1

k(k + 1)= 2.

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58 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Sehr nutzlich ist auch der folgende

Satz 8.6: (Quotientenkriterium)Es sei

∑∞k=1 zk eine komplexe Reihe mit zk = 0 fur alle k ∈ N. Dann gilt:

(a) Existiert ein q ∈ (0, 1) und ein k0 ∈ N mit∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ ≤ q < 1 fur alle k ≥ k0,

so konvergiert die Reihe∑∞

k=1 zk absolut.

(b) Existiert ein k0 ∈ N, so dass gilt∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ ≥ 1 fur alle k ≥ k0,

dann divergiert die Reihe.

Beweis:

(a) Es gilt|zk| ≤

(|zk0 |q−k0

)qk fur alle k ≥ k0,

wie man leicht mit vollstandiger Induktion zeigt. Nach Satz 8.5 konvergiertalso die Reihe

∑k zk absolut, da sie (ab dem k0-ten Glied) die konvergente

Majorante∞∑

k=k0

(|zk0 |q−k0

)qk =

(|zk0 |q−k0

) ∞∑k=k0

qk

besitzt.

(b) Offensichtlich gilt |zk| ≥ |zk0 | > 0 fur alle k ≥ k0. Also bildet zkk keineNullfolge, nach Satz 8.2 ist somit

∑k zk divergent.

q.e.d.

Bemerkung:Wir konnen in Satz 8.6 (a) die Voraussetzung nicht durch die schwachereBedingung ∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ < 1 fur alle k ≥ k0

ersetzen, wie das Beispiel der divergenten harmonischen Reihe∑∞

k=11k zeigt.

Umgekehrt ist die dort angegebene Bedingung aber auch keine notwendige Be-dingung, denn z.B.

∑∞k=1

1k2

konvergiert wie oben gesehen, aber es gilt∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ = k2

(k + 1)2→ 1 (k → ∞).

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8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 59

Beispiele:

1. Die Reihe∑∞

k=1k2

2kkonvergiert, denn mit xk :=

k2

2khaben wir∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣ = (k + 1)2

2k+1

2k

k2=

(k + 1)2

2k2=

1

2

(1 +

1

k

)2≤ 8

9< 1 fur alle k ≥ 3.

Satz 8.6 (a) liefert die Behauptung.

2. Die Reihe∑∞

k=1kk

k! divergiert, denn mit xk =kk

k! gilt∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣ = (k + 1)k+1

(k + 1)!

k!

kk=(k + 1

k

)k≥ 1 fur alle k ∈ N,

wir konnen also Satz 8.6 (b) anwenden.

3. Die komplexe Exponentialreihe∑∞

k=0zk

k! konvergiert absolut fur beliebiges z ∈C. Mit zk :=

zk

k! gilt namlich∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ = |z|k+1

(k + 1)!

k!

|z|k=

|z|k + 1

≤ 1

2fur alle k ≥ 2|z| − 1.

Als Ubungsaufgabe beweise man noch den folgenden

Satz 8.7: (Wurzelkriterium)Es sei

∑∞k=1 zk eine komplexe Reihe. Dann gilt:

(a) Existiert ein q ∈ (0, 1) und ein k0 ∈ N mit

k√

|zk| ≤ q < 1 fur alle k ≥ k0,

so konvergiert∑∞

k=1 zk absolut.

(b) Giltlim supk→∞

k√

|zk| > 1,

so divergiert die Reihe.

Wir wenden uns nun dem Produkt von absolut konvergenten Reihen zu:

Satz 8.8: (Cauchyscher Produktsatz)Es seien

∑∞k=1 zk,

∑∞l=1 ζl komplexe, absolut konvergente Reihen. Setzen wir

cj :=

j∑k=1

zkζj−k+1 fur j ∈ N,

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60 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

so konvergiert auch die Reihe∑∞

j=1 cj absolut, und es gilt die Cauchysche Produkt-formel ( ∞∑

k=1

zk

)( ∞∑l=1

ζl

)=

∞∑j=1

cj .

Beweis:

1. Wir erklaren die Partialsummen

rn :=

n∑k=1

zk, sn :=

n∑l=1

ζl, tn :=

n∑j=1

cj .

Dann gilt

rnsn =

( n∑k=1

zk

)( n∑l=1

ζl

)=

n∑k=1

( n∑l=1

zkζl

)=:

n∑k,l=1

zkζl.

Diese Schreibweise fur eine (endliche)Doppelsumme ist offenbar sinnvoll, da die Reihenfolgeder Summation irrelevant ist. Setzen wir

Qn :=(k, l) ∈ N× N : 1 ≤ k ≤ n, 1 ≤ l ≤ n

,

so haben wirrnsn =

∑(k,l)∈Qn

zkζl. (8.2)

Die Definition der cj lasst sich auch schreiben als

cj =∑

k+l=j+1k,l∈N

zkζl,

so dass sich fur die n-te Partialsumme der cj ergibt

tn =∑

(k,l)∈Dn

zkζl; (8.3)

hierbei haben wir noch

Dn :=(k, l) ∈ N× N : k + l ≤ n+ 1

gesetzt. Da nun Dn ⊂ Qn fur jedes n ∈ N richtig ist, haben wir insgesamt

rnsn − tn =∑

(k,l)∈Qn\Dn

zkζl fur alle n ∈ N. (8.4)

2. Setzen wir noch

r∗n :=

n∑k=1

|zk|, s∗n :=

n∑l=1

|ζl|,

so finden wir wie in (8.2):

r∗ns∗n =

∑(k,l)∈Qn

|zk| |ζl|, n ∈ N. (8.5)

Nun beachten wir Q2n \ D2n ⊂ Q2n \ Qn, da Qn ⊂ D2n fur alle n ∈ N richtig ist. Damitkonnen wir abschatzen

|r2ns2n − t2n|(8.4)=

∣∣∣∣ ∑(k,l)∈Q2n\D2n

zkζl

∣∣∣∣ ≤∑

(k,l)∈Q2n\D2n

|zk| |ζl|

≤∑

(k,l)∈Q2n\Qn

|zk| |ζl|(8.5)= |r∗2ns∗2n − r∗ns

∗n| → 0 (n→ ∞),

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8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 61

da∑k |zk| und

∑k |ζk| konvergieren, also auch das Produkt ihrer Partialsummen r∗ns∗nn

eine Cauchyfolge bildet. Ganz entsprechend folgt aus Q2n−1 \D2n−1 ⊂ Q2n−1 \Qn auch

|r2n−1s2n−1 − t2n−1| ≤ |r∗2n−1s∗2n−1 − r∗ns

∗n| → 0 (n→ ∞).

Da schließlich |r2ns2n − r2n−1s2n−1| → 0 (n → ∞) gilt (denn rnsnn konvergiert), habent2nn und t2n−1n den gleichen Grenzwert, namlich

limn→∞

tn = limn→∞

(rnsn) = ( limn→∞

rn)( limn→∞

sn),

wie behauptet.

3. Zum Beweis der absoluten Konvergenz von∑j cj betrachten wir noch

t∗n :=

n∑j=1

|cj |, n ∈ N.

Wie in (8.3) erhalten wir dann

0 ≤ t∗n ≤∑

(k,l)∈Dn

|zk| |ζl| ≤∑

(k,l)∈Qn

|zk| |ζl|(8.5)= r∗ns

∗n ≤ K fur alle n ∈ N

mit K := (∑k |zk|)(

∑l |ζl|) < +∞. Also ist t∗nn beschrankt, monoton wachsend und nach

Satz 5.6 somit auch konvergent.q.e.d.

Schließlich untersuchen wir das Verhalten von Reihen unter Umordnungen.

Definition 8.2: Sei∑∞

k=1 zk eine komplexe Reihe. Dann heißt∑∞

k=1 ζk eine Um-ordnung von

∑∞k=1 zk, wenn es eine bijektive Abbildung σ : N → N gibt, so dass

gilt

ζn = zσ(n) fur alle n ∈ N.

σ heißt unendliche Permutation der Reihenglieder.

Fur endliche Summen ist die Reihenfolge der Summation bekanntlich irrelevantfur das Ergebnis; jede Umordnung einer endlichen Summe liefert also den gleichenWert. Bei unendlichen Reihen muss das nicht gelten:

Definition 8.3: Wir nennen eine komplexe konvergente Reihe∑∞

k=1 zk unbedingtkonvergent, wenn jede ihrer Umordnungen ebenfalls konvergiert und den gleichenWert wie die ursprungliche Reihe besitzt. Anderenfalls heißt

∑∞k=1 zk bedingt kon-

vergent.

Satz 8.9: (Dirichletscher Umordnungssatz)Eine komplexe konvergente Reihe ist genau dann unbedingt konvergent, wenn sieabsolut konvergent ist.

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62 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Wir zeigen nur, dass jede absolut konvergente Reihe auch unbedingt konvergent ist. Dieumgekehrte Aussage folgt aus dem anschließenden Satz 8.10.

Sei also∑∞k=1 zk absolut konvergent, d.h.

∑∞k=1 |zk| < +∞. Dann existiert nach Satz 8.1 zu

jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N , so dass

N+p∑k=N+1

|zk| <ε

2fur alle p ∈ N (8.6)

richtig ist. Ist nun∑∞k=1 ζk eine beliebige Umordnung von

∑k zk, so existiert ein K ∈ N mitK ≥ N ,

so dass giltz1, . . . , zN ⊂ ζ1, . . . , ζK. (8.7)

Es bezeichne sn :=∑nk=1 zk bzw. tn :=

∑nk=1 ζk die n-ten Partialsummen der beiden Reihen. Aus

(8.6) und (8.7) folgt dann

|sn − tn| <ε

2+ε

2= ε fur alle n > K ≥ N,

da sich die Terme z1, . . . , zN aufheben und die ubrigen Terme in den Summen sn bzw. tn jeweilsdurch (8.6) abgeschatzt werden konnen. Es folgt also limn→∞ |sn − tn| = 0. Bezeichnet nun s denWert von

∑k zk, so folgt

|tn − s| ≤ |tn − sn|+ |sn − s| → 0 (n→ ∞),

d.h. auch∑k ζk konvergiert gegen s, wie behauptet. q.e.d.

Satz 8.10: (Riemannscher Umordnungssatz)Ist die reelle Reihe

∑∞k=1 xk konvergent, aber nicht absolut konvergent, so gibt es zu

jedem t ∈ R eine Umordnung∑∞

k=1 ξk der Reihe, so dass t =∑∞

k=1 ξk gilt.

Bemerkungen:

1. Ist∑

k zk eine komplexe, unbedingt konvergente Reihe, so sind auch∑

k Re(zk)und

∑k Im(zk) unbedingt konvergent. Nach Satz 8.10 mussen die reellen Rei-

hen absolut konvergent sein, also ist auch∑

k zk absolut konvergent. Das ver-vollstandigt den Beweis von Satz 8.9.

2. Man kann sogar Umordnungen∑

k ξk einer beliebigen reellen konvergenten,aber nicht absolut konvergenten Reihe konstruieren, so dass

∑k ξk = ±∞ gilt

(Ubungsaufgabe).

Beweis von Satz 8.10:

1. Zu xkk setzen wir

pk := max0, xk, qk := −min0, xk, k ∈ N.

Dann giltpk, qk ≥ 0, xk = pk − qk, |xk| = pk + qk fur alle k ∈ N.

Da∑k xk konvergiert, muss |xk| → 0 (k → ∞) gelten und folglich auch

limk→∞

pk = limk→∞

qk = 0. (8.8)

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9. POTENZREIHEN 63

Außerdem haben wir ∑k

pk =∑k

qk = +∞. (8.9)

Ware namlich z.B.∑k pk < +∞, so konvergiert auch∑

k

qk =∑k

(pk − xk) =∑k

pk −∑k

xk.

Dann ware aber auch∑k |xk| =

∑k(pk+qk) konvergent, im Widerspruch zur nicht absoluten

Konvergenz der Reihe∑k xk. Entsprechend zeigt man

∑k qk = +∞.

2. Wir zerlegen nun die Folge xkk in die Teilfolgen der positiven Glieder akk und nichtpo-sitiven Glieder bkk. Nach (8.8) und (8.9) bilden beide Nullfolgen und es gilt∑

k

ak = +∞,∑k

bk = −∞.

Nun wahlen wir n1 als kleinste naturliche Zahl, so dass zu unserem vorgegebenen t ∈ R gilt

n1∑k=1

ak > t.

Dann wahlen wir n2 als kleinste naturliche Zahl, so dass

n1∑k=1

ak +

n2∑k=1

bk < t

richtig ist. Danach bestimmen wir ein kleinstes n3 > n1 wiederum so, dass gilt

n1∑k=1

ak +

n2∑k=1

bk +

n3∑k=n1+1

ak > t.

Es ist klar, wie dieses Verfahren fortgesetzt und welche Umordnung der ursprunglichen Reihedabei erstellt wird. Da n1, n2, n3, . . . jeweils minimal gewahlt waren, muss gelten

n1−1∑k=1

ak ≤ t,

n1∑k=1

ak +

n2−1∑k=1

bk ≥ t, . . .

(ersteres nur, falls t ≥ 0 ist). Somit haben die zugehorigen Teilsummen hochstens einenAbstand von an1 , bn2 , an3 , bn4 , . . . zu t. Da aber sowohl akk als auch bkk Nullfolgen sind,konvergieren die Partialsummen der umgeordneten Reihe gegen t, wie behauptet.

q.e.d.

9 Potenzreihen

Wir wollen nun noch spezielle komplexe Reihen betrachten, namlich Reihen derForm

P(z) =∞∑k=0

akzk

mit den Koeffizienten ak ∈ C (k ∈ N0) und der Variablen z ∈ C. Die PartialsummenPn(z) :=

∑nk=0 akz

k einer Potenzreihe sind fur alle n ∈ N komplexe Polynome.Wir kennen bereits zwei Beispiele von Potenzreihen, welche wohl auch die beiden

wichtigsten sind:

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64 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

• Geometrische Reihe:∞∑k=0

zk, d.h. ak = 1 fur alle k ∈ N0.

• Exponentialreihe:∞∑k=0

zk

k! , d.h. ak =1k! fur alle k ∈ N0.

Wahrend letztere fur alle z ∈ C absolut konvergiert, konvergiert die geometrischeReihe absolut fur |z| < 1 und divergiert fur |z| > 1. I.A. hangt also das Konvergenz-verhalten einer Potenzreihe von der Wahl der Variablen z ab. Genauer haben wirden folgenden

Satz 9.1: (Cauchy-Hadamard)Fur eine Potenzreihe P(z) =

∑∞k=0 akz

k setzen wir α := lim supk→∞k√

|ak| ∈[0,+∞) ∪ +∞. Erklaren wir dann

R :=

+∞, falls α = 0

α−1, falls α ∈ (0,+∞)

0, falls α = +∞, (9.1)

so konvergiert P(z) fur |z| < R absolut und divergiert fur |z| > R.

Bemerkungen:

1. Die in (9.1) erklarte Große R ∈ [0,+∞) ∪ +∞ heißt Konvergenzradius derReihe P(z). Die Kreisscheibe KR := z ∈ C : |z| < R nennen wir dasKonvergenzgebiet.

2. Wir setzen folgende Regeln fur das Rechnen mit +∞ fest:

1

0= +∞,

1

+∞, (+∞) · x = +∞ fur x ∈ R mit x > 0.

Dann liest sich (9.1) also R = 1α .

Beweis von Satz 9.1: Offenbar gilt |z| < R (bzw. |z| > R) genau dann, wenn |z|α < 1(bzw. |z|α > 1) also

lim supk→∞

k

√|akzk| < 1 (bzw. > 1)

richtig ist. Wegen Satz 6.5 ist fur lim supk→∞k√

|akzk| < 1 der Fall (a) aus Satz 8.7gultig, d.h.

∑k akz

k konvergiert absolut. Im Fall lim supk→∞k√

|akzk| > 1 divergiertP(z) =

∑k akz

k nach Satz 8.7 (b).q.e.d.

Als sehr praktisch erweist sich der folgende

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9. POTENZREIHEN 65

Satz 9.2: Ist P(z) =∑∞

k=0 akzk im Punkt z0 ∈ C \ 0 konvergent, so konvergiert

P(z) absolut fur alle z ∈ C mit |z| < |z0|.

Beweis: Da∑

k akzk0 konvergiert, gilt limk→∞ |akzk0 | = 0. Insbesondere ist |akzk0 |k

beschrankt, es gibt also ein c > 0 mit |akzk0 | ≤ c fur alle k ∈ N0. Sei nun z ∈ C mit|z| < |z0| bzw. q := | zz0 | ∈ [0, 1) beliebig gewahlt. Dann folgt

|akzk| = |akzk0 |∣∣∣ zz0

∣∣∣k ≤ cqk fur alle k ∈ N0.

Wegen q ∈ [0, 1) konvergiert die Reihe∑

k cqk = c

∑k q

k = c1−q und nach dem

Majorantenkriterium, Satz 8.5, konvergiert auch P(z) absolut fur |z| < |z0|, wiebehauptet.

q.e.d.

Wir wollen nun einen Satz beweisen, der u.a. Aussagen uber das Konvergenz-verhalten auf dem Rand des Konvergenzgebietes macht und außerdem das Konver-genzkriterium von Leibniz als Spezialfall enthalt. Wir beginnen mit dem

Hilfssatz 9.1: Sei zkk∈N0 ⊂ C eine Folge, so dass∑∞

k=0 zk beschrankt ist, und seiakk ⊂ R eine monoton fallende Nullfolge. Dann konvergiert die Reihe

∑∞k=0 akzk.

Beweis: Wir wollen Satz 8.1 anwenden, also den Ausdruck |∑nk=m+1 akzk| fur hinreichend große

m,n ∈ N0 mit n > m klein bekommen. Dazu setzen wir fur festes m ∈ N0: sn :=∑nk=m+1 zk fur

n > m. Mit vollstandiger Induktion zeigt man dann leicht die Relation

n∑k=m+1

akzk = snan +

n−1∑k=m+1

sk(ak − ak+1) fur alle n > m.

Da akk eine monoton fallende Nullfolge ist, gilt ak ≥ ak+1 ≥ 0 fur alle k ∈ N0. Daher konnen wirabschatzen ∣∣∣∣ n∑

k=m+1

akzk

∣∣∣∣ ≤ |sn|an +

n−1∑k=m+1

|sk|(ak − ak+1)

≤ max|sm+1|, . . . , |sn|

[an +

n−1∑k=m+1

(ak − ak+1)

]= am+1 ·max

|sm+1|, . . . , |sn|

fur n > m.

Da nun akk Nullfolge ist, existiert zu jedem ε > 0 ein N(ε) ∈ N, so dass 0 ≤ ak < ε fur allek ≥ N(ε) richtig ist. Ferner gibt es ein c > 0 mit |sn| ≤ c fur alle n ∈ N, denn snn ist beschranktnach Voraussetzung. Insgesamt folgt∣∣∣∣ n∑

k=m+1

akzk

∣∣∣∣ < cε fur alle n > m ≥ N(ε),

also nach Satz 8.1 die Konvergenz der Reihe. q.e.d.

Satz 9.3: Ist akk∈N0eine monoton fallende Nullfolge, so konvergiert die Potenz-reihe P(z) =

∑∞k=0 akz

k fur alle z ∈ C \ 1 mit |z| ≤ 1.

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66 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Aus der Summenformel der geometrischen Reihe, Satz 2.3, erhalten wir furbeliebige z ∈ C \ 1 mit |z| ≤ 1:∣∣∣∣ n∑

k=0

zk∣∣∣∣ = ∣∣∣1− zn+1

1− z

∣∣∣ ≤ 1 + |z|n+1

|1− z|≤ 2

|1− z|fur alle n ∈ N.

Somit ist∑

k zk fur solche z beschrankt, Hilfssatz 9.1 liefert also die Konvergenz von

P(z).q.e.d.

Bemerkung: Setzen wir in Satz 9.3 speziell z = −1 ein, so folgt die Konvergenz derReihe

∑∞k=0 ak(−1)k. Dies ist gerade die Aussage des Leibnizschen Konvergenzkri-

teriums, Satz 8.4.

Satz 9.4: (Cauchyscher Produktsatz fur Potenzreihen)Sind die Potenzreihen

∑∞k=0 akz

k und∑∞

k=0 bkzk fur |z| < R absolut konvergent, so

gilt dies auch fur die Potenzreihe∑∞

k=0 ckzk mit den Koeffizienten

ck :=k∑l=0

albk−l, k ∈ N0,

und wir haben die Identitat( ∞∑k=0

akzk

)( ∞∑k=0

bkzk

)=

( ∞∑k=0

ckzk

).

Beweis: Dies ergibt sich nach einer Indexverschiebung k → k+1 aus Satz 8.8, wennman noch

k∑l=0

(alzl)(bk−lz

k−l) =

( k∑l=0

albk−l

)zk = ckz

k

beachtet. q.e.d.

Bemerkung: Alle Resultate lassen sich direkt auf komplexe Potenzreihen der Form

Pz0(z) :=∞∑k=0

ak(z − z0)k

ubertragen. Das Konvergenzgebiet von Pz0(z) ist dann eine Kreisscheibe KR(z0) =z ∈ C : |z−z0| < R vom Radius R ∈ [0,+∞)∪+∞ um den Entwicklungspunktz0 ∈ C. Die bisher betrachteten Potenzreihen P(z) sind also Spezialfalle von Pz0(z)mit z0 = 0.

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10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 67

10 Der d-dimensionale reelle Raum Rd und metrischeRaume

Fur den Umgang mit Funktionen in den folgenden Kapiteln benotigen wir nocheinige topologische Begriffe. Da wir Funktionen sowohl in R als auch C (also furPunkte aus R2) betrachten wollen, fuhren wir an dieser Stelle allgemeiner den d-dimensionalen (reellen) Raum Rd mit d ∈ N ein:

(i) Wir betrachten die Menge aller d-Tupel x = (x1, . . . , xd) ∈ Rd := R× . . .×R,wobei zwei Punkte x = (x1, . . . , xd), y = (y1, . . . , yd) ∈ Rd gleich heißen, wennihre Koordinaten ubereinstimmen, d.h. xk = yk fur alle k = 1, . . . , d. DasElement 0 = (0, . . . , 0) ∈ Rd heißt Nullpunkt oder Ursprung des Rd.

(ii) Sind x, y ∈ Rd beliebig, so erklaren wir die Addition auf Rd gemaß

x+ y := (x1 + y1, . . . , xd + yd) ∈ Rd.

Ist ferner λ ∈ R gewahlt, so definieren wir die skalare Multiplikation durch

λx := (λx1, . . . , λxd) ∈ Rd.

Bemerkungen:

1. Den R2 veranschaulichen wir uns wie ublich in der Ebene, den Punkten x =(x1, x2) ∈ R2 entsprechen die Vektoren x = (x1, x2). Dann entspricht die Ad-dition in R2 der Vektoraddition und die skalare Multiplikation der Skalierungeines Vektors.

2. Die Addition in Rd, d ∈ N, genugt den Axiomen (A1)-(A4) aus § 1 mit demneutralen Element 0 = (0, . . . , 0) ∈ Rd und dem negativen Element −x :=(−x1, . . . ,−xd) ∈ Rd. Zusammen mit der skalaren Multiplikation spricht mandann von einer Vektorraumstruktur, d.h. Rd ist ein (reeller) Vektorraum. Hierzumussen – was bei uns offenbar der Fall ist – zusatzlich folgende Axiome erfulltsein:

(S1) λ(µx) = (λµ)x fur alle λ, µ ∈ R, x ∈ Rd,

(S2) λ(x+ y) = λx+ λy, (λ+ µ)x = λx+ µx fur alle λ, µ ∈ R, x, y ∈ Rd,

(S3) 1 · x = x fur alle x ∈ Rd.

3. Wahrend man R1 und R2 mit einer Korperstruktur ausstatten kann, namlichmit der von R bzw. C, ist das fur d ≥ 3 nicht mehr moglich. Trotzdem konnenwir (wie in R und C) einen Abstandsbegriff erklaren m.H. der folgenden

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68 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Definition 10.1: Seien x, y ∈ Rd, so erklaren wir deren (euklidisches) Skalarpro-dukt oder auch inneres Produkt als

⟨x, y⟩ = x · y :=

d∑j=1

xjyj . (10.1)

Die (euklidische) Lange oder den Betrag von x ∈ Rd definieren wir als

|x| :=√

⟨x, x⟩ =( d∑j=1

x2j

) 12

.

Schließlich heißt

|x− y| =( d∑j=1

(xj − yj)2

) 12

der (euklidische) Abstand zweier Punkte x, y ∈ Rd.

Bemerkungen:

1. (Rd, ⟨·, ·⟩) heißt euklidischer Vektorraum; wir schreiben kurz Rd und stellenuns diesen mit dem euklidischen Abstandsbegrif ausgestattet vor. Es sei aberangemerkt, dass es viele weitere Abstandsbegriffe im Rd gibt.

2. Das in (10.1) erklarte Skalarprodukt hat die Eigenschaften

⟨x, y⟩ = ⟨y, x⟩ (Symmetrie) (10.2)

⟨λx+ µy, z⟩ = λ⟨x, z⟩+ µ⟨y, z⟩ (Bilinearitat) (10.3)

⟨x, x⟩ ≥ 0, ⟨x, x⟩ = 0 ⇔ x = 0 (Positivitat) (10.4)

fur beliebige x, y, z ∈ Rd und λ, µ ∈ R (Ubungsaufgabe).

3. Im R2 entspricht der Betrag gerade dem in C erklarten Betrag, in R1 dem inR erklarten Absolutbetrag.

Der Abstand | · | hat sehr ahnliche Eigenschaften wie der Betrag in R oder C(das erklart auch das verwendete Symbol):

Satz 10.1: Fur alle x, y ∈ Rd und λ ∈ R gilt

(i) |x| ≥ 0 und |x| = 0 ⇔ x = 0.

(ii) |λx| = |λ| |x|.

(iii) |x+ y| ≤ |x|+ |y| (Dreiecksungleichung).

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10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 69

Bemerkung: Also unterscheidet sich nur (ii) von der entsprechenden Eigenschaft|xy| = |x| |y| des Betrages in R bzw. C. Dies ist im Rd i.A. falsch, es gilt aber derberuhmte

Satz 10.2: (Cauchy-Schwarzsche Ungleichung)Sind x, y ∈ Rd beliebig, so gilt

|⟨x, y⟩| ≤ |x| |y|. (10.5)

Gleichheit tritt genau dann ein, wenn x = ty oder y = tx mit einem t ∈ R gilt,d.h. wenn x, y linear abhangig sind.

Beweis: Falls y = 0 gilt, ist nichts zu zeigen. Sei also y = 0. Dann folgt

0(10.4)

≤ |x+ ty|2 (10.2),(10.3)= |x|2 + 2t⟨x, y⟩+ t2|y|2 fur alle t ∈ R.

Das ist bekanntlich genau dann der Fall, wenn ⟨x, y⟩2 ≤ |x|2|y|2 gilt, und nachWurzelziehen erhalten wir (10.5). Andererseits hat die Gleichung

0 = |x+ ty|2 = |x|2 + 2t⟨x, y⟩+ t2|y|2

bekanntlich genau dann eine Losung t ∈ R, wenn ⟨x, y⟩2 ≥ |x|2|y|2 gilt. Wegen (10.5)ist also |x+ ty| = 0 fur ein t ∈ R genau dann erfullt, wenn ⟨x, y⟩2 = |x|2|y|2 richtigist, wie behauptet. q.e.d.

Beweis von Satz 10.1: (i) entspricht (10.4), und (ii) folgt unmittelbar aus (10.2),(10.3). Zum Beweis von (iii) berechnen wir

|x+ y|2 = |x|2 + 2⟨x, y⟩+ |y|2(10.5)

≤ |x|2 + 2|x| |y|+ |y|2

= (|x|+ |y|)2,

also nach Wurzelziehen die behauptete Dreiecksungleichung. q.e.d.

Bemerkung: Aus der Dreiecksungleichung folgt wie in Satz 1.5 (c) noch die umge-kehrte Dreiecksungleichung

|x− y| ≥∣∣|x| − |y|

∣∣ fur alle x, y ∈ Rd.

Mit Hilfe des Betrages im Rd konnen wir nun auch die Begriffe fur Folgen in Rbzw. C auf den Rd ubertragen:

Definition 10.2: Eine Folge xnn∈N ⊂ Rd mit den Gliedern xn = (xn1, . . . , xnd) ∈Rd fur n ∈ N heißt

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70 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

• beschrankt, falls ein c > 0 existiert mit |xn| ≤ c fur alle n ∈ N,

• Cauchyfolge, wenn fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ N existiert mit |xn− xm| < ε furalle m,n ≥ N(ε),

• konvergent gegen den Grenzwert x ∈ Rd, wenn es fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ Ngibt mit |xn − x| < ε fur alle n ≥ N(ε); Schreibweise limn→∞ xn = x oderxn → x (n→ ∞),

• Nullfolge, wenn xnn gegen 0 ∈ Rd konvergiert.

Ferner heißt y ∈ Rd Haufungswert von xnn, wenn eine Teilfolge xnkk ⊂ xnnexistiert mit limk→∞ xnk = y.

Z.B. ist also xnn ⊂ Rd gegen x ∈ Rd konvergent, wenn in jeder ε-UmgebungBε(x) := y ∈ Rd : |y − x| < ε fast alle Glieder der Folge liegen. Man beachte,dass Bε(x) in R = R1 ein offenes Intervall, in R2 eine Kreisscheibe um x vom Radiusε > 0 und in Rd fur d ≥ 3 eine Kugel um x vom Radius ε > 0 ist.

Bemerkung: Zur Ubung beweise man folgende Rechenregeln fur Grenzwerte im Rd:Sind xnn, ynn ⊂ Rd konvergente Folgen mit limn→∞ xn = x und limn→∞ yn = y,so folgt

• Sind α, β ∈ R beliebig, so konvergiert auch αxn + βynn mit αxn + βyn →αx+ βy (n→ ∞).

• Es gilt ⟨xn, yn⟩ → ⟨x, y⟩ und |xn| → |x| fur n→ ∞.

• Ist αnn ⊂ R eine Folge mit αn → α (n→ ∞), so gilt αnxn → αx (n→ ∞).

Satz 10.3: (Cauchysches Konvergenzkriterium in Rd)Eine Folge xnn ⊂ Rd ist genau dann konvergent, wenn xnn Cauchyfolge ist.

Der Beweis erfolgt genau wie der des Cauchyschen Konvergenzkriteriums in C,Satz 7.3, in dem man die Aussage auf die Komponentenfolgen xnjn, j = 1, . . . , d,zuruckfuhrt mittels des folgenden

Hilfssatz 10.1: Eine Folge xnn ⊂ Rd ist genau dann beschrankt (bzw. kon-vergent, Cauchyfolge, Nullfolge), wenn alle Komponentenfolgen xnjn ⊂ R, j =1, . . . , d, beschrankt (bzw. konvergent, Cauchyfolgen, Nullfolgen) sind. Fur konver-gente Folgen xnn gilt

limn→∞

xn =(limn→∞

xn1, . . . , limn→∞

xnd).

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10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 71

Beweis: Als Ubungsaufgabe zeigt man: Ist y = (y1, . . . , yd) ∈ Rd beliebig, so geltendie Ungleichungen

|yj | ≤ |y| fur j = 1, . . . , d, |y| ≤d∑

k=1

|yk|.

Hieraus ergeben sich sofort die Behauptungen. q.e.d.

Satz 10.4: (Bolzano-Weierstraß in Rd)Jede beschrankte Folge xnn ⊂ Rd besitzt eine konvergente Teilfolge.

Beweis: Vollstandige Induktion uber die Raumdimension d ∈ N.

• d = 1: Das ist die Aussage von Satz 5.5.

• d → d + 1: Die Aussage sei fur beschrankte Folgen xnn ⊂ Rd mit einemd ∈ N erfullt.

Sei nun xnn ⊂ Rd+1 beschrankt mit den Folgengliedern

xn = (xn1, . . . xnd, xn,d+1) = (xn, ξn) mit xn := (xn1, . . . , xnd), ξn := xn,d+1.

Damit sind auch xnn ⊂ Rd und ξnn ⊂ R beschrankt. Nach Induktionsvor-aussetzung existiert also eine konvergente Teilfolge x′kk = xnkk von xnnmit limk→∞ x′k = x ∈ Rd. Die entsprechende Teilfolge ξ′kk = ξnkk ⊂ Rvon ξnn muss zwar nicht konvergieren, ist aber sicher beschrankt. Also gibtes nach Satz 5.5 eine weitere Teilfolge ξ′kll ⊂ ξ′kk mit liml→∞ ξ′kl = ξ ∈ R.Die entsprechende Teilfolge x′kll ⊂ x′kk konvergiert auch gegen x, so dassschließlich fur x′kll gilt

liml→∞

x′kl = liml→∞

(x′kl , ξ′kl)HS 10.1

= (x, ξ),

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Satz 10.4 fur d = 2 liefert auch: Jede beschrankte Folge xnn ⊂ Cbesitzt eine konvergente Teilfolge. Denn die Betrage in R2 und C stimmen uberein.

Wir wollen nun Teilmengen M ⊂ Rd betrachten und beginnen mit der

Definition 10.3: Eine Teilmenge M ⊂ Rd nennen wir

• offen, wenn zu jedem x0 ∈M ein r > 0 existiert, so dass gilt

Br(x0) = x ∈ Rd : |x− x0| < r ⊂M.

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72 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

• abgeschlossen, wenn fur jede konvergente Folge xnn ⊂M gilt

x0 := limn→∞

xn ∈M.

Beispiele:

1. Intervalle in R:

• Das offene Intervall (a, b) = x ∈ R : a < x < b ist im Sinne von Definition 10.3offen.

Ist namlich x0 ∈ (a, b) gewahlt, so setzen wir r := minx0 − a, b − x0 > 0. Furx ∈ Br(x0) folgt dann

x = x0 + (x− x0) ≥ x0 − |x− x0| > x0 − r ≥ x0 − (x0 − a) = a,

also x > a und entsprechend x < b, also x ∈ (a, b) und somit Br(x0) ⊂ (a, b).

• Das abgeschlossene Intervall [a, b] = x ∈ R : a ≤ x ≤ b ist abgeschlossen im Sinnevon Definition 10.3.

Ist namlich xnn ⊂ [a, b] konvergent mit xn → x0 (n → ∞), so folgt a ≤ xn ≤ b und

nach Grenzubergang n→ ∞ auch a ≤ x0 ≤ b, also x0 ∈ [a, b].

• Das halboffene Intervall [a, b) ist weder offen noch abgeschlossen.

Denn die konvergente Folge b− 1nn≥N ⊂ [a, b) mit hinreichend großem

N ∈ N hat den Grenzwert limn→∞(b− 1n) = b ∈ [a, b). Und fur a ∈ [a, b)

gilt offenbar Br(a) ⊂ [a, b) fur alle r > 0.

2. Kugeln in Rd:

• BR(ξ) ⊂ Rd ist offen fur beliebige R > 0, ξ ∈ Rd.Ist namlich x0 ∈ BR(ξ) beliebig, so ist r := R − |x0 − ξ| > 0. Furx ∈ Br(x0) haben wir dann die Abschatzung

|x− ξ| ≤ |x− x0|+ |x0 − ξ| < r + |x0 − ξ| = R,

also x ∈ BR(ξ) und somit Br(x0) ⊂ BR(ξ).

Man bezeichnet daher BR(ξ) auch als offene Kugel im Rd.• Im Gegensatz dazu ist BR(ξ) := x ∈ Rd : |x − ξ| ≤ R abgeschlossen

und heißt abgeschlossene Kugel im Rd.Ist namlich xnn ⊂ BR(ξ) mit xn → x0 (n → ∞) beliebig, so liefertGrenzubergang n→ ∞ in der Ungleichung |xn − ξ| ≤ R fur alle n ∈ N:

R ≥ limn→∞

|xn − ξ| =∣∣ limn→∞

(xn − ξ)∣∣ = |x0 − ξ|,

also x0 ∈ BR(ξ).

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10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 73

• Die Kugelschale Sϱ,R(ξ) := BR(ξ)\Bϱ(ξ) = x ∈ Rd : ϱ ≤ |x−ξ| < R mit 0 < ϱ < Rist weder offen noch abgeschlossen.

Fur x0 ∈ Sϱ,R(ξ) mit |x0 − ξ| = ϱ gilt namlich Br(x0) ⊂ Sϱ,R(ξ) fur alle r > 0, da

z.B. y := x0 + ε ξ−x0|ξ−x0|

fur hinreichend kleines ε ∈ (0, r) zwar in Br(x0) aber nicht in

Sϱ,R(ξ) liegt, d.h. Sϱ,R(ξ) ist nicht offen. Und andererseits finden wir fur konvergentes

xnn ⊂ Sϱ,R(ξ) mit |xn−ξ| = R− 1n, n ≥ N , die Relation limn→∞ xn =: x0 ∈ Sϱ,R(ξ),

d.h. Sϱ,R(ξ) ist auch nicht abgeschlossen.

3. Q ist weder offen noch abgeschlossen.

4. Rd und ∅ sind die einzigen Teilmengen von Rd, die sowohl offen als auch ab-geschlossen sind.

Wir erinnern an den Begriff der Komplementarmenge oder des Komplementseiner Menge M ⊂ Rd, namlich

M c := Rd \M = x ∈ Rd : x ∈M.

Satz 10.5: Eine Menge M ⊂ Rd ist genau dann offen, wenn ihr Komplement M c

abgeschlossen ist. Weiter ist M genau dann abgeschlossen, wenn M c offen ist.

Beweis: Es genugt, die erste Aussage zu beweisen. Die zweite folgt dann unmittelbaraus der Relation (M c)c =M .

•”⇒“: Sei M ⊂ Rd offen. Ware dann M c nicht abgeschlossen, so gabe es einekonvergente Folge xnn ⊂ M c mit xn → x0 ∈ M c (n → ∞). Das heißt aberx0 ∈ M , und da M offen ist, gabe es eine Kugel Br(x0) ⊂ M mit geeignetemRadius r > 0. Da andererseits |xn − x0| → 0 (n → ∞) gilt, musste aberxn ∈ Br(x0) ⊂ M fur hinreichend großes n ∈ N erfullt sein, im Widerspruchzu xnn ⊂M c. Also ist M c abgeschlossen.

•”⇐“: Sei nun M c abgeschlossen. Ware M nicht offen, so gabe es ein x0 ∈ Mmit Br(x0) ⊂ M fur alle r > 0. Wahlen wir insbesondere r = 1

n , so gabe esalso xn ∈ B 1

n(x0) mit xn ∈ M c fur alle n ∈ N. Fur die so gewahlte Folge

xnn ⊂ M c golte dann aber |xn − x0| < 1n → 0 (n → ∞). Und da M c

abgeschlossen ist, musste x0 ∈M c folgen, Widerspruch! Also ist M offen.q.e.d.

Notation: Meist werden wir offene Mengen mit dem (ggf. indizierten) Symbol Ω ⊂Rd und abgeschlossene Mengen mit A ⊂ Rd bezeichnen.

Satz 10.6:

(a) Sind Ω1, . . . ,Ωn ⊂ Rd offen, so gilt dies auch furn∩j=1

Ωj.

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74 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(b) Sind A1, . . . , An ⊂ Rd abgeschlossen, so ist auchn∪j=1

Aj abgeschlossen.

(c) Sei J eine beliebige Indexmenge und Ωjj∈J eine Familie offener Mengen.Dann ist auch die Vereinigung

∪j∈J

Ωj := x ∈ Rd : x ∈ Ωj fur ein j ∈ J

offen.

(d) Ist Ajj∈J eine Familie abgeschlossener Mengen mit beliebiger IndexmengeJ , so ist auch der Durchschnitt

∩j∈J

Aj := x ∈ Rd : x ∈ Aj fur alle j ∈ J

abgeschlossen.

Beweis: Wegen Satz 10.5 und der allgemeinen Relationen( ∪j∈J

Mj

)c=∩j∈J

M cj ,

( ∩j∈J

Mj

)c=∪j∈J

M cj

genugt es die (nahezu trivialen) Aussagen (a) und (c) zu beweisen (Ubungsaufgabe).

q.e.d.

Definition 10.4: SeiM ⊂ Rd eine beliebige Menge. Dann heißt ein Punkt x0 ∈ Rd:

• innerer Punkt von M , wenn ein r > 0 mit Br(x0) ⊂M existiert.

• Randpunkt von M , wenn zu jedem r > 0 Punkte y ∈ M und z ∈ M c mity, z ∈ Br(x0) existieren.

• Haufungspunkt von M , wenn zu jedem r > 0 ein x ∈ M \ x0 existiert mitx ∈ Br(x0).

• isolierter Punkt von M , wenn x0 ∈M gilt und x0 kein Haufungspunkt von Mist.

Die Menge der inneren Punkte von M ⊂ Rd heißt das Innere von M ; wir schreibenintM oder M . Die Menge der Randpunkte heißt Rand von M und wird mit ∂Mbezeichnet. Schließlich heißt M :=M ∪ ∂M der Abschluss von M .

Bemerkungen: Ein Punkt x0 ∈ Rd ist offenbar genau dann Haufungspunkt vonM ⊂ Rd, wenn eine Folge xnn ⊂ M \ x0 existiert mit xn → x0 (n → ∞).Ferner ist x0 genau dann Randpunkt von M , wenn zwei Folgen ynn ⊂ M undznn ⊂M c existieren mit yn → x0, zn → x0 (n→ ∞).

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10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 75

Satz 10.7: Fur eine beliebige Menge M ⊂ Rd gelten die folgenden Aussagen:

(i) ∂M = ∂(M c).

(ii) M ist genau dann offen, wenn M = intM gilt.

(iii) M = intM ∪ ∂M , ∂M =M \ intM .

(iv) Ist xnn ⊂M konvergent, so gilt limn→∞ xn =: x0 ∈M .

(v) M ist abgeschlossen ⇔ ∂M ⊂M ⇔ M =M .

Beweis: (i) und (ii) sind aus den Definitionen sofort klar. Wir beweisen (iii)-(v):

(iii) Wir zeigen M \ intM ⊂ ∂M . In der Tat: Ist x0 ∈ M \ intM , so gilt Br(x0) ⊂ M fur aller > 0. D.h. fur jedes r > 0 existieren y := x0 ∈ M , z ∈ Mc mit y, z ∈ Br(x0), also folgtx0 ∈ ∂M . Aus der Definition von M folgt nun

M =M ∪ ∂M = (M \ intM) ∪ intM ∪ ∂M = intM ∪ ∂M

und damit auch ∂M =M \ intM , wie behauptet.

(iv) Sei xnn ⊂ M konvergent und x0 = limn→∞ xn. Falls x0 ∈ intM gilt, ist nichts zu zeigenwegen intM ⊂ M ⊂ M . Sei also x0 ∈ intM , d.h. es gilt Br(x0) ⊂ M fur alle r > 0. Alsoexistiert zu jedem n ∈ N ein zn ∈Mc mit |zn−x0| < 1

n, d.h. zn → x0 (n→ ∞). Nach obiger

Bemerkung folgt x0 ∈ ∂M ⊂M , also die Behauptung.

(v) Zunachst ist ∂M ⊂ M ⇔ M = M wieder per Definition klar. Wir beweisen die ersteAquivalenz:

”⇒“: Sei M abgeschlossen und x0 ∈ ∂M gewahlt. Dann existiert eine Folge xnn ⊂M mit

xn → x0 (n → ∞). Und es folgt x0 ∈ M wegen der Abgeschlossenheit von M , also∂M ⊂M .

”⇐“: Sei umgekehrt ∂M ⊂ M . Und sei eine konvergente Folge xnn ⊂ M gewahlt. Nach

(iv) gilt dann x0 := limn→∞ xn ∈M =M ∪ ∂M =M , also ist M abgeschlossen.

q.e.d.

Beispiel: Fur die offene Kugel BR(ξ) im Rd gilt:

intBR(ξ) = BR(ξ),

BR(ξ) = x ∈ Rd : |x− ξ| ≤ R = BR(ξ),

∂BR(ξ) = x ∈ Rd : |x− ξ| = R =: SR(ξ).

Mit Sd−1 := x ∈ Rd : |x| = 1 = S1(0) bezeichnen wir die Einheitssphare im Rd.

Definition 10.5: Eine Teilmenge M ⊂ Rd heißt

• beschrankt, falls ein R > 0 existiert mit M ⊂ BR(0); anderenfalls nennen wirM unbeschrankt.

• kompakt, falls M beschrankt und abgeschlossen ist.

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76 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkung: Ist M nichtleer und beschrankt, so ist der Durchmesser

diamM := sup|x− y| : x, y ∈M

wohl definiert, d.h. diamM ist endlich und eindeutig bestimmt.

Satz 10.8: Eine Teilmenge K ⊂ Rd ist genau dann kompakt, wenn jede Folgexnn ⊂ K eine konvergente Teilfolge xnll enthalt mit lim

l→∞xnl =: x0 ∈ K.

Bemerkung: Eine Menge K nennt man folgenkompakt, wenn jede Folge xnn ⊂ Keine Teilfolge xnll enthalt mit xnl → x0 ∈ K (l → ∞). Satz 10.8 besagt also, dassfur Teilmengen des Rd Kompaktheit und Folgenkompaktheit aquivalent sind. FurTeilmengen aus

”unendlich dimensionalen“ (metrischen) Raumen gilt dies i.A. nicht

mehr, siehe aber Satz 10.10 unten. In solchen Raumen wird der Begriff der Kompakt-heit abweichend von Definition 10.5, namlich durch die

”Heine-Borel-Eigenschaft“,

erklart. Im Rd ist auch diese Eigenschaft aquivalent zu unserer Definition; vgl. Ana-lysis 2.

Beweis von Satz 10.8:

”⇒“: Sei K beschrankt und abgeschlossen. Eine beliebige Folge xnn ⊂ K ist dann

beschrankt und nach Satz 10.4 existiert eine konvergente Teilfolge xnll ⊂ K.Da nun K abgeschlossen ist, gilt liml→∞ xnl =: x0 ∈ K.

”⇐“: Nun sei K folgenkompakt. Dann ist K offenbar abgeschlossen. Ware K nicht

beschrankt, so gabe es zu jedem n ∈ N ein xn ∈M mit xn ∈ Bn(0). Somit gilt|xn| > n fur alle n ∈ N, d.h. aus xnn konnen wir keine konvergente Teilfolgeauswahlen, Widerspruch! Also ist K kompakt.

q.e.d.

Definition 10.6: Eine Teilmenge S ⊂ M heißt dicht in M ⊂ Rd, wenn zu jedemx0 ∈M eine Folge xnn ⊂ S existiert mit xn → x0 (n→ ∞).

Zum Beispiel liegt Qd dicht in Rd, denn zu beliebigem x0 = (x01, . . . , x0d) ∈ Rdkonnen wir nach Satz 5.1 Folgen xnjn ⊂ Q, j = 1, . . . , d, finden mit xnj → x0j (n→∞) und folglich

Qd ∋ xn := (xn1, . . . , xnd) → (x01, . . . , x0d) = x0 fur n→ ∞.

Abschließend wollen wir den Begriff des metrischen Raumes angeben und kurzdiskutieren:

Definition 10.7: Sei X eine beliebige Menge und zu je zwei Punkten x, y ∈ Xexistiere eine reelle Zahl d(x, y) mit den folgenden Eigenschaften:

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10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 77

(a) d(x, y) > 0 fur alle x, y ∈ X mit x = y; d(x, x) = 0 fur alle x ∈ X.

(b) d(x, y) = d(y, x) fur alle x, y ∈ X.

(c) Dreiecksungleichung: d(x, y) ≤ d(x, z) + d(z, y) fur alle x, y, z ∈ X.

Dann nennen wir (X, d) einen metrischen Raum und die Abbildung d = d(x, y) :X ×X → R die Metrik oder den Abstand auf X.

Beispiele:

1. Jede Teilmenge X ⊂ Rd ist ein metrischer Raum mit der Metrik

d(x, y) := |x− y|, x, y ∈ X,

wie sofort aus Satz 10.1 folgt.

2. Sei X ein beliebiger linearer Vektorraum uber R und es existiere eine Abbil-dung ∥ · ∥ : X → R, genannt Norm auf X, mit folgenden Eigenschaften:

(a) ∥x∥ ≥ 0 fur alle x ∈ X; ∥x∥ = 0 ⇔ x = 0.

(b) ∥λx∥ = |λ| ∥x∥ fur alle x ∈ X, λ ∈ R.

(c) Dreiecksungleichung: ∥x+ y∥ ≤ ∥x∥+ ∥y∥ fur alle x, y ∈ X.

Dann nennt man X, oder genauer (X, ∥ · ∥), einen normierten Vektorraum;z.B. ist also der euklidische Raum Rd mit der euklidischen Lange ∥ · ∥ := | · |ein normierter Vektorraum. Aus (a)-(c) folgt wie in Beispiel 1 wieder, dass jedeTeilmenge Y ⊂ X eines normierten Vektorraumes auch metrischer Raum istmit der Metrik

d(x, y) := ∥x− y∥, x, y ∈ Y.

Wir werden spater”Funktionenraume“ als Beispiele normierter Vektorraume

kennenlernen. Diese sind, anders als der Rd, i.A. unendlich dimensional.

3. Wir konnen jede beliebige Menge X zu einem metrischen Raum machen mitder diskreten Metrik

d(x, y) :=

1, falls x = y

0, falls x = y, x, y ∈ X.

Die Beispiele 1 und 2 zeigen also, dass man Mengen mit verschiedenen Metri-ken ausstatten kann; die folgenden topologischen Begriffe hangen dann ganzwesentlich von der gewahlten Metrik ab.

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78 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Die Begriffe Konvergenz und Cauchyfolge fur Folgen xnn ⊂ Rd aus Defi-nition 10.2 lassen sich nun sofort auf Folgen xnn ⊂ X aus einem metrischenRaum (X, d) ubertragen, indem man den Abstand |x − y| durch d(x, y) ersetzt;z.B. heißt xnn ⊂ X konvergent (bzgl. d) gegen x ∈ X, wenn zu jedem ε > 0 einN = N(ε) ∈ N existiert mit

d(xn, x) < ε fur alle n ≥ N.

x heißt dann wieder Grenzwert oder Limes der Folge und wir schreiben xn → x (n→∞) oder x = limn→∞ xn. Man rechnet leicht nach, dass wieder jede konvergente Folgein (X, d) auch Cauchyfolge ist. Die Umkehrung gilt jedoch i.A. nicht, sondern nurin vollstandigen metrischen Raumen, vgl. Definition 5.2.

Die topologischen BegriffeOffenheit undAbgeschlossenheit, innerer Punkt, Rand-punkt, Haufungspunkt und isolierter Punkt sowie Inneres, Rand und Abschluss ausden Definitionen 10.3, 10.4 ubertragen sich nun wortlich auf Teilmengen metrischerRaume, wenn wir noch die r-Umgebung oder r-Kugel um x0 ∈ X gemaß

Br(x0) := x ∈ X : d(x, x0) < r

erklaren. Bezeichnet M c := X \M das Komplement einer Teilmenge M ⊂ X, sohaben wir

Satz 10.9: Mit den oben erklarten Begriffen bleiben die Aussagen der Satze 10.5-10.7 in jedem metrischen Raum (X, d) richtig.

Beweis: Durch wortliches Ubertragen der Beweise. q.e.d.

Der Begriff der Beschranktheit einer Menge aus Definition 10.5 macht in einemmetrischen Raum (X, d) wenig Sinn, da X kein ausgezeichnetes Element 0 enthal-ten muss. Wir nutzen daher den Begriff des Durchmessers, vgl. die Bemerkung imAnschluss an Definition 10.5:

Definition 10.8: Ist (X, d) metrischer Raum, so erklaren wir den Durchmesser vonM ⊂ X gemaß

diamM := supd(x, y) : x, y ∈M, diam ∅ := 0.

Gilt diamM < +∞, so heißt M beschrankt, sonst unbeschrankt.

Wie bereits im Anschluss an Satz 10.8 bemerkt, gilt dieser in metrischen Raumeni.A. nicht mehr. Erklaren wir den Begriff Folgenkompaktheit wieder analog zum Rd,so haben wir jedoch den

Satz 10.10: Jede folgenkompakte Teilmenge M eines metrischen Raumes (X, d) istabgeschlossen und beschrankt.

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10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 79

Beweis:

• Abgeschlossenheit: Ist xnn ⊂ M konvergent gegen x0 ∈ X, so konvergiert auch jede Teil-folge xnkk ⊂ xnn gegen x0. Die Folgenkompaktheit liefert also x0 ∈M .

• Beschranktheit: Ware M unbeschrankt, also supd(x, y) : x, y ∈M = +∞ erfullt, so gabees Punkte xn, yn ∈ M mit d(xn, yn) ≥ n fur alle n ∈ N. Zu beliebigem x0 ∈ M konnen wirdann zu einer Teilfolge z′kk ⊂M von xnn oder ynn ubergehen mit d(z′k, x0) ≥ k fur allek ∈ N. Dann enthalt aber z′kk offenbar keine in M konvergente Teilfolge, im Widerspruchzur Folgenkompaktheit.

q.e.d.

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Kapitel 2

Funktionen und Stetigkeit

1 Beispiele und Grenzwerte von Funktionen

Definition 1.1:

• Es sei D ⊂ Rn (n ∈ N) eine beliebige, nichtleere Menge. Jedem Punkt x ∈ Dwerde vermoge der Funktion f : D → Rd (d ∈ N) genau ein Wert y = f(x) ∈Rd zugeordnet. Man schreibt auch x 7→ f(x) oder f = f(x) oder y = f(x)fur die Funktion. In Koordinaten haben wir d Funktionen f1(x1, . . . , xn), . . . ,fd(x1, . . . , xn), x = (x1, . . . , xn) ∈ D, mit

(y1, . . . , yd) = y = f(x) =(f1(x1, . . . , xn), . . . , fd(x1, . . . , xn)

).

• Die Menge D ⊂ Rn heißt Definitionsbereich der Funktion f : D → Rd, dieMenge

W := f(x) : x ∈ D =: f(D)

ist der Wertebereich von f . Schließlich ist der Graph von f erklart als

graph f :=(x, f(x)) : x ∈ D

⊂ Rn × Rd = Rn+d.

Bemerkungen:

1. Eine Funktion ist also eine Abbildung zwischen Teilmengen n- bzw. d-dimen-sionaler reeller Raume, namlich f : D →W ,D ⊂ Rn,W ⊂ Rd. Daher sprechenwir gleichwertig von Funktionen und Abbildungen.

2. Gilt speziell n = 2 oder/und d = 2, so konnen wir D bzw. W mit einerkomplexen Struktur ausstatten, d.h. D ⊂ C bzw. W ⊂ C auffassen. So kannz.B. jede Funktion f : D → R2 als Funktion f : D → C interpretiert werden.In diesem Sinne sind Funktionen f : D → R also Spezialfalle von Funktionenf : D → C.

81

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82 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

3. Analog konnen wir naturlich Funktionen zwischen metrischen Raumen er-klaren: Seien (X, d), (Y, δ) zwei metrische Raume und D ⊂ X eine nicht-leere Teilmenge. Dann ordnet f : D → Y jedem x ∈ D einen eindeuti-gen Wert y = f(x) ∈ Y zu. Die Begriffe Definitionsbereich, Wertebereichund Graph ubertragen sich wortlich; eine komponentenweise Darstellung istnaturlich i.A. nicht moglich.

Definition 1.2: Eine Funktion f : D → Rd heißt beschrankt, wenn ein c ∈ R soexistiert, dass gilt

|f(x)| ≤ c fur alle x ∈ D.

Anderenfalls heißt die Funktion unbeschrankt.

Bemerkung: Eine Funktion f : D → Rd ist also genau dann beschrankt, wenn ihrWertebereich W = f(D) ⊂ Rd beschrankt ist. Letztere Eigenschaft definiert auchbeschrankte Funktionen zwischen metrischen Raumen.

Beispiele:

1. Fur den Fall d = 1 lasst sich der Graph von f : D → R, also die Punkte(x, f(x)) ∈ Rn+1, x ∈ D, als Hohenfunktion uber D ⊂ Rn veranschaulichen(→ Berglandschaft). Alternativ (fur n ≥ 2) kann man sich die Funktion durchNiveaumengen veranschaulichen. Hierzu skizziert man

Γf (c) := x ∈ D : f(x) = c,

die Niveaumenge zum Niveau c ∈ R.

Zum Beispiel skizziere man die Niveaumengen (hier Niveaulinien) fur f =(x1, x2) := x21 − x22, x = (x1, x2) ∈ R2. Man beachte, dass f unbeschrankt ist,da Γ(c) = ∅ fur alle c ∈ R gilt.

Konvention: Fur n = 2, d = 1 schreibt man haufig x1 =: x, x2 =: y undy =: z, also z = f(x, y).

2. Eine Funktion f : D → Rd, d ≥ 2, kann man als Vektorfeld interpretieren,indem man an jeden Punkt x ∈ D ⊂ Rn den Vektor f(x) ∈ Rd

”anheftet“.

Diese Interpretation spielt vor allem in der Physik eine Rolle, etwa bei derBeschreibung von Kraftfeldern.

3. Weiter lasst sich f : D → Rd, d ≥ 2, fur D ⊂ Rn mit n = 1 als Kurve und furn = 2 als Flache im Rd interpretieren. Ist allgemeiner 2 ≤ n < d, so sprichtman von einer n-dimensionalen Flache im Rd. Dabei heißt m := d−n ∈ N dieCodimension der Flache.

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1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 83

Speziell lasst sich fur g : D → R mit D ⊂ Rn, n ≥ 2, der Graph von g alsn-dimensionale Flache im Rn+1 interpretieren:

f(x) := (x, g(x)) : D → Rn+1.

In diesem Fall ist also die Codimension m = (n+1)−n = 1; man spricht dannvon einer Hyperflache.

4. Jedes komplexe Polynom

f(z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a1z + a0 (a0, . . . , an ∈ C)

ist eine Funktion f : C → C. Auch Potenzreihen

P(z) =

∞∑k=0

akzk (al ∈ C fur alle l ∈ N0)

sind komplexe Funktionen P : KR(0) → C, wobei R ∈ [0,+∞) ∪ +∞ denKonvergenzradius der Reihe bezeichne. Alle nichtkonstanten Polynome sindunbeschrankt!

5. Funktionen mussen keine geschlossene Darstellung besitzen. Beispiele sind dieSignumfunktion

sgn(x) :=

−1, x < 0

0, x = 0

+1, x > 0

: R → R

oder die Dirichletsche Sprungfunktion

f(x) :=

1, x ∈ Q0, x ∈ R \Q

: R → R.

Beide Funktionen sind beschrankt.

6. Die wohl wichtigsten Beispiele von Funktionen auf metrischen Raumen sinddurch Integrale gegeben. Z.B. werden wir insbesondere fur stetige Funktionenf : [a, b] → R, −∞ < a < b < +∞, das Riemann-Integral erklaren:

I(f) :=

b∫a

f(x) dx.

Es wird sich zeigen, dass der Raum C0([a, b]) der auf [a, b] stetigen, reellwerti-gen Funktionen ein normierter und damit ein metrischer Raum ist. Also stelltI : C0([a, b]) → R eine Funktion auf C0([a, b]) dar. Reellwertige Funktionenauf metrischen Raumen nennt man Funktionale.

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84 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Definition 1.3: Sei D ⊂ Rn und x0 ein Haufungspunkt von D. Zu der Funktionf : D → Rd gabe es ein a ∈ Rd, so dass fur alle ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiere mitder Eigenschaft

|f(x)− a| < ε fur alle x ∈ D mit 0 < |x− x0| < δ. (1.1)

Dann heißt a der Grenzwert oder Limes der Funktion f = f(x) im Punkt x0 undwir schreiben

limx→x0

f(x) = a oder f(x) → a (x→ x0).

Man sagt auch: f(x) konvergiert gegen a, wenn x gegen x0 strebt.

Geometrisch: Es gilt limx→x0 f(x) = a genau dann, wenn fur alle ε > 0 ein δ =δ(ε) > 0 existiert, so dass f(x) ∈ Bε(a) fur alle x ∈ B′

δ(x0) ∩ D richtig ist. Hierbezeichnet

B′δ(x0) := Bδ(x0) \ x0

die punktierte Kugel.

Satz 1.1: Fur f : D → Rd, x0 Haufungspunkt von D ⊂ Rn, gilt f(x) → a (x→ x0)genau dann, wenn fur jede Folge xpp ⊂ D \ x0 mit xp → x0 (p → ∞) dieBeziehung limp→∞ f(xp) = a gilt.

Beweis:

•”⇒“: Sei also limx→x0 f(x) = a erfullt und xpp ⊂ D \ x0 eine Folge mitxp → x0 (p → ∞). Zu beliebig vorgegebenem ε > 0 wahlen wir δ = δ(ε) > 0wie in Definition 1.3 und N = N(ε) ∈ N so, dass gilt

0 < |xp − x0| < δ(ε) fur alle p ≥ N(ε).

Dann folgt aus Formel 1.1

|f(xp)− a| < ε fur alle p ≥ N(ε),

also limp→∞ f(xp) = a.

•”⇐“: Sei nun limp→∞ f(xp) = a richtig fur jede Folge xpp ⊂ D \ x0mit limp→∞ xp = x0. Angenommen es gilt nicht limx→x0 f(x) = a, d.h.: Esgibt ein ε > 0, so dass fur alle δ > 0 ein x ∈ D existiert mit 0 < |x −x0| < δ und |f(x) − a| ≥ ε. Wahlen wir speziell δ = 1

p , so finden wir also

xp ∈ D mit 0 < |xp − x0| < 1p und |f(xp) − a| ≥ ε > 0 fur alle p ∈ N. Da

dann aber fur die Folge xpp ⊂ D \ x0 gilt limp→∞ xp = x0, musste nachVoraussetzung |f(xp) − a| → 0 (p → ∞) erfullt sein, Widerspruch! Also giltdoch limx→x0 f(x) = a.

q.e.d.

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1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 85

Satz 1.2: (Rechenregeln fur Funktionsgrenzwerte)Seien Funktionen f, g : D → Rd erklart mit limx→x0 f(x) = a, limx→x0 g(x) = b,wobei x0 Haufungspunkt von D ⊂ Rn sei. Dann gelten die Rechenregeln:

limx→x0

[λf(x) + µg(x)] = λa+ µb fur alle λ, µ ∈ R,

limx→x0

⟨f(x), g(x)⟩ = ⟨a, b⟩

und fur d = 2, also f, g : D → C, auch

limx→x0

[λf(x) + µg(x)] = λa+ µb fur alle λ, µ ∈ C,

limx→x0

f(x)g(x) = ab,

limx→x0

f(x)

g(x)=a

b, falls g = 0 in D und b = 0 ist.

Beweis: Mit Satz 1.1 ergeben sich die Aussagen sofort aus den entsprechenden Re-chenregeln fur Folgengrenzwerte. Zur Ubung kann man die Aussagen auch direktuber die

”ε-δ-Definition“ 1.1 beweisen.

q.e.d.

Bemerkung: Die Definition und Schreibweise von Grenzwerten aus Definition 1.3ubertragt sich wieder auf Funktionen f : D → Y , D ⊂ X, zwischen metrischenRaumen (X, d), (Y, δ), indem man |x − x0| durch d(x, x0) und |f(x) − a| durchδ(f(x), a) ersetzt. Die geometrische Deutung bleibt also wortlich erhalten. AuchSatz 1.1 bleibt naturlich richtig. Hingegen machen die Rechenregeln aus Satz 1.2 nurfur Y = Rd bzw. Y = C Sinn, die Linearitat auch in normierten Raumen Y .

Wir betrachten noch einige spezielle Grenzprozesse fur Funktionen einer reellenVeranderlichen:

Definition 1.4: Es seien D ⊂ R und f : D → Rd gegeben.

(i) Gilt (x0, x0 + α) ⊂ D und gibt es ein a ∈ Rd, so dass fur alle ε > 0 einδ = δ(ε) ∈ (0, α) existiert mit

|f(x)− a| < ε fur alle x0 < x < x0 + δ,

so heißt a der rechtsseitige Limes von f an der Stelle x0; wir schreiben dann

f(x0+) := limx→x0+

f(x) = a oder f(x) → a (x→ x0+).

(ii) Gilt (x0 − α, x0) ⊂ D und gibt es ein a ∈ Rd, so dass fur alle ε > 0 einδ = δ(ε) ∈ (0, α) existiert mit

|f(x)− a| < ε fur alle x0 − δ < x < x0,

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86 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

so heißt a der linksseitige Limes von f an der Stelle x0; wir schreiben dann

f(x0−) := limx→x0−

f(x) = a oder f(x) → a (x→ x0−).

(iii) Gilt (β,+∞) ⊂ D, so sagen wir, f(x) konvergiert gegen b ∈ Rd fur x→ +∞,wenn f(1t ) → b (t→ 0+) gilt; wir schreiben dann

limx→+∞

f(x) = b oder f(x) → b (x→ +∞).

(iv) Ist schließlich (−∞, β) ⊂ D, so sagen wir, f(x) konvergiert gegen b ∈ Rd furx→ −∞, wenn f(1t ) → b (t→ 0−) richtig ist; wir schreiben dann

limx→−∞

f(x) = b oder f(x) → b (x→ −∞).

Bemerkung: Ist f : D → Rd, D ⊂ R und (x0 − α, x0 + α) \ x0 ⊂ D, so besitzt fin x0 genau dann den Grenzwert limx→x0 f(x) =: a, wenn gilt

limx→x0−

f(x) = a = limx→x0+

f(x).

Beispiele:

1. Fur die Signumfunktion sgn(x) : R → R gilt in x0 = 0:

limx→0−

sgn(x) = −1, limx→0+

sgn(x) = +1.

Also besitzt sgn(x) in x0 = 0 keinen Grenzwert.

2. Fur die Funktion f(x) := 1x : (0,+∞) → R gilt limx→+∞ f(x) = 0, denn wir

haben f(1t ) = t→ 0 (t→ 0+).

Definition 1.5: Sei D ⊂ Rn und x0 ∈ D Haufungspunkt. Wir sagen, eine Funktionf : D → R konvergiert gegen +∞ (bzw. −∞) fur x→ x0, wenn zu jedem c > 0 einδ > 0 existiert mit

f(x) > c (bzw. f(x) < −c) fur alle x ∈ B′δ(x0) ∩D.

Wir schreiben

limx→x0

f(x) = ±∞ oder f(x) → ±∞ (x→ x0).

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1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 87

Bemerkungen:

1. Man erweitert entsprechend fur Funktionen f : D → R, D ⊂ R, die einseitigenGrenzwerte aus Definition 1.4 auf Werte ±∞. Auch die Verallgemeinerung derDefinitionen 1.4 bzw. 1.5 auf metrische Raume im Bild- bzw. Urbildbereich istoffensichtlich.

2. Wie in Satz 4.3 aus Kap. 1 sieht man leicht: Sei f : D → R, D ⊂ Rn, x0Haufungspunkt von D, mit f(x) > 0

”nahe“ x0. Dann gilt

limx→x0

f(x) = +∞ ⇔ limx→x0

1

f(x)= 0.

Entsprechendes gilt im Falle n = 1 fur die einseitigen Grenzwerte.

Beispiele:

1. limx→0+√x = 0. Ist namlich ε > 0 beliebig, so wahlen wir δ = δ(ε) := ε2 > 0

und erhalten 0 <√x < ε fur 0 < x < δ(ε). Nach der letzten Bemerkung folgt

noch limx→+∞√x = +∞, denn

limx→+∞

1√x

Def. 1.4 (iii)= lim

t→0+

√t = 0.

2. Wir wissen bereits 1x → 0 (x → +∞). Somit liefern die Rechenregeln aus

Satz 1.2:

limx→+∞

7x− 2

3x+ 1= lim

x→+∞

7− 2x

3 + 1x

=7

3.

3. Fur beliebiges a ∈ R gilt limx→+∞(√x+ a −

√x) = 0, denn fur positives x > −a folgt aus

Beispiel 1

0 ≤ |√x+ a−

√x| =

|(√x+ a−

√x)(

√x+ a+

√x)|√

x+ a+√x

=|a|√

x+ a+√x

<|a|√x

→ 0 (x→ +∞).

4. limx→+∞x3+1x2+1

= +∞. Denn wir haben

limx→+∞

x2 + 1

x3 + 1= limx→+∞

1

x· limx→+∞

1 + 1x2

1 + 1x3

= 0 · 1 = 0,

also die Behauptung aus obiger Bemerkung.

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88 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

2 Der Stetigkeitsbegriff

Definition 2.1: Seien D ⊂ Rn, x0 ∈ D und eine Funktion f : D → Rd gegeben.Dann heißt f in x0 stetig, wenn zu jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiert, so dassgilt

|f(x)− f(x0)| < ε fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ.

Anderenfalls heißt f in x0 unstetig.

Bemerkungen:

1. Ist x0 ∈ D isolierter Punkt von D, so ist offenbar jede Funktion f : D → Rdin x0 stetig.

2. Die Stetigkeit ist eine”lokale Eigenschaft“, d.h.: Ist f in x0 stetig (bzw. un-

stetig) und andern wir f in D \Br(x0) fur ein r > 0 beliebig ab, so bleibt dieresultierende Funktion in x0 stetig (bzw. unstetig).

3. Definition 2.1 ubertragt sich wortlich auf Funktionen f : D → Y , D ⊂ X,zwischen metrischen Raumen (X, d), (Y, δ), wenn man |f(x) − f(x0)| durchδ(f(x), f(x0)) und |x − x0| durch d(x, x0) ersetzt. Auch der folgende Satzbleibt richtig:

Satz 2.1: (Charakterisierung der Stetigkeit)Sei f : D → Rd auf D ⊂ Rn erklart und sei x0 ∈ D Haufungspunkt. Dann sindfolgende Aussagen aquivalent:

(i) f ist stetig in x0.

(ii) Es gilt limx→x0

f(x) = f(x0).

(iii) Fur jede Folge xpp ⊂ D mit xp → x0 (p→ ∞) gilt limp→∞

f(xp) = f(x0).

Beweis: Sofort aus den Definitionen 1.3 und 2.1 sowie Satz 1.1. In (iii) kann dieForderung xp = x0 aus Satz 1.1 offenbar fallen gelassen werden. q.e.d.

Satz 2.2: (Rechenregeln)

(a) Sind f, g : D → Rd stetig in x0 ∈ D, so gilt dies auch fur das Skalarprodukt⟨f, g⟩ und jede Linearkombination λf + µg mit λ, µ ∈ R.

(b) Sind f, g : D → C stetig in x0 ∈ D, so gilt dies auch fur jede Linearkombina-tion λf +µg mit λ, µ ∈ C, das Produkt fg und, falls g = 0 in D, auch fur denQuotienten f

g .

Beweis: Sofort aus Satz 1.2 und Satz 2.1. q.e.d.

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2. DER STETIGKEITSBEGRIFF 89

Beispiele:

1. Polynomfunktionen p(z) =∑n

k=0 akzk mit Koeffizienten a0, . . . , an ∈ C sind

in jedem Punkt z0 ∈ C stetig nach Satz 2.2, da dies fur die konstante f1(z) :=c ∈ C und die lineare Funktion f2(z) := z erfullt ist.

2. Die Dirichletsche Sprungfunktion

f(x) :=

1, x ∈ Q0, x ∈ R \Q

ist in keinem Punkt aus R stetig. Die Funktion

f(x) :=

x, x ∈ Q0, x ∈ R \Q

ist in x = 0 und nur dort stetig (→ Ubungsaufgaben).

3. Die Signumfunktion

sgn(x) :=

−1, x < 0

0, x = 0

1, x > 0

ist fur alle x ∈ R \ 0 stetig und in x = 0 unstetig.

Satz 2.3: (Komposition stetiger Funktionen)Seien Funktionen f : D → Rd und g : E → Rm gegeben mit D ⊂ Rn, E ⊂ Rd undf(D) ⊂ E. Weiter seien f in x0 ∈ D und g in y0 = f(x0) ∈ E stetig. Dann ist auchdie Komposition h := g f : D → Rm in x0 stetig.

Beweis: Da fur isolierte Punkte x0 ∈ D nichts zu zeigen ist, konnen wir annehmen,dass x0 Haufungspunkt von D ist. Sei nun xpp ⊂ D \ x0 mit xp → x0 (p → ∞)eine beliebige Folge. Nach Satz 2.1 gilt dann

limp→∞

f(xp) = f(x0) = y0.

Somit folgt wiederum nach Satz 2.1

limp→∞

h(xp) = limp→∞

g(f(xp)) = g(y0) = h(x0),

also die behauptete Stetigkeit von h = g f . q.e.d.

Definition 2.2: Eine Funktion f : D → Rd, D ⊂ Rn, nennen wir stetig (auf D),wenn f in allen Punkten x ∈ D stetig ist. Mit C0(D,Rd) bezeichnen wir die Klassealler auf D stetigen Funktionen. Fur d = 1 schreiben wir auch kurz C0(D) :=C0(D,R) und fur d = 2 auch C0(D,C) := C0(D,R2).

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90 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Bemerkung: Gemaß Satz 2.2 wird C0(D,Rd) durch die Verknupfungen

(f + g)(x) := f(x) + g(x), (λf)(x) := λf(x) fur x ∈ D

zu einem (unendlich dimensionalen) Vektorraum.

Wir wollen nun die Umkehrfunktion zu einer injektiven Funktion f : D → Rdmit D ⊂ Rn betrachten, d.h. die Funktion f−1 :W → Rn mit W := f(D), die durchdie Forderung

f(x) = y ⇔ f−1(y) = x fur x ∈ D, y ∈W

eindeutig bestimmt ist.

Satz 2.4: (Stetigkeit der Umkehrfunktion)Sei K ⊂ Rn kompakt und f : K → Rd sei stetig und injektiv mit WertebereichW := f(K). Dann ist auch die Umkehrfunktion f−1 :W → Rn von f stetig auf W .

Beweis: Sei y0 ∈ W beliebig gewahlt und sei ypp ⊂ W mit yp → y0 (p → ∞). Zuzeigen ist dann

xp := f−1(yp) → f−1(y0) =: x0 (p→ ∞).

Die Folge xpp ⊂ K ist beschrankt, da K beschrankt ist. Sei nun ξ ∈ Rn einbeliebiger Haufungspunkt von xpp und xpkk eine Teilfolge mit xpk → ξ (k → ∞).Da K abgeschlossen ist, gilt ξ ∈ K. Die Stetigkeit von f liefert also f(xpk) →f(ξ) (k → ∞). Andererseits wissen wir

f(xpk) = f(f−1(ypk)) = ypk → y0 (k → ∞),

also f(ξ) = y0 = f(x0), so dass die Injektivitat von f liefert ξ = x0 fur alle Haufungs-punkte von xpp. Das bedeutet lim

p→∞xp = x0, wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkung: Auch die Satze 2.3 und 2.4 bleiben fur Funktionen zwischen metrischenRaumen richtig, wenn man in Satz 2.4 noch

”kompakt“ durch

”folgenkompakt“ er-

setzt; vgl. Kap. 1, § 10.

Wir wollen uns nun der Frage nach der Existenz einer stetigen Umkehrfunktionfur reellwertige Funktionen einer reellen Veranderlichen widmen. Wir beginnen miteinem Satz, der von unabhangigem Interesse ist:

Satz 2.5: (Zwischenwertsatz von Bolzano-Weierstraß)Sei f : [a, b] → R stetig mit f(a) = f(b). Dann existiert zu jedem Wert c zwischenf(a) und f(b) mindestens ein ξ ∈ (a, b) mit f(ξ) = c.

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2. DER STETIGKEITSBEGRIFF 91

Beweis: Wir konnen f(a) < c < f(b) annehmen; anderenfalls gehen wir zu −f und−c uber. Wir betrachten nun die Menge

M := x ∈ [a, b] : f(x) < c,

die offenbar nichtleer und beschrankt ist. Setzen wir ξ := supM , so gibt es eineFolge xpp ⊂ M mit xp → ξ (p → ∞); vgl. Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1. Die Stetigkeitvon f liefert also f(ξ) = limp→∞ f(xp) ≤ c, und nach Voraussetzung folgt ξ < b.

Ware nun f(ξ) < c, so gabe es wegen der Stetigkeit von f ein δ ∈ (0, b − ξ), sodass gilt

f(x) < c fur alle x ∈ [ξ, ξ + δ),

im Widerspruch zur Wahl von ξ = supM . Also folgt f(ξ) = c. q.e.d.

Folgerung 2.1: Sei I ⊂ R ein beliebiges, nicht notwendig beschranktes Intervallund f : I → R eine stetige Funktion. Dann ist auch f(I) ⊂ R ein Intervall.

Beweis: Wir setzen I∗ = f(I) und

ξ := inf I∗ ∈ R ∪ −∞, η := sup I∗ ∈ R ∪ +∞.

Wir zeigen nun (ξ, η) ⊂ I∗: Ist namlich y ∈ (ξ, η) beliebig, so gibt es gemaß Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1Zahlen a, b ∈ I mit

ξ ≤ f(a) < y < f(b) ≤ η.

Nach dem Zwischenwertsatz existiert nun ein x ∈ (a, b) ⊂ I mit f(x) = y, d.h. y ∈ I∗.Wir erhalten, dass I∗ eines der folgenden Intervalle sein muss:

(ξ, η), [ξ, η), (ξ, η] oder [ξ, η].

Sonst gabe es namlich ein z ∈ I∗ mit z < ξ oder z > η, im Widerspruch zur Definition von ξ und η.

q.e.d.

Definition 2.3: Eine Funktion f : D → R, D ⊂ R, heißt monoton wachsend(bzw. fallend), wenn

f(x) ≤ f(y) (bzw. f(x) ≥ f(y)) fur alle x, y ∈ D mit x < y

erfullt ist. f heißt streng monoton wachsend (bzw. fallend), wenn gilt

f(x) < f(y) (bzw. f(x) > f(y)) fur alle x, y ∈ D mit x < y.

Satz 2.6: Sei I ⊂ R ein nichtleeres Intervall. Dann besitzt jede stetige, streng mo-notone Funktion f : I → R eine stetige, streng monotone Umkehrfunktion f−1 :I∗ → R mit dem Intervall I∗ := f(I).

Beweis: Zunachst ist eine streng monotone Funktion offensichtlich injektiv. Also existiert die Um-kehrfunktion f−1 : I∗ → R, und nach Folgerung 2.1 ist I∗ ein Intervall. O.B.d.A. sei nun f strengmonoton wachsend, sonst gehen wir zu −f uber. Dann ist auch f−1 streng monoton wachsend. Zuzeigen bleibt also die Stetigkeit von f−1:

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92 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

• Sei dazu zunachst y0 ∈ int I∗. Dann ist auch x0 := f−1(y0) ∈ int I aufgrund der Monotonie.Also existiert ein ε > 0 mit [x0 − ε, x0 + ε] ⊂ I, und nach Satz 2.4 ist f−1 stetig auff([x0 − ε, x0 + ε]), also insbesondere in f(x0) = y0.

• Sei nun y0 ∈ int I∗. Dann ist y0 ein Endpunkt von I∗, sagen wir der linke Endpunkt. Somitmuss, wieder wegen der Monotonie, auch x0 := f−1(y0) linker Endpunkt von I sein. Es gibtdann ein ε > 0, so dass gilt [x0, x0+ε] ⊂ I und nach Satz 2.4 ist f−1 stetig auf f([x0, x0+ε])und insbesondere in f(x0) = y0.

q.e.d.

3 Stetige Funktionen auf Kompakta, gleichmaßige Ste-tigkeit

Wir haben in Paragraph 2 gesehen, dass stetige, injektive Funktionen auf kompaktenTeilmengen des Rn eine stetige Umkehrfunktion besitzen. In diesem Paragraphenwollen wir weitere Eigenschaften kennenlernen, die Kompakta als Definitionsgebieteauszeichnen. Wir beginnen mit dem

Satz 3.1: Ist K ⊂ Rn kompakt und f ∈ C0(K,Rd), dann ist auch f(K) ⊂ Rdkompakt.

Beweis: Sei ypp ⊂ f(K) eine beliebige Folge. Zu jedem yp gibt es (mindestens) einxp ∈ K mit f(xp) = yp. Da K kompakt ist, konnen wir nach Kap. 1, Satz 10.8 ausxpp ⊂ K eine konvergente Teilfolge xpll auswahlen mit liml→∞ xpl =: x0 ∈ K.Die Stetigkeit von f ergibt nun

ypl = f(xpl) → f(x0) =: y0 ∈ f(K) fur l → ∞.

Wiederum Satz 10.8 aus Kap. 1 liefert die behauptete Kompaktheit von f(K).

q.e.d.

Eines der wichtigsten Hilfsmittel der Analysis enthalt der folgende

Satz 3.2: (Weierstraßscher Hauptlehrsatz)Sei K ⊂ Rn kompakt und nichtleer und sei f ∈ C0(K,R). Dann gibt es Punktex, x ∈ K, so dass gilt

f(x) ≤ f(x) ≤ f(x) fur alle x ∈ K. (3.1)

Bemerkung: Relation (3.1) konnen wir auch schreiben als

f(x) = inf f(K) =: infx∈K

f(x) = infKf,

f(x) = sup f(K) =: supx∈K

f(x) = supKf.

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3. KOMPAKTA UND GLEICHMASSIGE STETIGKEIT 93

Das heißt: Eine stetige, auf einem Kompaktum erklarte Funktion nimmt dort ihrInfimum (=Minimum) bzw. Supremum (=Maximum) an. Die Aussage wird offenbarfalsch, wenn man eine der Voraussetzungen fallen lasst.

Beweis von Satz 3.2: Nach Satz 3.1 ist f(K) ⊂ R beschrankt und abgeschlossen.Inbesondere existieren also

m := infKf ∈ R, m := sup

Kf ∈ R.

Nach Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1 gibt es nun zwei Folgen xpp, xpp ⊂ K mit

f(xp) → m, f(xp) → m (p→ ∞). (3.2)

Da K kompakt ist, konnen wir andererseits konvergente Teilfolgen xpll, xpllauswahlen mit x := liml→∞ xpl ∈ K und x := liml→∞ xpl ∈ K. Die Stetigkeit von fliefert dann

f(xpl) → f(x), f(xpl) → f(x) (l → ∞). (3.3)

Ein Vergleich von (3.2) und (3.3) ergibt also

f(x) = m ≤ f(x) ≤ m = f(x) fur alle x ∈ K,

wie behauptet. q.e.d.

Fur die Formulierung des dritten grundlegenden Resultats benotigen wir nochdie folgende Verscharfung des Stetigkeitsbegriffs:

Definition 3.1: Sei D ⊂ Rn und f : D → Rd gegeben. Dann heißt f gleichmaßigstetig auf D, wenn zu jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiert, so dass gilt

|f(x)− f(x′)| < ε fur alle x, x′ ∈ D mit |x− x′| < δ. (3.4)

Bemerkung: Fur eine stetige Funktion f ∈ C0(D,Rd) gilt (3.4) ebenfalls, jedochmit einem i.A. von x, x′ ∈ D abhangigen δ = δ(ε, x, x′). Jede gleichmaßig stetigeFunktion ist also stetig. Die Umkehrung gilt jedoch nicht, wie etwa das Beispielf(x) := 1

x , x ∈ (0, 1], zeigt: Angenommen es gabe z.B. fur ε = 1 ein δ > 0, sodass |f(x)− f(x′)| < 1 fur alle x, x′ ∈ (0, 1] mit |x− x′| < δ richtig ist. Speziell fur0 < x < minδ, 12 und x′ = 2x folgte dann aber |x−x′| = x < δ und |f(x)−f(x′)| =| 1x − 1

2x | =12x > 1, Widerspruch!

Satz 3.3: (Heine)Ist K ⊂ Rn kompakt und f ∈ C0(K,Rd), so ist f gleichmaßig stetig.

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94 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Beweis: Angenommen, f ist nicht gleichmaßig stetig. Dann gibt es also ein ε > 0,so dass fur alle δ > 0 Punkte x, x′ ∈ K mit |x − x′| < δ existieren, fur die gilt|f(x)− f(x′)| ≥ ε. Wahlen wir insbesondere δ = 1

p , p ∈ N, so finden wir also Folgen

xpp, x′pp ⊂ K mit

|xp − x′p| <1

pfur alle p ∈ N (3.5)

und

|f(xp)− f(x′p)| ≥ ε fur alle p ∈ N. (3.6)

Da nun K kompakt ist, existiert nach Satz 10.8 aus Kap. 1 eine konvergente Teilfolgexpll ⊂ xpp mit liml→∞ xpl = x0 ∈ K. Fur die entsprechende Teilfolge x′pll ⊂x′pp liefert (3.5) ebenfalls liml→∞ x′pl = x0. Und aus der Stetigkeit von f und (3.6)folgern wir

0 = |f(x0)− f(x0)| =∣∣∣ liml→∞

f(xpl)− liml→∞

f(x′pl)∣∣∣ = lim

l→∞|f(xpl)− f(x′pl)| ≥ ε > 0,

also einen Widerspruch! q.e.d.

Bemerkungen:

1. Im obigen Beispiel f(x) = 1x , x ∈ (0, 1], ist zwar f stetig aber (0, 1] nicht

kompakt.

2. Die drei Satze dieses Paragraphen bleiben fur Funktionen auf kompakten Teil-mengen metrischer Raume richtig, wenn man den Kompaktheitsbegriff nachHeine-Borel benutzt. Fur den Beweis verwendet man, dass dieser in metrischenRaumen aquivalent zur Folgenkompaktheit ist.

4 Funktionenfolgen und gleichmaßige Konvergenz

Wir betrachten nun Folgen fnn von Funktionen fn : D → Rd, die alle auf ein undderselben nichtleeren Menge D ⊂ Rm erklart seien.

Definition 4.1: Eine Funktionenfolge fnn mit fn : D → Rd, n ∈ N, heißt punkt-weise konvergent auf D ⊂ Rm, wenn die Punktfolge fn(x)n ⊂ Rd fur jedes x ∈ Dkonvergent ist. Die Grenzwerte

f(x) := limn→∞

fn(x), x ∈ D,

definieren dann eine Funktion f : D → Rd, den sogenannten punktweisen Limes derFunktionenfolge fnn. Schreibweise: fn → f (n→ ∞) auf D.

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4. FUNKTIONENFOLGEN UND GLEICHMASSIGE KONVERGENZ 95

Beispiele:

1. D = [0, 1] ⊂ R, fn(x) := xn. fnn konvergiert bekanntlich punktweise gegendie Funktion

f(x) :=

0, x ∈ [0, 1)

1, x = 1.

2. D = [0,+∞), gn(x) := x1n . Dann konvergiert gnn punktweise gegen

g(x) :=

1, x ∈ (0,+∞)

0, x = 0.

Die Beispiele zeigen, dass der punktweise Limes einer Folge stetiger Funktionennicht wieder stetig sein muss. Um beim Grenzubergang in der Klasse der stetigenFunktionen zu bleiben, benotigen wir einen starkeren Konvergenzbegriff, der aufWeierstraß zuruckgeht:

Definition 4.2: Eine Folge fnn von Funktionen fn : D → Rd mit D ⊂ Rm heißtgleichmaßig konvergent gegen f : D → Rd, in Zeichen fn →→ f (n → ∞) auf D,wenn zu jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit

|fn(x)− f(x)| < ε fur alle x ∈ D und n ≥ N(ε). (4.1)

Bemerkung: Formel (4.1) gilt naturlich auch fur den punktweisen Limes einer Funk-tionenfolge, allerdings mit einem i.A. von x ∈ D abhangigen N = N(ε, x) ∈ N.

Satz 4.1: (Weierstraßscher Konvergenzsatz)Die Folge fnn stetiger Funktionen fn : D → Rd konvergiere auf D ⊂ Rm gleichma-ßig gegen f : D → Rd. Dann ist f stetig auf D.

Beweis: Nach Definition 4.2 gibt es zu beliebig gewahltem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ Nmit

|fN (x)− f(x)| < ε

3fur alle x ∈ D. (4.2)

Sei nun x0 ∈ D gewahlt. Da fN stetig ist, finden wir ein δ = δ(ε) > 0, so dass gilt

|fN (x)− fN (x0)| <ε

3fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ. (4.3)

Mit der Dreiecksungleichung erhalten wir nun aus (4.2) und (4.3)

|f(x)− f(x0)| ≤ |f(x)− fN (x)|+ |fN (x)− fN (x0)|+ |fN (x0)− f(x0)|

3+ε

3+ε

3= ε fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ,

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96 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

wie behauptet. q.e.d.

Der nachste Satz besagt insbesondere, dass der”Raum der stetigen Funktionen“

im unten zu prazisierenden Sinne vollstandig ist:

Satz 4.2: (Cauchys Konvergenzkriterium bei gleichmaßiger Konvergenz)Sei fnn eine Folge von Funktionen fn : D → Rd, D ⊂ Rm. Dann konvergiertfnn genau dann gleichmaßig (gegen ein f : D → Rd), wenn zu jedem ε > 0 einN = N(ε) ∈ N existiert mit

|fn(x)− fk(x)| < ε fur alle x ∈ D und n, k ≥ N(ε). (4.4)

Beweis:

•”⇒“: Sei fn →→ f (n → ∞) auf D erfullt. Dann existiert zu beliebigem ε > 0ein N(ε) ∈ N mit |fn(x) − f(x)| < ε

2 fur alle x ∈ D und n ≥ N(ε). Mit derDreiecksungleichung folgt dann (4.4).

•”⇐“: Sei umgekehrt (4.4) erfullt. Wegen der Vollstandigkeit des Rd existiertdann der punktweise Limes f(x) = limk→∞ fk(x), x ∈ D. Wenden wir (4.4)auf ε

2 statt ε an und gehen zur Grenze k → ∞ uber, so folgt

|fn(x)− f(x)| = limk→∞

|fn(x)− fk(x)| ≤ε

2< ε fur alle x ∈ D, n ≥ N(ε),

also fn →→ f (n→ ∞) auf D. Q.e.d.

Definition 4.3: Auf dem (Vektor)-Raum der stetigen, beschrankten Funktionen

C0b (D,Rd) := f ∈ C0(D,Rd) : f ist beschrankt

fur nichtleeres D ⊂ Rm erklaren wir die Supremumsnorm

∥f∥D := supx∈D

|f(x)| < +∞.

Bemerkungen:

1. Falls D = K ⊂ Rm kompakt ist, ist nach Satz 3.2 jede Funktion f ∈ C0(K,Rd)beschrankt.

2. Als Ubungsaufgabe pruft man nach, dass die Supremumsnorm tatsachlich eineNorm mit den Eigenschaften (a)-(c) auf V = C0

b (D,Rd) ist; vgl. Kap. 1, § 10.Also ist (V, ∥ · ∥D) ein normierter und damit auch ein metrischer Raum.

3. Fur Funktionenfolgen fnn ⊂ V = C0b (D,Rd) gilt:

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4. FUNKTIONENFOLGEN UND GLEICHMASSIGE KONVERGENZ 97

• fn →→ f ∈ V (n→ ∞) auf D ⇔ ∥fn − f∥D → 0 (n→ ∞).

• Eigenschaft (4.4) ist aquivalent zu ∥fn − fk∥D < ε fur alle n, k ≥ N(ε).

Wir erhalten die

Folgerung 4.1: Der Vektorraum V = C0b (D,Rd) der stetigen, beschrankten Funk-

tionen auf D ⊂ Rm ist vollstandig bez. der Supremumsnorm, d.h. (V, ∥ · ∥D) ist einvollstandiger normierter Raum oder Banachraum.

Beweis: Sofort aus den Satzen 4.1 und 4.2. q.e.d.

Wir wollen nun, analog zu komplexen Reihen, Funktionenreihen untersuchen:

Definition 4.4: Ist fkk eine Folge von Funktionen fk : D → C, D ⊂ Rm, so heißtdie zugehorige Funktionenreihe

∑∞k=1 fk =

∑k fk gleichmaßig konvergent, wenn die

Folge der Partialsummen

sn(x) :=

n∑k=1

fk(x), x ∈ D,

gleichmaßig konvergiert.

Bemerkungen:

1. Gilt fkk ⊂ C0(D,C), so ist auch snn ⊂ C0(D,C). Konvergiert also∑∞k=1 fk gleichmaßig, so ist die Grenzfunktion (=Wert der Funktionenreihe)

eine stetige Funktion nach Satz 4.1.

2. Wir beschranken uns hier auf komplexwertige Funktionenreihen, da wir bis-her nur komplexe Reihen betrachtet haben. Man kann die Aussagen leichtauf Rd-wertige Funktionenreihen ubertragen, indem man die entsprechendenErgebnisse aus Kap. 1, § 8 auf Reihen in Rd erweitert.

Satz 4.3: (Majorantenkriterium fur Funktionenreihen)Sei D ⊂ Rm und fkk eine Folge von Funktionen fk : D → C. Ferner sei ckk ⊂ Reine Punktfolge mit der Eigenschaft

|fk(x)| ≤ ck fur alle x ∈ D. (4.5)

Falls dann∑∞

k=1 ck konvergiert, so konvergiert∑∞

k=1 fk gleichmaßig auf D. DieReihe

∑k ck heißt Majorante von

∑k fk.

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98 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Beweis: Sei ε > 0 gewahlt. Satz 8.1 aus Kap. 1 und (4.5) liefern zunachst

n∑k=m+1

|fk(x)| ≤n∑

k=m+1

ck < ε fur alle x ∈ D und n > m ≥ N(ε)

mit geeignetem N(ε) ∈ N. Aus der Dreiecksungleichung folgt dann

|sn(x)− sm(x)| =∣∣∣∣ n∑k=m+1

fk(x)

∣∣∣∣ ≤ n∑k=m+1

|fk(x)| < ε

fur alle x ∈ D und n > m ≥ N(ε). Satz 4.2 liefert also die Behauptung. q.e.d.

Als Folgerung halten wir das folgende wichtige Resultat fest:

Satz 4.4: Es seien akk ⊂ C, R ∈ (0,+∞) ∪ +∞ und P(z) :=∑∞

k=0 akzk eine

in KR(0) = z ∈ C : |z| < R konvergente Potenzreihe. Dann ist P : KR(0) → Cstetig.

Beweis: Sei z0 ∈ KR(0) beliebig, so folgt z0 ∈ KR0(0) mit R0 := 12(|z0| + R) < R.

Nun ist fur D := KR0(0) die Folge akzkk ⊂ C0(D,C) durch |ak|Rk0k ⊂ Rmajorisiert im Sinne von (4.5), und nach Satz 9.2 aus Kap. 1 konvergiert

∑k |ak|Rk0 .

Satz 4.3 liefert also die gleichmaßige Konvergenz der Potenzreihe P auf D. Und nachSatz 4.1 ist P stetig auf D, also insbesondere auch im Punkt z0 ∈ D. Da z0 ∈ KR(0)beliebig war, folgt P ∈ C0(KR(0),C), wie behauptet.

q.e.d.

Folgerung 4.2: Die komplexe Exponentialfunktion

exp z = ez :=∞∑k=0

zk

k!

ist auf ganz C stetig.

Wir werden exp z genauer im nachsten Kapitel untersuchen und hieraus auchdie weiteren elementaren Funktionen wie Sinus, Cosinus, Hyperbelfunktionen, Lo-garithmus und allgemeine Potenz ableiten.

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Kapitel 3

Differential- undIntegralrechnung in einer reellenVeranderlichen

1 Differenzierbarkeit

Wir untersuchen Funktionen einer reellen Veranderlichen f : I → Rd fur d ∈ N.Hier und im Folgenden sei I ⊂ R ein (nicht notwendig beschranktes) Intervall. Wirbeginnen mit einem der wichtigsten Begriffe der Analysis uberhaupt:

Definition 1.1: Eine Funktion f : I → Rd heißt differenzierbar an der Stelle t0 ∈ I,falls der Grenzwert

f ′(t0) := limh→0

f(t0 + h)− f(t0)

h= lim

t→t0

f(t)− f(t0)

t− t0(1.1)

existiert. f ′(t0) heißt (erste) Ableitung oder Differentialquotient von f an der Stellet0. Alternativ schreiben wir auch

df

dt(t0), Df(t0) oder f(t0)

fur die Ableitung. Falls t0 ein Randpunkt von I ist, so ist der Grenzwert h → 0 in(1.1) als einseitiger Grenzwert h→ 0+ bzw. h→ 0− aufzufassen.

Die Funktion f : I → Rd heißt differenzierbar (auf I), wenn f in jedem Punktt0 ∈ I differenzierbar ist.

99

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100 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Bemerkungen:

1. Geometrische Interpretationen:

(a) Der Differenzenquotient

∆hf(t0) :=f(t0 + h)− f(t0)

h

einer Funktionf : I → R ist die Steigung der Sekante an graph f durch(t0, f(t0)) und (t0 + h, f(t0 + h)). Bei Grenzubergang h → 0 geht dieSekante in die Tangente

T :=(t, y) ∈ R2 : y = f ′(t0)(t− t0) + f(t0)

an graph f im Punkt (t0, f(t0)) uber; f

′(t0) ist die Steigung der Tangente.

(b) Fur eine Kurve f : I → Rd im Rd sind ∆hf(t0) Sekantenvektoren inRd und f ′(t0) wird als Tangentenvektor an die Kurve im Punkt f(t0)interpretiert (und abgetragen).

2. Zum Beispiel sind die Funktionen f(t) := t, g(t) := c mit einer Konstantenc ∈ R fur alle t ∈ R differenzierbar und es gilt

f ′(t) = 1, g′(t) = 0 fur alle t ∈ R.

3. Falls f : I → Rd differenzierbar ist, so kann man die Zuordnung t 7→ f ′(t)wieder als Funktion f ′ : I → Rd interpretieren. Ist f ′ differenzierbar in t0 ∈ I,so konnen wir f ′′(t0) := (f ′)′(t0) bilden, die zweite Ableitung von f an derStelle t0, mit den alternativen Schreibweisen

f ′′(t0) =d2f

dt2(t0) = D2f(t0) = f(t0).

Ist f ′ auf ganz I differenzierbar, so fassen wir f ′′ : I → Rd wiederum alsFunktion auf.

Falls allgemein die (n−1)-te Ableitung f (n−1) : I → Rd fur ein n ∈ N definiertund in t0 ∈ I differenzierbar ist, wobei f (0) := f gesetzt wird, so erklaren wirdie n-te Ableitung von f in t0 als f (n)(t0) := (f (n−1))′(t0). Wir schreiben dannauch

f (n)(t0) =dnf

dtn(t0) = Dnf(t0).

Wenn die n-te Ableitung f (n) auf ganz I existiert, so heißt f n-mal differen-zierbar.

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1. DIFFERENZIERBARKEIT 101

Satz 1.1: Ist f : I → Rd gegeben, so sind die folgenden Aussagen aquivalent:

(i) f ist in t0 ∈ I differenzierbar.

(ii) Es existiert ein a ∈ Rd und eine in t0 stetige Funktion φ : I → Rd mitφ(t0) = 0, so dass gilt

f(t) = f(t0) + (t− t0)a+ (t− t0)φ(t) fur alle t ∈ I. (1.2)

Beweis:

•”⇒“: Sei f in t0 differenzierbar. Wir setzen dann a := f ′(t0) und

φ(t) :=

f(t)− f(t0)

t− t0− a, falls t ∈ I \ t0

0, fur t = t0

.

Offenbar ist dann φ in t0 stetig mit φ(t0) = 0, und Umstellen liefert diegesuchte Darstellung (1.2).

•”⇐“: Haben wir umgekehrt (1.2), so liefert Umstellen fur t = t0:

f(t)− f(t0)

t− t0= a+ φ(t) → a (t→ t0),

also die Differenzierbarkeit von f in t0. q.e.d.

Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass a eindeutig bestimmt ist und dass gilt a = f ′(t0).Die Darstellung (1.2) liefert also eine lineare Approximation von f durch

L(t) := f(t0) + (t− t0)f′(t0), t ∈ R.

Setzen wir noch ψ(t) := a + φ(t) fur t ∈ I, so haben wir die zu (1.2) aquivalenteDarstellung

f(t) = f(t0) + (t− t0)ψ(t), t ∈ I, (1.3)

wobei nun ψ : I → Rd in t0 stetig ist und ψ(t0) = f ′(t0) erfullt.

Folgerung 1.1: Eine in t0 ∈ I differenzierbare Funktion f : I → Rd ist in t0 stetig.

Beweis: Sofort aus Darstellung (1.2) oder (1.3). q.e.d.

Bemerkungen:

1. Die Umkehrung von Folgerung 1.1 gilt nicht, wie etwa das Beispiel f(t) := |t| imPunkt t0 = 0 zeigt. Es gibt sogar stetige, nirgends differenzierbare Funktionen;siehe S.Hildebrandt: Analysis 1 (Springer-Verlag), S. 192.

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102 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

2. Eine Funktion f = (f1, . . . , fd) : I → Rd ist genau dann in t0 ∈ I differenzier-bar, wenn alle Komponentenfunktionen f1, . . . , fd in t0 differenzierbar sind;dann gilt

f ′(t0) =(f ′1(t0), . . . , f

′d(t0)

).

3. Wie die Stetigkeit ist auch die Differenzierbarkeit (in einem Punkt) eine lokaleEigenschaft.

Fur komplexwertige Funktionen gelten folgende Rechenregeln:

Satz 1.2: Sind f, g : I → C in t0 ∈ I differenzierbar, so gilt dies auch fur λf + µgmit beliebigen λ, µ ∈ C, f · g und, falls g = 0 auf I, auch fur f

g , und wir haben:

(λf + µg)′(t0) = λf ′(t0) + µg′(t0) fur λ, µ ∈ C, (1.4)

(fg)′(t0) = f ′(t0)g(t0) + f(t0)g′(t0) (Produktregel), (1.5)(f

g

)′(t0) =

f ′(t0)g(t0)− f(t0)g′(t0)

g(t0)2(Quotientenregel). (1.6)

Beweis: Nach Satz 1.1 und der anschließenden Bemerkung haben wir die Darstellun-gen

f(t) = f(t0) + (t− t0)ψ(t), g(t) = g(t0) + (t− t0)χ(t),

mit in t0 stetigen Funktionen ψ, χ : I → C, die ψ(t0) = f ′(t0), χ(t0) = g′(t0) erfullen.Damit folgen

λf(t) + µg(t) = [λf(t0) + µg(t0)] + (t− t0)[λψ(t) + µχ(t)],

f(t) · g(t) = [f(t0)g(t0)] + (t− t0)[ψ(t)g(t0) + f(t0)χ(t) + (t− t0)ψ(t)χ(t)

],

f(t)

g(t)=

f(t0)

g(t0)+ (t− t0)

ψ(t)g(t0)− f(t0)χ(t)

g(t)g(t0).

Wiederum Satz 1.1 liefert die Behauptung. q.e.d.

Bemerkung: Eine (1.4) entsprechende Regel gilt naturlich auch fur Funktionen f, g :I → Rd, dann mit λ, µ ∈ R. Formel (1.5) ist fur solche Funktionen durch die Relation

⟨f, g⟩′(t0) = ⟨f ′(t0), g(t0)⟩+ ⟨f(t0), g′(t0)⟩ (1.7)

zu ersetzen (Ubungsaufgabe).

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1. DIFFERENZIERBARKEIT 103

Beispiele:

1. ddx

(xn) = nxn−1 fur n ∈ N0 und beliebiges x ∈ R.Denn fur n = 0, 1 ist die Aussage klar und durch Induktionsschluss n → n + 1 haben wir:Mit xn ist nach Satz 1.2 auch xn+1 = xn · x differenzierbar und es gilt

d

dx(xn+1) =

d

dx(xn · x) (1.5)

= (xn)′x+ xnx′

(IV )= nxn−1x+ xn · 1 = (n+ 1)xn.

2. ddx

(x−n) = −nx−n−1 fur n ∈ N und x ∈ R \ 0.Denn nach Beispiel 1 und Satz 1.2 ist x−n = 1

xnin R \ 0 differenzierbar, und es gilt

d

dx(x−n)

(1.6)=

(1)′ · xn − 1 · (xn)′

x2n= −nx−n−1.

Insgesamt haben wir also

d

dx(xν) = νxν−1 fur alle ν ∈ Z und x ∈ R \ 0.

Definition 1.2: Fur beliebige k ∈ N0 erklaren wir den Vektorraum Ck(I,Rd) allerk-mal stetig differenzierbaren Funktionen f : I → Rd, die auf I Ableitungen bis zurk-ten Ordnung besitzen und fur die f (k) : I → Rd stetig ist. Weiter erklaren wir

C∞(I,Rd) :=∩k∈N0

Ck(I,Rd),

den Vektorraum der unendlich oft stetig differenzierbaren Funktionen.

Schließlich schreiben wir auch Ck(I) bzw. Ck(I,C) fur die reell- bzw. komplex-wertigen k-mal stetig differenzierbaren Funktionen (k ∈ N0 ∪ ∞) auf I.

Bemerkung: Dass Ck(I,Rd) ein Vektorraum ist fur alle k ∈ N0 ∪ ∞, folgt ausSatz 1.2. Nach Folgerung 1.1 sind alle Ableitungen f(= f (0)), f ′(= f (1)), . . . , f (k)

einer Funktion f ∈ Ck(I,Rd) stetig auf I. Insbesondere folgt

Ck(I,Rd) ⊂ C l(I,Rd) fur l ≤ k.

Wir untersuchen nun die Komposition zweier differenzierbarer Funktionen:

Satz 1.3: (Kettenregel)Seien I, J ⊂ R Intervalle und f : I → R, g : J → Rd zwei Funktionen mit f(I) ⊂ J .Falls f in x0 ∈ I und g in y0 := f(x0) ∈ J differenzierbar sind, so ist auch dieKomposition h := g f : I → Rd in x0 differenzierbar, und es gilt

h′(x0) = g′(f(x0))f′(x0). (1.8)

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104 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis: Aus Satz 1.1 und der anschließenden Bemerkung entnehmen wir

f(x) = f(x0) + (x− x0)ψ(x), g(y) = g(y0) + (y − y0)χ(y)

mit in x0 bzw. y0 = f(x0) stetigen Funktionen ψ : I → R, χ : J → Rd, fur die ψ(x0) = f ′(x0)bzw. χ(y0) = g′(y0) gilt. Es folgt also

g(f(x)) = g(f(x0)) +(f(x)− f(x0)

)χ(f(x))

= g(f(x0)) + (x− x0))[χ(f(x))ψ(x)

].

Und da die Funktion χ(f(x))ψ(x) nach Satz 2.3 aus Kap. 2 wieder stetig ist in x0, ist h = g f nachSatz 1.1 differenzierbar und es gilt

h′(x0) = χ(f(x))ψ(x)∣∣x=x0

= g′(f(x0))f′(x0),

wie behauptet. q.e.d.

Wir wenden uns nun wieder der Untersuchung der Umkehrfunktion einer injek-tiven Funktion f : I → R zu:

Satz 1.4: (Ableitung der Umkehrfunktion)Sei f : I → R eine stetige Funktion, die das Intervall I ⊂ R bijektiv auf I∗ := f(I)abbilde. Ist dann f in x0 ∈ I differenzierbar und gilt f ′(x0) = 0, so ist auch dieUmkehrfunktion g := f−1 : I∗ → R in y0 := f(x0) differenzierbar und es gilt

g′(y0) =1

f ′(x0). (1.9)

Beweis: Da f streng monoton ist, ist I∗ nach Satz 2.6 aus Kap. 2 wieder ein Intervallund g = f−1 stetig auf I∗. Ist also ynn ⊂ I∗\y0 eine beliebige (nun existierende)Folge mit limn→∞ yn = y0, so gilt

limn→∞

g(yn) = g(y0) = x0.

Setzen wir noch xn := g(yn) ∈ I \ x0 fur n ∈ N, so haben wir

g(yn)− g(y0)

yn − y0=

xn − x0f(xn)− f(x0)

=[f(xn)− f(x0)

xn − x0

]−1, n ∈ N. (1.10)

Da f in x0 differenzierbar ist mit f ′(x0) = 0, konnen wir in (1.10) zur Grenze n→ ∞ubergehen und erhalten

limn→∞

g(yn)− g(y0)

yn − y0=

1

f ′(x0).

Nach Satz 1.1 aus Kap. 2 existiert also der Grenzwert limy→y0g(y)−g(y0)y−y0 = g′(y0) und

es gilt (1.9).q.e.d.

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1. DIFFERENZIERBARKEIT 105

Beispiel: Die Funktion f(x) := xn, n ∈ N, bildet [0,+∞) bijektiv auf [0,+∞) abmit der Umkehrfunktion g(y) = f−1(y) = n

√y. Fur x > 0 gilt f ′(x) = nxn−1 > 0, so

dass Satz 1.4 liefert (n√y)′=

1

n( n√y)n−1

=1

ny

1n−1.

Fur die Potenzfunktion f(x) := xq, x > 0, mit einem q = rs ∈ Q (r ∈ Z, s ∈ N) folgt

somit nach der Kettenregel:

f ′(x) =d

dx( s√x)r =

[r( s√x)r−1

][1sx

1s−1]= qxq−1.

Wir beschließen den Paragraphen mit der Untersuchung einer Funktionenfolgefn : I → Rd, n ∈ N. In § 5 (dort noch einmal als Satz 5.7 angegeben) werden wirfolgende Aussage beweisen:

Satz 1.5: Sei I = [a, b] und fnn eine Folge von Funktionen fn ∈ C1(I,Rd) furalle n ∈ N. Falls dann gilt

fn → f (n→ ∞), f ′n →→ g (n→ ∞) auf I,

so folgt fur den punktweisen Limes f ∈ C1(I,Rd), und es gilt f ′ = g auf I.

Falls also fnn punktweise und die Ableitungen f ′nn gleichmaßig konvergieren(auf einem kompakten Intervall), dann konnen wir Limesbildung und Differentiationvertauschen (Vertauschung zweier Grenzprozesse! ):

limn→∞

( ddxfn(x)

)=

d

dx

(limn→∞

fn(x))

auf I.

Wir wenden Satz 1.5 nun auf Potenzreihen an:

Satz 1.6: Es sei f(x) :=∑∞

k=0 akxk, ak ∈ C, eine Potenzreihe mit Konvergenzradi-

us R ∈ (0,+∞) ∪ +∞. Dann gehort f : (−R,R) → C zur Klasse C1((−R,R),C)und es gilt

f ′(x) =

∞∑k=1

kakxk−1, x ∈ (−R,R).

Bemerkung: Die formal durch gliedweises Differenzieren der Reihe erhaltene Po-tenzreihe hat also den gleichen Konvergenzradius und stimmt mit der tatsachlichenAbleitung der Reihe uberein.

Beweis von Satz 1.6:Wir zeigen, dass die formal differenzierte Reihe, also g(x) :=∑∞k=1 kakx

k−1, furjedes R0 ∈ (0, R) gleichmaßig auf [−R0, R0] konvergiert: In der Tat majorisiert ja

∑∞k=1 k|ak|R

k−10

die Reihe g(x) in [−R0, R0] und nach dem Wurzelkriterium konvergiert letztere:

lim supk→∞

k

√k|ak|Rk−1

0 = R0 · lim supk→∞

( k√k

k√R0

k√

|ak|)=R0

R< 1.

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106 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 4.3 aus Kap. 2 liefert also die gleichmaßige Konvergenz gn →→ g (n → ∞) auf [−R0, R0], wobeiwir noch gn(x) :=

∑nk=1 kakx

k−1 fur die n-te Partialsumme gesetzt haben. Da naturlich fn →f (n → ∞) auf [−R0, R0] richtig ist (sogar gleichmaßig nach Satz 4.3 aus Kap. 2) und da f ′

n = gnfur alle n ∈ N gilt, liefert Satz 1.5 nun f ∈ C1([−R0, R0],C) sowie

f ′(x) = g(x) =

∞∑k=1

kakxk−1 auf [−R0, R0].

Da schließlich R0 ∈ (0, R) beliebig war, folgt die Behauptung. q.e.d.

Folgerung 1.2: Die Reihe f(x) =∑∞

k=0 akxk (ak ∈ C fur k ∈ N0) konvergiere auf

(−R,R) fur ein R ∈ (0,+∞) ∪ +∞. Dann folgt f ∈ C∞((−R,R),C) und fur dien-te Ableitung gilt

f (n)(x) =∞∑k=n

k(k − 1)(k − 2) . . . (k − n+ 1)akxk−n auf (−R,R). (1.11)

Beweis: Nach Satz 1.6 ist f ∈ C1((−R,R),C) und f ′ ist wieder eine (auf R einge-schrankte) Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Wenden wir Satz 1.6 sukzes-sive auf f ′, f ′′, f ′′′, . . . an, so folgt f ∈ C∞((−R,R),C). Formel (1.11) beweist manschließlich mit vollstandiger Induktion.

q.e.d.

2 Lokale Extrema, Mittelwertsatz, Konvexitat

Ein wichtiges Teilgebiet der Analysis ist die Behandlung von Extremwertaufgaben.Hierfur grundlegend ist die

Definition 2.1: Es sei f : I → R auf dem Intervall I ⊂ R erklart. Wir sagen, fhat in x0 ∈ I ein lokales Minimum (bzw. lokales Maximum), wenn ein r > 0 soexistiert, dass gilt

f(x) ≥ f(x0) (bzw. f(x) ≤ f(x0)) fur alle x ∈ I ∩ (x0 − r, x0 + r). (2.1)

Gilt in (2.1) die strikte Ungleichung fur x = x0, so hat f in x0 ein striktes lokalesMinimum (bzw. Maximum). Falls schließlich (2.1) fur alle x ∈ I gilt, sprechen wirvon einem globalen Minimum (bzw. globalen Maximum).

Bemerkung: Zusammenfassend heißen lokale Minima und Maxima auch lokale Ex-trema und x0 wird lokale Minimal-, Maximal- oder Extremalstelle genannt (entspre-chend im globalen Fall). Als Synonym fur

”lokal“ wird auch relativ verwendet, statt

”global“ sagen wir auch absolut.

Satz 2.1: (Fermat; notwendige Extremalbedingung 1.Ordnung)Besitzt f : I → R in einem inneren Punkt x0 ∈ int I des Intervalls I ⊂ R ein lokalesExtremum und ist f in x0 differenzierbar, so folgt f ′(x0) = 0.

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2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITAT 107

Beweis: O.B.d.A. sei f in x0 minimal (sonst gehen wir zu −f uber). Da x0 innererPunkt ist, gibt es ein ε > 0, so dass (x0 − ε, x0 + ε) ⊂ I gilt. Somit folgt

0 ≥ limx→x0−

f(x)− f(x0)

x− x0= f ′(x0) = lim

x→x0+

f(x)− f(x0)

x− x0≥ 0,

also f ′(x0) = 0. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Betrachte f(x) := x, I = [0, 1]. Dann ist x0 = 0 (sogar globales) Minimum,aber es gilt f ′(0) = 1. Also darf x0 in Satz 2.1 kein Randpunkt sein.

2. Die Bedingung f ′(x0) = 0 ist nicht hinreichend fur ein Extremum, wie etwadas Beispiel f(x) := x3, x ∈ (−1, 1), mit f ′(0) = 0 zeigt.

Definition 2.2: Ist f : I → R im inneren Punkt x0 ∈ int I differenzierbar und giltf ′(x0) = 0, so heißt x0 stationarer oder kritischer Punkt von f .

Bemerkung: Satz 2.1 besagt also: Jede innere lokale Extremalstelle von f ist stati-onar. Geometrisch bedeutet dies, dass die Tangente T = (x, y) : y = f(x0) +f ′(x0)(x− x0) an graph f im Punkt (x0, f(x0)) parallel zur x-Achse verlauft.

Satz 2.2: (Satz von Rolle)Sei f : [a, b] → R stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b). Gilt zusatzlich f(a) =f(b), so existiert ein ξ ∈ (a, b) mit der Eigenschaft f ′(ξ) = 0.

Beweis: Falls f ≡ const gilt, folgt f ′ ≡ 0 auf [a, b]. Sei also f ≡ const auf [a, b].Dann existiert ein x0 ∈ (a, b) mit f(x0) = f(a), also o.B.d.A. f(x0) > f(a). Damitfolgt sup[a,b] f > f(a) = f(b). Nach dem Weierstraßschen Hauptlehrsatz, Satz 3.2aus Kap. 2, nimmt also f ihr (globales) Maximum in einem inneren Punkt ξ ∈ (a, b)an und nach Satz 2.1 gilt f ′(ξ) = 0.

q.e.d.

Wir konnen nun den Satz von Rolle zum Beweis eines der meistgebrauchtenSatze der Differential- und Intergalrechnung nutzen, namlich von

Satz 2.3: (Mittelwertsatz)Es sei f : [a, b] → R stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b). Dann gibt es einξ ∈ (a, b), so dass gilt

f(b)− f(a) = f ′(ξ)(b− a). (2.2)

Bemerkung: Geometrisch heißt das, dass ein ξ ∈ (a, b) so existiert, dass die Tangentean (ξ, f(ξ)) parallel zur Sekante durch (a, f(a)) und (b, f(b)) verlauft.

Satz 2.3 ergibt sich sofort als Spezialfall aus dem folgenden

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108 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 2.4: (Allgemeiner Mittelwertsatz)Gegeben seien zwei stetige Funktionen f, g : [a, b] → R, die differenzierbar auf (a, b)seien. Weiter gelte g′ = 0 auf (a, b). Dann existiert ein ξ ∈ (a, b), so dass gilt

f(b)− f(a)

g(b)− g(a)=f ′(ξ)

g′(ξ).

Beweis: Nach dem Rolleschen Satz gilt g(a) = g(b). Wir betrachten die Hilfsfunktion

φ(x) := f(x)− f(b)− f(a)

g(b)− g(a)[g(x)− g(a)], x ∈ [a, b].

Offenbar ist φ stetig in [a, b], differenzierbar in (a, b) und es gilt φ(a) = φ(b) = f(a).Wieder nach dem Rolleschen Satz existiert somit ein ξ ∈ (a, b) mit

0 = φ′(ξ) = f ′(ξ)− f(b)− f(a)

g(b)− g(a)g′(ξ),

also nach Umstellen die Behauptung. q.e.d.

Folgerung 2.1: (Monotonieverhalten)Ist f ∈ C0([a, b]) differenzierbar in (a, b), so haben wir:

(i) Gilt f ′(x) > 0 (bzw. f ′(x) ≥ 0, f ′(x) < 0, f ′(x) ≤ 0) auf (a, b), so ist fstreng monoton wachsend (bzw. monoton wachsend, streng monoton fallend,monoton fallend) auf [a, b].

(ii) Ist umgekehrt f monoton wachsend (bzw. monoton fallend) auf [a, b], so giltf ′(x) ≥ 0 (bzw. f ′(x) ≤ 0) auf (a, b).

(iii) Es gilt f ′(x) ≡ 0 in (a, b) genau dann, wenn f(x) ≡ const auf [a, b] richtig ist.

Bemerkung: Strenge Monotonie impliziert nicht f ′(x) > 0 bzw. f ′(x) < 0 auf (a, b).Beispiel: f(x) = x3, x ∈ (−1, 1).

Beweis von Folgerung 2.1:

(i) Wir betrachten nur den Fall f ′(x) > 0 auf (a, b); die anderen Aussagen folgenanalog. Seien x1, x2 ∈ [a, b] mit x1 < x2 gewahlt. Nach Satz 2.3 existiert dannein ξ ∈ (x1, x2) mit

f(x2)− f(x1) = f ′(ξ)(x2 − x1) > 0,

also f(x1) < f(x2), wie behauptet.

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2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITAT 109

(ii) Sei f monoton wachsend (bzw. fallend). Dann gilt fur beliebiges x0 ∈ (a, b)und hinreichend kleines h = 0:

f(x0 + h)− f(x0)

h≥ 0 (bzw. ≤ 0).

Grenzubergang h→ 0 liefert die Behauptung.

(iii) Ist f konstant, so verschwindet die Ableitung bekanntlich identisch. Ist umge-kehrt f ′(x) ≡ 0 auf (a, b), so ist f nach (i) sowohl monoton wachsend als auchfallend auf [a, b] und somit konstant.

q.e.d.

Folgerung 2.2: Sei f ∈ C0([a, b]) in (a, b) differenzierbar und x0 ∈ (a, b) sei kriti-scher Punkt von f . Dann gelten:

(i) Falls f ′(x) < 0 (bzw. f ′(x) > 0) in (a, x0) und f ′(x) > 0 (bzw. f ′(x) < 0) in(x0, b) richtig ist, so hat f in x0 ein striktes globales Minimum (bzw. Maxi-mum).

(ii) Falls f ′(x) < 0 oder f ′(x) > 0 fur alle x ∈ (a, b) \ x0 gilt, so ist x0 wederMinimum noch Maximum von f .

Beweis: Folgerung 2.1 (i) entnehmen wir

f ′(x)<> 0 fur a < x < x0 ⇒ f(x0)<> f(x) fur a ≤ x < x0,

f ′(x)<> 0 fur x0 < x < b ⇒ f(x0)>< f(x) fur x0 < x ≤ b.

Das liefert unmittelbar die Behauptungen. q.e.d.

Beispiel: Unter allen Rechtecken gegebenem Umfangs hat das Quadrat den großten Flacheninhalt.

Denn: Es ist F = ab der Flacheninhalt des Rechtecks mit Seitenlangen a, b > 0. Und U = 2(a+ b)ist der fixierte Umfang. Setzen wir b = U

2− a in F ein, so erhalten wir

F = F (a) = a(U2

− a), a ∈

[0,U

2

].

Wegen F ′(a) = 12(U − 4a) ist a0 = U

4einziger kritischer Punkt fur F . Außerdem gilt F ′(a) > 0

in (0, a0) und F ′(a) < 0 in (a0,U2). Also hat F nach Folgerung 2.2 in a0 = U

4ihr striktes globales

Maximum uber [0, U2]. Schließlich beachten wir noch b0 := U

2−a0 = a0, d.h. F wird fur das Quadrat

mit Seitenlange a0 = U4maximal.

Satz 2.5: (Hinreichende Extremalbedingung)Es sei f ∈ C1(I,R) (I ⊂ R Intervall) und in x0 ∈ int I sei f zweimal differenzierbarmit

f ′(x0) = 0 und f ′′(x0) > 0 (bzw. f ′′(x0) < 0).

Dann besitzt f in x0 ein striktes relatives Minimum (bzw. Maximum).

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110 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Bemerkung: Die oben angegebene Bedingung ist nicht notwendig, wie das Beispielf(x) = x4, x ∈ R, mit dem strikten Minimum x0 = 0 zeigt.

Beweis von Satz 2.5: Es gelte f ′′(x0) = limx→x0f ′(x)−f ′(x0)

x−x0 > 0 (der Fall f ′′(x0) < 0

ergibt sich nach Ubergang zu −f). Dann existiert ein ε > 0, so dass [x0−ε, x0+ε] ⊂ Iund

f ′(x)− f ′(x0)

x− x0> 0 fur alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) \ x0

erfullt ist. Wegen f ′(x0) = 0 bedeutet dies

f ′(x) < 0 fur alle x ∈ (x0 − ε, x0),

f ′(x) > 0 fur alle x ∈ (x0, x0 + ε).

Nach Folgerung 2.2 hat f in x0 ein striktes Minimum auf [x0 − ε, x0 + ε], also einstriktes lokales Minimum.

q.e.d.

Folgerung 2.3: (Notwendige Extremalbedingung 2.Ordnung)Sei f ∈ C1(I,R) auf dem Intervall I ⊂ R gegeben und sei x0 ∈ Int I eine relativeMinimalstelle (bzw. Maximalstelle) von f . Dann gilt f ′′(x0) ≥ 0 (bzw. f ′′(x0) ≤ 0).

Beweis: Ist x0 relative Minimalstelle und golte f ′′(x0) < 0, so ware x0 nach Satz 2.5auch strikte relative Maximalstelle, Widerspruch! Also muss doch f ′′(x0) ≥ 0 gelten.Entsprechend folgt die Aussage fur Maximalstellen.

q.e.d.

Wir wollen noch eine Folgerung des allgemeinen Mittelwertsatzes angeben, diesehr hilfreich bei der Berechnung von Grenzwerten ist:

Satz 2.6: (L’Hospitalsche Regel)Es seien f, g : I → R zwei differenzierbare Funktionen auf dem Intervall I = (a, b).Es gelte g′ = 0 auf I, und es existiere der Limes

limx→a+

f ′(x)

g′(x)=: c ∈ R.

Dann folgt:

(i) Falls limx→a+ f(x) = limx→a+ g(x) = 0 gilt, so ist g = 0 auf I richtig und esgilt

limx→a+

f(x)

g(x)= c.

(ii) Falls limx→a+ f(x) = ±∞, limx→a+ g(x) = ±∞ gilt, so existiert ein x0 ∈ (a, b)mit g = 0 fur x ∈ (a, x0] und es gilt

limx→a+

f(x)

g(x)= c.

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2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITAT 111

Analoge Aussagen haben wir fur den Grenzwert x→ b−.

Beweis:

(i) Zunachst konnen wir f und g stetig (zu 0) in den Punkt x = a fortsetzen. Der Satz von Rolleliefert dann g = 0 auf (a, b), und nach dem allgemeinen Mittelwertsatz gibt es zu jedemhinreichend kleinen h > 0 ein ϑ = ϑ(h) ∈ (0, 1) mit der Eigenschaft

f(a+ h)

g(a+ h)=f(a+ h)− f(a)

g(a+ h)− g(a)=f ′(a+ ϑh)

g′(a+ ϑh).

Fur h→ 0+ (und somit a+ϑh→ a+) erhalten wir die Existenz des Grenzwertes limx→a+f(x)g(x)

und die Relation

limx→a+

f(x)

g(x)= limh→0+

f(a+ h)

g(a+ h)= limh→0+

f ′(a+ ϑh)

g′(a+ ϑh)= c,

wie behauptet.

(ii) Wir fixieren zunachst x1 ∈ (a, x0] beliebig. Zu beliebigem x ∈ (a, x1) existiert dann nachdem allgemeinen Mittelwertsatz ein ξ ∈ (x, x1) mit

f ′(ξ)

g′(ξ)=f(x)− f(x1)

g(x)− g(x1)=f(x)

g(x)m(x), (2.3)

wobei wir

m(x) :=1− f(x1)

f(x)

1− g(x1)g(x)

, x ∈ (a, x1),

gesetzt haben. Fur festgehaltenes x1 sehen wir m(x) → 1 und damit auch 1m(x)

→ 1 furx→ a+.

Wir wahlen nun zu vorgegebenem ε > 0 zunachst x1 so nahe an a, dass gilt∣∣∣f ′(t)

g′(t)− c∣∣∣ < ε fur alle t ∈ (a, x1), (2.4)

also insbesondere fur t = ξ ∈ (x, x1). Dann wahlen wir δ > 0 so klein, dass gilt a + δ ≤ x1und ∣∣∣ 1

m(x)− 1∣∣∣ < ε fur alle x ∈ (a, a+ δ). (2.5)

Damit erhalten wir∣∣∣f(x)g(x)

− c∣∣∣ (2.3)

=∣∣∣ 1

m(x)

f ′(ξ)

g′(ξ)− c∣∣∣ ≤ 1

m(x)

∣∣∣f ′(ξ)

g′(ξ)− c∣∣∣+ ∣∣∣ 1

m(x)− 1∣∣∣ |c|

(2.4),(2.5)< ε(1 + ε+ |c|) fur alle x ∈ (a, a+ δ),

also limx→a+f(x)g(x)

= c, wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Satz 2.6 lasst sich noch erweitern: Einerseits gilt die entsprechende Aus-sage auch fur c = ±∞, andererseits auch fur a = −∞ bzw. b = +∞ (Ubungsaufgabe).

Definition 2.3: Eine Funktion f : I → R, I ⊂ R Intervall, heißt konvex, wenn furalle x1, x2 ∈ I und alle λ ∈ (0, 1) gilt

f(λx1 + (1− λ)x2) ≤ λf(x1) + (1− λ)f(x2). (2.6)

Die Funktion f heißt konkav, wenn −f konvex ist. Gilt schließlich in (2.6) die strikteUngleichung fur x1 = x2, so heißt f streng konvex; gilt dies fur −f , so nennen wirf streng konkav.

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112 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 2.7: Sei I ⊂ R ein Intervall und f : I → R ∈ C2(I). Dann ist f genau dannkonvex, wenn f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I gilt.

Bemerkung: Es folgt sofort: f ∈ C2(I) ist genau dann konkav, wenn f ′′(x) ≤ 0 aufI gilt. Eine Verscharfung

”f ∈ C2(I) streng konvex ⇔ f ′′ > 0“ von Satz 2.7 gilt

ubrigens nicht, wie das Beispiel f(x) = x4, x ∈ R, zeigt; siehe aber Folgerung 2.4unten.

Beweis von Satz 2.7:

•”⇐“: Sei zunachst f ′′(x) ≥ 0 in I erfullt. Nach Folgerung 2.1 ist dann f ′ : I → R monotonwachsend. Seien x1, x2 ∈ I und λ ∈ (0, 1) gewahlt, so konnen wir o.B.d.A. x1 < x2 annehmenund setzen x := λx1 + (1− λ)x2 ∈ (x1, x2). Nach dem Mittelwertsatz finden wir ξ1 ∈ (x1, x)und ξ2 ∈ (x, x2) mit

f(x)− f(x1)

x− x1= f ′(ξ1) ≤ f ′(ξ2) =

f(x2)− f(x)

x2 − x.

Beachten wir noch x− x1 = (1− λ)(x2 − x1) und x2 − x = λ(x2 − x1), so folgt

f(x)− f(x1)

1− λ≤ f(x2)− f(x)

λ

und nach Umstellen schließlich (2.6), d.h. f ist konvex.

•”⇒“: Sei nun f : I → R konvex und wir nehmen an, dass nicht f ′′(x) ≥ 0 auf I gilt. Dannexistiert ein x0 ∈ int I mit f ′′(x0) < 0. Wir erklaren nun die Hilfsfunktion

φ(x) := f(x)− f ′(x0)(x− x0), x ∈ I.

Offenbar gilt φ ∈ C2(I) und φ′(x0) = 0, φ′′(x0) = f ′′(x0) < 0. Nach Satz 2.5 besitztalso φ in x0 ein striktes lokales Maximum, und insbesondere finden wir ein h > 0, so dass[x0 − h, x0 + h] ⊂ I sowie

φ(x0 − h) < φ(x0), φ(x0 + h) < φ(x0)

erfullt sind. Hieraus erhalten wir

f(x0) = φ(x0) >1

2

(φ(x0 − h) + φ(x0 + h)

)=

1

2

(f(x0 − h) + f(x0 + h)

). (2.7)

Setzen wir schließlich x1 := x0−h, x2 := x0+h und λ = 12, so haben wir x0 = λx1+(1−λ)x2

und (2.7) besagt

f(λx1 + (1− λ)x2) > λf(x1) + (1− λ)f(x2),

was ein Widerspruch zur vorausgesetzten Konvexitat von f ist. Also gilt doch f ′′(x) ≥ 0 aufI.

q.e.d.

Der Beweis der Richtung”⇐“ in Satz 2.7 lasst sich offenbar so modifizieren, dass

man das nachstehende Ergebnis erhalt:

Folgerung 2.4: Gilt f ∈ C2(I,R) und f ′′(x) > 0 (bzw. < 0) auf dem IntervallI ⊂ R, so ist f streng konvex (bzw. streng konkav) auf I.

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3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 113

3 Die elementaren Funktionen

In Kap. 2, Folgerung 4.2 haben wir die komplexe Exponentialfunktion oder kurz e-Funktion

ez = exp z :=

∞∑k=0

zk

k!, z ∈ C,

erklart und als stetig auf ganz C erkannt. In diesem Paragraphen werden wir Eigen-schaften von ez untersuchen und weitere sogenannte

”elementare Funktionen“ aus

ihr erklaren.

Satz 3.1: (Funktionalgleichung der e-Funktion)Fur beliebige z1, z2 ∈ C gilt die Identitat

exp(z1 + z2) = exp z1 · exp z2.

Beweis: Da die Exponentialreihe fur beliebige z ∈ C absolut konvergiert, liefern dieCauchysche Produktformel und der Binomische Satz:

exp z1 · exp z2 =

( ∞∑k=0

zk1k!

)( ∞∑k=0

zk2k!

)=

∞∑k=0

( k∑l=0

zl1l!

zk−l2

(k − l)!

)

=

∞∑k=0

1

k!

( k∑l=0

(k

l

)zl1z

k−l2

)=

∞∑k=0

(z1 + z2)k

k!= exp(z1 + z2),

wie behauptet. q.e.d.

Definition 3.1: Die Zahl

e := exp 1 =∞∑k=0

1

k!∈ R

wird Eulersche Zahl genannt.

Bemerkung: Mit der Funktionalgleichung zeigt man leicht

epq = exp

(pq

)fur alle p ∈ Z, q ∈ N. (3.1)

Dies erklart auch die Schreibweise der Exponentialfunktion als Potenz.

Wir konzentrieren uns nun auf die Einschrankungen von exp z auf die reellebzw. imaginare Achse:

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114 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 3.2: Die reelle Exponentialfunktion ex = expx :=∑∞

k=0xk

k! , x ∈ R, gehortzur Klasse C∞(R) und es gilt

exp′ x =d

dxexpx = expx, x ∈ R. (3.2)

Beweis: Gemaß Kap. 1, § 8 ist die Exponentialreihe fur alle x ∈ R konvergent. NachFolgerung 1.2 gilt also exp ∈ C∞(R) und wir haben

exp′ x(1.6)=

∞∑k=1

k1

k!xk−1 =

∞∑k=1

1

(k − 1)!xk−1 =

∞∑l=0

xl

l!= expx,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 3.3: Die reelle Exponentialfunktion ex = expx, x ∈ R, bildet R auf (0,+∞)ab, ist streng monoton wachsend, streng konvex und erfullt

limx→−∞

expx = 0, exp 0 = 1, limx→+∞

expx = +∞. (3.3)

Beweis: Offensichtlich ist f(x) := ex, x ∈ R, reellwertig, da die definierende Reihe nur reelle Koef-fizienten besitzt. Insbesondere gilt e0 = 1. Ferner haben wir

expx = 1 +∞∑k=1

xk

k!> 0 fur alle x ∈ [0,+∞)

und nach Satz 3.1 auch

expx =1

exp(−x) > 0 fur alle x ∈ (−∞, 0),

also insgesamt f(R) ⊂ (0,+∞). Zum Beweis von (3.3) beachten wir

limx→+∞

expx ≥ limx→+∞

(1 + x) = +∞

und

limx→−∞

expx = limx→−∞

1

exp(−x)ξ:=−x= lim

ξ→+∞

1

exp ξ= 0.

Ist nun y ∈ (0,+∞) beliebig, so existieren also x1 < 0, x2 > 0 mit ex1 < y < ex2 . Nach demZwischenwertsatz, Satz 2.7 aus Kap. 2, existiert ein x ∈ (x1, x2) mit f(x) = y, d.h. y ∈ f(R) undinsgesamt f(R) = (0,+∞).

Schließlich gilt nach Satz 3.2: exp′ x = expx > 0 fur alle x ∈ R, also ist expx nach Folgerung 2.1streng monoton wachsend. Und wiederum Satz 3.2 in Verbindung mit Folgerung 2.4 liefert die strengeKonvexitat wegen exp′′ x = exp′ x = expx > 0.

q.e.d.

Definition 3.2: Die Umkehrfunktion von exp : R → R nennen wir (naturliche)Logarithmusfunktion log : (0,+∞) → R. Fur x > 0 heißt y = log x Logarithmusvon x.

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3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 115

Satz 3.4: Die Funktion log : (0,+∞) → R ist streng monoton, streng konkav,beliebig oft differenzierbar und wir haben

log′ x =d

dxlog x =

1

xfur alle x > 0. (3.4)

Ferner gelten die Funktionalgleichung

log(x1x2) = log x1 + log x2 fur alle x1, x2 > 0 (3.5)

sowie

limx→0+

log x = −∞, log 1 = 0, log e = 1, limx→+∞

log x = +∞. (3.6)

Beweis: Zunachst gehort log x nach Satz 1.4 als Umkehrfunktion von x = exp y zurKlasse C1((0,+∞),R) und es gilt

log′ x =1

exp′(log x)=

1

exp(log x)=

1

xfur x > 0.

Wegen 1x ∈ C∞((0,+∞),R) ist nun auch log x ∈ C∞((0,+∞),R) richtig. Außerdem

ist log x offenbar streng monoton wachsend, und (3.4) liefert log′′ x = − 1x2< 0 fur

alle x ∈ (0,+∞), d.h. nach Folgerung 2.4 ist log x streng konkav.Zum Beweis von (3.5) seien x1, x2 > 0 beliebig gewahlt. Wir erhalten dann aus

Satz 3.1exp(log x1 + log x2) = exp(log x1) · exp(log x2) = x1x2.

Nehmen wir auf beiden Seiten den Logarithmus, so folgt die Behauptung (3.5).Schließlich ist naturlich log 1 = log(e0) = 0 und log e = log(e1) = 1 richtig. Und

die Grenzwerte in (3.6) ergeben sich direkt aus der Monotonie und der Relationlog((0,+∞)) = R. Damit ist alles gezeigt.

q.e.d.

Definition 3.3: Fur beliebiges α ∈ R erklaren wir die (allgemeine) Potenzfunktionx 7→ xα, x ∈ (0,+∞), durch die Formel

xα := eα log x = exp(α log x).

Satz 3.5: Die allgemeine Potenzfunktion f(x) := xα erfullt f ∈ C∞((0,+∞),R)und es gelten die Relationen

xαyα = (xy)α, xαxβ = xα+β, (xα)β = xαβ , (3.7)

log(xα) = α log x, (3.8)

d

dx(xα) = αxα−1 (3.9)

fur alle x, y > 0 und beliebige α, β ∈ R.

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116 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis: Nach Ketten- und Produktregel ist f ∈ C∞((0,+∞),R) als Komposition zweier C∞-Funktionen. Die Relationen (3.7) ergeben sich leicht unter Benutzung der Funktionalgleichungenfur Exponential- und Logarithmusfunktion; z.B. berechnen wir

xαyα = eα log xeα log y = eα(log x+log y) = eα log(xy) = (xy)α.

Formel (3.8) folgt sofort aus der Definition der Potenzfunktion durch Logarithmieren. Schließlichentnehmen wir der Kettenregel

d

dx(xα) =

d

dx(eα log x) = eα log x · d

dx(α log x) = xαα

1

x

(3.7)= αxα−1,

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Wir konnen auch die allgemeine Exponentialfunktion x 7→ cx = ex log c

fur festes c > 0 betrachten. Es gilt f(x) := cx ∈ C∞(R,R) und

f ′(x) = cx · log c, x ∈ R.

Fur c > 1 ist also f ′ > 0 und f : R → (0,+∞) bijektiv. Die zugehorige Umkehrfunk-tion heißt Logarithmus zur Basis c > 1 und wird mit logc : (0,+∞) → R bezeichnet.Der Logarithmus zur Basis e > 1 ist der naturliche Logarithmus (→ Ubungen).

Definition 3.4: Wir erklaren die Cosinusfunktion cos : R → R und die Sinusfunk-tion sin : R → R gemaß

cosx :=1

2(eix + e−ix) = Re (eix),

sinx :=1

2i(eix − e−ix) = Im (eix), x ∈ R.

Satz 3.6: Die Funktionen cos und sin gehoren zur Klasse C∞(R,R) mit den Ablei-tungen

cos′ x =d

dxcosx = − sinx,

sin′ x =d

dxsinx = cosx, x ∈ R.

(3.10)

Es gilt die Eulersche Formel

eix = cosx+ i sinx, x ∈ R, (3.11)

und die Additionstheoreme

cos(x1 + x2) = cosx1 cosx2 − sinx1 sinx2,

sin(x1 + x2) = cosx1 sinx2 + sinx1 cosx2, x1, x2 ∈ R.(3.12)

Die Cosinusfunktion ist gerade, die Sinusfunktion ist ungerade, d.h.

cos(−x) = cosx, sin(−x) = − sinx, x ∈ R. (3.13)

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3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 117

Schließlich haben wir die Potenzreihendarstellungen

cosx =∞∑l=0

(−1)l

(2l)!x2l, sinx =

∞∑l=0

(−1)l

(2l + 1)!x2l+1, x ∈ R, (3.14)

wobei beide Reihen absolut konvergieren.

Beweis: cos, sin ∈ C∞(R,R) ist per Definition klar, da exp(±ix) ∈ C∞(R,C) giltgemaß Satz 1.6. Mit d

dx(e±ix) = ±ie±ix berechnen wir

cos′ x =1

2(ieix − ie−ix) = − 1

2i(eix − e−ix) = − sinx,

sin′ x =1

2i(ieix + ieix) =

1

2(eix + e−ix) = cosx,

also (3.10).Die Eulersche Formel (3.11) ist direkte Konsequenz der Definition von cos und sin. Und die Funk-tionalgleichung der Exponentialfunktion liefert in Verbindung mit der Eulerschen Formel:

cos(x1 + x2) + i sin(x1 + x2) = ei(x1+x2) = eix1eix2

= (cosx1 + i sinx1)(cosx2 + i sinx2)

= (cosx1 cosx2 − sinx1 sinx2) + i(cosx1 sinx2 + sinx1 cosx2).

Real- und Imaginarteil dieser Gleichung entsprechen gerade den Formeln (3.12). Formel (3.13)entnimmt man wieder direkt der Definition von cos und sin. Zum Beweis von (3.14) berechnen wirschließlich

cosx+ i sinx = eix =

∞∑k=0

1

k!ikxk =

∑k gerade

1

k!ikxk +

∑k ungerade

1

k!ikxk

=

∞∑l=0

1

(2l)!i2lx2l +

∞∑l=0

1

(2l + 1)!i2l+1x2l+1

=

∞∑l=0

(−1)l

(2l)!x2l + i

∞∑l=0

(−1)l

(2l + 1)!x2l+1.

Vergleich von Real-und Imaginarteil dieser Identitat liefert (3.14). Damit ist alles gezeigt.q.e.d.

Bemerkung:Wegen eix = e−ix gilt |eix|2 = eixe−ix = 1 fur alle x ∈ R. Der EulerschenFormel entnehmen wir daher die beruhmte Relation

1 = cos2 x+ sin2 x fur alle x ∈ R.

Geometrisch stellt f(x) := eix, x ∈ R, eine gleichformige Bewegung mit Geschwin-digkeit 1 auf der Einheitskreislinie dar, denn es gilt

|f(x)| ≡ 1, |f ′(x)| = |ieix| ≡ 1.

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118 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Cosinus- und Sinusfunktion sind nach Definition die Projektionen dieser Kreisbewe-gung auf die reelle bzw. imaginare Achse, weshalb man sie auch als Kreisfunktionenbezeichnet.

Wir wollen nun die Nullstellen der Kreisfunktionen untersuchen und beginnenmit dem

Satz 3.7: Die Gleichung cosx = 0 besitzt im Intervall [0, 2] genau eine Losung.Diese kleinste positive Nullstelle von cos bezeichnen wir mit π

2 . Es gilt dann

cosx > 0 fur alle x ∈[0,π

2

), cos

π

2= 0.

Beweis: Zunachst gilt per Definition cos 0 = Re (e0) = 1. Und aus der Reihendarstellung von cosermitteln wir

cosx = 1− x2

2!+x4

4!− x6

6!+x8

8!− x10

10!+x12

12!−+ . . .

=(1− x2

2!+x4

4!

)− x6

6!

(1− x2

7 · 8

)− x10

10!

(1− x2

11 · 12

)− . . .

Fur x = 2 erhalten wir also

cos 2 = −1

3− 26

6!

(1− 4

7 · 8

)− 210

10!

(1− 4

11 · 12

)− . . . < −1

3.

Nach dem Zwischenwertsatz, Satz 2.5 aus Kap. 2, existiert also ein ξ ∈ (0, 2) mit cos ξ = 0. Weiterentnehmen wir der Reihendarstellung von sin:

cos′ x = − sinx = −x+x3

3!− x5

5!+x7

7!− x9

9!+x11

11!−+ . . .

= −x(1− x2

2 · 3

)− x5

5!

(1− x2

6 · 7

)− x9

9!

(1− x2

10 · 11

)− . . . < 0

fur x ∈ (0, 2). Nach Folgerung 2.1 ist also cos in [0, 2] streng monoton fallend und somit injektiv.Insbesondere ist die Nullstelle ξ =: π

2eindeutig bestimmt und der Satz damit bewiesen.

q.e.d.

Folgerung 3.1: Die Sinusfunktion ist im Intervall [−π2 ,

π2 ] streng monoton wach-

send und es gilt

sin(− π

2

)= −1, sin 0 = 0, sin

π

2= 1.

Die Cosinusfunktion ist im Intervall [0, π] streng monoton fallend und es gilt

cos 0 = 1, cosπ

2= 0, cosπ = −1.

Beweis: Da cos gerade ist, gilt nach Satz 3.7: sin′ x = cosx > 0 in (−π2, π2), d.h. sin ist in [−π

2, π2]

streng monoton wachsend nach Folgerung 2.1. Ferner gilt sin 0 = Im (e0) = 0 und

1 = cos2(± π

2

)+ sin2

(± π

2

)= sin2

(± π

2

),

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3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 119

also wegen der Monotonie sin(−π2) = −1, sin π

2= 1. Schließlich erhalten wir die Aussagen uber den

Cosinus aus den Regeln der Phasenverschiebung

cos(π2− x)= sinx, sin

(π2− x)= cosx, x ∈ R, (3.15)

die man nun sofort aus den Additionstheoremen gewinnt. q.e.d.

Satz 3.8: Die Funktionen cos und sin sind 2π-periodisch, d.h. es gilt

cos(x+ 2π) = cosx, sin(x+ 2π) = sinx fur alle x ∈ R. (3.16)

Ferner haben wir

cos(x+ π) = − cosx, sin(x+ π) = − sinx fur alle x ∈ R. (3.17)

Schließlich gilt fur die Nullstellenmengen der Funktionen

x ∈ R : cosx = 0 =π2+ kπ : k ∈ Z

,

x ∈ R : sinx = 0 = kπ : k ∈ Z.(3.18)

Beweis: Wir bemerken zunachst eiπ2 = cos π

2+ i sin π

2= i nach Folgerung 3.1. Damit folgt

eiπ = (eiπ2 )2 = i2 = −1, e2iπ = (eiπ)2 = (−1)2 = 1,

alsocosπ = −1, sinπ = 0; cos(2π) = 1, sin(2π) = 0.

Die Aussagen (3.16) und (3.17) folgen nun wieder unmittelbar aus den Additionstheoremen (3.12).Ferner wissen wir bereits cosx > 0 fur alle x ∈ (−π

2, π2) und cos π

2= 0. Also folgt die Aussage

(3.18) fur den Cosinus aus Formel (3.17). Die Nullstellenmenge des Sinus lasst sich daraus m.H. derPhasenverschiebung (3.15) ablesen.

q.e.d.

Folgerung 3.2: Alle Losungen der Gleichung eix = 1 haben die Form x = 2kπ miteinem k ∈ Z.

Beweis: Wir beachten

sinx

2=

1

2i

(eix2 − e−i

x2)=e−i

x2

2i(eix − 1).

Also gilt eix = 1 ⇔ sin x2 = 0. Die Behauptung ergibt sich nun aus (3.18).

q.e.d.

Satz 3.9: (Polarkoordinaten)Jede komplexe Zahl z ∈ C besitzt eine Darstellung

z = reiφ = r(cosφ+ i sinφ) (3.19)

mit einem φ ∈ R und r = |z|. Fur z = 0 ist die Darstellung (3.19) eindeutig, wennwir φ ∈ [0, 2π) fordern.

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120 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis:

1. Fur z = 0 ist r = |z| = 0 und (3.19) gilt mit beliebigem φ ∈ R. Sei alsoz = x+ iy = 0. Dann folgt r := |z| > 0 und ξ := x

r , η := yr sind wohldefiniert.

Es gilt dannz = r(ξ + iη), ξ2 + η2 = 1. (3.20)

Insbesondere ist ξ ∈ [−1, 1] = [cosπ, cos 0] erfullt. Nach dem Zwischenwertsatzexistiert also ein α ∈ [0, π] mit cosα = ξ. Hieraus folgt noch

η = ±√

1− ξ2 = ±√

1− cos2 α = ± sinα.

Man beachte sinα ≥ 0 wegen (3.18) und sin π2 = 1.

• 1. Fall: Fur y ≥ 0 ist η ≥ 0, also η = sinα. Dann wahlen wir φ :=α ∈ [0, π] und erhalten ξ = cosφ, η = sinφ, also aus (3.20) die gesuchteDarstellung (3.19).

• 2. Fall: Fur y < 0 folgt α ∈ (0, π) und η = − sinα. Mit φ := 2π − α ∈(π, 2π) erhalten wir dann aus den Symmetrieeigenschaften (3.13) und derPeriodizitat (3.16):

ξ = cosα = cos(2π − φ) = cosφ,

η = − sinα = − sin(2π − φ) = sinφ,

also wieder (3.19).

2. Man beachte, dass der in Teil 1 des Beweises erklarte Winkel φ in [0, 2π) liegt.Gabe es ein weiteres ψ ∈ [0, 2π) mit z = reiψ, so folgte eiφ = eiψ bzw. ei(φ−ψ) =1. Folgerung 3.2 liefert also φ − ψ = 2kπ. Aus |φ − ψ| < 2π folgt nun k = 0bzw. φ = ψ, wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkungen:

1. φ ∈ [0, 2π) misst den Winkel zwischen der positiven reellen Achse und demVektor z = (x, y), gemessen in mathematisch positivem Sinn. Er wird Argu-ment von z genannt und mit φ = arg z bezeichnet. Seine Berechnung gelingtmit Hilfe der Arcus-Funktionen; siehe Bemerkung 1 im Anschluss an Satz 3.11unten.

2. Auch mit der Forderung φ ∈ [φ0, φ0+2π) fur beliebiges φ0 ∈ R ist φ eindeutigfestgelegt; vergleiche Teil 2 des obigen Beweises. Aufgrund der Periodizitat voncos und sin folgt dann φ = arg z+2kπ mit einem (eindeutigen) k ∈ Z. φ misstalso wieder den Winkel zur positiven x-Achse, wobei nun zusatzlich k-mal umden Ursprung gelaufen wird. Analog fuhrt auch die Forderung φ ∈ (φ0, φ0+2π]zu einer eindeutigen Festlegung von φ.

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3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 121

3. Die Polarkoordinatendarstellung erlaubt uns eine einfache Interpretation derkomplexen Multiplikation: Sind namlich z1 = |z1|eiφ1 und z2 = |z2|eiφ2 mitφ1, φ2 ∈ [0, 2π) gegeben, so folgt aus der Funktionalgleichung der Exponenti-alfunktion:

z1 · z2 = |z1| |z2| ei(φ1+φ2).

Bei der Multiplikation werden also die Betrage multipliziert und die Argumente(=Winkel) addiert.

Definition 3.5: Wir erklaren die Funktionen

tanx :=sinx

cosx, x = π

2+ kπ, k ∈ Z (Tangens),

cotx :=cosx

sinx, x = kπ, k ∈ Z (Cotangens).

Satz 3.10: Tangens und Cotangens sind in ihren Definitionsgebieten beliebig oftdifferenzierbar und es gelten

tan′ x =d

dxtanx = 1 + tan2 x =

1

cos2 x, x = π

2+ kπ, k ∈ Z,

cot′ x =d

dxcotx = −(1 + cot2 x) = − 1

sin2 x, x = kπ, k ∈ Z.

(3.21)

Ferner haben wir

tan(x+ π) = tanx, cot(x+ π) = cotx

undtan

(π2− x)= cotx, cot

(π2− x)= tanx

sowie die Additionstheoreme

tan(x1 + x2) =tanx1 + tanx21− tanx1 tanx2

, x1, x2, x1 + x2 =π

2+ kπ, k ∈ Z,

cot(x1 + x2) =−1 + cotx1 cotx2cotx1 + cotx2

, x1, x2, x1 + x2 = kπ, k ∈ Z.

Schließlich ist tan in (−π2 ,

π2 ) streng monoton wachsend mit

limx→−π

2+tanx = −∞, tan 0 = 0, lim

x→π2−tanx = +∞.

Und cot ist in (0, π) streng monoton fallend mit

limx→0+

cotx = +∞, cot(π2

)= 0, lim

x→π−cotx = −∞.

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122 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis: Direkt aus den Aussagen uber die Cosinus-und Sinusfunktion. q.e.d.

Aufgrund des Monotonieverhaltens von sin, cos, tan und cot konnen wir nunauch die entsprechenden Umkehrfunktionen erklaren, wenn wir uns auf geeigneteMonotonieintervalle beschranken: Wir wahlen die Bereiche

y = sinx, −π2≤ x ≤ π

2⇒ −1 ≤ y ≤ 1,

y = cosx, 0 ≤ x ≤ π ⇒ −1 ≤ y ≤ 1,

y = tanx, −π2< x <

π

2⇒ −∞ < y < +∞,

y = cotx, 0 < x < π ⇒ −∞ < y < +∞.

Die zugehorigen Umkehrfunktionen heißen Arcus Sinus, Arcus Cosinus, Arcus Tan-gens bzw. Arcus Cotangens und werden mit

arcsin := sin−1 : [−1, 1] → R, arccos := cos−1 : [−1, 1] → R,arctan := tan−1 : R → R, arccot := cot−1 : R → R

bezeichnet.

Satz 3.11: Es gelten arcsin, arccos ∈ C∞((−1, 1)) und arctan, arccot ∈ C∞(R) undwir haben

arcsin′ y =1√

1− y2, arccos′ y = − 1√

1− y2, y ∈ (−1, 1),

arctan′ y =1

1 + y2, arccot′y = − 1

1 + y2, y ∈ R.

(3.22)

Ferner gelten die Relationen

arcsin y + arccos y =π

2fur alle y ∈ [−1, 1],

arctan y + arccoty =π

2fur alle y ∈ R.

(3.23)

Beweis: Da die ersten Ableitungen von sin, tan auf (−π2, π2) und von cos, cot auf (0, π) nicht ver-

schwinden, sind die Umkehrfunktionen in den angegebenen Bereichen einmal differenzierbar nachSatz 1.4 und es gelten

arcsin′ y =1

sin′(arcsin y)=

1√1− sin2(arcsin y)

=1√

1− y2, |y| < 1,

arctan′ y =1

tan′(arctan y)=

1

1 + tan2(arctan y)=

1

1 + y2, y ∈ R.

Entsprechend erhalten wir die ersten Ableitungen fur arccos und arccot. Da die Funktionen 1√1−y2

,

y ∈ (−1, 1), und 11+y2

, y ∈ R, beliebig oft differenzierbar sind, folgen die behaupteten Regularitats-eigenschaften der Arcusfunktionen.

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3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 123

Zum Beweis der ersten Relation in (3.23) wenden wir arccos auf die Relation y = sinx =cos(π

2− x), x ∈ [−π

2, π2], an:

arccos y =π

2− x =

π

2− arcsin y, y ∈ [−1, 1].

Entsprechend wenden wir arccot auf y = tanx = cot(π2− x), x ∈ R, an und erhalten die zweite

Relation in (3.23).q.e.d.

Bemerkungen:

1. Die Konstruktion im Beweis von Satz 3.9 und die obige Definition von arccoszeigen, dass sich das Argument arg z einer Zahl z = x + iy = 0 wie folgtbestimmen lasst:

arg z =

arccos

( x|z|

), falls y ≥ 0

2π − arccos( x|z|

), falls y < 0

∈ [0, 2π).

2. Ausgehend von der komplexen Exponentialfunktion konnen wir auch die kom-plexe Cosinus- bzw. Sinusfunktion erklaren:

cos z :=1

2(eiz + e−iz), sin z :=

1

2i(eiz − e−iz), z ∈ C.

Fur z = x ∈ R erhalten wir dann die reellen Kreisfunktionen. Fur z = −ix,x ∈ R, erhalten wir die (reellen) Hyperbelfunktionen

coshx := cos(−ix) = 1

2(ex + e−x) (Cosinus hyperbolicus),

sinhx := sin(−ix) = 1

2(ex − e−x) (Sinus hyperbolicus).

Wahrend (cosx, sinx) eine Parametrisierung der Einheitskreislinie liefert, er-gibt (coshx, sinhx) eine Parametrisierung des rechten Astes der Hyperbel(x, y) ∈ R2 : x2 − y2 = 1. Wir verzichten hier auf eine Diskussion derHyperbelfunktionen und verweisen auf die Literatur und die Ubungen.

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124 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

4 Das eindimensionale Riemannsche Integral

Ist f : [a, b] → R eine positive Funktion, so mochte man das bestimmte Integral

b∫a

f(x) dx

als Flacheninhalt des Stuckes des R2 erklaren, das von der x-Achse und der Funktionf einerseits und den senkrechten Geraden durch (a, 0) bzw. (b, 0) andererseits beran-

det wird. Die Idee hierbei ist, den Wert∫ ba f(x) dx durch den elementargeometrischen

Flacheninhalt von einbeschriebenen Rechtecken geeigneter Hohe zu approximieren.Es scheint offensichtlich, dass der Flacheninhalt so immer besser approximiert wird,wenn wir die Breite der Rechtecke verringern (und damit ihre Anzahl erhohen), zu-mindest wenn dieses Verfahren konvergiert. Dieser Ansatz soll nun prazisiert werden.

Im Folgenden sei f : I → R immer eine beschrankte Funktion auf dem kompaktenIntervall I = [a, b] ⊂ R (−∞ < a < b < +∞).

Definition 4.1: Sei also I = [a, b] und f : I → R beschrankt.

• Es sei N ∈ N und Punkte x0, x1, . . . , xN ∈ I seien gewahlt mit

a = x0 < x1 < . . . < xN = b.

Wir setzen Ij := [xj−1, xj ] und ∆xj := xj − xj−1 = |Ij | fur j = 1, . . . , N . DieMenge x0, . . . , xN nennen wir dann eine Zerlegung Z von I und die Punktex0, . . . , xN heißen Teilpunkte von Z. Die Lange des großten Teilintervalls

∆(Z) := max∆x1, . . . ,∆xN (4.1)

wird als Feinheit der Zerlegung Z bezeichnet.

• Mit den Abkurzungen

mj := infIj f = inff(x) : x ∈ Ij,mj := supIj f = supf(x) : x ∈ Ij, j = 1, . . . , N,

(4.2)

bilden wir die Untersumme

SZ(f) :=

N∑j=1

mj∆xj (4.3)

und die Obersumme

SZ(f) :=

N∑j=1

mj∆xj (4.4)

zu f .

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4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 125

• Aus jedem Teilintervall Ij wahlen wir ein ξj ∈ Ij und setzen ξ := (ξ1, . . . , ξN ).Dann nennen wir

SZ(f) = SZ(f, ξ) :=N∑j=1

f(ξj)∆xj (4.5)

eine Riemannsche Zwischensumme zu f .

Bemerkung: Man beachte, dass wegen mj ≤ f(ξj) ≤ mj stets

SZ(f) ≤ SZ(f, ξ) ≤ SZ(f) (4.6)

fur jede Zerlegung von I und jede Riemannsche Zwischensumme erfullt ist. Fernerkonnen wir zu jeder Zerlegung Z und jedem ε > 0 Zwischenwerte ξ

j, ξj ∈ Ij (j =

1, . . . , N) so angeben, dass gilt

SZ(f, ξ) < SZ(f) + ε, SZ(f, ξ) > SZ(f)− ε. (4.7)

Definition 4.2:

• Eine Zerlegung Z∗ von I heißt Verfeinerung der Zerlegung Z von I, wenn alleTeilpunkte von Z auch Teilpunkte von Z∗ sind.

• Eine gemeinsame Verfeinerung Z1 ∨ Z2 zweier Zerlegungen Z1,Z2 von I istdie Zerlegung von I, deren Teilpunkte gerade die Teilpunkte von Z1 und Z2

sind.

Bemerkung: Z1 ∨ Z2 ist also sowohl Verfeinerung von Z1 als auch von Z2.

Hilfssatz 4.1:

(i) Ist Z∗ Verfeinerung von Z, so gilt

SZ(f) ≤ SZ∗(f) ≤ SZ∗(f) ≤ SZ(f).

(ii) Sind Z1,Z2 zwei beliebige Zerlegungen von I, so gilt

SZ1(f) ≤ SZ2(f).

Beweis:

(i) Seien I∗l ein Teilintervall von Z∗ und Ij ein Teilintervall von Z mit I∗l ⊂ Ij .Dann folgt

m∗l := inf

I∗lf ≥ inf

Ijf =: mj , m∗

l := supI∗l

f ≤ supIj

f =: mj

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126 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

und somit

mj∆xj = mj

∑l:I∗l ⊂Ij

∆x∗l ≤∑

l:I∗l ⊂Ij

m∗l∆x

∗l , mj∆xj ≥

∑l:I∗l ⊂Ij

m∗l∆x

∗l .

Durch Summierung uber j erhalten wir also

SZ(f) ≤ SZ∗(f)(4.6)

≤ SZ∗(f) ≤ SZ(f).

(ii) Wir wenden (i) auf die gemeinsame Verfeinerung Z1∨Z2 =: Z an und erhalten

SZ1(f) ≤ SZ(f) ≤ SZ(f) ≤ SZ2(f),

wie behauptet. q.e.d.

Definition 4.3: Ist f : I → R beschrankt, I = [a, b], so erklaren wir das Unterin-tegral I(f) bzw. Oberintegral I(f) von f als

I(f) := supSZ(f) : Z ist Zerlegung von I

,

I(f) := infSZ(f) : Z ist Zerlegung von I

.

Bemerkung: Ist Z eine beliebige Zerlegung von I = [a, b] und f : I → R beschrankt,so gilt nach Hilfssatz 4.1 (i):

−∞ < |I| infIf ≤ SZ(f) ≤ SZ(f) ≤ |I| sup

If < +∞.

Also sind I(f), I(f) ∈ R wohl definiert. Hilfssatz 4.1 (ii) entnehmen wir noch durchsup- bzw. inf-Bildung:

SZ(f) ≤ I(f) ≤ I(f) ≤ SZ(f) mit beliebiger Zerlegung Z von I. (4.8)

Definition 4.4: Eine beschrankte Funktion f : I → R uber dem Intervall I = [a, b]heißt Riemann-integrierbar, wenn gilt I(f) = I(f). Wir setzen dann

I(f) := I(f) = I(f)

fur das (bestimmte) Riemannsche Integral von f uber [a, b]. Alternative Symbolesind

I(f) =b∫a

f(x) dx =

b∫a

fdx =

∫I

f(x) dx.

Die Klasse aller Riemann-integrierbaren Funktionen auf I wird mit R(I) bezeichnet.

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4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 127

Bemerkung: Da wir weitere Integralbegriffe erst in der Analysis III kennenlernenwerden, sagen wir i.F. kurz integrierbar fur Riemann-integrierbar und Integral furRiemannsches Integral.

Satz 4.1: (Integrabilitatskriterium I)Fur eine beschrankte Funktion f : I → R, I = [a, b], gilt:

f ∈ R(I) ⇔Fur alle ε > 0 existiert eine Zerlegung Zvon I mit SZ(f)− SZ(f) < ε.

Beweis:

•”⇐“: Aus (4.8) erhalten wir

0 ≤ I(f)− I(f) ≤ SZ(f)− SZ(f) < ε

fur beliebiges ε > 0 und geeignete Zerlegung Z. Also folgt I(f) = I(f)bzw. f ∈ R(I).

•”⇒“: Nach Definition 4.3 existieren zu beliebig gewahltem ε > 0 ZerlegungenZ und Z von I mit

SZ(f) > I(f)− ε

2, SZ(f) < I(f) + ε

2.

Setzen wir Z := Z ∨ Z, so liefert Hilfssatz 4.1 (i):

SZ(f)− SZ(f) ≤ SZ(f)− SZ(f) < I(f)− I(f) + εf∈R(I)= ε,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 4.2: (Integrabilitatskriterium II)Fur eine beschrankte Funktion f : I → R, I = [a, b], gilt:

f ∈ R(I) ⇔Fur alle ε > 0 existiert ein δ = δ(ε), so dass gilt:

SZ(f)− SZ(f) < ε fur alle Zerlegungen Z mit ∆(Z) < δ.

Beweis:

•”⇐“: Klar aus Satz 4.1.

•”⇒“: Sei also f ∈ R(I) und ε > 0 beliebig gewahlt. Nach Satz 4.1 existierteine Zerlegung

Z∗ =x∗0, x

∗1, . . . , x

∗N : a = x∗0 < x∗1 < . . . < x∗N = b

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128 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

mit der Eigenschaft

SZ∗(f)− SZ∗(f) <ε

2. (4.9)

Da ferner f beschrankt ist, gibt es ein c > 0 mit |f(x)| ≤ c fur alle x ∈ I. Wirsetzen nun

δ = δ(ε) :=ε

16 cN

und betrachten eine beliebige Zerlegung Z von I mit ∆(Z) < δ. Fur Z ′ :=Z ∨ Z∗ folgt dann aus Hilfssatz 4.1 (i) und (4.9):

SZ′(f)− SZ′(f) ≤ SZ∗(f)− SZ∗(f) <ε

2. (4.10)

Ferner unterscheiden sich die Ober- bzw. Untersummen von Z und Z ′ in jeweilshochstens 2N Summanden, namlich jenen, die zu Zerlegungsintervallen von Zgehoren, die einen Zerlegungspunkt von Z∗ im Innern enthalten. Da schließlichauch ∆(Z ′) < δ gilt, finden wir also

0 ≤ SZ(f)− SZ′(f) ≤ 4Ncδ, 0 ≤ SZ′(f)− SZ(f) ≤ 4Ncδ,

so dass (4.10) liefert

SZ(f)− SZ(f) ≤ SZ′(f)− SZ′(f) + 8cNδ(4.10)<

ε

2+ε

2= ε,

wie behauptet. q.e.d.

Folgerung 4.1: Es sei f ∈ R(I), Znn eine beliebige Folge von Zerlegungen vonI = [a, b] mit ∆(Zn) → 0 (n → ∞) und SZn(f)n eine zugehorige Folge beliebigerRiemannscher Zwischensummen. Dann gilt

b∫a

f(x) dx = limn→∞

SZn(f). (4.11)

Bemerkung: Eine Folge von Zerlegungen Znn mit ∆(Zn) → 0 (n→ ∞) nennt manausgezeichnete Zerlegungsfolge. Es gilt auch die Umkehrung von Folgerung 4.1:

Konvergiert die Folge Riemannscher Zwischensummen SZn(f)n fur jede ausge-zeichnete Zerlegungsfolge Znn und jede Wahl der Zwischenwerte, so ist f inte-grierbar und es gilt (4.11).

Beweis von Folgerung 4.1: Ist ε > 0 beliebig gewahlt, so existiert nach Satz 4.2 einN = N(ε) ∈ N mit

SZn(f)− SZn(f) < ε fur alle n ≥ N.

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4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 129

Wegen SZn(f) ≤ I(f) ≤ SZn(f) und SZn(f) ≤ SZn(f) ≤ SZn(f) fur alle n ∈ Nfolgt sofort

|I(f)− SZn(f)| ≤ SZn(f)− SZn(f) < ε fur alle n ≥ N,

also die Behauptung. q.e.d.

Satz 4.3: (Rechenregeln)

(i) Gilt f, g ∈ R(I), so auch αf + βg ∈ R(I) fur alle α, β ∈ R mit

I(αf + βg) = αI(f) + βI(g).

D.h. R(I) ist ein reeller Vektorraum.

(ii) Sind f, g ∈ R(I) und gilt f ≤ g auf I, so folgt

I(f) ≤ I(g).

(iii) Mit f ∈ R(I) gilt auch |f | ∈ R(I) mit

|I(f)| ≤ I(|f |).

(iv) Sind f, g ∈ R(I), so auch f · g ∈ R(I) und es gilt

|I(fg)| ≤(supI

|g|)I(|f |).

(v) Gilt f, g ∈ R(I) sowie |g| ≥ c > 0 auf I mit einer Konstante c > 0, so folgtauch f

g ∈ R(I) mit ∣∣∣I(fg

)∣∣∣ ≤ 1

cI(|f |).

Bemerkung: Zum Beweis der Aussagen benutzen wir folgende allgemeine Beobach-tung, die man leicht als Ubungsaufgabe beweist: Ist h : D → R beschrankt, D ⊂ Rm,so folgt

supx,x′∈D

|h(x)− h(x′)| = supDh− inf

Dh. (4.12)

Man nennt diesen Wert die Oszillation von h.

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130 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis von Satz 4.3:

(i) Mit α, β ∈ R und h(x) := αf(x) + βg(x), x ∈ I, finden wir

|h(x)− h(x′)| ≤ |α| |f(x)− f(x′)|+ |β| |g(x)− g(x′)| fur alle x, x′ ∈ I.

Zu einer beliebigen Zerlegung Z von I bilden wir in dieser Relation das Su-premum uber x, x′ ∈ Ij , wenden (4.12) auf den einzelnen Teilintervallen Ij an,multiplizieren mit ∆xj und summieren uber j. Dann folgt

SZ(h)− SZ(h) ≤ |α|[SZ(f)− SZ(f)

]+ |β|

[SZ(g)− SZ(g)

].

Wegen f, g ∈ R(I) existiert somit nach Satz 4.2 ein δ = δ(ε) > 0, so dassSZ(h) − SZ(h) < ε gilt fur alle Zerlegungen Z mit ∆(Z) < δ. WiederumSatz 4.2 liefert also h = αf + βg ∈ R(I).

Ist nun Z eine beliebige Zerlegung, so gilt bei jeder Wahl der Zwischenwertefur die Riemannschen Zwischensummen:

SZ(αf + βg) = αSZ(f) + βSZ(g).

Wenden wir dies auf eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge Znn an, so liefertFolgerung 4.1 nach Grenzubergang n → ∞ die behauptete Linearitat des In-tegrals.

(ii) Nach (i) gilt h := g − f ∈ R(I). Wegen h ≥ 0 liefert Formel (4.8)

0 ≤ SZ(h) ≤ I(h) (i)= I(g)− I(f).

also die Behauptung.

(iii) Die umgekehrte Dreiecksungleichung liefert∣∣|f(x)| − |f(x′)|∣∣ ≤ |f(x)− f(x′)| fur alle x, x′ ∈ I.

Wie in (i) folgern wir hieraus m.H. von (4.12) und Satz 4.2:

SZ(|f |)− SZ(|f |) ≤ SZ(f)− SZ(f) < ε

fur alle Zerlegungen Z mit ∆(Z) < δ, wobei ε > 0 beliebig und δ = δ(ε) > 0 geeignet gewahltsind. Satz 4.2 liefert also |f | ∈ R(I). Ferner entnehmen wir (ii):

I(f) ≤ I(|f |), −I(f) (i)= I(−f) ≤ I(|f |)

bzw. |I(f)| ≤ I(|f |).

(iv) Hier erhalten wir (ahnlich wie in (i) und (iii)) die Integrierbarkeit von f · g fur f, g ∈ R(I)aus der Relation

|f(x)g(x)− f(x′)g(x′)| ≤ (supI

|f |)|g(x)− g(x′)|+ (supI

|g|)|f(x)− f(x′)|

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4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 131

fur alle x, x′ ∈ I. Aus (i)-(iii) und der Ungleichung

|f(x)g(x)| ≤ (supI

|g|)|f(x)|, x ∈ I,

folgt noch

|I(fg)|(iii)

≤ I(|fg|)(ii)

≤ I((supI

|g|)|f |)

(i)= (sup

I|g|)I(|f |).

(v) Wegen |g| ≥ c > 0 haben wir∣∣∣ 1

g(x)− 1

g(x′)

∣∣∣ ≤ 1

c2|g(x)− g(x′)| fur alle x, x′ ∈ I,

so dass wie oben 1g∈ R(I) folgt. Damit ist nach (iv) auch f

g∈ R(I) richtig, und wir finden

∣∣∣I(fg

)∣∣∣ (iv)

≤(supI

∣∣∣1g

∣∣∣)I(|f |) ≤ 1

cI(|f |).

Damit ist alles gezeigt. q.e.d.

Satz 4.4: (Schwarzsche Ungleichung)Fur beliebige f, g ∈ R([a, b]) gilt

∣∣∣∣b∫a

f(x)g(x) dx

∣∣∣∣ ≤ (b∫a

|f(x)|2 dx) 1

2( b∫a

|g(x)|2 dx) 1

2

.

Beweis: Dieser verlauft analog zum Beweis der Cauchy-Schwarzschen Ungleichungim Rd, Satz 10.2 aus Kap. 1, wenn wir

⟨f, g⟩ :=b∫a

f(x)g(x) dx und ∥f∥ :=√

⟨f, f⟩ =( b∫a

|f(x)|2 dx) 1

2

setzen (ersetze im dortigen Beweis | · | durch ∥ · ∥ und nutze die Linearitat desIntegrals).

q.e.d.

Satz 4.5: Fur I = [a, b] gilt C0(I) ⊂ R(I).

Beweis: Da I = [a, b] kompakt ist, ist jede Funktion f ∈ C0(I) gleichmaßig stetignach Satz 3.3 aus Kap. 2. Zu beliebigem ε > 0 existiert also ein δ = δ(ε) > 0, so dassgilt

|f(x)− f(x′)| < ε

b− afur alle x, x′ ∈ I mit |x− x′| < δ.

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132 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Ist nun Z eine beliebige Zerlegung von I mit ∆(Z) < δ, so folgt

SZ(f)− SZ(f) =

N∑j=1

[supIj

f − infIjf]∆xj

(4.12)=

( N∑j=1

supx,x′∈Ij

|f(x)− f(x′)|)∆xj

b− a

N∑j=1

∆xj = ε

und somit f ∈ R(I) nach Satz 4.2. q.e.d.

Bemerkung: Eine Funktion f : I → R, I = [a, b], heißt stuckweise stetig auf I, wenneine Zerlegung

Z = x0, . . . , xN : a = x0 < x1 < . . . < xN = b

von I so existiert, dass f in jedem Teilintervall Ij = (xj−1, xj) stetig ist und dieeinseitigen Grenzwerte limξ→xj−1+ f(ξ), limξ→xj− f(ξ) existieren fur j = 1, . . . , N .Die Funktionen

φj(x) :=

limξ→xj−1+ f(ξ), x = xj−1

f(x), x ∈ (xj−1, xj)

limξ→xj− f(ξ), x = xj

sind also stetig auf [xj−1, xj ] fur j = 1, . . . , N . Aus Satz 4.5 erhalt man nun leichtdie

Folgerung 4.2: Jede stuckweise stetige Funktion auf dem Intervall I = [a, b] istRiemann-integrierbar.

Satz 4.6: (Mittelwertsatz der Integralrechnung)Es sei I = [a, b] und f ∈ C0(I) sowie p ∈ R(I) mit p ≥ 0 auf I seien gegeben. Dannexistiert ein ξ ∈ (a, b), so dass gilt

b∫a

f(x)p(x) dx = f(ξ)

b∫a

p(x) dx. (4.13)

Bemerkung: Speziell fur p(x) := 1, x ∈ [a, b], haben wir p ∈ R(I) und z.B. nachFolgerung 4.1:

b∫a

1 dx = limn→∞

SZn(1) = b− a

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4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 133

fur eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge Znn und beliebige Zwischenwerte. Satz 4.6liefert also

−b∫a

f(x) dx :=1

b− a

b∫a

f(x) dx = f(ξ).

Die Große −∫ ba f(x) dx heißt Mittelwert von f uber I und gibt die

”mittlere Hohe“

von f an.

Beweis von Satz 4.6: Mit m := infI f , m := supI f haben wir mp(x) ≤ f(x)p(x) ≤mp(x) fur x ∈ I. Satz 4.3 (i), (ii) liefern also

m

b∫a

p(x) dx ≤b∫a

f(x)p(x) dx ≤ m

b∫a

p(x) dx.

Somit existiert ein µ ∈ [m,m] mit

b∫a

f(x)p(x) dx = µ

b∫a

p(x) dx. (4.14)

Nach dem Weierstraßschen Hauptlehrsatz gibt es x1, x2 ∈ [a, b] mit f(x1) = m,f(x2) = m. Nach dem Zwischenwertsatz existiert nun ein ξ ∈ [a, b] mit f(ξ) = µ, sodass (4.13) sofort aus (4.14) folgt. Als Ubungsaufgabe zeigt man noch, dass o.E. ξ ∈(a, b) angenommen werden kann.

q.e.d.

Hilfssatz 4.2: Ist I = [a, b] ein kompaktes Intervall und f ∈ R(I), so gilt auchf ∈ R(I ′) fur jedes abgeschlossene Teilintervall I ′ ⊂ I.

Beweis: Wegen f ∈ R(I) existiert nach Satz 4.1 zu jedem ε > 0 eine Zerlegung Z von I mitSZ(f) − SZ(f) < ε. Fur die Verfeinerung Z∗ von Z, die zusatzlich die beiden Endpunkte von I ′

enthalt, gilt dann nach Hilfssatz 4.1 (i):

SZ∗(f)− SZ∗(f) ≤ SZ(f)− SZ(f) < ε.

Die Teilzerlegung Z ′ von Z∗, die nur Teilpunkte in I ′ enthalt, ist dann offenbar Zerlegung von I ′

und es giltSZ′(f)− SZ′(f) ≤ SZ∗(f)− SZ∗(f) < ε,

so dass wiederum Satz 4.1 liefert: f ∈ R(I ′). q.e.d.

Satz 4.7: (Additivitat des Integrals)Es sei I = [a, b] in endlich viele abgeschlossene Teilintervalle I1, . . . , Iµ zerlegt, diehochstens Randpunkte gemein haben, d.h.

I = I1 ∪ . . . ∪ Iµ, int Ij ∩ int Ik = ∅ fur j = k.

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134 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Dann gilt fur beliebige f ∈ R(I) die Relation∫I

f(x) dx =

µ∑j=1

∫Ij

f(x) dx. (4.15)

Beweis: Nach Hilfssatz 4.2 gilt zunachst f ∈ R(Ij) fur j = 1, . . . , µ, so dass alleIntegrale in (4.15) erklart sind. Es sei nun Znn eine ausgezeichnete Zerlegungsfol-ge, deren Elemente die Endpunkte aller Teilintervalle enthalten, und SZn(f) seien

zugehorige Riemannsche Zwischensummen. Schreiben wir dann S(j)Zn(f) fur die Zwi-

schensummen, die nur Teilpunkte aus Ij enthalten, so gilt offenbar

SZn(f) =

µ∑j=1

S(j)Zn(f) fur alle n ∈ N.

Grenzubergang n→ ∞ und Folgerung 4.1 liefern die Behauptung. q.e.d.

Definition 4.5: Ist f ∈ R(I), I = [a, b] und seien α, β ∈ I mit α < β gewahlt.Dann setzen wir

α∫α

f(x) dx = 0 und

α∫β

f(x) dx := −β∫α

f(x) dx.

Satz 4.8: Ist f ∈ R(I) und sind α, β, γ ∈ I = [a, b] beliebig gewahlt, so folgt

β∫α

f(x) dx+

γ∫β

f(x) dx =

γ∫α

f(x) dx. (4.16)

Beweis: Nach Hilfssatz 4.2 und Definition 4.5 sind alle Integrale sinnvoll erklart.

• Stimmen mindestens zwei der Zahlen α, β, γ uberein, so ist die Aussage trivial.

• Falls α < β < γ gilt, so ist (4.16) ein Spezialfall von (4.15) wegen f ∈ R([α, γ]).

• Falls β < α < γ gilt, so haben wir f ∈ R([β, γ]) und

γ∫β

f(x) dx(4.15)=

α∫β

f(x) dx+

γ∫α

f(x) dxDef. 4.5

= −β∫α

f(x) dx+

γ∫α

f(x) dx,

also nach Umstellen wieder (4.16). Ganz entsprechend ergeben sich die ubrigen vier Falle(β < γ < α, α < γ < β, γ < α < β, γ < β < α).

q.e.d.

Wir betrachten nun noch komplex- bzw. vektorwertige Funktionen:

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5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 135

Definition 4.6:

(i) Eine beschrankte Funktion f : I → C heißt integrierbar auf I = [a, b], wennRe f, Im f ∈ R(I) gilt. Wir setzen dann

b∫a

f(x) dx :=

b∫a

Re f(x) dx+ i

b∫a

Im f(x) dx

und schreiben f ∈ R(I,C).

(ii) Entsprechend heißt f = (f1, . . . , fd) : I → Rd integrierbar auf I = [a, b], wennfl ∈ R(I) fur alle l = 1, . . . , d gilt. Wir schreiben dann f ∈ R(I,Rd) undsetzen

b∫a

f(x) dx :=

( b∫a

f1(x) dx, . . . ,

b∫a

fd(x) dx

).

Bemerkung: Mit diesen Definitionen lassen sich die Aussagen der Satze 4.3 (außer(ii), und (v) nur fur f, g ∈ R(I,C)), 4.5, 4.7 und 4.8 direkt auf Funktionen in R(I,C)bzw. R(I,Rd) ubertragen. In der Schwarzschen Ungleichung ist dabei

∫I f(x)g(x) dx

durch∫I f(x)g(x) dx bzw.

∫I⟨f(x), g(x)⟩ dx zu ersetzen.

5 Integration und Differentiation

Definition 5.1: Sei I ⊂ R ein beliebiges Intervall und f ∈ C0(I) gegeben. Dannheißt F ∈ C1(I) Stammfunktion zu f , falls gilt

F ′(x) = f(x) fur alle x ∈ I.

Satz 5.1: Seien I ⊂ R ein Intervall, c ∈ I beliebig und f ∈ C0(I). Dann ist

F (x) :=

x∫c

f(t) dt, x ∈ I,

eine Stammfunktion zu f .

Beweis: Fur x ∈ I und h = 0 mit x+ h ∈ I gilt

F (x+ h)− F (x)

h=

1

h

( x+h∫c

f(t) dt−x∫c

f(t) dt

)Def. 4.4

=1

h

( x+h∫c

f(t) dt+

c∫x

f(t) dt

)(4.16)=

1

h

x+h∫x

f(t) dt.

(5.1)

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136 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung existiert ein ξh ∈ I zwischen x undx+ h mit

1

h

x+h∫x

f(t) dt = f(ξh). (5.2)

Wegen |ξh − x| ≤ |h| → 0 (h→ 0) und der Stetigkeit von f haben wir

limh→0

f(ξh) = f(limh→0

ξh)= f(x).

Zusammen mit (5.1) und (5.2) finden wir also

limh→0

F (x+ h)− F (x)

h= lim

h→0f(ξh) = f(x)

und somit F ′ ≡ f ∈ C0(I). q.e.d.

Satz 5.2: Sei F ∈ C1(I) eine beliebige Stammfunktion von f ∈ C0(I), I ⊂ RIntervall. Eine Funktion G ∈ C1(I) ist genau dann Stammfunktion von f , wennG− F ≡ const auf I gilt.

Beweis:

•”⇒“: Ist G Stammfunktion zu f , so folgt

(G− F )′ = G′ − F ′ = f − f = 0 auf I.

Nach Folgerung 2.1 (iii) ist also G− F ≡ const auf I.

•”⇐“: Ist umgekehrt G− F ≡ const auf I, so folgt

G′ = (F + const)′ = F ′ = f auf I,

d.h. G ist Stammfunktion. q.e.d.

Bemerkung: Ist also F ∈ C1(I) eine Stammfunktion von f (z.B: die in Satz 5.1erklarte), so ist die Menge aller Stammfunktionen gegeben durch

G ∈ C1(I) : G ≡ F + c, c ∈ R.

Diese Menge wird unbestimmtes Integral von f genannt und wir schreiben∫f(x) dx := F + c : c ∈ R

oder, wie allgemein gebrauchlich,∫f(x) dx = F (x) + c.

Zur Unterscheidung heißt daher∫ ba f(x) dx auch bestimmtes Integral von f (zwischen

den Grenzen a und b).

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5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 137

Satz 5.3: (Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung)Sei F ∈ C1(I) eine beliebige Stammfunktion von f ∈ C0(I), I = [a, b]. Dann gilt

b∫a

f(x) dx = F (b)− F (a) =: F (x)∣∣ba.

Beweis: Nach Satz 5.1 ist F0(x) :=∫ xa f(t) dt Stammfunktion von f , und nach

Satz 5.2 gilt F ≡ F0 + c auf I mit einer Konstanten c ∈ R. Wegen F0(a) = 0folgt also

b∫a

f(x) dx = F0(b) = F0(b)− F0(a) = F (b)− F (a),

wie behauptet. q.e.d.

Beispiele:

1. Fur α = −1 gilt ∫xα dx =

xα+1

α+ 1+ c, x > 0,

denn ddx(

xα+1

α+1 ) = xα nach (3.9). D.h. F (x) = xα+1

α+1 ist Stammfunktion vonf(x) = xα auf (0,+∞). Satz 5.3 liefert also

b∫a

xα dx =xα+1

α+ 1

∣∣∣ba=

1

α+ 1(bα+1 − aα+1)

fur a, b > 0.

2. Nach Formel (3.5) gilt ∫1

xdx = log x+ c, x > 0,

alsob∫a

dx

x= log x

∣∣ba= log

b

afur a, b > 0.

3. Den Formeln (3.3) und (3.10) entnehmen wir∫expx dx = expx+ c,∫cosx dx = sinx+ c,∫sinx dx = − cosx+ c, x ∈ R.

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138 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

4. Formel (3.21) entnehmen wir∫dx

cos2 xdx = tanx+ c, x = π

2+ kπ, k ∈ Z,

und somitφ∫

0

dx

cos2 x= tanx

∣∣φ0= tanφ fur φ ∈

(− π

2,π

2

).

Satz 5.4: (Partielle Integration)Ist I = [a, b] und sind f, g ∈ C1(I,Rd) gegeben, so gilt

b∫a

⟨f ′(x), g(x)⟩ dx = ⟨f(x), g(x)⟩∣∣ba−

b∫a

⟨f(x), g′(x)⟩ dx. (5.3)

Beweis: Die Produktformel (1.7) und Satz 5.3 liefern sofort

⟨f(x), g(x)⟩∣∣ba

=

b∫a

d

dx⟨f(x), g(x)⟩ dx

=

b∫a

⟨f ′(x), g(x)⟩ dx+

b∫a

⟨f(x), g′(x)⟩ dx

und nach Umstellen die Behauptung (5.3). q.e.d.

Bemerkung: Die zuweilen nutzliche”unbestimmte Version“ von (5.3) ist∫

⟨f ′(x), g(x)⟩ dx = ⟨f(x), g(x)⟩ −∫

⟨f(x), g′(x)⟩ dx. (5.4)

Diese gewinnt man wieder sofort aus der Produktformel (1.7) und der Definition desunbestimmten Integrals.

Beispiele:

1.

π2∫

0

sin2 x dx =

π2∫

0

cos2 x dx =π

4. Denn Satz 5.4 liefert

π2∫

0

sin2 x dx = [− cosx · sinx]∣∣π20+

π2∫

0

cos2 x dx =

π2∫

0

cos2 x dx

=

π2∫

0

(1− sin2 x) dx =

π2∫

0

dx−

π2∫

0

sin2 x dx

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5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 139

bzw.π2∫

0

sin2 x dx =1

2

π2∫

0

dx =1

2x∣∣π20=π

4.

2. Fur x > 0 haben wir nach (5.4):∫log x dx =

∫1 · log x dx = x log x−

∫x · 1

xdx

= x log x− x+ const,

alsoa∫

1

log x dx = a(log a− 1) + 1 fur a > 0.

3. Fur a, b ∈ R berechnen wir∫eax sin(bx) dx = −1

beax cos(bx) +

a

b

∫eax cos(bx) dx

= −1

beax cos(bx) +

a

b2eax sin(bx)− a2

b2

∫eax sin(bx) dx,

so dass folgt ∫eax sin(bx) dx =

1

a2 + b2eax[a sin(bx)− b cos(bx)

]+ const.

Satz 5.5: (Substitutions- oder Transformationsformel)Es seien I, I∗ ⊂ R zwei Intervalle, und f ∈ C0(I,Rd) sowie φ ∈ C1(I∗,R) mitφ(I∗) ⊂ I seien gegeben. Dann gilt fur beliebige α, β ∈ I∗:

φ(β)∫φ(α)

f(x) dx =

β∫α

f(φ(t))φ′(t) dt. (5.5)

Beweis: Es sei F ∈ C1(I,Rd) eine Stammfunktion von f , d.h. F ′ ≡ f auf I. Furg := F φ gilt dann g ∈ C1(I∗,Rd) und der Kettenregel, Satz 1.3, entnehmen wir

g′(t) = F ′(φ(t))φ′(t) = f(φ(t))φ′(t), t ∈ I∗.

Satz 5.3 liefert also fur beliebige α, β ∈ I∗:

β∫α

f(φ(t))φ′(t) dt =

β∫α

g′(t) dt = g(β)− g(α)

= F (φ(β))− F (φ(α)) =

φ(β)∫φ(α)

f(x) dx,

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140 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

wie behauptet. q.e.d.

Beispiele:

1. Zu berechnen sei∫ r0

√r2 − x2 dx, r > 0.

Wir betrachten die Transformation x = φ(t) = r sin t, t ∈ [0, π2 ]. Dann istφ(0) = 0, φ(π2 ) = r und φ′(t) = r cos t. Formel (5.5) liefert also

r∫0

√r2 − x2 dx =

π2∫

0

√r2 − r2 sin2 t · r cos t dt = r2

π2∫

0

cos2 t dt =πr2

4.

(→ Flacheninhalt der Kreisscheibe vom Radius r > 0 ist 4 · πr24 = πr2).

2. Zu berechnen ist∫ 1

0(1 + t2)αt dt, α ∈ R \ −1.

Wir beachten

h(t) := (1 + t2)αt =1

2(1 + t2)α

d

dt(1 + t2), t ∈ R.

Mit f(x) := xα, x > 0, und φ(t) := 1 + t2, t ∈ R, haben wir also

h(t) =1

2f(φ(t))φ′(t), t ∈ R.

Beachten wir noch φ(0) = 1, φ(1) = 2, so folgt schließlich

1∫0

(1 + t2)αt dt(5.5)=

1

2

2∫1

xα dx =1

2

xα+1

α+ 1

∣∣∣21=

2α+1 − 1

α+ 1, α = −1.

Bemerkungen:

1. Die unbestimmte Form der Substitutionsregel (5.5), namlich∫f(x) dx =

∫f(φ(t))φ′(t) dt (5.6)

ist haufig ebenfalls hilfreich. Ist F (x) eine Stammfunktion von f(x) und kenntman eine Stammfunktion Ψ(t) von f(φ(t))φ′(t), so bedeutet (5.6) gerade

F (x) = Ψ(t) + c mit x = φ(t).

Vorsicht: Mochte man, ahnlich wie in Bsp. 1 oben, eine Stammfunktion von fmittels (5.6) bestimmen, so muss φ bijektiv sein: Kennt man namlich Ψ, sofinden wir dann

F (x) = Ψ(φ−1(x)) + c.

Beispiel:∫dx

r2 + x2x=φ(t)=rt

=

∫r dt

r2 + r2t2=

1

r

∫dt

1 + t2

(3.22)=

1

rarctan t+ const

φ−1(x)=xr=

1

rarctan

x

r+ const.

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5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 141

2. Es gibt eine Vielzahl von Kunsgriffen zur Bestimmung von Integralen bzw.Stammfunktionen, auf die wir nicht im Einzelnen eingehen konnen. Wir ver-weisen auf S.Hildebrandt: Analysis 1 (Springer-Verlag), Kap. 3, § 10 fur einigeBeispiele, insbesondere die Integration rationaler Funktionen (→ Partialbruch-zerlegung).

Wir betrachten nun wieder Funktionenfolgen und beginnen mit dem

Satz 5.6: Sei fnn eine Folge von Funktionen fn ∈ R(I,Rd), I = [a, b], mit derEigenschaft fn →→ f (n→ ∞) auf I. Dann folgt f ∈ R(I,Rd) und

b∫a

f(x) dx = limn→∞

b∫a

fn(x) dx. (5.7)

Bemerkungen:

1. Satz 5.6 besagt, dass wir bei gleichmaßig konvergenten, integrierbaren Funktio-nenfolgen Integration und Grenzwertbildung vertauschen konnen, denn (5.7)lasst sich schreiben als

b∫a

limn→∞

fn(x) dx = limn→∞

b∫a

fn(x) dx.

Die Aussage wird falsch bei nur punktweise konvergenten Funktionenfolgen.

2. Satz 5.6 lasst sich naturlich wieder auf gleichmaßig konvergente Funktionen-reihen ubertragen.

Beweis von Satz 5.6: Es bezeichne g : I → R die j-te Komponente von f undgn ∈ R(I) die j-te Komponente von fn fur ein j ∈ 1, . . . , d. Wir zeigen g ∈ R(I)und

b∫a

g(x) dx = limn→∞

b∫a

gn(x) dx. (5.8)

Die Definition von∫ ba f(x) dx als komponentenweises Integral liefert dann die Be-

hauptung.Sei also ε > 0 beliebig gewahlt, so existiert ein N = N(ε) ∈ N mit

|gn(x)− g(x)| < ε

3(b− a)fur alle x ∈ I, n ≥ N. (5.9)

Speziell fur n = N erhalten wir also

|g(x)− g(x′)| < |gN (x)− gN (x′)|+ 2ε

3(b− a)fur alle x, x′ ∈ I. (5.10)

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142 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Ist nun Z eine Zerlegung von I mit SZ(gN )−SZ(gN ) <ε3 , die nach Satz 4.1 existiert,

so liefern (5.10) und (4.12) die Relation

SZ(g)− SZ(g) ≤ SZ(gN )− SZ(gN ) +2ε

3(b− a)

∑j

∆xj <ε

3+

2

3ε = ε.

Wiederum nach Satz 4.1 ist somit g ∈ R(I) richtig, und Satz 4.3 sowie (5.9) liefern

∣∣∣∣b∫a

gn(x) dx−b∫a

g(x) dx

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣b∫a

[gn(x)− g(x)

]dx

∣∣∣∣≤

b∫a

|gn(x)− g(x)| dx(5.9)<

ε

3(b− a)

b∫a

dx < ε fur alle n ≥ N,

also (5.8) wie behauptet. q.e.d.

Wir sind nun in der Lage, den ausgelassenen Beweis von Satz 1.5 nachzuliefern,der uns erst die Differenzierbarkeit der elementaren Funktionen in § 3 sicherte. ZurErinnerung formulieren wir ihn noch einmal als

Satz 5.7: Sei I = [a, b] und fnn eine Folge von Funktionen fn ∈ C1(I,Rd) furalle n ∈ N. Falls dann gilt

fn → f (n→ ∞), f ′n →→ g (n→ ∞) auf I,

so folgt fur den punktweisen Limes f ∈ C1(I,Rd), und es gilt f ′ = g auf I.

Beweis: Da f ′n ∈ C0(I,Rd) gilt, liefert der Weierstraßsche Konvergenzsatz, Satz 4.1aus Kap. 2, fur die Grenzfunktion g ∈ C0(I,Rd). Und wegen C0(I,Rd) ⊂ R(I,Rd)haben wir nach Satz 5.6:

limn→∞

x∫a

f ′n(t) dt =

x∫a

g(t) dt fur alle x ∈ [a, b].

Andererseits entnehmen wir Satz 5.3 die Relation

fn(x) = fn(a) +

x∫a

f ′n(t) dt, x ∈ [a, b]. (5.11)

Grenzubergang n→ ∞ liefert nun

f(x) = f(a) +

x∫a

g(t) dt, x ∈ [a, b].

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6. UNEIGENTLICHE INTEGRALE 143

Insbesondere ist also f ∈ C1(I,Rd) nach Satz 5.1 und Differentiation liefert f ′ = gauf I, wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass es genugt statt fn → f (n → ∞) auf I dieKonvergenz der Punkte fn(a)n zu fordern. Die Beziehung fn → f (n→ ∞) auf Ifolgt dann aus (5.11). Dabei kann a noch durch einen beliebigen Punkt c ∈ I ersetztwerden.

Beispiel: Es gilt

limn→∞

(1 +

x

n

)n= expx fur alle x ∈ R.

Zum Beweis betrachten wir die Folge fn(x) := n log(1+ xn), x ∈ [−N,N ], fur beliebiges N ∈ N und

fur alle n > N . Dann gilt fn(0) = 0 und man zeigt leicht

f ′n(x) =

1

1 + xn

→→ 1 (n→ ∞) auf [−N,N ].

Nach Satz 5.7 und der anschließenden Bemerkung folgt

f(x) := limn→∞

fn(x)(5.11)= lim

n→∞fn(0) +

x∫0

[limn→∞

f ′n(t)

]dt

= 0 +

x∫0

1 dt = x, x ∈ [−N,N ].

Da schließlich exp : R → R stetig ist und N ∈ N beliebig war, erhalten wir

limn→∞

(1 +

x

n

)n= limn→∞

exp(fn(x)

)= exp

(limn→∞

fn(x))= expx fur alle x ∈ R.

6 Uneigentliche Integrale

Bisher haben wir nur beschrankte Funktionen uber kompakte Intervalle integriert.Beide Einschrankungen sollen jetzt aufgeweicht werden:

Fall I: Unbeschranktes Integrationsintervall

Sei I z.B. nach oben unbeschrankt, also I = [a,+∞). Ferner gelte f ∈ R([a, b]) furjedes b ∈ [a,+∞), insbesondere sei also f auf [a, b] beschrankt fur alle b ∈ [a,+∞).

Definition 6.1: Wenn limb→+∞∫ ba f(x) dx existiert, so heißt dieser Grenzwert das

uneigentliche Integral von f uber [a,+∞) und wir schreiben

+∞∫a

f(x) dx := limb→+∞

b∫a

f(x) dx.

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144 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Wir sagen dann, das uneigentliche Integral existiert oder konvergiert, anderenfallssagen wir

∫ +∞a f(x) dx divergiert. Falls

∫ ba f(x) dx→ ±∞ (b→ +∞) gilt, sagen wir∫ +∞

a f(x) dx ist bestimmt divergent und schreiben

+∞∫a

f(x) dx = ±∞.

Schließlich heißt∫ +∞a f(x) dx absolut konvergent, wenn

∫ +∞a |f(x)| dx konvergiert.

Bemerkungen:

1. Nach dem Cauchyschen Konvergenzkriterium ist∫ +∞a f(x) dx genau dann kon-

vergent, wenn zu jedem ε > 0 ein ξ ≥ a existiert mit∣∣∣∣b′∫b

f(x) dx

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣b′∫a

f(x) dx−b∫a

f(x) dx

∣∣∣∣ < ε fur alle b, b′ > ξ.

2. Hieraus und aus Satz 4.3 (iii) folgt auch: Konvergiert∫ +∞a f(x) dx absolut, so

auch im gewohnlichen Sinne. Die Umkehrung gilt i.A. nicht (siehe das u.a. Bei-spiel).

3. Ist φ : [a,+∞) → R nichtnegativ, so existiert∫ +∞a φ(x) dx nach dem Satz uber

monotone Konvergenz genau dann, wenn es ein c > 0 gibt mit der Eigenschaft

b∫a

φ(x) dx ≤ c fur alle b ∈ [a,+∞).

Anderenfalls ist∫ +∞a φ(x) dx bestimmt divergent. Schreibweise

• Konvergenz:

+∞∫a

φ(x) dx < +∞.

• Divergenz:

+∞∫a

φ(x) dx = +∞.

Satz 6.1: (Majorantenkriterium)Sei f : [a,+∞) → R mit f ∈ R([a, b]) fur alle b ∈ [a,+∞) gegeben. Falls dann dieRelation

|f(x)| ≤ φ(x) fur alle x ∈ [a,+∞)

gilt mit einer nichtnegativen Funktion φ : [0,+∞) → R, die∫ +∞a φ(x) dx < +∞

erfullt, dann konvergiert das Integral∫ +∞a f(x) dx absolut.

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6. UNEIGENTLICHE INTEGRALE 145

Beweis: Sofort klar aus

b∫a

|f(x)| dx ≤b∫a

φ(x) dx fur alle b ∈ [a,+∞)

und obigen Bemerkungen. q.e.d.

Bemerkung: Die Formulierung und den Beweis eines entsprechenden Minorantenkri-teriums uberlassen wir dem Leser.

Beispiel: Wir behaupten:∫ +∞0

sinxx dx ist konvergent, aber nicht absolut konvergent.

Denn:

• Wegen limx→0+sinxx = 1 konnen wir sinx

x als auf [0,+∞) stetige Funktionauffassen. Fur beliebige 0 < b < b′ berechnen wir mit partieller Integration

b′∫b

sinx

xdx = −cosx

x

∣∣∣b′b−

b′∫b

cosx

x2dx.

Es folgt also∣∣∣∣b′∫b

sinx

xdx

∣∣∣∣ ≤ 1

b+

1

b′+

b′∫b

dx

x2<

2

b+

1

b=

3

b→ 0 (b→ +∞).

Somit ist+∞∫0

sinxx dx konvergent nach obiger Bemerkung 1. Es gilt ubrigens∫ +∞

0sinxx dx = π

2 (siehe S.Hildebrandt: Analysis 1 (Springer-Verlag), S. 319 ).

•∫ +∞0 | sinxx | dx ist nicht konvergent. Hierzu beachten wir

kπ∫0

∣∣∣sinxx

∣∣∣ dx =

k∑ν=1

νπ∫(ν−1)π

∣∣∣sinxx

∣∣∣ dx ≥k∑ν=1

1

νπ

νπ∫(ν−1)π

| sinx| dx

Period.=

k∑ν=1

1

νπ

π∫0

sinx dx =2

π

k∑ν=1

1

ν→ +∞ (k → ∞),

wie behauptet.

Ganz entsprechend erklart man fur eine Funktion f : (−∞, b] → R mit f ∈R([a, b]) fur alle a ∈ (−∞, b] das uneigentliche Integral

b∫−∞

f(x) dx := lima→−∞

b∫a

f(x) dx,

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146 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

falls der Grenzwert existiert. Obige Aussagen lassen sich direkt ubertragen.

Sei nun f : R → R eine Funktion mit f ∈ R(I) fur alle kompakten Intervalle I ⊂R. Falls dann fur ein a ∈ R (und damit fur alle a ∈ R) die uneigentlichen Integrale∫ a−∞ f(x) dx,

∫ +∞a f(x) dx existieren, so erklaren wir das uneigentliche Integral

+∞∫−∞

f(x) dx :=

a∫−∞

f(x) dx+

+∞∫a

f(x) dx. (6.1)

Man rechnet leicht nach, dass diese Definition von der Wahl von a ∈ R unabhangigist.

Vorsicht: Die naheliegende Definition des uneigentlichen Integrals∫ +∞−∞ f(x) dx als

Grenzwert

limR→+∞

R∫−R

f(x) dx

liefert i.A. nicht das gleiche Ergebnis: Dieser sogenannte Cauchysche Hauptwert kannexistieren, ohne dass das in (6.1) erklarte uneigentliche Integral

∫ +∞−∞ f(x) dx exi-

stiert. Betrachte z.B. f(x) := x: Offenbar gilt

R∫−R

x dx =x2

2

∣∣∣R−R

= 0,

aber

R∫a

x dx =R2

2− a2

2→ +∞ (R→ +∞),

a∫−R

x dx =a2

2− R2

2→ −∞ (R→ +∞).

Beispiele:

1. Wegen arctan′ x = 11+x2

, x ∈ R, haben wir fur beliebige a > 0:

a∫0

dx

1 + x2= arctanx

∣∣a0= arctan a,

0∫−a

dx

1 + x2= − arctan(−a) = arctan a.

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6. UNEIGENTLICHE INTEGRALE 147

Wegen arctan a→ π2(a→ +∞) konvergieren also

∫ +∞0

dx1+x2

,∫ 0

−∞dx

1+x2und es folgt

+∞∫−∞

dx

1 + x2=

+∞∫0

dx

1 + x2+

0∫−∞

dx

1 + x2=π

2+π

2= π.

2. Fur beliebige x ∈ R erhalt man ex2

≥ 1 + x2 > 0 aus der Reihendarstellung der e-Funktion.

Also folgt 0 < e−x2

≤ 11+x2

. Und nach Beispiel 1 und dem Majorantenkriterium konvergieren∫ +∞0

e−x2

dx,∫ 0

−∞ e−x2

dx. Also existiert auch das Integral

+∞∫−∞

e−x2

dx(=

√π ).

Fall II: Unbeschrankte Funktionen

Sei nun f : [a, b) → R, −∞ < a < b < +∞, gegeben und auf jedem kompaktenTeilintervall von [a, b) integrierbar.

Definition 6.2: Wenn der Grenzwert

b∫a

f(x) dx := limξ→b−

ξ∫a

f(x) dx

existiert, bezeichnen wir ihn als das uneigentliche Integral von f uber [a, b). Das

Integral∫ ba f(x) dx heißt absolut konvergent, wenn

∫ ba |f(x)| dx existiert.

Ganz entsprechend erklaren wir das uneigentliche Integral∫ ba f(x) dx einer Funk-

tion f : (a, b] → R durch den rechtsseitigen Grenzwert limξ→a+

∫ bξ f(x) dx. Ist f nur

auf (a, b) erklart, mussen beide Grenzwerte betrachtet werden.

Wie in Fall I zieht absolute Konvergenz wieder gewohnliche Konvergenz nachsich, und wir haben den Satz 6.1 entsprechenden

Satz 6.2: (Majorantenkriterium)Fur f : [a, b) → R gelte f ∈ R(I) fur alle kompakten Intervalle I ⊂ [a, b). Existiert

dann eine nichtnegative Funktion φ : [a, b) → R mit∫ ba φ(x) dx < +∞ so, dass gilt

|f(x)| ≤ φ(x) fur alle x ∈ [a, b),

dann konvergiert∫ ba f(x) dx absolut.

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148 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beispiele:

1. Fur α ∈ (0, 1) gilt∫ 10dxxα = 1

1−α , denn wir haben

1∫ξ

dx

xα=x1−α

1− α

∣∣∣1ξ=

1

1− α(1− ξ1−α) → 1

1− α(ξ → 0+).

2. Es gilt∫ 10

dx√1−x2 = π

2 , denn

ξ∫0

dx√1− x2

= arcsinx∣∣ξ0= arcsin ξ → π

2(ξ → 1−).

Bemerkung: Ist f : [a, b] \ c → R mit einem c ∈ (a, b) gegeben, d.h. f hat in eineminneren Punkt eine

”singulare Stelle“, so setzen wir

b∫a

f(x) dx :=

c∫a

f(x) dx+

b∫c

f(x) dx,

wenn die uneigentlichen Integrale∫ ca f(x) dx,

∫ bc f(x) dx existieren. Auch hier gibt

es ein”Hauptwertphanomen“: Der Grenzwert

limε→0+

( c−ε∫a

f(x) dx+

b∫c+ε

f(x) dx

)(6.2)

kann existieren, ohne dass∫ ba f(x) dx existiert.

Beispiel:∫ 1−1

dxx existiert nicht, wohl aber der Grenzwert (6.2).

Wir wollen schließlich noch ein interessantes Kriterium fur Reihenkonvergenz angeben:

Satz 6.3 : (Riemannsches Integralkriterium)Sei f : [1,+∞) → R eine monoton fallende, nichtnegative Funktion mit f ∈ R(I) fur alle kompaktenI ⊂ [1,+∞). Dann konvergiert die Reihe

∑∞n=1 an mit den Gliedern an := f(n) genau dann, wenn

das uneigentliche Integral∫ +∞1

f(x) dx konvergiert.

Beweis: Betrachten wir zu N ∈ N die aquidistante Zerlegung Z = x0, x1, . . . , xN := 1, 2, . . . , N +1, so hat f die Untersumme

SZ(f) =

N∑j=1

(infIjf)∆xj =

N∑j=1

f(xj) · 1 =

N∑j=1

aj+1

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7. DIE TAYLORSCHE FORMEL 149

und die Obersumme

SZ(f) =

N∑j=1

(supIj

f)∆xj =

N∑j=1

aj .

Es folgt somitN+1∑j=2

aj ≤N+1∫1

f(x) dx ≤N∑j=1

aj .

Falls also∫ +∞1

f(x) dx existiert, ist ∑N+1j=2 ajN beschrankt und die Konvergenz der Reihe folgt

aus der Monotonie. Falls umgekehrt∑∞j=1 aj konvergiert, ist

∫ b1f(x) dx gleichmaßig beschrankt fur

alle b ≥ 1 und es folgt die Existenz von∫ +∞1

f(x) dx.q.e.d.

Beispiel: Fur α > 1 berechnen wir

+∞∫1

dx

xα= limb→+∞

x1−α

1− α

∣∣∣b1=

1

α− 1.

Nach Satz 6.3 konvergiert somit die Reihe

∞∑n=1

1

nαfur alle α > 1.

7 Die Taylorsche Formel

Die Taylorformel liefert eine Polynomapproximation einer vorgegebenen, hinreichendglatten Funktion zusammen mit einer Abschatzung des Fehlerterms.

Motivation: Es sei f(x) =∑n

k=0 akxk, x ∈ R, ein Polynom n-ten Grades mit

a0, . . . , an ∈ C. Dann konnen wir f mittels der Binomischen Formel um ein be-liebiges x0 ∈ R entwickeln:

xk = ((x− x0) + x0)k =

k∑l=0

(k

l

)(x− x0)

lxk−l0 ,

also nach Einsetzen

f(x) =

n∑k=0

ck(x− x0)k, x ∈ R, (7.1)

mit (i.A. von x0 abhangigen) Koeffizienten c0, . . . , cn ∈ C. Fur die Ableitungen imPunkt x0 folgt dann

f (k)(x0) = k! ck, k = 0, . . . , n.

Wir konnen also (7.1) schreiben als

f(x) =

n∑k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k, x ∈ R.

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150 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Fur eine beliebige Funktion f ∈ Cn(I) auf einem Intervall I ⊂ R erklaren wirnun das n-te Taylorpolynom pn(x) an der Stelle x0 ∈ I:

pn(x) :=

n∑k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k, x ∈ I. (7.2)

Ist f ein Polynom n-ten Grades, so stimmen f und pn uberein. I.a. ist dies nicht derFall und wir nennen

Rn(x) := f(x)− pn(x), x ∈ I, (7.3)

das n-te Restglied. Offenbar gilt dann die Taylorsche Formel

f(x) = pn(x) +Rn(x), x ∈ I, (7.4)

die wir jetzt durch Untersuchung des Restglieds mit Sinn erfullen wollen.

Satz 7.1: Sei f ∈ Cn+1(I) und x0 ∈ I gewahlt. Dann gilt die Identitat (7.4) mitdem Taylorpolynom pn, und fur das Restglied Rn haben wir die Darstellung

Rn(x) =1

n!

x∫x0

(x− t)nf (n+1)(t) dt. (7.5)

Beweis: Vollstandige Induktion uber n:

• n = 0: Der Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung, Satz 5.3,liefert

f(x) = f(x0) +

x∫x0

f ′(t) dt fur alle x ∈ I,

also die Behauptung.

• n→ n+ 1: Dann haben wir

Rn(x)(IV)=

1

n!

x∫x0

(x− t)nf (n+1)(t) dt = −x∫

x0

f (n+1)(t)d

dt

[(x− t)n+1

(n+ 1)!

]dt

Part. Int.= −

[f (n+1)(t)

(x− t)n+1

(n+ 1)!

]∣∣∣xx0

+

x∫x0

f (n+2)(t)(x− t)n+1

(n+ 1)!dt

=f (n+1)(x0)

(n+ 1)!(x− x0)

n+1 +1

(n+ 1)!

x∫x0

(x− t)n+1f (n+2)(t) dt,

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7. DIE TAYLORSCHE FORMEL 151

also

f(x)(IV )= pn(x) +Rn(x) = pn+1(x) +

1

(n+ 1)!

x∫x0

(x− t)n+1f (n+2)(t) dt,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 7.2: (Lagrange Restgliedformel)Unter den Voraussetzungen von Satz 7.1 gibt es zu jedem x ∈ I ein ϑ ∈ (0, 1), sodass das Restglied geschrieben werden kann als

Rn(x) =f (n+1)(x0 + ϑ(x− x0))

(n+ 1)!(x− x0)

n+1, x ∈ I. (7.6)

Beweis: Fur x = x0 ist nichts zu zeigen, sei x > x0. Nach dem Mittelwertsatz derIntegralrechnung, Satz 4.6, gibt es ein ξ ∈ (x0, x), so dass gilt:

Rn(x)(7.5)=

x∫x0

(x− t)n

n!f (n+1)(t) dt = f (n+1)(ξ)

x∫x0

(x− t)n

n!dt

= −f (n+1)(ξ)(x− t)n+1

(n+ 1)!

∣∣∣xx0

=f (n+1)(ξ)

(n+ 1)!(x− x0)

n+1.

Die Behauptung folgt mit ϑ := ξ−x0x−x0 ∈ (0, 1). Im Falle x < x0 verwendete man

zunachst Definition 4.5 und verfahre anschließend wie oben.q.e.d.

Wir wollen eine sehr gebrauchliche, qualitative Schreibweise fur das Ergebnis vonSatz 7.2 einfuhren, die auf E. Landau zuruckgeht: Hierzu sei M ⊂ Rn eine beliebigeMenge, x0 ∈M und ψ :M → R eine Funktion mit ψ(x) = 0 fur x ∈ (M ∩Br(x0)) \x0 mit einem r > 0.

Definition 7.1:

(i) Eine Funktion f : M → Rd hat die Ordnung”groß O von ψ(x) fur x → x0“,

wenn gilt ∣∣∣∣ f(x)ψ(x)

∣∣∣∣ ≤ const fur alle x ∈ (M ∩Bε(x0)) \ x0

mit einem ε ∈ (0, r). Wir schreiben dann

f(x) = O(ψ(x)) fur x→ x0.

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152 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

(ii) f hat die Ordnung”klein o von ψ(x) fur x→ x0“, wenn sogar

limx→x0

f(x)

ψ(x)= 0.

erfullt ist. Dann schreiben wir

f(x) = o(ψ(x)) fur x→ x0.

Bemerkung: Offenbar impliziert f(x) = o(ψ(x)) die Relation f(x) = O(ψ(x)) furx→ x0. Aus der Darstellung (7.6) erhalten wir nun die

Folgerung 7.1: (Qualitative Taylorformel)Ist f ∈ Cn(I) und x0 ∈ I gewahlt, so gilt

f(x) = pn(x) + o(|x− x0|n) fur x→ x0. (7.7)

Beweis: Wir wenden Satz 7.2 mit n− 1 an und erhalten

f(x) = pn−1(x) +f (n)(x0 + ϑ(x− x0))

n!(x− x0)

n

= pn(x) +f (n)(x0 + ϑ(x− x0))− f (n)(x0)

n!(x− x0)

n fur x ∈ I

mit einem ϑ = ϑ(x) ∈ (0, 1). Wegen f (n)(x0 + ϑ(x − x0)) → f (n)(x0) fur x → x0ergibt sich also die Behauptung (7.7).

q.e.d.

Beispiel: Fur x > −1 betrachten wir f(x) := (1 + x)α, α ∈ R \ 0. Es folgt dann induktiv

f (k)(x) = α(α− 1) . . . (α− k + 1)(1 + x)α−k

fur beliebiges k ∈ N, und mit der Abkurzung(α

k

):=

k∏l=1

α− l + 1

l(allgemeiner Binomialkoeffizient)

erhalten wir die Relation

f (k)(x) = k!

k

)(1 + x)α−k, x > −1, k ∈ N.

Einsetzen in die Taylorformel liefert also bei Entwicklung um x0 = 0:

(1 + x)α =n∑k=0

k

)xk +Rn(x), x > −1, n ∈ N, (7.8)

und Satz 7.1 entnehmen wir

Rn(x) = (n+ 1)

n+ 1

) x∫0

(x− t)n(1 + t)α−n−1 dt, x > −1, n ∈ N. (7.9)

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7. DIE TAYLORSCHE FORMEL 153

Fur eine Funktion f ∈ C∞(I) liegt es nahe, durch den Grenzubergang n → ∞zur Reihendarstellung

f(x) =

∞∑k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k, x ∈ I, (7.10)

uberzugehen. Die rechte Seite in (7.10) heißt die Taylorreihe von f in x0, falls siekonvergiert. Relation (7.10) ergibt sich aus der Taylorformel (7.4), wenn gilt

limn→∞

Rn(x) = 0 fur alle x ∈ I. (7.11)

Beispiel: Die Funktion

f(x) :=

exp(− 1

x2), x = 0,

0, x = 0

gehort zur Klasse C∞(R) und erfullt f (k)(0) = 0 fur alle k ∈ N0. Fur die Taylorreihebei x0 = 0 gilt also

∞∑k=0

f (k)(0)

k!xk = 0 = f(x) fur x = 0.

Relation (7.10) gilt also nicht fur jedes f ∈ C∞(R).

Definition 7.2: Eine Funktion f ∈ C∞(I) heißt reellanalytisch, wenn es zu jedemx0 ∈ I ein δ > 0 so gibt, dass die Taylorreihe in I ∩ (x0 − δ, x0 + δ) konvergiert unddort mit f ubereinstimmt, d.h. (7.10) gilt in I ∩ (x0 − δ, x0 + δ).

Wir geben nun zwei hinreichende Bedingungen an, die gewahrleisten, dass eineFunktion f ∈ C∞(I) reellanalytisch ist:

Satz 7.3: Es sei f ∈ C∞(I) gegeben.

(i) Existieren M, r > 0 mit der Eigenschaft

|f (n)(x)| ≤ n!Mr−n fur alle x ∈ I, n ∈ N,

dann gilt (7.10) in I ∩ (x0 − δ, x0 + δ) fur alle x0 ∈ I und δ ∈ (0, r). Also istf reellanalytisch.

(ii) Existieren M,Q > 0 mit der Eigenschaft

|f (n)(x)| ≤MQn fur alle x ∈ I, n ∈ N,

so gilt (7.10) mit beliebigem x0 ∈ I auf ganz I, und f ist reellanalytisch.

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154 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis:

(i) Fur x ∈ I ∩ (x0 − δ, x0 + δ) gilt (7.11), denn

|Rn(x)|(7.6)=

∣∣f (n+1)(x0 + ϑ(x− x0)

)∣∣(n+ 1)!

|x− x0|n+1 ≤M(δr

)n+1

→ 0 (n→ ∞).

Also folgt (7.10) fur x ∈ I ∩ (x0 − δ, x0 + δ) aus der Taylorformel (7.4).

(ii) Hier schatzen wir ausgehend von (7.6) ab:

|Rn(x)| ≤M(Q|x− x0|)n+1

(n+ 1)!→ 0 (n→ ∞) fur alle x ∈ I,

denn es gilt limn→∞

bn

n!= 0 fur jedes b ∈ R. q.e.d.

Bemerkung: Ist f ∈ C∞(I) auf I = (−r, r) definiert durch die Potenzreihe

f(x) :=

∞∑k=0

akxk,

so folgt ak = 1k!f

(k)(0). Dies entnehmen wir sofort Folgerung 1.2. Dort haben wirnamlich gesehen

f (n)(x) =

∞∑k=n

k(k − 1) . . . (k − n+ 1)akxk−n auf (−r, r).

Ist also eine Funktion f ∈ C∞(I) durch eine Potenzreihe (um x0 = 0) gegeben,so stimmt diese notwendig mit ihrer Taylorreihe (um x0 = 0) uberein; siehe dasfolgende Beispiel 1.

Beispiele:

1. Durch∞∑k=0

xk

k!,

∞∑k=0

(−1)kx2k+1

(2k + 1)!,

∞∑k=0

(−1)kx2k

(2k)!, x ∈ R,

sind die Taylorreihen um x0 = 0 von exp, sin bzw. cos gegeben.

2. Wir betrachten wieder die Funktion f(x) = (1 + x)α. Man kann zeigen, dass das zugehorigeRestglied (7.9) fur |x| < 1 gegen 0 konvergiert (siehe z.B. O. Foster: Analysis 1, Vieweg-Verlag, § 22). Also haben wir die Darstellung

(1 + x)α =

∞∑k=0

k

)xk, x ∈ (−1, 1).

Die Taylorreihe auf der rechten Seite heißt Binomialreihe. Fur α = N ∈ N bricht die Reihe ander N -ten Stelle ab wegen

(Nk

)= 0 fur k > N . Dann erhalt man den bekannten Binomischen

Satz.

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7. DIE TAYLORSCHE FORMEL 155

3. Die Logarithmus-Reihe: Wir betrachten f(x) := log(1 + x), x > −1, und beachten

f ′(x) =1

1 + x=

∞∑k=0

(−1)kxk fur x ∈ (−1, 1).

Satz 5.3 liefert also

f(x) =

x∫0

dt

1 + t=

x∫0

[ ∞∑k=0

(−1)ktk]dt fur x ∈ (−1, 1).

Da∑k(−1)ktk fur t ∈ [−r, r] mit beliebigem r ∈ (0, 1) gleichmaßig konvergiert, liefert

Satz 5.6:

log(1 + x) =

x∫0

limn→∞

[ n∑k=0

(−1)ktk]dt = lim

n→∞

x∫0

[ n∑k=0

(−1)ktk]dt

= limn→∞

[ n∑k=0

(−1)kx∫

0

tk dt

]

=∞∑k=0

(−1)kxk+1

k + 1= −

∞∑k=1

(−1)k

kxk fur x ∈ [−r, r].

Da r ∈ (0, 1) beliebig war, haben wir also

log(1 + x) = −∞∑k=1

(−1)k

kxk, x ∈ (−1, 1). (7.12)

Wir wollen zeigen, dass (7.12) auch fur x = 1 richtig bleibt m.H. des folgenden

Satz 7.4 : (Abelscher Stetigkeitssatz)

Sei akk=0,1,2,... ⊂ R eine Zahlenfolge, fur die∞∑k=0

ak konvergiere. Dann folgt

∞∑k=0

ak = limx→1−

∞∑k=0

akxk.

Also konnen wir in (7.12) zur Grenze x → 1− ubergehen, denn die alternierende harmoni-

sche Reihe∞∑k=1

(−1)k

kkonvergiert bekanntlich. Wir erhalten dann die bereits in Kap. 1, § 8

angekundigte Summenformel der alternierenden harmonischen Reihe

∞∑k=1

(−1)k

k= − lim

x→1−log(1 + x) = − log 2.

Beweis von Satz 7.4: Setzen wir sk :=k∑l=0

al, k ∈ N0, so folgt leicht mit vollstandiger Induk-

tion:n∑k=0

akxk = snx

n + (1− x)

n−1∑k=0

skxk, n ∈ N. (7.13)

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156 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Fur |x| < 1 konvergiert die Potenzreihe f(x) :=∑∞k=0 akx

k absolut nach Satz 9.2 aus Kap. 1.Da auch snx

n → 0 (n → ∞) gilt, konnen wir in (7.13) zur Grenze n → ∞ ubergehen underhalten:

f(x) = limn→∞

( n∑k=0

akxk

)= (1− x)

∞∑k=0

skxk, |x| < 1.

Wir setzen noch s :=∞∑k=0

ak. Wir wahlen ε > 0 beliebig und haben zu zeigen, dass ein

δ = δ(ε) > 0 existiert mit

|f(x)− s| < ε fur alle x ∈ (1− δ, 1).

Zunachst gibt es ein N = N(ε) ∈ N mit der Eigenschaft

|sk − s| < ε

2fur alle k > N.

Beachten wir∞∑k=0

xk =1

1− xbzw. (1− x)

∞∑k=0

xk = 1,

so folgt ∣∣∣∣(1− x)

∞∑k=N+1

(sk − s)xk∣∣∣∣ < ε

2(1− x)

∞∑k=0

xk =ε

2, x ∈ [0, 1).

Wahlen wir nun δ = δ(ε) > 0 so klein, dass

δ

N∑k=0

|sk − s| < ε

2

ausfallt, so erhalten wir schließlich

|f(x)− s| =

∣∣∣∣(1− x)

∞∑k=0

skxk − (1− x)

∞∑k=0

sxk∣∣∣∣ =

∣∣∣∣(1− x)

∞∑k=0

(sk − s)xk∣∣∣∣

≤ (1− x)N∑k=0

|sk − s|+∣∣∣∣(1− x)

∞∑k=N+1

(sk − s)xk∣∣∣∣ < ε

2+ε

2= ε

fur alle x ∈ (1− δ, 1), wie behauptet. q.e.d.

4. Die Arcus-Tangens-Reihe: Als Ubungsaufgabe zeigt man analog zu Beispiel 3:

arctanx =

∞∑k=0

(−1)k

2k + 1x2k+1 fur x ∈ (−1, 1).

Da∑k

(−1)k

2k+1nach dem Leibnizkriterium konvergiert, liefert der Abelsche Stetigkeitssatz also

die ebenfalls in Kap. 1, § 8 angekundigte Summenformel fur die Leibnizreihe:

∞∑k=0

(−1)k

2k + 1= limx→1−

arctanx = arctan 1 =π

4.

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Kapitel 4

Differentialrechnung furFunktionen mehrererVeranderlicher

1 Partielle Ableitungen

Wir haben bereits Funktionen

f = f(x) =(f1(x1, . . . , xn), . . . , fd(x1, . . . , xn)

): Ω → Rd

auf einer Menge Ω ⊂ Rn fur n, d ∈ N kennengelernt und auf Stetigkeitseigenschaf-ten untersucht. Um auch Wachstums- und Krummungsverhalten solcher Funktionenmehrerer Veranderlicher beschreiben zu konnen, benotigen wir einen Ableitungsbe-griff. Im Folgenden sei Ω ⊂ Rn immer offen.

Definition 1.1: Sei f : Ω → Rd gegeben und x0 ∈ Ω gewahlt. Zu ε > 0 mit Bε(x0) ⊂

Ω und j ∈ 1, . . . , n erklaren wir die Funktion

φj(t) := f(x01, . . . , x0j−1, t, x

0j+1, . . . , x

0n), t ∈ (x0j − ε, x0j + ε).

Wenn dann φj an der Stelle t = x0j differenzierbar ist, so heißt f in x0 partielldifferenzierbar nach xj und wir schreiben

Djf(x0) := φ′

j(x0j ).

Bemerkungen:

1. Alternative Schreibweisen sind

Djf =∂

∂xjf =

∂f

∂xj= fxj .

157

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158 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

2. Ist f in x0 ∈ Ω nach xj differenzierbar, so gilt offenbar

Djf(x0) = lim

t→0∆

(j)t f(x0)

mit dem j-ten Differenzenquotienten: Ist ej der j-te Standardeinheitsvektor,

so ist ∆(j)t f(x0) erklart als

∆(j)t f(x0) :=

1

t

(f(x0 + tej)− f(x0)

)=

1

t

(f(x01, . . . , x

0j−1, x

0j + t, x0j+1, . . . , x

0n)− f(x01, . . . , x

0j , . . . , x

0n))

fur t ∈ (−ε, 0) ∪ (0, ε).

3. Eine Funktion f = (f1, . . . , fd) : Ω → Rd ist genau dann in x0 ∈ Ω nach xjdifferenzierbar, wenn f1, . . . , fd dort nach xj differenzierbar sind. Es gilt dann

Djf(x0) =

(Djf1(x

0), . . . , Djfd(x0)).

Definition 1.2: Falls fur f : Ω → Rd die partiellen Ableitungen D1f(x), . . . , Dnf(x)fur alle x ∈ Ω ⊂ Rn existieren und stetig sind, so heißt f (einmal) stetig differen-zierbar und wir schreiben f ∈ C1(Ω,Rd). Fur d = 1 schreiben wir kurz C1(Ω) :=C1(Ω,R) und fur d = 2 identifizieren wir wieder C1(Ω,C) := C1(Ω,R2).

Satz 1.1: Jede Funktion f ∈ C1(Ω,Rd) ist stetig in Ω, d.h. wir haben die InklusionC1(Ω,Rd) ⊂ C0(Ω,Rd).

Beweis: Indem wir jede Komponente einzeln betrachten, genugt es den Fall d = 1zu untersuchen.

Sei nun x0 ∈ Ω beliebig gewahlt, so gibt es ein ε > 0 mit Bε(x0) ⊂ Ω. Zubeliebigem x ∈ Bε(x

0) schreiben wir Ij fur die abgeschlossen Intervalle zwischen x0jund xj mit j = 1, . . . , n (also Ij = [x0j , xj ] fur x

0j ≤ xj , sonst Ij = [xj , x

0j ]). Die

Funktionen

φ1(t) := f(t, x02, . . . , x0n), t ∈ I1,

φ2(t) := f(x1, t, x03, . . . , x

0n), t ∈ I2,

...

φn(t) := f(x1, . . . , xn−1, t), t ∈ In,

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1. PARTIELLE ABLEITUNGEN 159

sind nun differenzierbar in Ij und damit dort auch stetig nach Folgerung 1.1 ausKap. 3. Außerdem gilt

f(x0)− f(x) = φ1(x01)− φn(xn)

= [φ1(x01)− φ1(x1)] + [φ2(x

02)− φ2(x2)] + . . .+ [φn(x

0n)− φn(xn)]

=n∑j=1

[φj(x0j )− φj(xj)].

(1.1)Nach dem Mittelwertsatz, Satz 2.3 in Kap. 3, gibt es zu jedem j ∈ 1, . . . , n einξj ∈ int Ij mit der Eigenschaft

φj(x0j )− φj(xj) = φ′

j(ξj)(x0j − xj) =

∂xjf(x1, . . . , xj−1, ξj , x

0j+1, . . . , x

0n

)(x0j − xj),

so dass Einsetzen in (1.1) liefert

f(x0)− f(x) =n∑j=1

∂xjf(x1, . . . , xj−1, ξj , x

0j+1, . . . , x

0n

)(x0j − xj). (1.2)

Schließlich bemerken wir noch, dass ein M ≥ 0 existiert mit∣∣∣ ∂∂xj

f(y)∣∣∣ ≤M fur alle y ∈ Bε(x0), j = 1, . . . , n,

da die partiellen Ableitungen ∂f∂x1

, . . . , ∂f∂xn in Ω stetig und damit in der kompakten

Teilmenge Bε(x0) ⊂ Ω beschrankt sind. Aus Formel (1.2) erhalten wir also:

|f(x0)− f(x)| ≤Mn∑j=1

|x0j − xj | → 0 (x→ x0),

d.h. f ist stetig in Ω. q.e.d.

Bemerkung: Produkt-, Quotienten- und Linearitatsregel fur differenzierbare Funk-tionen einer Veranderlichen ubertragen sich sofort auf die partiellen Ableitungen;insbesondere ist C1(Ω,Rd) ein linearer Raum. Die Kettenregel erhalt folgendes Ge-sicht:

Satz 1.2: (Kettenregel)Seien m,n, d ∈ N, offene Mengen Ω ⊂ Rn, Θ ⊂ Rm und Funktionen f = f(x) ∈C1(Ω,Rm) und g = g(y) ∈ C1(Θ,Rd) mit f(Ω) ⊂ Θ gegeben. Dann gehort auch dieFunktion h := g f : Ω → Rd zur Klasse C1(Ω,Rd) und es gilt

∂h

∂xj(x) =

m∑l=1

∂g

∂yl(f(x))

∂fl∂xj

(x) fur alle x ∈ Ω, j = 1, . . . , n. (1.3)

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160 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Beweis: Konnen wir zeigen, dass h in jedem Punkt x ∈ Ω nach x1, . . . , xn partiell differenzierbar istund dass (1.3) gilt, so folgt auch sofort h ∈ C1(Ω,Rd). Außerdem konnen wir uns (wie im Beweisvon Satz 1.1) wieder auf den Fall d = 1 beschranken, in dem wir jede Komponente h1, . . . , hd von hgetrennt betrachten.

Wir wahlen x0 ∈ Ω fest und setzen y0 := f(x0) ∈ Θ. Dann gibt es ε, δ > 0 mit Bε(x0) ⊂ Ω,Bδ(y0) ⊂ Θ. Und da f ∈ C1(Ω,Rm) nach Satz 1.1 stetig ist, konnen wir ε > 0 so klein wahlen, dassf(Bε(x

0)) ⊂ Bδ(y0) erfullt ist.

Fur beliebiges j ∈ 1, . . . , n sei s ∈ R mit |s| < ε gewahlt und

x := x0 + sej = (x01, . . . , x0j−1, x

0j + s, x0j+1, . . . , x

0n)

gesetzt; ej ist wieder der j-te Standardeinheitsvektor. Mit y := f(x) ∈ Bδ(y0) erklaren wir

φ1(t) := g(t, y02 , . . . , y0m), t ∈ I1,

φ2(t) := g(y1, t, y03 , . . . , y

0m), t ∈ I2,

...

φm(t) := g(y1, . . . , ym−1, t), t ∈ Im,

wobei Il das abgeschlossene Intervall zwischen y0l und yl bezeichne fur l = 1, . . . ,m. Wie im Beweisvon Satz 1.1 sehen wir

h(x0)− h(x) = g(y0)− g(y) =

m∑l=1

[φl(y

0l )− φl(yl)

]=

m∑l=1

∂ylg(y1, . . . , yl−1, ξl, y

0l+1, . . . , y

0m)(y0l − yl)

=

m∑l=1

∂ylg(f1(x), . . . , fl−1(x), ξl, fl+1(x

0), . . . , fm(x0))(fl(x

0)− fl(x)),

wobei die Zwischenstellen ξl zwischen y0l und yl liegen, d.h. es gilt insbesondere |ξl−y0l | ≤ |yl−y0l | →

0 (y → y0) fur l = 1, . . . ,m. Nach Division durch s ∈ (−ε, ε) \ 0 und Multiplikation mit −1 folgtnun

∆(j)s h(x0) =

m∑l=1

∂ylg(f1(x), . . . , fl−1(x), ξl, fl+1(x

0), . . . , fm(x0))∆(j)s fl(x

0). (1.4)

Fur s→ 0 gilt y = f(x) → f(x0) = y0, also auch ξl → fl(x0), und naturlich ∆

(j)s fl(x

0) → ∂fl∂xj

(x0).

Somit existiert der Grenzwert fur s → 0 auf der rechten Seite von (1.4) und folglich auch auf derlinken Seite. Es folgt

∂h

∂xj(x0) =

m∑l=1

∂g

∂yl(f(x0))

∂fl∂xj

(x0)

fur beliebiges x0, also die Behauptung. q.e.d.

Bezeichnungen:

1. Fur f ∈ C1(Ω), Ω ⊂ Rn, erklaren wir den Gradienten grad f : Ω → Rn ∈C0(Ω,Rn) als das Vektorfeld

grad f(x) :=(D1f(x), . . . , Dnf(x)

).

Mit dem formal eingefuhrten Nabla-Operator oder Nabla-Vektor

∇ := (D1, . . . , Dn)

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1. PARTIELLE ABLEITUNGEN 161

haben wir dann

grad f = ∇f.

Formal ist also grad f das Produkt aus dem Vektor ∇ und der skalaren Funk-tion f .

Wenn in Satz 1.2 d = 1 gilt, d.h. g und h skalare Funktionen sind, liest sich(1.3) als

∂h

∂xj(x) =

⟨∇g(f(x)), ∂f

∂xj(x)⟩, x ∈ Ω,

wobei ∇g = grad g als Gradient bez. y aufzufassen ist.

2. Fur f = (f1, . . . , fn) ∈ C1(Ω,Rn), Ω ⊂ Rn, erklaren wir die Divergenz div f :Ω → R ∈ C0(Ω) gemaß

div f(x) := D1f1(x) + . . .+Dnfn(x) =

n∑j=1

Djfj(x).

Mit Hilfe des Nabla-Operators konnen wir div f formal auch als Skalarproduktzwischen den Vektoren ∇ und f schreiben:

div f = ⟨∇, f⟩.

Falls n = 3 gilt, erklaren wir auch die Rotation rot f : Ω → R3 ∈ C0(Ω,R3)gemaß

rot f :=(D2f3 −D3f2, D3f1 −D1f3, D1f2 −D2f1

)= ∇× f.

3. Fur eine Funktion f = (f1, . . . , fd) ∈ C1(Ω,Rd) erklaren wir die Jacobimatrixoder Funktionalmatrix

Df(x) :=

D1f1(x) . . . Dnf1(x)...

. . ....

D1fd(x) . . . Dnfd(x)

=

grad f1(x)...

grad fd(x)

.

Insbesondere fur d = 1 haben wir also Df = grad f = ∇f .Fur beliebiges d ∈ N lasst sich nun Formel (1.3) zusammenfassen zu

Dh(x) = Dg(f(x)) Df(x), x ∈ Ω. (1.5)

Dabei beziehen sich die Ableitungen bei h und f auf x und bei g auf y ∈ Θ ⊃f(Ω), weshalb man auch manchmal zur Verdeutlichung

Dxh(x) = Dyg(f(x)) Dxf(x)

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162 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

schreibt. Exakter ware fur Dg(f(x)) eigentlich eine Schreibweise

Dg(f(x)) = ((Dg) f)(x),

d.h. man berechnet zunachst die Jacobimatrix von g und setzt dann f ein. ImGegensatz dazu ist

Dh(x) = (D(g f))(x)

zu berechnen, in dem man zunachst g f bildet und vom Ergebnis die Jacobi-matrix bestimmt. Die kurze Schreibweise in (1.5) ist aber gebrauchlich, da siedeutlich leichter zu lesen ist.

4. Schließlich ist fur f ∈ C1(Ω,Rn) die der quadratischen Matrix Df zugeordneteDeterminante, die sogenannte Jacobi- oder Funktionaldeterminante

Jf := det(Df) =

∣∣∣∣∣∣∣D1f1(x) . . . Dnf1(x)

.... . .

...D1fd(x) . . . Dnfd(x)

∣∣∣∣∣∣∣ ,von immenser Bedeutung. Falls in Satz 1.2 gerade m = n = d gilt, also Df , DgundDh quadratische Matrizen sind, entnehmen wir (1.5) und der Produktregelfur Determinanten:

Jh(x) = Jg(f(x))Jf (x), x ∈ Ω. (1.6)

Bevor wir einige Beispiele angeben, wollen wir noch eine direkte Folgerung derKettenregel fur invertierbare C1-Abbildungen notieren. Hierzu benotigen wir nochdie

Definition 1.3: Zu zwei offenen Mengen Ω,Θ ⊂ Rn heißt eine Abbildung f : Ω →Rn ein Diffeomorphismus (der Klasse C1) von Ω auf Θ, wenn gilt

• f bildet Ω bijektiv auf Θ ab.

• f ∈ C1(Ω,Rn) und f−1 ∈ C1(Θ,Rn).

Wir schreiben dann auch f : Ω → Θ.

Bemerkung: Ein Diffeomorphismus liefert also eine 1-1-Zuordnung der Punkte vonΩ und Θ, die zusammen mit ihrer Inversen stetig differenzierbar ist. Wenn f Dif-feomorphismus von Ω auf Θ ist, so ist f−1 offenbar Diffeomorphismus von Θ auf Ω.Diffeomorphismen werden auch als Transformationen bezeichnet und spielen einezentrale Rolle in der Analysis.

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1. PARTIELLE ABLEITUNGEN 163

Folgerung 1.1: Ist f : Ω → Θ ein Diffeomorphismus von Ω ⊂ Rn auf Θ ⊂ Rn, soist Df invertierbar auf Ω und es gelten

Df−1(f(x)) = (Df(x))−1, Jf−1(f(x)) =1

Jf (x), x ∈ Ω.

Beweis: Wir setzen g := f−1 : Θ → Ω und beachten h(x) := (g f)(x) ≡ x auf Ω.Wegen Dh(x) = E (E ⊂ Mat(n, n) ist die Einheitsmatrix) liefert also die Kettenregel(1.5):

E = Dg(f(x)) Df(x) in Ω,

d.h. Df(x) ist invertierbar mit der Inversen Dg(f(x)), wie behauptet. Die zweiteRelation ergibt sich nun sofort aus detE = 1 und Formel (1.6).

q.e.d.

Beispiele:

1. Die Abstandsfunktion r : Rn → R erklart durch r(x) := |x| =√x21 + . . .+ x2n

gehort zur Klasse C1(Rn \ 0) ∩C0(Rn). Fur die Ableitung nach xj erhaltenwir

∂xjr(x) =

1

2√x21 + . . .+ x2n

· 2xj =xj|x|

bzw.∇r(x) = grad r(x) =

x

|x|fur x = 0.

2. (Polarkoordinaten): Fur beliebiges z ∈ C haben wir eine Darstellung z = reiφ

mit r = |z| ≥ 0, φ ∈ R. In Real- und Imaginarteil zerlegt, heißt das

x = r cosφ =: f(r, φ),

y = r sinφ =: g(r, φ).

f und g sind aus C1((0,+∞)×R). Fur die Abbildung h := (f, g) : (0,+∞)×R → R2 folgt

Dh(r, φ) =

(fr(r, φ) fφ(r, φ)gr(r, φ) gφ(r, φ)

)=

(cosφ −r sinφsinφ r cosφ

),

und fur die Jacobideterminante erhalten wir

Jh(r, φ) = r(cos2 φ+ sin2 φ) = r > 0.

Die”Umkehrung“ von Folgerung 1.1 gilt also nicht, vgl. jedoch den Umkehrs-

atz, Satz 5.1, unten.

Bisher haben wir nur Ableitungen entlang der Koordinatenlinien erklart, namlichdie partiellen Ableitungen. Nun sollen Ableitungen in beliebige Richtungen betrach-tet werden:

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164 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Definition 1.4: Sei f : Ω → R gegeben und x ∈ Ω ⊂ Rn gewahlt. Zu beliebigema ∈ Rn mit |a| = 1 erklaren wir dann die Richtungsableitung von f an der Stelle xin Richtung a gemaß

∂f

∂a(x) := lim

t→0

1

t

[f(x+ ta)− f(x)

],

falls dieser Grenzwert existiert.

Bemerkungen:

1. Mit dem j-ten Standardeinheitsvektor a = ej haben wir

∂f

∂ej(x) = lim

t→0∆

(j)t f(x) = Djf(x).

Partielle Ableitungen sind also spezielle Richtungsableitungen.

2. Existiert fur ein a ∈ Sn−1 := ξ ∈ Rn : |ξ| = 1 die Richtungsableitung∂f∂a (x), so existiert auch ∂f

∂(−a)(x) und es gilt

∂f

∂(−a)(x) = −∂f

∂a(x).

Satz 1.3: Ist f ∈ C1(Ω), so existiert ∂f∂a (x) fur alle x ∈ Ω und alle Richtungsvekto-

ren a ∈ Sn−1, und es gilt

∂f

∂a(x) = ⟨∇f(x), a⟩ =

n∑j=1

Djf(x)aj .

Beweis: Zu festem x ∈ Ω existiert ein ε > 0 mit Bε(x) ⊂ Ω. Wir betrachten dannφ(t) := f(x+ ta), t ∈ (−ε, ε), und folgern aus Satz 1.2: φ ∈ C1((−ε, ε)) sowie

φ′(t) = ⟨∇f(x+ ta), a⟩, t ∈ (−ε, ε).

Insbesondere fur t = 0 erhalten wir

∂f

∂a(x) = lim

t→0

φ(t)− φ(0)

t= φ′(0) = ⟨∇f(x), a⟩,

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Die Richtungsableitung ∂f∂a (x) beschreibt den Anstieg der Funktion f in

x, eingeschrankt auf das Segment x+ta : t ∈ (−ε, ε) mit kleinem ε > 0 und einema ∈ Sn−1. Dieser ist i.a. fur jede Richtung a unterschiedlich groß. Die geometrischeBedeutung von grad f enthalt nun die nachstehende

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2. MITTELWERTSATZ UND DIFFERENTIALE 165

Folgerung 1.2: Sei f ∈ C1(Ω) und x ∈ Ω mit ∇f(x) = 0 gewahlt. Mit ν :=|∇f(x)|−1∇f(x) gilt dann

∂f

∂(−ν)(x) <

∂f

∂a(x) <

∂f

∂ν(x) fur alle a ∈ Sn−1 \ ±ν.

D.h. ∇f(x) zeigt in die Richtung des großten, −∇f(x) in die Richtung des kleinstenAnstiegs von f in x.

Bemerkung: Falls hingegen ∇f(x) = 0 in einem Punkt x ∈ Ω gilt, verschwindennach Satz 1.3 dort alle Richtungsableitungen.

Beweis von Folgerung 1.2: Nach Satz 1.3 und der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung, Satz 10.2 inKap. 1, haben wir ∣∣∣∂f

∂a(x)∣∣∣ = ∣∣⟨∇f(x), a⟩∣∣ ≤ |∇f(x)| |a| = |∇f(x)|,

und Gleichheit tritt genau dann ein, wenn ∇f(x) = λa gilt, d.h. a = ± ∇f(x)|∇f(x)| = ±ν richtig ist.

Folglich haben wir

−|∇f(x)| < ∂f

∂a(x) < |∇f(x)| fur alle a ∈ Sn−1 \ ±ν.

Beachten wir noch∂f

∂(±ν) (x)Satz 1.3

=⟨∇f(x),± ∇f(x)

|∇f(x)|

⟩= ±|∇f(x)|,

so folgt die Behauptung. q.e.d.

Bemerkung: Der Begriff der Richtungsableitung lasst sich offenbar direkt auf Abbil-dungen f : Ω → Rd erweitern. Satz 1.3 bleibt gultig, allerdings mit der Darstellung

∂f

∂a(x) = Df(x)a,

wobei man ∂f∂a und a als Spaltenvektoren auffasst. Die geometrische Interpretation

aus Folgerung 1.2 verliert aber ihren Sinn.

2 Mittelwertsatz und Differentiale

Als erstes beweisen wir ein Analogon zum Mittelwertsatz der Differentialrechnungfur Funktionen mehrerer Veranderlicher:

Satz 2.1: (Mittelwertsatz)Es sei Ω ⊂ Rn offen, f ∈ C1(Ω) eine skalare Funktion und zwei verschiedene Punktex, y ∈ Ω seien gewahlt. Fur die Verbindungsstrecke

[x, y] :=λx+ (1− λ)y : λ ∈ [0, 1]

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166 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

zwischen x und y gelte [x, y] ⊂ Ω. Dann gibt es ein z ∈ (x, y) := [x, y] \ x, y mitder Eigenschaft

f(y)− f(x) = ⟨∇f(z), y − x⟩ =n∑j=1

∂f

∂xj(z)(yj − xj).

Beweis: Wir betrachten die Funktion

φ(t) := f(x+ t(y − x)

), t ∈ [0, 1].

Nach Satz 1.2 gilt φ ∈ C1((0, 1)) ∩ C0([0, 1]) und

φ′(t) =⟨∇f(x+ t(y − x)), y − x

⟩fur alle t ∈ (0, 1).

Andererseits liefert der Mittelwertsatz fur Funktionen einer Veranderlichen

φ(1)− φ(0) = φ′(ξ)

mit einem ξ ∈ (0, 1). Setzen wir z := x+ ξ(y − x) ∈ (x, y), so folgt also

f(y)− f(x) = φ(1)− φ(0) = φ′(ξ) = ⟨∇f(z), y − x⟩,

wie behauptet. q.e.d.

Fur vektorwertige Funktionen erhalten wir eine Art”integrale Version“, die

haufig sehr hilfreich ist:

Satz 2.2: (Hadamards Lemma)Sind f ∈ C1(Ω,Rd) und x, y ∈ Ω mit x = y und [x, y] ⊂ Ω gewahlt, so folgt

f(y)− f(x) = A (y − x).

Dabei sind f(y)− f(x), y − x als Spaltenvektoren aufzufassen und die Matrix

A :=

1∫0

Df(x+ t(y − x)) dt

wurde erklart.

Beweis: Wie im Beweis von Satz 2.1 betrachten wir

φ(t) := f(x+ t(y − x)

)∈ C1((0, 1),Rd) ∩ C0([0, 1],Rd).

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2. MITTELWERTSATZ UND DIFFERENTIALE 167

Fur die l-te Komponente gilt dann nach dem Fundamentalsatz der Differential- und Integralrech-nung, Satz 5.3 in Kap. 3:

fl(y)− fl(x) = φl(1)− φl(0) =

1∫0

φ′l(t) dt

=

⟨ 1∫0

∇fl(x+ t(y − x)) dt, y − x

⟩, l = 1, . . . , d,

was gleichbedeutend zur Behauptung ist. q.e.d.

Fur eine Funktion f : I → Rd ∈ C1(I,Rd) auf einem Intervall I ⊂ R giltbekanntlich

f ′ ≡ 0 ⇐⇒ f ≡ const auf I.

Um eine Entsprechung fur Funktionen mehrerer Veranderlicher zu erhalten, benoti-gen wir noch die grundlegende

Definition 2.1:

(i) Eine Menge M ⊂ Rn heißt (bogenweise) zusammenhangend, wenn fur je zweiPunkte x, y ∈M ein stetiger Weg φ ∈ C0([0, 1],Rn) existiert mit

φ([0, 1]) ⊂M, φ(0) = x, φ(1) = y.

(ii) Eine offene, zusammenhangende Menge im Rn heißt Gebiet und wird i.d.R.mit G bezeichnet.

Satz 2.3: Fur eine Funktion f ∈ C1(G,Rd) auf einem Gebiet G ⊂ Rn gilt

Df ≡ 0 ⇐⇒ f ≡ const in G.

Beweis: Falls f konstant ist in G, verschwinden offenbar alle partiellen Ableitungen,d.h. Df ≡ 0 in G. Der Beweis der Umkehrung erfolgt in zwei Schritten:

1. Lokale Konstanz: Sei x ∈ G fixiert und sei ein ε > 0 mit Bε(x) ⊂ G gewahlt.Zu beliebigem y ∈ Bε(x) gilt dann [x, y] ⊂ Bε(x) ⊂ G, und nach dem Hada-mardschen Lemma folgt

f(y)− f(x) =

( 1∫0

Df(x+ t(y − x)) dt

) (y − x) = 0,

also f ≡ const in Bε(x).

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168 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

2. Globale Konstanz: Mit einer”Kontinuitatsmethode“ zeigen wir nun, dass f

tatsachlich in ganz G konstant ist: Sei wieder x ∈ G fixiert. Zu beliebigem y ∈G betrachten wir den Verbindungsweg φ ∈ C0([0, 1],Rn) zwischen x = φ(0)und y = φ(1) sowie die stetige Funktion

F (t) := f(φ(t)), t ∈ [0, 1].

Wir wahlen t∗ ∈ [0, 1] maximal, so dass gilt

F (t) = F (0) fur alle t ∈ [0, t∗],

d.h. F ist auf [0, t∗] konstant mit großtmoglichem t∗. Ware nun t∗ < 1. Danngibt es ein δ > 0, so dass φ(t) ∈ Bε(φ(t

∗)) ⊂ G mit geeignetem ε > 0 und furalle t ∈ [t∗, t∗+δ) gilt, denn φ ist stetig. Gemaß Teil 1 ist dann aber F ≡ constauf [t∗, t∗+ δ), im Widerspruch zur Wahl von t∗. Also muss doch t∗ = 1 richtigsein und es folgt insbesondere

f(x) = f(φ(0)) = F (0) = F (1) = f(φ(1)) = f(y),

d.h. f ≡ f(x) = const in G. q.e.d.

Wir wollen noch einen weiteren Ableitungsbegriff einfuhren, der geometrisch mo-tiviert ist:

Definition 2.2: Sei Ω ⊂ Rn offen und x ∈ Ω gewahlt. Eine Funktion f : Ω → Rdheißt in x ∈ Ω total differenzierbar, wenn eine lineare Abbildung L : Rn → Rd soexistiert, dass gilt

f(x+ h) = f(x) + L(h) +R(h) fur alle h ∈ Ω0 := h ∈ Rn : x+ h ∈ Ω. (2.1)

Hierbei gelte fur das Restglied R = R(h) : Ω0 → Rd die Relation

R(h) = o(|h|) fur h→ 0, d.h. limh→0

R(h)

|h|= 0. (2.2)

Bemerkungen:

1. Wir konnen Formel (2.1) mit (2.2) aquivalent schreiben als

f(x+ h) = f(x) + L(h) + |h|ε(h) fur alle h ∈ Ω0

mit ε = ε(h) : Ω0 → Rd, ε(h) = o(1) fur h→ 0,(2.3)

indem wir setzen

ε(h) :=

|h|−1R(h), h = 00, h = 0

.

Eine Formel (2.3) entsprechende Darstellung haben wir in Satz 1.1 in Kap. 3 furFunktionen einer Veranderlichen als aquivalent zur Differenzierbarkeit erkannt.Wir werden unten sehen, dass die totale Differenzierbarkeit einer Funktionmehrerer Veranderlicher nicht aquivalent zur partiellen Differenzierbarkeit ist.

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2. MITTELWERTSATZ UND DIFFERENTIALE 169

2. Aus (2.1), (2.2) (oder auch (2.3) folgt sofort

limh→0

f(x+ h) = f(x),

d.h. eine in x ∈ Ω total differenzierbare Funktion ist dort auch stetig.

3. Die lineare Abbildung L : Rn → Rd ist durch (2.1), (2.2) bzw. die aquivalenteRelation (2.3) eindeutig bestimmt.

Denn: Gabe es namlich ein weiteres L : Rn → Rd und eine Funktion ε : Ω0 → Rd mitε(h) = o(1) fur h→ 0, so dass

f(x+ h) = f(x) + L(h) + |h|ε(h) fur alle h ∈ Ω0

gilt, dann liefert Vergleich mit (2.3):

L(h)− L(h) = |h|(ε(h)− ε(h)

)fur alle h ∈ Ω0.

Wir zeigen L(ej) = L(ej) fur alle j = 1, . . . , n mit den j-ten Einheitsvektoren; die Behaup-tung folgt dann aus der Linearitat: Setze L0 := L − L und ε0 := ε − ε. Dann erhaltenwir

L0(h) = |h|ε0(h) mit ε0(h) = o(1) fur h→ 0.

Zu hinreichend kleinem λ > 0 ist h := λej ∈ Ω0 erfullt, und es folgt

λL0(ej) = L0(λej) = |λej |ε0(λej) = λε0(λej)

bzw.L0(ej) = ε0(λej) → 0 (λ→ 0),

also L0(ej) = 0 bzw. L(ej) = L(ej).

Diese Eindeutigkeit rechtfertigt nun die folgende

Definition 2.3:

(i) Zur in x ∈ Ω total differenzierbaren Abbildung f : Ω → Rd heißt die eindeutigbestimmte Abbildung L : Rn → Rd aus (2.1) (totales) Differential df(x) von fan der Stelle x ∈ Ω. Wir schreiben

df(x)(h) = df(x, h) := L(h), h ∈ Rn.

(ii) Ist f fur alle x ∈ Ω total differenzierbar, so heißt f einfach differenzierbar unddf : Ω× Rn → Rd ist das zugehorige Differential.

Der Zusammenhang zwischen totaler und partieller Differenzierbarkeit ist ent-halten im folgenden

Satz 2.4: Ist f : Ω → Rd in x ∈ Ω total differenzierbar, so existieren alle partiellenAbleitungen D1f(x), . . . , Dnf(x), und es gilt

df(x, h) =

n∑j=1

Djf(x)hj = Df(x)h fur alle h = (h1, . . . , hn) ∈ Rn. (2.4)

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170 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Speziell fur d = 1 haben wir also

df(x, h) = ⟨∇f(x), h⟩ fur alle h ∈ Rn.

Beweis: Ist ej der j-te Einheitsvektor, so setzen wir h = tej ∈ Ω0 fur t ∈ (−ε, ε) mithinreichend kleinem ε > 0 in (2.1) ein und erhalten aus (2.2):

|∆(j)t f(x)− L(ej)| =

∣∣∣f(x+ tej)− f(x)

t− L(ej)

∣∣∣ = ∣∣∣R(tej)t

∣∣∣→ 0 (t→ 0),

d.h. wir haben Djf(x) = L(ej) = df(x, ej). Die Linearitat von L = df liefert Formel(2.4).

q.e.d.

Fur f ∈ C1(Ω) und h ∈ Sn−1 = ξ ∈ Rn : |ξ| = 1 stimmt die rechte Sei-te in (2.4) mit der Richtungsableitung von f im Punkt x in Richtung h uberein.Allgemeiner und in Analogie zu Satz 2.4 finden wir den

Satz 2.5: Ist f : Ω → Rd in x ∈ Ω total differenzierbar, so existieren alle Rich-tungsableitungen ∂f

∂a (x) fur a ∈ Sn−1, und es gilt

df(x, a) =∂f

∂a(x).

Beweis: Zu festem a ∈ Sn−1 setzen wir h = ta ∈ Ω0, t ∈ (−ε, ε), in (2.1) ein undfolgern aus (2.2):

∂f

∂a(x) = L(a) = df(x, a),

wie behauptet. q.e.d.

Geometrische Interpretation: Ist f : Ω → R in x0 ∈ Ω total differenzierbar, soerklaren wir die affin-lineare Funktion

φ(x) := f(x0) + df(x0, x− x0) = f(x0) + ⟨∇f(x0), x− x0⟩, x ∈ Rn.

Der Graph T := graphφ beschreibt eine Hyperebene im Rn+1 – d.h. einen n-dimen-sionalen affinen Unterraum –, die durch (x0, f(x0)) und senkrecht zum Vektor

ν :=(−∇f(x0), 1

)verlauft. Dabei ist φ und damit T durch die Forderung

f(x)− φ(x) = o(|x− x0|) fur x→ x0

eindeutig festgelegt; T approximiert also graph f nahe x0 von erster Ordnung, ent-sprechend der Tangente bei differenzierbaren Funktionen einer Veranderlichen. T

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2. MITTELWERTSATZ UND DIFFERENTIALE 171

heißt daher die Tangentialebene an f (genauer an graph f) im Punkt x0. Fernerwird der senkrechte Vektor ν als Normalenvektor von f in x0 bezeichnet.

In §4 werden wir Approximationen hoherer Ordnung durch Taylorpolynome ge-winnen.

Die Umkehrung der Satze 2.4 und 2.5 gilt nicht: Eine Funktion, die in einemPunkt alle Richtungsableitungen besitzt (und damit auch insbesondere alle partiellenAbleitungen), muss dort nicht total differenzierbar, ja nicht einmal stetig sein:

Beispiel: Sei f : R2 → R erklart als

f(x, y) :=

2xy2

x2 + y4, fur (x, y) = (0, 0)

0, fur (x, y) = (0, 0)

.

Wir wollen zeigen, dass

∂f

∂a(0, 0) = lim

t→0

1

t

(f(ta1, ta2)− f(0, 0)

)= lim

t→0

f(ta1, ta2)

t

fur alle a = (a1, a2) ∈ S1 existiert.

• Fur a = (0,±1) haben wir f(0,±t) = 0 fur alle t ∈ R \ 0 und folglich∂f∂a (0, 0) = 0.

• Fur a = (0,±1) und somit a1 = 0 erhalten wir

∂f

∂a(0, 0) = lim

t→0

2t3a1a22

t3(a21 + t2a42)= 2

a22a1.

Aber wegen f(y2, y) = 2y4

y4+y4= 1 fur alle y ∈ R und f(0, 0) = 0 ist f in (0, 0)

unstetig und damit auch nicht total differenzierbar.

Wir konnen aber unter einer starkeren Voraussetzung aus der partiellen die totaleDifferenzierbarkeit folgern:

Satz 2.6: Gehort f : Ω → Rd zur Klasse C1(Ω,Rd), so ist f total differenzierbar inΩ.

Beweis: Zu x ∈ Ω wahlen wir r > 0 mit Br(x) ⊂ Ω. Fur h ∈ Rn mit |h| < r liefert dann HadamardsLemma, Satz 2.2:

f(x+ h) = f(x) +

( 1∫0

Df(x+ th) dt

)h = f(x) +Df(x)h+R(h)

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172 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

mit

R(h) :=

( 1∫0

[Df(x+ th)−Df(x)

]dt

)h.

Wir haben noch zu zeigen, dass R = R(h) die Relation (2.2) erfullt: Da Df stetig ist, existiert zuvorgegebenem ε > 0 ein δ = δ(ε) ∈ (0, r), so dass |Djf(y) − Djf(x)| < ε

nfur alle y ∈ Bδ(x) und

j = 1, . . . , n gilt. Somit folgt fur alle h ∈ Rn mit |h| < δ:

∣∣∣R(h)|h|

∣∣∣ ≤ n∑j=1

|hj ||h|

1∫0

∣∣Djf(x+ th)−Djf(x)∣∣ dt < n

ε

n= ε,

d.h. R(h) = o(|h|) fur h→ 0, wie behauptet. q.e.d.

3 Partielle Ableitungen hoherer Ordnung, der Satz vonSchwarz

Sei f : Ω → Rd auf der offenen Menge Ω ⊂ Rn erklart. Wenn die partielle AbleitungDjf = ∂f

∂xj= fxj auf ganz Ω existiert fur ein j ∈ 1, . . . , n, konnen wir Djf :

Ω → Rd wieder als Funktion auf Ω auffassen. Wenn diese in Ω nach xk partielldifferenzierbar ist fur ein k ∈ 1, . . . , n, so nennen wir Dk(Djf) =: DkDjf einezweite partielle Ableitung von f und schreiben auch

DkDjf =∂2f

∂xj∂xk= fxjxk .

Entsprechend erklaren wir die dritte und induktiv die s-te partielle Ableitung oderAbleitung s-ter Ordnung

Djs(Djs−1 . . . Dj2Dj1f) =: DjsDjs−1 . . . Dj2Dj1f =∂sf

∂xj1 . . . ∂xjs= fxj1 ...xjs ,

wobei j1, . . . , js ∈ 1, . . . , n Indizes sind. So wie wir in der Jacobimatrix Df =( ∂fl∂xj

)j=1,...,nl=1,...,d

alle Ableitungen erster Ordnung zusammengefasst haben, schreiben wir

D2f :=( ∂2fl∂xj∂xk

)j,k=1,...,nl=1...,d

und allgemeiner Dsf =( ∂sfl∂xj1 . . . ∂xjs

)j1,...,js=1,...,n

l=1...,d

,

wenn alle diese Ableitungen existieren. Wir nennen dann Df , D2f und Dsf auch dieerste, zweite und s-te Ableitung von f . Wir konnen Dsf : Ω → Rd·ns als Abbildungvon Ω in den Euklidischen Raum der Dimension d·ns auffassen. Schließlich schreibenwir noch D0f := f fur die nullte Ableitung von f .

Definition 3.1: Fur s ∈ N0 erklaren wir den Raum der s-mal stetig differenzier-baren Funktionen Cs(Ω,Rd) als den Vektorraum der Funktionen f : Ω → Rd, deren

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3. PARTIELLE ABLEITUNGEN HOHERER ORDNUNG 173

Ableitungen Df, . . . ,Dsf auf Ω existieren und fur die Dsf : Ω → Rd·ns stetig ist.Der Raum der unendlich oft differenzierbaren Funktionen ist dann gegeben durch

C∞(Ω,Rd) :=∩s∈N0

Cs(Ω,Rd).

Bemerkung: Gemaß Satz 1.1 sind alle Ableitungen einer Funktion f ∈ Cs(Ω,Rd) biszur s-ten Ordnung stetig.

Am Beispiel der zweiten partiellen Ableitungen wollen wir uns zunachst uberle-gen, dass es i.A. auf die Reihenfolge ankommt, d.h.: Ist f : Ω → Rd gegeben undexistieren DjDkf und DkDjf fur gewisse j = k, so ist i.A. nicht DjDkf = DkDjf .

Beispiel: Wir betrachten

f(x, y) :=

xy(x2−y2)x2+y2

, (x, y) = (0, 0)

0, (x, y) = (0, 0).

Fur (x, y) = (0, 0) existieren offenbar die partiellen Ableitungen erster und zweiter Ordnung, undes gilt

fx(x, y) =x4y + 4x2y3 − y5

(x2 + y2)2, fy(x, y) =

x5 − 4x3y2 − xy4

(x2 + y2)2.

Ferner haben wir

fx(0, 0) = limt→0

f(t, 0)

t= 0 = fy(0, 0).

Also ist f in R2 einmal partiell differenzierbar. Im Nullpunkt berechnen wir

fxy(0, 0) = limt→0

fx(0, t)

t= limt→0

−tt

= −1,

fyx(0, 0) = limt→0

fy(t, 0)

t= limt→0

t

t= 1.

Wir wollen nun Voraussetzungen angeben, unter denen die Reihenfolge der zwei-ten Ableitungen einer Funktion vertauschbar ist, und beginnen mit dem

Hilfssatz 3.1: Es sei Bδ := Bδ(0, 0) ⊂ R2 die Kreisscheibe vom Radius δ > 0 umden Nullpunkt und φ = φ(y, z) : Bδ → R sei gegeben. Fur φ sollen die partiellenAbleitungen φy, φz und φyz in Bδ existieren. Dann gibt es zu beliebigen h, k = 0 mit(h, k) ∈ Bδ einen Punkt (ξ, η) ∈ Bδ, so dass gilt

φyz(ξ, η) =φ(h, k)− φ(h, 0)− φ(0, k) + φ(0, 0)

hk. (3.1)

Bemerkung: Die rechte Seite in (3.1) kann als Differenzenquotient zweiter Ordnungim Punkt (0, 0) aufgefasst werden.

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174 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Beweis von Hilfssatz 3.1: Wir nennen I das abgeschlossene Intervall zwischen 0 und h und erklarendie Funktion

u(y) := φ(y, k)− φ(y, 0) fur y ∈ I.

Dann ist φ differenzierbar auf I. Zweimalige Anwendung des Mittelwertsatzes in einer Veranderli-chen liefert

φ(h, k)− φ(h, 0)− φ(0, k) + φ(0, 0) = u(h)− u(0) = hu′(ξ)

= h[φy(ξ, k)− φy(ξ, 0)

]= hk φyz(ξ, η),

da auch v(z) := φy(ξ, z) auf dem abgeschlossenen Intervall J zwischen 0 und k differenzierbar istmit v′(z) = φyz(ξ, z); dabei ist ξ ∈ I, η ∈ J , also (ξ, η) ∈ Bδ.

q.e.d.

Satz 3.1: (H.A. Schwarz)Es seien Ω ⊂ Rn und f : Ω → Rd gegeben. Fur ein x0 ∈ Ω sollen die partiellenAbleitungen Dif , Djf und DjDif in einer Kugel Br(x0) ⊂ Ω existieren und DjDifsei stetig in x0. Dann existiert auch DiDjf(x0) und es gilt

DiDjf(x0) = DjDif(x0).

Beweis: Durch komponentenweises Rechnen konnen wir o.B.d.A. d = 1 annehmen.Wir betrachten die Funktion

φ(y, z) := f(x0 + yei + zej) fur (y, z) ∈ Br := Br(0, 0).

Dann existieren φy, φz und φyz in Br, und φyz ist stetig in (0, 0). Wegen Letzteremkonnen wir zu vorgegebenem ε > 0 noch δ = δ(ε) > 0 so klein wahlen, dass

|φyz(y, z)− φyz(0, 0)| < ε fur alle (y, z) ∈ Bδ (3.2)

erfullt ist. Wir wenden nun Hilfssatz 3.1 an: Zu beliebigem (h, k) ∈ Bδ mit h, k = 0ergeben (3.1) und (3.2)∣∣∣1

h

(φ(h, k)− φ(h, 0)

k− φ(0, k)− φ(0, 0)

k

)− φyz(0, 0)

∣∣∣=∣∣∣φ(h, k)− φ(h, 0)− φ(0, k)− φ(0, 0)

hk− φyz(0, 0)

∣∣∣= |φyz(ξ, η)− φyz(0, 0)| < ε

mit einem (ξ, η) ∈ Bδ. Grenzubergang k → 0 liefert also∣∣∣1h

[φz(h, 0)− φz(0, 0)

]− φyz(0, 0)

∣∣∣ ≤ ε fur h ∈ (−δ, δ) \ 0.

Lassen wir nun h→ 0 laufen, so folgt

|φzy(0, 0)− φyz(0, 0)| ≤ ε.

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3. PARTIELLE ABLEITUNGEN HOHERER ORDNUNG 175

Und da ε > 0 beliebig gewahlt war, erhalten wir

DiDjf(x0) = φzy(0, 0) = φyz(0, 0) = DjDif(x0),

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Insbesondere konnen also bei einer Funktion f ∈ C2(Ω,Rd) die Ablei-tungen – genauer die Reihenfolge der Ableitungen – vertauscht werden. Entspre-chendes gilt auch fur die hoheren Ableitungen einer Funktion f ∈ Cs(Ω,Rd) mits > 2, wie man durch vollstandige Induktion leicht sieht. Dies rechtfertigt auch diefolgende

Notation (Multiindizes):Zu einem sogenannten Multiindex α := (α1, . . . , αn) ∈ Nn0 , d.h. αj ∈ N0 fur allej = 1, . . . , n, erklaren wir dessen Lange |α| gemaß

|α| := α1 + . . .+ αn.

(Man beachte, dass |α| nicht die Euklidische Lange des Vektors α ist.) Dann schrei-ben wir fur ein f ∈ C |α|(Ω,Rd) abkurzend

Dαjj f := (Dj)

αjf := DjDj . . . Dj︸ ︷︷ ︸αj-mal

f

undDαf := (D1)

α1(D2)α2 . . . (Dn)

αnf = Dα11 Dα2

2 . . . Dαnn f.

Das bedeutet, f wird αj-mal nach xj abgeleitet, wobei die Reihenfolge der Differen-tiation eben nach Satz 3.1 keine Rolle spielt.

Beispiel: Fur eine Funktion f : Ω → R ∈ C2(Ω), Ω ⊂ Rn, erklart man den Laplace-Operator

∆f(x) := D21f(x) + . . .+D2

nf(x) =n∑k=1

fxkxk(x), x ∈ Ω.

Dieser ordnet jeder Funktion f ∈ C2(Ω) eine Funktion ∆f ∈ C0(Ω) zu, weshalbman auch ∆ : C2(Ω) → C0(Ω) schreibt. Der Laplace-Operator ist (wie der Nabla-Operator ∇ : C1(Ω) → C0(Ω,Rn)) ein Beispiel eines – und zwar eines wichtigen! –Differentialoperators. Die zugehorige Gleichung

∆f(x) = 0 fur alle x ∈ Ω

heißt Laplacegleichung und eine Losung f nennt man harmonische Funktion. Die La-placegleichung ist eine der wichtigsten partiellen Differentialgleichungen; dies sind

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176 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Gleichungen zwischen Funktionen mehrerer Veranderlicher und ihren partiellen Ab-leitungen. Im Gegensatz hierzu werden Gleichungen zwischen Funktionen einer Va-riablen und ihren gewohnlichen Ableitungen als gewohnliche Differentialgleichungenbezeichnet.

Wir bemerken noch∆f = spurHf ,

wobeiHf (x) := (fxjxk(x))j,k=1,...,n, x ∈ Ω,

die (symmetrische) Hessematrix der zweiten Ableitungen bezeichnet.

Wir wollen noch den Begriff des Differentials df verallgemeinern und gehen dazuvon der Darstellung (2.4) aus: Ist f ∈ C1(Ω,Rd), so gilt

df(x)(h) =

n∑j=1

Djf(x)hj fur x ∈ Ω, h = (h1, . . . , hn) ∈ Rn.

Ist nun f ∈ Cs(Ω,Rd) fur ein s > 1, so erklaren wir das k-te Differential oder dasDifferential der Ordnung k ∈ 1, . . . , s gemaß

dkf(x)(h1, . . . , hk) :=n∑

j1,...,jk=1

Dj1 . . . Djkf(x)h1j1 · . . . · h

kjk

fur x ∈ Ω und hl = (hl1, . . . , hln) ∈ Rn mit l = 1, . . . , k.

Ist speziell h1 = h2 = . . . hk =: h, so schreiben wir abkurzend

dkf(x)(h) := dkf(h, . . . , h) =

n∑j1,...,jk=1

Dj1 . . . Djkf(x)hj1 · . . . · hjk

fur x ∈ Ω und h = (h1, . . . , hn) ∈ Rn.(3.3)

Offenbar gilt d1f(x)(h) = df(x)(h). Wir setzen schließlich noch

d0f(x)(h) := f(x) fur x ∈ Ω, h ∈ Rn.

Beispiel: Fur k = 2, h := h1 ∈ Rn, g := h2 ∈ Rn haben wir

d2f(x)(h, g) =

n∑i,j=1

DiDjf(x)higj . (3.4)

Insbesondere fur h = ei, g = ej , also i-ter bzw. j-ter Einheitsvektor, folgt

d2f(x)(ei, ej) = DiDjf(x) = fxixj (x).

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4. TAYLORFORMEL UND LOKALE EXTREMA 177

Allgemeiner gilt: Ist hl = eil der il-te Einheitsvektor fur l = 1, . . . , k, so folgt

dkf(x)(ei1 , . . . , eil) = fxi1 ...xik (x).

Abschließend erklaren wir noch partielle Ableitungen (und damit auch Differen-tiale) auf allgemeineren, fur die Anwendung wichtigen Mengen:

Definition 3.2: Es sei Ω ⊂ Rn offen (und wie immer nichtleer) und Γ ⊂ ∂Ω einenichtleere Teilmenge des Randes ∂Ω von Ω. Eine Funktion f : Ω → Rd gehort dannzur Klasse Cs(Ω ∪ Γ,Rd) fur ein s ∈ N, wenn f ∈ Cs(Ω,Rd) gilt und wenn dieGrenzwerte

limΩ∋x→x0

Dαf(x) fur alle x0 ∈ Γ und alle α ∈ Nn0 mit 0 ≤ |α| ≤ s

existieren.

Bemerkungen:

1. Offenbar konnen fur ein fur ein f ∈ Cs(Ω ∪ Γ,Rd) alle Ableitungen Dαf ,0 ≤ |α| ≤ s, durch die Setzung

Dαf(x0) := limΩ∋x→x0

Dαf(x) fur x0 ∈ Γ ⊂ ∂Ω

stetig auf Ω ∪ Γ fortgesetzt werden konnen.

2. Insbesondere sind durch Definition 3.2 mit Γ = ∂Ω auch die Raume Cs(Ω,Rd)erklart.

4 Taylorformel und lokale Extrema

Wir wollen nun ein Analogon zur Taylorformel fur Funktionen einer Veranderlichenangeben. Seien dazu Ω ⊂ Rn offen und f ∈ Cs+1(Ω) mit einem s ∈ N0. Weiter seix0 ∈ Ω gewahlt und fur ein x ∈ Ω gelte

[x0, x] =x0 + t(x− x0) : t ∈ [0, 1]

⊂ Ω.

Mit h := x− x0 gehort dann die Funktion

ϕ(t) := f(x0 + th), t ∈ [0, 1],

zur Klasse Cs+1([0, 1]), und es gilt

ϕ(k)(t) =n∑

j1,...,jk=1

Dj1 . . . Djkf(x0 + th)hj1 . . . hjk

(3.3)= dkf(x0 + th)(h), k ∈ 1, . . . , s+ 1, t ∈ [0, 1].

(4.1)

Satz 7.2 aus Kap. 3 liefert nun den

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178 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Satz 4.1: Seien f ∈ Cs+1(Ω) und x0, x ∈ Ω mit [x0, x] ⊂ Ω gewahlt. Dann gilt dieTaylorformel

f(x) = ps(x) +Rs(x)

mit dem s-ten Taylorpolynom zum Entwicklungspunkt x0

ps(x) :=s∑

k=0

1

k!dkf(x0)(x− x0)

und dem s-ten Restglied

Rs(x) =1

(s+ 1)!ds+1f(y)(x− x0)

mit einer Zwischenstelle y = x0 + ϑ(x − x0) ∈ (x0, x) := [x0, x] \ x0, x fur einϑ ∈ (0, 1).

Beweis: Wir entwickeln ϕ um t = 0 und entnehmen den Formeln (7.4), (7.2) und(7.6) aus Kap. 3:

ϕ(t) =

s∑k=0

ϕ(k)(0)

k!tk +

ϕ(s+1)(ϑt)

(s+ 1)!ts+1

mit beliebigem t ∈ [0, 1] und geeignetem ϑ = ϑ(t) ∈ (0, 1). Insbesondere fur t = 1folgt also mit y := x0 + ϑ(x− x0) = x0 + ϑh aus (4.1):

f(x) =

s∑k=0

1

k!dkf(x0)(x− x0) +

1

(s+ 1)!ds+1(y)(x− x0),

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Insbesondere fur s = 1 haben wir mit h := x− x0 (vgl. Formel (3.4)):

f(x) = d0f(x0)(h) + d1f(x0)(h) +1

2d2f(y)(h)

= f(x0) +

n∑j=1

fxj (x0)hj +1

2

n∑i,j=1

fxixj (x0 + ϑh)hihj

= f(x0) + ⟨∇f(x0), h⟩+1

2

⟨h,Hf (x0 + ϑh)h

⟩.

(4.2)

mit der Hessematrix Hf = (fxixj )i,j=1,...,n.

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4. TAYLORFORMEL UND LOKALE EXTREMA 179

2. Analog zu Folgerung 7.1 in Kap. 3 konnen wir aus Satz 4.1 qualitativ schließen:Gilt f ∈ Cs(Ω) und ist x0 ∈ Ω gewahlt, so folgt

f(x) = ps(x) + o(|x− x0|s) fur x→ x0. (4.3)

Zum Beweis wenden wir Satz 4.1 mit s − 1 statt s an: Fur x ∈ Br(x0) ⊂ Ωschreiben wir

f(x) = ps−1(x) +Rs−1(x) = ps(x) +1

s!

[dsf(y)(x− x0)− dsf(x0)(x− x0)

].

Mit h = x− x0 folgt die Behauptung aus

|dsf(y)(h)− dsf(x0)(h)||h|s

≤n∑

j1,...,js=1

∣∣Dj1 . . . Djsf(y)−Dj1 . . . Djsf(x0)∣∣

→ 0 (x→ x0).

Wir betrachten nun Extremwertaufgaben zur Bestimmung von Minima und Ma-xima einer Funktion mit n ∈ N Veranderlichen. In Analogie zu Definition 2.1 ausKap. 3 benutzen wir die

Definition 4.1: Sei Ω ⊂ Rn offen und f : Ω → R erklart. Dann besitzt f in x0 ∈ Ωein lokales Minimum (bzw. lokales Maximum), wenn ein r > 0 so existiert, dassBr(x

0) ⊂ Ω und

f(x0) ≤ f(x) (bzw. f(x0) ≥ f(x) ) fur alle x ∈ Br(x0) (4.4)

erfullt ist. Gilt in (4.4) die strikte Ungleichung fur x = x0, so hat f in x0 einstriktes lokales Minimum (bzw. Maximum). Falls schließlich (4.4) fur alle x ∈ Ωerfullt ist, sprechen wir von einem globalen Minimum (bzw. globalen Maximum)und bei strikter Ungleichung fur x = x0 von einem strikten globalen Minimum(bzw. Maximum).

Als Synonym fur lokal bzw. global benutzen wir auch relativ bzw. absolut. Undwir sprechen allgemein von Extrema, wenn wir Minima und Maxima untersuchen.Der entsprechende Punkt x0 ∈ Ω heißt Minimal-,Maximal- oder Extremalstelle oderauch Minimierer bzw. Maximierer. Schließlich sprechen wir statt von strikten auchvon isolierten Extrema.

Satz 4.2: (Notwendige Bedingung 1. Ordnung)Eine Funktion f ∈ C1(Ω) besitze in x0 ∈ Ω ein lokales Extremum. Dann gilt

∇f(x0) = 0.

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180 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Bemerkung: Ein Punkt x0 ∈ Ω heißt kritischer Punkt von f ∈ C1(Ω), falls ∇f(x0) =0 gilt. Satz 4.2 besagt also: Lokale Extremstellen in Ω sind notwendig kritische Punk-te.

Beweis von Satz 4.2: Sei r > 0 mit Br(x0) ⊂ Ω und Eigenschaft (4.4) gewahlt. Fur

j ∈ 1, . . . , n besitzen dann die Funktionen

φj(t) := f(x01, . . . , x0j−1, t, x

0j+1, . . . x

0n), t ∈ (x0j − r, x0j + r),

in x0j ebenfalls lokale Extrema. Wegen φj ∈ C1((x0j − r, x0j + r)) liefert also FermatsSatz

fxj (x0) = φ′

j(x0j ) = 0, j = 1, . . . , n,

wie behauptet. q.e.d.

Als Anwendung betrachten wir nun reelle, symmetrische n × n-Matrizen A =(ajk)j,k=1,...,n. Ein Vektor ξ ∈ Rn \ 0 heißt Eigenvektor von A zum Eigenwertλ ∈ R, wenn gilt

Aξ = λξ.

(ξ als Spaltenvektor interpretiert). Durch Normierung kann man o.B.d.A. ξ ∈ Sn−1

annehmen.

Satz 4.3: Fur jede reelle, symmetrische Matrix A = (ajk)j,k=1,...,n ist

λ := supη∈Rn\0

⟨η,Aη⟩|η|2

ein Eigenwert.

Beweis: Wir betrachten die Funktion

f(η) :=⟨η,Aη⟩|η|2 , η ∈ Rn \ 0,

und berechnen

∇f(η) = 2

|η|2(Aη − f(η)η

). (4.5)

Wir bemerken weiter, dass f entlang der Strahlen λη : λ > 0 fur jedes η ∈ Rn \ 0 konstant ist:

f(λη) =⟨λη,A(λη)⟩

|λη|2 =⟨η,Aη⟩|η|2 = f(η), (4.6)

d.h. f ist positiv homogen vom Grad 0 auf Rn\0. Auf der kompakten Menge Sn−1 ⊂ Rn\0 nimmtnun f in einem Punkt ξ ∈ Sn−1 ihr Maximum an nach demWeierstraßschen Hauptlehrsatz. Sei ε > 0beliebig und η ∈ Rn \ 0 gewahlt mit f(η) ≥ λ− ε (beachte die Definition λ = supη∈Rn\0 f(η)).Aus (4.6) folgt dann

λ− ε ≤ f(η)(4.6)= f

( η|η|

)≤ f(ξ) ≤ λ,

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4. TAYLORFORMEL UND LOKALE EXTREMA 181

also f(ξ) = λ, da ε > 0 beliebig war. Somit ist ξ ∈ Sn−1 (globaler) Maximalpunkt von f auf Rn\0und Satz 4.2 liefert ∇f(ξ) = 0. Formel (4.5) entnehmen wir schließlich

Aξ = f(ξ)ξ = λξ,

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Wir schreiben λ1 := λ fur den in Satz 4.3 konstruierten Eigenwert undξ1 ∈ Sn−1 fur den zugehorigen normierten Eigenvektor. Indem man anschließend dasMaximierungsproblem λ2 := supη∈U\0 f(η) auf dem Unterraum U := η ∈ Rn :⟨η, ξ1⟩ = 0 senkrecht zu ξ1 betrachtet, den man durch Wahl einer Orthonormalbasismit dem Rn−1 identifiziert, entnimmt man Satz 4.3 die Existenz eines Eigenvektorsξ2 ∈ Sn−1 ∩ U zum Eigenwert λ2 ≤ λ1, fur den dann gilt

Aξ2 = λ2ξ2, ⟨ξ2, ξ1⟩ = 0.

Durch Fortsetzung des Verfahrens erhalten wir die

Folgerung 4.1: Zu jeder reellen, symmetrischen n × n-Matrix A = (ajk)j,k=1,...,n

existieren n Eigenvektoren ξ1, . . . , ξn und n Eigenwerte λ1 ≥ λ2 ≥ . . . ≥ λn mitAξj = λjξj fur j = 1, . . . , n. Die Eigenvektoren ξ1, . . . , ξn bilden eine Orthonor-malbasis des Rn, d.h.

⟨ξj , ξk⟩ = δjk :=

1, falls j = k

0, falls j = k.

Bemerkung: Offenbar ist λ genau dann Eigenwert von A, wenn das homogene lineareGleichungssystem

(A− λE)ξ = 0

mit der Einheitsmatrix E eine nichttriviale Losung ξ ∈ Rn \ 0 besitzt, was be-kanntlich aquivalent zur Forderung

det(A− λE) = 0

ist. Die linke Seite ist ein Polynom n-ten Grades in λ, das charakteristische Polynom,welches also nach Folgerung 4.1 fur symmetrisches A ausschließlich reelle Nullstellenbesitzt.

Die Rolle der zweiten Ableitung bei Extremwertaufgaben fur Funktionen einerVeranderlichen ubernimmt nun die Hessematrix Hf . Fur das Folgende benotigen wirnoch die

Definition 4.2: Eine reelle, symmetrische n × n-Matrix A heißt positiv definit(i.Z. A > 0), wenn gilt

⟨η,Aη⟩ > 0 fur alle η ∈ Rn \ 0.

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182 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

A heißt positiv semidefinit (i.Z. A ≥ 0), wenn gilt

⟨η,Aη⟩ ≥ 0 fur alle η ∈ Rn.

Ferner nennen wir A negativ definit bzw. negativ semidefinit (i.Z. A < 0 bzw. A ≤0), falls −A > 0 bzw. −A ≥ 0 erfullt ist. Schließlich heißt A indefinit, wenn ⟨η,Aη⟩sowohl positive als auch negative Werte annimmt.

Aus dieser Definition und Folgerung 4.1 erhalten wir nun die

Folgerung 4.2: Ist A eine reelle, symmetrische n× n-Matrix und sind λ1 ≥ . . . ≥λn ihre zugehorigen Eigenwerte, so gilt

A > 0 (≥ 0) ⇐⇒ λn > 0 (≥ 0), (4.7)

A < 0 (≤ 0) ⇐⇒ λ1 < 0 (≤ 0), (4.8)

A indefinit ⇐⇒ λn < 0 und λ1 > 0. (4.9)

Beweis: Es bezeichne ξj ∈ Sn−1 den zu λj gehorigen Eigenvektor. Dann konnen wir jedes η ∈ Rnschreiben als

η =n∑j=1

cjξj mit cj := ⟨η, ξj⟩,

denn ξ1, . . . , ξn bilden eine Orthonormalbasis des Rn. Es folgt

⟨η,Aη⟩ =

n∑j,k=1

cjck⟨ξj , Aξk⟩

=n∑

j,k=1

cjckλk⟨ξj , ξk⟩

=

n∑j=1

λjc2j = λ1c

21 + . . .+ λnc

2n.

(4.10)

Ist nun A > 0, so wahlen wir in (4.10) speziell η = ξn. Dann folgt ⟨ξn, Aξn⟩ = λn > 0. Giltumgekehrt λn > 0, so entnehmen wir (4.10) fur beliebiges η ∈ Rn \ 0:

⟨η,Aη⟩ ≥ λn

n∑k=1

c21 = λn|η|2 > 0.

Entsprechend sieht man A ≥ 0 ⇔ λn ≥ 0. Die Aussagen (4.8) folgen aus (4.7), da λj genau dannEigenwert von A ist, wenn −λj Eigenwert von −A ist. Ist schließlich A indefinit und η ∈ Rn \ 0mit ⟨η,Aη⟩ > 0 gewahlt, so folgt wiederum aus (4.10):

0 < ⟨η,Aη⟩ ≤ λ1|η|2,

also λ1 > 0. Entsprechend sieht man λn < 0 durch Wahl eines η ∈ Rn \ 0 mit ⟨η,Aη⟩ < 0. Sindumgekehrt λn < 0 und λ1 > 0, so folgt ⟨ξn, Aξn⟩ = λn < 0 und ⟨ξ1, Aξ1⟩ = λ1 > 0, d.h. A istindefinit. Damit ist alles gezeigt.

q.e.d.

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4. TAYLORFORMEL UND LOKALE EXTREMA 183

Beispiel (n = 2): Ist A =

(a bb c

)eine reelle, symmetrische 2 × 2-Matrix, so ist

λ ∈ R genau dann Eigenwert von A, wenn gilt

0 = det(A− λE) = λ2 − (a+ c)λ+ ac− b2.

Es folgt

λ1 + λ2 = a+ c, λ1λ2 = ac− b2 = detA,

z.B. aus der”p-q-Formel“. Wir entnehmen also Folgerung 4.2 die

Folgerung 4.3: Fur eine reelle Matrix A =

(a bb c

)gilt:

A > 0 ⇐⇒ detA > 0 und a > 0,

A < 0 ⇐⇒ detA > 0 und a < 0,

A ≥ 0 oder A ≤ 0 ⇐⇒ detA ≥ 0,

A indefinit ⇐⇒ detA < 0.

Satz 4.4: (Notwendige Bedingung 2.Ordnung)Eine Funktion f ∈ C2(Ω) nehme in x0 ∈ Ω ⊂ Rn ihr Minimum (bzw. Maximum)an. Dann gilt fur die Hessematrix

Hf (x0) =

(fxjxk(x

0))j,k=1,...,n

≥ 0 (bzw. Hf (x0) ≤ 0).

Beweis: Nach Satz 4.2 wissen wir ∇f(x0) = 0. Sei nun x0 Minimalpunkt, so existiertein r > 0 mit Br(x

0) ⊂ Ω und f(x) ≥ f(x0) fur alle x ∈ Br(x0). Die Taylorentwick-

lung in (4.2) liefert also mit h := x− x0:

0 ≤ f(x)− f(x0) =1

2⟨h,Hf (x

0 + ϑh)h⟩ fur alle h ∈ Rn : |h| < r

fur ein ϑ = ϑ(h) ∈ (0, 1). Ist nun η ∈ Rn beliebig, so setzen wir h := tη mithinreichend kleinem t > 0 und erhalten

0 ≤ limt→0+

⟨η,Hf (x0 + ϑtη)η⟩ = ⟨η,Hf (x

0)η⟩,

also Hf (x0) ≥ 0. Entsprechend zeigt man Hf (x

0) ≤ 0 fur Maximierer. q.e.d.

Satz 4.5: Es sei f ∈ C2(Ω), x0 ∈ Ω kritischer Punkt und in Br(x0) ⊂ Ω gelte Hf ≥

0 (bzw. Hf > 0, Hf ≤ 0, Hf < 0). Dann ist x0 lokaler Minimierer (bzw. strikterlokaler Minimierer, lokaler Maximierer, strikter lokaler Maximierer) von f .

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184 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Beweis: Wie im Beweis von Satz 4.4 entnehmen wir Formel (4.2):

f(x)− f(x0) =1

2⟨h,Hf (x

0 + ϑh)h⟩ fur alle h ∈ Rn : |h| < r

mit ϑ = ϑ(h) ∈ (0, 1). Aus Hf ≥ 0 in Br(x0) folgt also f(x) ≥ f(x0) fur alle

x ∈ Br(x0), d.h. x0 ist lokaler Minimierer von f . Analog ergeben sich die ubrigen

Aussagen.q.e.d.

Satz 4.6: (Hinreichende Bedingung)Sei x0 ∈ Ω kritischer Punkt der Funktion f ∈ C2(Ω) und es gelte Hf (x

0) > 0(bzw. Hf(x0) < 0). Dann besitzt f in x0 ein striktes lokales Minimum (bzw. Maxi-mum).

Bemerkung: Fur den Beweis ist es hilfreich einer reellen Matrix A = (aij)i,j ihreEuklidische Lange zuzuordnen:

|A| :=(∑

i,j

a2ij

) 12

.

Dann gilt fur beliebige A ∈ Matn,m(R) und y ∈ Rm:

|Ay| ≤ |A| |y|. (4.11)

Beweis von Satz 4.6: Wir zeigen, dass ein r > 0 existiert mit Br(x0) ⊂ Ω und Hf > 0 (bzw. Hf < 0)

in Br(x0); die Behauptung folgt dann aus Satz 4.5.

Sei also Hf (x0) > 0. Nach Folgerung 4.2 gilt dann λn > 0 fur den kleinsten Eigenwert von

Hf (x0). Und aus Formel (4.10) erhalten wir wieder

⟨η,Hf (x0)η⟩ ≥ λn

n∑k=1

c2k = λn|η|2 fur alle η ∈ Rn

und folglich

⟨η,Hf (x)η⟩ = ⟨η,Hf (x0)η⟩+

⟨η,(Hf (x)−Hf (x

0))η⟩

≥ λn|η|2 − |η|∣∣(Hf (x)−Hf (x

0))η∣∣

(4.11)

≥(λn − |Hf (x)−Hf (x

0)|)|η|2 fur alle η ∈ Rn, x ∈ Ω.

(4.12)

Wegen f ∈ C2(Ω) existiert ein r > 0 mit Br(x0) ⊂ Ω und

|Hf (x)−Hf (x0)| ≤ λn

2fur alle x ∈ Br(x

0).

Einsetzen in (4.12) ergibt also

⟨η,Hf (x)η⟩ ≥λn2|η|2 > 0 fur alle η ∈ Rn \ 0, x ∈ Br(x

0),

d.h. Hf > 0 in Br(x0). Der Fall Hf (x

0) < 0 wird entsprechend behandelt. q.e.d.

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5. INVERSE ABBILDUNGEN 185

5 Inverse Abbildungen

Ziel dieses Paragraphen ist der Beweis des folgenden

Satz 5.1: (Umkehrsatz)Sei Ω ⊂ Rn offen und f : Ω → Rn ∈ C1(Ω,Rn) gegeben. Falls dann fur ein x0 ∈ Ωgilt

Jf (x0) = detDf(x0) = 0,

so gibt es eine Umgebung U = U(x0) ⊂ Ω von x0, so dass U∗ := f(U) offen ist undf |U einen C1-Diffeomorphismus von U auf U∗ liefert.

Wir erinnern daran, dass eine (offene) Umgebung U = U(x0) eines Punktes x0

eine offene Menge ist, die x0 enthalt, und f |U die Einschrankung einer Funktionf : Ω → Rd auf eine Teilmenge U ⊂ Ω bezeichnet.

Obiger Satz 5.1 kann als lokale Umkehrung von Folgerung 1.1 interpretiert werdenund ist von grundlegender Bedeutung fur die gesamte Analysis (weshalb er auchFundamentalsatz uber die inverse Abbildung genannt wird). Er besagt, dass dasnichtlineare Gleichungssystem

f(x) = y, x ∈ Ω,

zumindest lokal um ein x0 ∈ Ω nach x eindeutig aufgelost werden kann, wenn diequadratische Matrix Df(x0) invertierbar ist; man vergleiche auch mit den entspre-chenden Aussagen uber lineare Gleichungssysteme aus der Linearen Algebra.

Wir werden Satz 5.1 durch Lokalisierung gewinnen aus dem folgenden

Satz 5.2: Bildet f ∈ C1(Ω,Rn) die offene Menge Ω ⊂ Rn bijektiv auf Ω∗ = f(Ω)ab und gilt Jf = 0 auf Ω, so ist Ω∗ offen und f ein C1-Diffeomorphismus von Ω aufΩ∗.

Fur eine ubersichtliche Darstellung des Beweises ist es sinnvoll, an dieser Stellefolgende wichtige Bezeichnungen einzufuhren:

Definition 5.1:

(i) Eine Abbildung f : Ω → Rn heißt offen, wenn das Bild f(Ω′) jeder offenenTeilmenge Ω′ von Ω wieder offen ist.

(ii) f : Ω → Rn heißt Lipschitzstetig, wenn eine Konstante L ≥ 0 existiert, sodass gilt

|f(x)− f(y)| ≤ L|x− y| fur alle x, y ∈ Ω.

L ist die zugehorige Lipschitzkonstante.

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186 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

(iii) f : Ω → Rn ∈ C1(Ω,Rn) heißt regular in x0 ∈ Ω, wenn Jf (x0) = 0 gilt. f

heißt regular (in Ω), wenn f in jedem Punkt x0 von Ω regular ist.

Bemerkungen:

1. Die Definitionen (i) und (ii) machen naturlich auch Sinn, wenn Bild– undUrbilddimension nicht ubereinstimmen.

2. Eine Abbildung f : Ω → Rn ist genau dann offen, wenn es zu jedem x0 ∈ Ωeine Kugel Bδ(x

0) ⊂ Ω so gibt, dass zu jedem r ∈ (0, δ) ein ϱ > 0 existiert mit

Bϱ(f(x0)

)⊂ f

(Br(x

0)).

3. Jede Lipschitzstetige Abbildung ist auch stetig.

4. Mit den Bezeichnungen aus Definition 5.1 besagt nun Satz 5.2:

Jede injektive, regulare Abbildung f ∈ C1(Ω,Rn) ist ein C1-Diffeomorphismusvon Ω auf f(Ω) und außerdem offen.

Wir beginnen den Beweis von Satz 5.2 mit dem folgenden

Hilfssatz 5.1: Die Abbildung f ∈ C1(Ω,Rn) sei in x0 ∈ Ω regular. Dann gibt eseine offene Umgebung U = Bδ(x

0) ⊂ Ω von x0, auf der f injektiv ist, d.h. f |U istinvertierbar. Die Inverse g := (f |U )−1 ist dann Lipschitzstetig.

Beweis: Wir betrachten die Funktion

ψ(x) := f(x)− f(x0)−Df(x0) (x− x0), x ∈ Ω.

Dann gilt ψ ∈ C1(Ω,Rn) und Dψ(x0) = 0. In einer Kugel BR(x0) ⊂ Ω liefert

Hadamards Lemma

ψ(x)− ψ(x′) = A (x− x′), x, x′ ∈ BR(x0), (5.1)

mit

A :=

1∫0

Dψ(x′ + t(x− x′)

)dt.

Wegen Dψ(x0) = 0 und der Stetigkeit von Dψ existiert zu beliebigem µ > 0 einδ ∈ (0, R) mit der Eigenschaft

|Dψ(x)| ≤ µ fur alle x ∈ Bδ(x0), (5.2)

so dass |A| ≤ µ fur beliebige x, x′ ∈ Bδ(x0) folgt, und (5.1) liefert

|ψ(x)− ψ(x′)| ≤ |A| |x− x′| ≤ µ|x− x′| fur alle x, x′ ∈ Bδ(x0).

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5. INVERSE ABBILDUNGEN 187

Der Definition von ψ entnehmen wir

ψ(x)− ψ(x′) = f(x)− f(x′)−Df(x0)(x− x′)

und somit

|f(x)− f(x′)| = |ψ(x)− ψ(x′) +Df(x0) (x− x′)|≥ |Df(x0) (x− x′)| − µ|x− x′| fur alle x, x′ ∈ Bδ(x

0).(5.3)

Wegen Jf (x0) = 0 ist Df(x0) invertierbar. Wir erhalten

|x− x′| = |Df(x0)−1 Df(x0)(x− x′)| ≤ |Df(x0)−1| |Df(x0) (x− x′)|

bzw.

|Df(x0) (x− x′)| ≥ |x− x′||Df(x0)−1|

.

Wahlen wir in (5.2) speziell µ := 12|Df(x0)−1| > 0 und setzen die letzte Abschatzung

in (5.3) ein, so folgt schließlich

|f(x)− f(x′)| ≥ µ|x− x′| fur alle x, x′ ∈ Bδ(x0). (5.4)

Also ist f |Bδ(x0) bijektiv mit Bild V := f(Bδ(x0)), und fur die Inverse g = g(y) :

V → Rn gilt|g(y)− g(y′)| ≤ µ−1|y − y′| fur alle y, y′ ∈ V,

d.h. g ist Lipschitzstetig mit L = µ−1. q.e.d.

Hilfssatz 5.2: Ist f ∈ C1(Ω,Rn) regular, so ist f auch offen.

Beweis: Wir fixieren x0 ∈ Ω und wahlen δ > 0 mit Bδ(x0) ⊂ Ω wie im Beweis von Hilfssatz 5.1, so

dass (5.4) erfullt ist. Zu beliebigem r ∈ (0, δ) setzen wir dann ϱ := µr2> 0 und wollen zeigen, dass

Bϱ(f(x0)

)⊂ f

(Br(x

0))

gilt. Dann ist f nach obiger Bemerkung 1 offen.Sei also y ∈ Bϱ(f(x

0)) beliebig. Wir haben zu zeigen, dass dann ein ξ ∈ Br(x0) mit f(ξ) = y

existiert. Hierzu erklaren wir die Funktion

F (x) := |f(x)− y|2, x ∈ Br(x0).

Offenbar gilt F ∈ C1(Br(x0)). Nach dem Weierstraßschen Hauptlehrsatz existiert also ein ξ ∈Br(x0) mit

F (ξ) = infBr(x0)

F.

Wir zeigen ξ ∈ Br(x0), d.h. ξ ist innerer Punkt. Ware namlich ξ ∈ ∂Br(x

0), so folgte

|f(ξ)− y| ≥ |f(ξ)− f(x0)| − |f(x0)− y|(5.4)

≥ µ|ξ − x0| − |f(x0)− y| > µr − ϱ = ϱ,

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188 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

also F (ξ) = |f(ξ)− y|2 > ϱ2 im Widerspruch zu F (x0) < ϱ2. Nun gilt fur die innere Minimalstelleξ ∈ Br(x

0) notwendig∇F (ξ) = 2Df(ξ) (f(ξ)− y) = 0.

Da aber Df in Ω invertierbar ist, muss somit f(ξ)− y = 0 bzw. f(ξ) = y gelten, wie behauptet.q.e.d.

Wir kommen nun zum

Beweis von Satz 5.2: Sei also f ∈ C1(Ω,Rn) regular und injektiv mit Bild f(Ω) = Ω∗.Nach Hilfssatz 5.2 ist dann Ω∗ offen und es bleibt g := f−1 : Ω∗ → Rn ∈ C1(Ω∗,Rn)nachzuweisen. Hierzu fixieren wir y0 ∈ Ω∗ beliebig und zeigen, dass fur alle k ∈ Rnmit y0 + k ∈ Ω∗ die Darstellung

g(y0 + k) = g(y0) +A k +R(k) mit R(k) = o(|k|) fur k → 0 (5.5)

gilt, wobei A := Df(x0)−1 mit x0 := g(y0) ∈ Ω erfullt ist. Dann ist also g in y0 totaldifferenzierbar und es gilt Dg(y0) = Df(x0)−1; insbesondere ist g also auch stetigin y0. Und da y0 ∈ Ω∗ beliebig gewahlt war, folgt

Dg(y) = Df(g(y))−1 fur alle y ∈ Ω∗.

Schließlich ist auch (Df)−1 stetig auf Ω = g(Ω∗) und somit g ∈ C1(Ω,Rn).Zu zeigen bleibt (5.5): Hierzu setzen wir

h := g(y0 + k)− g(y0) = g(y0 + k)− x0

und beachten x0+h = g(y0+k) ∈ Ω. Wegen f ∈ C1(Ω,Rn) gilt dann nach Satz 2.6:

f(x0 + h) = f(x0) +Df(x0)h+ R(h)

mit einem R(h) = o(|h|) fur h→ 0. Umstellen liefert sofort (5.5) mit

R(k) := −AR(h) = −Df(x0)−1R(g(y0 + k)− x0

).

Wir zeigen schließlich noch R(k) = o(|k|) fur k → 0. Dazu bemerken wir, dass nachHilfssatz 5.1 ein ε > 0 mit Bε(y

0) ⊂ Ω∗ so existiert, dass

|g(y)− g(y′)| ≤ L|y − y′| fur alle y, y′ ∈ Bε(y0)

erfullt ist mit einer Lipschitzkonstanten L > 0. Folglich erhalten wir

|h| = |g(y0 + k)− g(y0)| ≤ L|k| fur alle k ∈ Rn mit |k| < ε.

Somit ergibt sich ∣∣∣R(k)|k|

∣∣∣ ≤ |A| |R(h)||k|

≤ |A|L∣∣∣R(h)|h|

∣∣∣→ 0 (k → 0),

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6. DER SATZ UBER IMPLIZITE FUNKTIONEN 189

wie behauptet. Damit ist alles bewiesen. q.e.d.

Beweis des Umkehrsatzes: Nach Hilfssatz 5.1 gibt es eine Umgebung Bδ(x0) ⊂ Ω

von x0 ∈ Ω, auf der f injektiv ist. Da Jf stetig ist und Jf (x0) = 0 gilt, konnen

wir ε ∈ (0, δ) so wahlen, dass Jf = 0 in U := Bε(x0) erfullt ist. Dann ist also

f |U regular und injektiv, und nach Satz 5.2 ist U∗ := f(U) offen und f |U ein C1-Diffeomorphismus von U auf U∗.

q.e.d.

Im nachsten Paragraphen werden wir eine Anwendung des Umkehrsatzes auf

”implizit definierte Funktionen“ und, darauf aufbauend, auf Extremwertaufgabenmit Nebenbedingungen kennenlernen. Wir beschließen diesen Paragraphen mit dereinfachen

Folgerung 5.1: Sei Ω ⊂ Rn offen und fur s ≥ 1 sei f ∈ Cs(Ω,Rn) regular undinjektiv mit dem Bild Ω∗ = f(Ω). Dann folgt f−1 ∈ Cs(Ω∗,Rn).

Beweis: Nach Satz 5.2 ist f zunachst ein C1-Diffeomorphismus. Folgerung 1.1 ent-nehmen wir dann (siehe auch den Beweis von Satz 5.2):

Df−1(y) = Df(f−1(y)

)−1fur alle y ∈ Ω∗.

Durch sukzessives Differenzieren ergibt sich daraus f−1 ∈ Cs(Ω∗,Rn).q.e.d.

Definition 5.2: Eine injektive Abbildung f : Ω → Rn ∈ Cs(Ω,Rn) heißt Cs-Diffeo-morphismus von Ω ⊂ Rn auf f(Ω) fur ein s ∈ N, wenn auch f−1 : f(Ω) → Rn zurKlasse Cs(f(Ω),Rn) gehort.

Bemerkung: Folgerung 5.1 zeigt also insbesondere, dass unter den Voraussetzungenvon Satz 5.1 die Einschrankung f |U ein Cs-Diffeomorphismus von U auf f(U) ist,falls zusatzlich f ∈ Cs(Ω,Rn) vorausgesetzt wird.

6 Der Satz uber implizite Funktionen, Mannigfaltigkei-ten im Rn und Extrema mit Nebenbedingungen

Wir betrachten zunachst allgemein das folgende Problem: Es seien n, d ∈ N undf = f(x) : Ω → Rd ∈ C1(Ω,Rd) gegeben auf der offenen Menge Ω ⊂ Rn, wobein = m + d mit einem m ∈ N gelte. Wir zerlegen x = (x1, . . . , xn) in die erstenm Komponenten (x1, . . . , xm) =: (y1, . . . , ym) = y und die letzten d Komponenten(xm+1, . . . , xn) =: (z1, . . . , zd) = z, d.h. wir haben

f = f(y, z) = f(y1, . . . , ym, z1, . . . , zd), (y, z) ∈ Ω.

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190 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Die Frage ist nun: Unter welchen Voraussetzungen lasst sich die Losung der Glei-chung

f(y, z) = 0 fur (y, z) ∈ Ω (6.1)

zumindest lokal (eindeutig) in der Form z = φ(y) darstellen. Genauer: Wann existiertzu einem (y0, z0) ∈ Ω mit f(y0, z0) = 0 eine Umgebung U = U(y0) ⊂ Rm und eineFunktion φ = φ(y) : U → Rd, so dass sich alle Losungen von (6.1) in einer UmgebungW =W (y0, z0) ⊂ Ω in der Form (y, φ(y)), y ∈ U , darstellen lassen. Dann gilt also

f(y, φ(y)) = 0, y ∈ U. (6.2)

Man sagt, Gleichung (6.1) sei dann lokal nach z aufgelost und die Funktion z = φ(y)ist durch die Gleichung (6.1) implizit definiert.

Beispiel: Wir betrachten die Funktion f = f(y, z) := y2 + z2 − 1, (y, z) ∈ R2

(d.h.m = d = 1, n = 2). Die Gleichung f = 0 beschreibt naturlich den Einheitskreis.Ist nun (y0, z0) ein Punkt auf dem Einheitskreis, d.h. f(y0, z0) = 0, so lasst sich dieGleichung f = 0 lokal um (y0, z0) nach z auflosen, falls y0 ∈ (−1, 1) gilt. Dann habenwir

z = φ(y) =

√1− y2, falls z0 > 0

−√

1− y2, falls z0 < 0

und (6.2) gilt fur y ∈ U = (−1, 1). Fur y0 = ±1 existiert keine Umgebung U = U(y0),so dass f lokal nach z aufgelost werden kann. Wir bemerken

fz(y0, z0) = 2z0

= 0, fur y0 ∈ (−1, 1)

= 0, fur y0 = ±1

Wir konnen also f = 0 lokal um (y0, z0) nach z auflosen, falls fz(y0, z0) = 0 gilt.

Diese Bedingung bzw. ihr hoherdimensionales Analogon wird sich auch allgemeinals hinreichend erweisen:

Satz 6.1: (Satz uber implizite Funktionen)Fur s ∈ N sei f = f(y, z) = f(y1, . . . , ym, z1, . . . , zd) : Ω → Rd ∈ Cs(Ω,Rd) auf deroffenen Menge Ω ⊂ Rn mit n = m+ d gegeben. Fur einen Punkt (y0, z0) ∈ Ω gelte

f(y0, z0) = 0, detDzf(y0, z0) = 0,

wobei wir

Dzf :=

f1z1 . . . f1zd...

. . ....

fdz1 . . . fdzd

gesetzt haben. Dann gibt es eine Umgebung U = U(y0) ⊂ Rm und eine UmgebungW = W (y0, z0) ⊂ Ω so, dass die Gleichung f(y, z) = 0 fur jedes y ∈ U genau eine

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6. DER SATZ UBER IMPLIZITE FUNKTIONEN 191

Losung (y, z) ∈ W besitzt. Die so erklarte Funktion z = φ(y) : U → Rd gehortdann zur Klasse Cs(U,Rd) und die Losungsmenge der Gleichung f = 0 in W hatdie Darstellung

(y, φ(y)) : y ∈ U = graphφ.

Beweis: Wir erweitern f = f(y, z) zur Abbildung F = F (y, z) := (y, f(y, z)) ∈Cs(Ω,Rn). Wir haben also die Zuordnung

F : Ω ⊂ Rn → Rn, (y, z) 7→ (y, ζ) :=(y, f(y, z)

). (6.3)

Schreiben wir noch

Dyf :=

f1y1 . . . f1ym...

. . ....

fdy1 . . . fdym

,

so folgt fur die Jacobimatrix von F :

DF (y, z) =

(E O

Dyf(y, z) Dzf(y, z)

),

wobei E die m×m–Einheitsmatrix und O die m× d–Nullmatrix ist. Es folgt also

JF (y, z) = detDF (y, z) = detDzf(y, z)

und insbesondere JF (y0, z0) = 0. Nach dem Umkehrsatz, Satz 5.1, und Folgerung 5.1

gibt es nun eine Umgebung W =W (y0, z0) ⊂ Ω, so dass F |W ein Cs-Diffeomorphis-mus auf die offene Menge W ∗ := F (W ) ist. Die Umkehrabbildung F−1 : W ∗ →Rn ∈ Cs(W ∗,Rn) gibt uns also eine Zuordnung

W ∗ ∋ (y, ζ) 7→ (y, z) =:(y, g(y, ζ)

)∈ Rn (6.4)

mit einer Funktion g = g(y, ζ) ∈ Cs(W ∗,Rd). Formeln (6.3) und (6.4) zeigen insbe-sondere

f(y, z) = 0 ⇔ z = g(y, 0) fur (y, z) ∈W.

Setzen wir also U = y ∈ Rn : (y, 0) ∈ W und φ(y) := g(y, 0) ∈ Cs(U,Rd), so istalles gezeigt.

q.e.d.

Bemerkung: Aus der Relation f(y, φ(y)) = 0 fur y ∈ U folgt noch mit der Kettenregel

0 = Dyf(y, φ(y)) +Dzf(y, φ(y)) Dφ(y)

bzw.Dφ(y) = −Dzf(y, φ(y))

−1 Dyf(y, φ(y)), y ∈ U, (6.5)

wenn wir U = U(y0) hinreichend klein wahlen.

Wir wollen noch eine geometrische Interpretation des Satzes uber implizite Funk-tionen anfugen. Hierzu benotigen wir die

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192 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Definition 6.1: (Gleichungsdefinierte Mannigfaltigkeiten)Sei Ω ⊂ Rn offen und sei d ∈ N gegeben mit m := n − d ∈ N. Eine Menge M ⊂ Ωheißt m-dimensionale (gleichungsdefinierte) Mannigfaltigkeit der Klasse Cs, s ∈ N,wenn eine Funktion f = f(x) : Ω → Rd ∈ Cs(Ω,Rd) mit der Eigenschaft

rangDf(x) = d fur alle x ∈ Ω mit f(x) = 0

so existiert, dass giltM =

x ∈ Ω : f(x) = 0

⊂ Rn.

m ist die Dimension, d = n−m die Kodimension von M .

Bemerkung: Die Bedingung rangDf = d muss also auf M gelten. Wir werdeni.F. kurz von Mannigfaltigkeiten statt von gleichungsdefinierten Mannigfaltigkeitensprechen. Mannigfaltigkeiten sind die naturlichen zu untersuchenden Objekte in der

”Differentialgeometrie“; mit ihnen lassen sich insbesondere Kurven und Flachen imR3 beschreiben (siehe obiges Beispiel der Kreislinie).

Beispiel: Ist Θ ⊂ Rm offen und φ = φ(y) : Θ → Rd ∈ Cs(Θ,Rd) eine beliebigeFunktion. Setzen wir dann n := m+ d, Ω := Θ× Rd ⊂ Rn und

f(x) := z − φ(y), x := (y, z) ∈ Ω,

so ist M := x ∈ Ω : f(x) = 0 = graphφ ⊂ Rn eine m-dimensionale Mannigfal-tigkeit der Klasse Cs, denn es gilt fzj = ej , j = 1, . . . , d, und folglich rangDf = dauf M . Jeder Graph einer Funktion der Klasse Cs ist also eine Mannigfaltigkeit derKlasse Cs. Umgekehrt liefert Satz 6.1 die nachstehende

Folgerung 6.1: Jede m-dimensionale Mannigfaltigkeit M ⊂ Rn der Klasse Cs,m < n, lasst sich lokal als Graph einer Funktion φ : U → Rd ∈ Cs(U,Rd) mitd = n−m und U ⊂ Rm schreiben.

Beweis: Sei x0 ∈M gewahlt, insbesondere gilt also

f(x0) = 0 und rangDf(x0) = d.

Durch eventuelle Umbezeichnung der Koordinaten konnen wir o.B.d.A. annehmen:

det(Dm+1f(x

0), . . . , Dnf(x0))= 0.

Schreiben wir wieder x = (y, z) = (y1, . . . , ym, z1, . . . , zd), so folgt

f(y0, z0) = 0, detDzf(y0, z0) = 0.

Also konnen wir Satz 6.1 anwenden: Wir finden Umgebungen W =W (x0) ⊂ Ω undU = U(y0) ⊂ Rm sowie eine Funktion φ = φ(y) ∈ Cs(U,Rd), so dass gilt

M ∩W = (y, φ(y)) : y ∈ U = graphφ,

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6. DER SATZ UBER IMPLIZITE FUNKTIONEN 193

wie behauptet. q.e.d.

Beispiel: Seien Ω = R3 und fc(x, y, z) := x2+ y2− z2− c mit einer Konstante c ∈ R;also gilt d = 1, n = 3 und somit m = n− d = 2. Wir berechnen

∇fc(x, y, z) = 2(x, y,−z).

Also istMc := (x, y, z) ∈ R3 : fc(x, y, z) = 0 genau dann 2-dimensionale Mannig-faltigkeit (der Klasse C∞), wenn c = 0 gilt, da genau dann ∇fc = 0 (d.h. rangDfc =rang∇fc = 1) auf Mc gilt. Fur c = 0 ist M0 = (x, y, z) : z = ±

√x2 + y2 ein

Kegel. Um den Ursprung (0, 0, 0) mit ∇f0(0, 0, 0) = 0 lasst sich keine Umgebung alsGraph uber einer der Koordinatenebenen darstellen; (0, 0, 0) heißt singularer Punktvon M0.

Definition 6.2: (Tangential- und Normalraum)Es sei M ⊂ Rn eine m-dimensionale Mannigfaltigkeit der Klasse C1 mit Kodimen-sion d := n−m ∈ N.

(i) Ein Vektor v ∈ Rn heißt Tangentialvektor vonM im Punkt x ∈M , wenn eineKurve c : (−δ, δ) → Rn ∈ C1((−δ, δ),Rn) mit

c(0) = x, c(0) = v und c((−δ, δ)

)⊂M (6.6)

existiert. Die Menge aller solcher Vektoren heißt Tangentialraum TxM vonMim Punkt x.

(ii) Das orthogonale Komplement

T⊥x M :=

ξ ∈ Rn : ⟨ξ, v⟩ = 0 fur alle v ∈ TxM

heißt Normalraum von M in x; seine Elemente heißen Normalenvektoren vonM in x.

TxM (siehe Satz 6.2 (i) unten) und T⊥x M sind fur jedes x ∈M lineare Unterraume

des Rn mitTxM ⊕ T⊥

x M = Rn.

Es gilt nun der

Satz 6.2: Die m-dimensionale Mannigfaltigkeit M ⊂ Rn mit Kodimension d =n−m ∈ N sei gegeben durch M = x ∈ Ω : f(x) = 0 mit einem f = (f1, . . . , fd) ∈C1(Ω,Rd). Dann gelten fur alle x ∈M :

(i) TxM ist linearer Unterraum des Rn und dimTxM = m, dimT⊥x M = d.

(ii) T⊥x M = span∇f1(x), . . . ,∇fd(x).

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194 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

(iii) TxM = v ∈ Rn : Df(x)v = 0, d.h. TxM = Kern(df(x)

).

Beweis:

(i) Wir zeigen, dass TxM linear ist und dimTxM = m gilt; dann folgt sofort dimT⊥x M =

n−m = d.

Sei x0 ∈ M fixiert. Wir zerlegen wieder x = (y, z) = (y1, . . . , ym, z1, . . . , zd), wobei o.B.d.A.detDzf(y

0, z0) = 0 gelte. Wie in Folgerung 6.1 finden wir dann die lokale Graphendarstellung

M ∩W =(y, φ(y)) : y ∈ U

mit Umgebungen W =W (x0) ⊂ Ω, U = U(y0) ⊂ Rm und einer Funktion φ ∈ C1(U,Rd).

Sei nun c ∈ C1((−δ, δ),Rn) eine Kurve mit der Eigenschaft (6.6) fur x = x0 ∈ M undv ∈ Tx0M . Mit c := (c1, . . . , cm) ∈ C1((−δ, δ),Rm) haben wir dann fur hinreichend kleinesδ > 0 die Darstellung

c(t) =(c(t), φ(c(t))

), t ∈ (−δ, δ), (6.7)

und folglich

v = c(0) =(c(0), Dφ(y0) c(0)

). (6.8)

Umgekehrt definiert naturlich jede Kurve (6.7) einen Tangentialvektor v ∈ Tx0M durch (6.8).

Wahlen wir speziell c(t) = y0 + tej mit dem j-ten Einheitsvektor, j = 1, . . . ,m, so erhaltenwir die m linear unabhangigen Tangentialvektoren

vj :=(ej , Dφ(y

0)ej), j = 1, . . . ,m.

Wir behaupten nun Tx0M = spanv1, . . . , vm. Denn nach Obigem gehort ein v ∈ Rn genaudann zu Tx0M , wenn (6.8) fur eine geeignete Kurve c = (c, φ c) : (−δ, δ) → Rn gilt. Diesist aber aquivalent zu

v =

m∑j=1

cj(0)(ej , Dφ(y0)ej) =

m∑j=1

cj(0)vj ,

d.h. v ∈ spanv1, . . . , vm. Also ist Tx0M linear und es gilt dimTx0M = m.

(ii) Ist c = c(t) ∈ C1((−δ, δ),Rn) eine beliebige Kurve mit der Eigenschaft (6.6)fur x ∈M und v ∈ TxM , so folgt fur jede Komponentenfunktion fk von f :

0 =d

dtfk(c(t))

∣∣∣t=0

= ⟨∇fk(x), v⟩, k = 1, . . . , d.

Also gilt ∇f1(x), . . . ,∇fd(x) ∈ T⊥x M . Wegen rangDf(x) = d sind die Vek-

toren ∇f1(x), . . . ,∇fd(x) linear unabhangig, und wegen dimT⊥x M = d folgt

schließlich span∇f1(x), . . . ,∇fd(x) = T⊥x M .

(iii) Fur v ∈ TxM gilt nach (ii) ⟨∇fk(x), v⟩ = 0 fur k = 1, . . . , d bzw. Df(x)v = 0.Ist umgekehrt v ∈ Rn mit Df(x)v = 0 gewahlt, so folgt wiederum nach (ii)v ∈ (T⊥

x M)⊥ = TxM . Somit gilt TxM = v ∈ Rn : Df(x)v = 0 und alles istgezeigt.

q.e.d.

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6. DER SATZ UBER IMPLIZITE FUNKTIONEN 195

Beispiel: Die Einheitssphare Sn−1 = x ∈ Rn : |x| = 1 ⊂ Rn ist eine (n − 1)-dimensionale Mannigfaltigkeit der Klasse C∞. Fur f(x) := |x|2 − 1 ∈ C∞(Rn) giltnamlich Sn−1 = x ∈ Rn : f(x) = 0 und wir haben ∇f(x) = 2x = 0 fur allex ∈ Sn−1. Aus Satz 6.2 folgt nun

TxSn−1 =

v ∈ Rn : ⟨x, v⟩ = 0

,

T⊥x S

n−1 = spanx fur x ∈ Sn−1.

Wir wollen nun abschließend unser Wissen auf Extremwertaufgaben anwenden,die Nebenbedingungen unterliegen, und beginnen mit der folgenden Verallgemeine-rung von Definition 4.1 auf beliebige Mengen M ⊂ Rn:

Definition 6.3: Sei M ⊂ Rn beliebig und ϕ :M → R gegeben. Dann heißt x0 ∈Mlokale Minimalstelle (bzw. Maximalstelle) von ϕ, wenn es eine Kugel Br(x

0) ⊂ Rnso gibt, dass

ϕ(x0) ≤ ϕ(x) (bzw. ϕ(x0) ≥ ϕ(x)) fur alle x ∈M ∩Br(x0) (6.9)

erfullt ist. ϕ hat dann in x0 ein lokales Minimum (bzw. Maximum) oder, allgemein,ein lokales Extremum. Bei strikter Ungleichung (fur x = x0) sprechen wir wiedervon strikten lokalen Extrema.

Satz 6.3: (Extrema mit Nebenbedingungen, Lagrangesche Multiplikato-ren) Es sei ϕ : Ω → R ∈ C1(Ω) auf der offenen Menge Ω ⊂ Rn gegeben. Weiter seidurch

M =x ∈ Ω : f(x) = 0

fur eine Funktion f = (f1, . . . , fd) ∈ C1(Ω,Rd) eine m-dimensionale Mannigfaltig-keit mit m := n−d ∈ N erklart. Schließlich besitze die Einschrankung ϕ|M :M → Rin x0 ∈M ein lokales Extremum. Dann gibt es reelle Zahlen λ1, . . . , λd, so dass gilt

∇ϕ(x0) + λ1∇f1(x0) + . . .+ λd∇fd(x0) = 0, (6.10)

d.h. x0 ∈M ⊂ Ω ist kritischer Punkt der Funktion

ψ(x) := ϕ(x) + λ1f1(x) + . . .+ λdfd(x), x ∈ Ω. (6.11)

Die Zahlen λ1, . . . , λd heißen Langrange Multiplikatoren.

Bemerkung: Wegen Satz 6.2 (ii) besagt Satz 6.3: Notwendig fur eine Extremalstellex0 ∈ M von ϕ|M ist, dass der Vektor ∇ϕ(x0) Normalenvektor von M im Punkt x0

ist.

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196 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Beweis von Satz 6.3: Sei v ∈ Tx0M beliebig und c ∈ C1((−δ, δ),Rn) mit c(0) = x0,c(0) = v und c

((−δ, δ)

)⊂ M gewahlt. Der Satz von Fermat liefert dann nach

Einsetzen in ϕ:

0 =d

dtϕ(c(t))∣∣∣t=0

= ⟨∇ϕ(x0), v⟩.

Also ist ∇ϕ(x0) ∈ T⊥x0M richtig. Nach Satz 6.2 (ii) gibt es daher Zahlen µ1, . . . , µd ∈

R mit

∇ϕ(x0) =d∑

k=1

µk∇fk(x0),

und (6.10) folgt mit λk := −µk fur k = 1, . . . , d. q.e.d.

Bemerkung: In Satz 6.3 treten n + d Unbekannte x01, . . . , x0n, λ1, . . . , λd ∈ R auf, die

aus den n+ d Gleichungen

∂ϕ

∂xj(x0) +

d∑k=1

λk∂fk∂xj

(x0) = 0, j = 1, . . . , n,

fk(x0) = 0, k = 1, . . . , d,

zu bestimmen sind. Haufig ist es sinnvoll, zunachst alle kritischen Punkte x0 ∈ Ωder Funktion ψ = ϕ+ λ1f1 + . . .+ λdfd mit beliebigen λ1, . . . , λd ∈ R zu bestimmenund anschließend jene auszuwahlen, die zusatzlich die Bindungsgleichungen f1(x

0) =. . . = fd(x

0) = 0 erfullen.

Beispiel (Youngsche Ungleichung): Wir setzen Ω := (x, y) ∈ R2 : x > 0, y > 0. Zu p, q > 1 mit1p+ 1

q= 1 erklaren wir

ϕ(x, y) := xy,

f(x, y) :=xp

p+yq

q, (x, y) ∈ Ω.

Zu beliebigem c > 0 betrachten wir nun

Mc :=(x, y) ∈ Ω : f(x, y)− c = 0

.

Wegen ∇(f(x, y) − c) = ∇f(x, y) = (xp−1, yq−1) = 0 fur (x, y) ∈ Mc ist Mc ⊂ R2 fur jedes c > 0eine 1-dimensionale Mannigfaltigkeit. Auf der kompakten Menge Mc = (x, y) ∈ Ω : f(x, y) = cnimmt ϕ|Mc

in einem Punkt (x0, y0) ∈ Mc ihr Maximum an. Wegen ϕ = 0 auf Mc \ Mc folgt(x0, y0) ∈Mc. Nach Satz 6.3 existiert also ein λ ∈ R mit

∇ϕ(x0, y0) + λ∇f(x0, y0) = 0

bzw.y0 + λxp−1

0 = 0, x0 + λyq−10 = 0

bzw.−λxp0 = x0y0 = −λyq0 .

Daraus folgt xp0 = yq0 und somit

f(x0, y0) =xp0p

+yq0q

=(1p+

1

q

)xp0 = xp0 = yq0 = c.

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6. DER SATZ UBER IMPLIZITE FUNKTIONEN 197

Einsetzen in ϕ liefert ϕ(x0, y0) = x0y0 = c1p c

1q = c bzw.

ϕ(x, y) ≤ c = f(x, y) fur alle (x, y) ∈Mc.

Da schließlich c > 0 beliebig war, folgt ϕ ≤ f auf Ω, also die Youngsche Ungleichung

xy ≤ xp

p+yq

qfur alle x, y ≥ 0.

Satz 6.4 : (Hinreichende Bedingung unter Nebenbedingungen)Es sei ϕ ∈ C2(Ω), Ω ⊂ Rn, und f = (f1, . . . , fd) ∈ C2(Ω,Rd) definiere die m = n− d-dimensionaleMannigfaltigkeit M = x ∈ Ω : f(x) = 0 der Klasse C2. Weiter seien x0 ∈M und λ1, . . . , λd ∈ Rso gewahlt, dass die Funktion

ψ(x) := ϕ(x) + λ1f1(x) + . . .+ λdfd(x), x ∈ Ω,

in x0 einen kritischen Punkt hat. Gilt dann

⟨v,Hψ(x0)v⟩ > 0 (bzw. < 0) fur alle v ∈ Tx0M \ 0, (6.12)

so besitzt ϕ|M in x0 ein striktes lokales Minimum (bzw. Maximum).

Beweis: Sei x0 ∈ M wie beschrieben gewahlt und ⟨v,Hψ(x0)v⟩ > 0 fur alle v ∈ Tx0M erfullt.

Nach Folgerung 6.1 gibt es dann (nach eventueller Umbezeichnung der Koordinaten) UmgebungenW = W (x0) ⊂ Rn und U = Bε(y

0) ⊂ Rm sowie eine Funktion φ ∈ C2(U,Rd), so dass x0 =(y0, φ(y0)) und M ∩W = (y, φ(y)) : y ∈ U gilt. Die Abbildung g(y) := (y, φ(y)) bildet also Ubijektiv auf M ∩W ab.

Wir betrachten nun die Funktion χ := ψ g ∈ C2(U). Wir haben dann die qualitative Taylor-formel (4.3):

χ(y)− χ(y0) = ⟨∇χ(y0), h⟩+ 1

2⟨h,Hχ(y

0)h⟩+ o(|h|2) (6.13)

mit h := y − y0 ∈ Rm. Nach Voraussetzung gilt

∇χ(y0) = Dg(y0) ∇xψ(g(y0)) = Dg(y0) ∇ψ(x0) = 0 (6.14)

und man rechnet leicht nach

⟨h,Hχ(y0)h⟩ =

⟨Dg(y0)h,Hψ(x

0) Dg(y0)h⟩. (6.15)

Nun istDg(y0)h = (h,Dφ(y0)h) ∈ Tx0M fur beliebiges h ∈ Rm richtig (vgl. Beweis von Satz 6.2 (i)).Da ⟨v,Hψ(x

0)v⟩ auf der kompakten Menge Sn−1 ∩ Tx0M ihr positives Minimum µ > 0 annimmt,folgt

⟨v,Hψ(x0)v⟩ =

⟨ v

|v| , Hψ(x0)v

|v|

⟩|v|2 ≥ µ|v|2 fur alle v ∈ Tx0M

und aus (6.15) insbesondere noch

⟨h,Hχ(y0)h⟩ ≥ µ|Dg(y0)h|2 ≥ µ|h|2 fur h = y − y0. (6.16)

Setzen wir nun (6.14) und (6.16) in (6.13) ein, so folgt

ϕ(x)− ϕ(x0) = χ(y)− χ(y0) ≥ µ

2|h|2 −

∣∣o(|h|2)∣∣ ≥ µ

4|h|2

fur h = y−y0 und beliebiges y ∈ Bε(y0) mit hinreichend kleinem ε > 0. Wir haben also insbesondere

ϕ(x) > ϕ(x0) fur alle x ∈ M ∩W \ x0, wie behauptet. Der Fall eines lokalen Maximums wirdentsprechend behandelt.

q.e.d.

Durch eine naheliegende Modifikation des Beweises von Satz 6.4 erhalt man noch den

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198 KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG

Satz 6.5 : (Notwendige Bedingung 2.Ordnung unter Nebenbedingungen)Es seien ϕ ∈ C2(Ω), f = (f1, . . . , fd) ∈ C2(Ω,Rd) und M ⊂ Ω wie in Satz 6.4 erklart. Falls dannϕ|M in x0 ein lokales Minimum (bzw. Maximum) besitzt, so gilt

⟨v,Hψ(x0)v⟩ ≥ 0 (bzw. ≤ 0) fur alle v ∈ Tx0M (6.17)

fur ψ(x) = ϕ(x)+d∑k=1

λkfk(x); dabei sind λ1, . . . , λd ∈ R die wie in Satz 6.3 gewahlten Lagrangeschen

Parameter.

Beweis: Angenommen, fur einen lokalen Maximierer x0 existiert ein v ∈ Tx0M ∩ Sn−1 mit derEigenschaft ⟨v,Hψ(x

0)v⟩ = µ > 0. Wir erinnern an die lokale Graphendarstellung um x0 undverwenden die Bezeichnungen aus dem Beweis von Satz 6.4. Formel (6.13) gilt dann fur alle h ∈Bε(0) ⊂ Rm mit hinreichend kleinem ε > 0 und mit y = y0+h. Ist c = (c, φc) = gc : (−δ, δ) → Rneine Kurve mit v = c(0) - vgl. Beweis von Satz 6.2 (i) - so wenden wir (6.13) speziell auf h = ϱc(0)mit ϱ ∈ (0, ϱ0) fur hinreichend kleines ϱ0 > 0 an. Beachten wir noch (6.14) und (6.15), so erhaltenwir mit xϱ := g(y0 + ϱc(0)):

ϕ(xϱ)− ϕ(x0) = χ(y0 + ϱc(0)

)− χ(y0) =

ϱ2

2⟨v,Hψ(x

0)v⟩+ o(ϱ2) ≥ ϱ2µ

4> 0

fur alle ϱ ∈ (0, ϱ1), ϱ1 ≤ ϱ0 geeignet. Wegen xϱ → x0 (ϱ→ 0) steht dies im Widerspruch zur lokalenMaximaleigenschaft von x0. Analog erfolgt der Beweis fur lokale Minimierer.

q.e.d.

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Kapitel 5

Das n-dimensionaleRiemannsche Integral

Wir wollen nun Funktionen f : M → Rd fur Mengen M ⊂ Rn integrieren. Diegeometrische Idee fur den Fall d = 1 und nichtnegatives, beschranktes f ist zunachstwie im Eindimensionalen: Die Bestimmung des Volumens des zylindrischen Korpersim Rn+1 mit Grundflache M ×0, Deckelflache graph f = (x, f(x) : x ∈M undMantelflache (x, y) ∈ Rn+1 : x ∈ ∂M, y ∈ [0, f(x)] Hierzu werden wir zunachstdie Konstruktion des eindimensionalen Integrals uber abgeschlossene Intervalle I =[a, b] direkt auf Integrale uber abgeschlossene Quader Q = [a1, b1] × . . . × [an, bn]ubertragen. Dann werden wir das Integral auf sogenannte quadrierbare Mengen Mverallgemeinern, die wir in Quader einsperren. Zentrales Ergebnis dieses Kapitels istdie Transformationsformel.

1 Das Integral uber Quader

Sind Ij = [aj , bj ] ⊂ R abgeschlossene Intervalle fur j = 1, . . . , n, so nennen wir

Q := I1 × . . .× In =(x1, . . . , xn) ∈ Rn : xj ∈ [aj , bj ], j = 1, . . . , n

einen Quader im Rn. Mit

|Q| :=n∏j=1

|Ij | =n∏j=1

(bj − aj)

bezeichnen wir den Inhalt von Q. In Analogie zu Definition 4.1 aus Kapitel 3 erklarenwir nun:

199

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200 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Definition 1.1: Sei Q ⊂ Rn ein Quader und f : Q→ R beschrankt.

• Es seien Z(j) Zerlegungen von Ij fur j = 1, . . . , n mit

aj = xj,0 < xj,1 < . . . < xj,Nj = bj .

Dann heißt Z := Z(1) × . . . × Z(n) Zerlegung von Q. Wir schreiben Ij,αj =[xj,αj−1, xj,αj ] mit αj ∈ 1, . . . , Nj, j = 1, . . . , n, fur das αj-te Teilintervall

der Zerlegung Z(j) und erklaren die Teilquader

Qα := I1,α1 × . . .× In,αn , α = (α1, . . . , αn) ∈ A,

wobei A die Menge der auftretenden Multiindizes angibt:

A =α = (α1, . . . , αn) ∈ Nn : 1 ≤ αj ≤ Nj , j = 1, . . . n

.

Wir setzen schließlich

∆(Z) := max∆Z(1), . . . ,∆Z(n)

fur die Feinheit der Zerlegung Z.

• Mit den Abkurzungen

mα := infQα

f, mα := supQα

f

bilden wir die Untersumme

SZ(f) :=∑α∈A

mα|Qα|

und die Obersumme

SZ(f) :=∑α∈A

mα|Qα|

von f (zur Zerlegung Z).

• Aus jedem Teilquader Qα wahlen wir ξα ∈ Qα, α ∈ A. Dann nennen wir

SZ(f) :=∑α∈A

f(ξα)|Qα|

eine Riemannsche Zwischensumme von f (zur Zerlegung Z).

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1. DAS INTEGRAL UBER QUADER 201

Bemerkungen:

1. Es gibt genau N1 · N2 · . . . · Nn Teilquader Qα die sich nach Konstruktionoffenbar nicht uberlappen und fur die gilt

|Q| =∑α∈A

|Qα|. (1.1)

2. Offenbar gilt

SZ(f) ≤ SZ(f) ≤ SZ(f)

fur jede Riemannsche Zwischensumme.

Definition 1.2:

• Eine Zerlegung Z∗ = Z(1)∗ ×. . .×Z(n)

∗ von Q heißt Verfeinerung einer Zerlegung

Z = Z(1) × . . . × Z(n) von Q, wenn Z(j)∗ Verfeinerung von Z(j) ist fur alle

j = 1, . . . , n.

• Eine gemeinsame Verfeinerung Z ∨ Z∗ von Z und Z∗ ist erklart als

Z ∨ Z∗ := (Z(1) ∨ Z(1)∗ )× . . .× (Z(n) ∨ Z(n)

∗ ).

Vollig analog zu Hilfssatz 4.1 in Kap. 3 beweist man den

Hilfssatz 1.1:

(i) Ist Z∗ Verfeinerung der Zerlegung Z von Q, so gilt

SZ(f) ≤ SZ∗(f) ≤ SZ∗(f) ≤ SZ(f).

(ii) Sind Z1,Z2 zwei beliebige Zerlegungen von Q, so gilt

SZ1(f) ≤ SZ2(f).

Definition 1.3: Ist f : Q → R beschrankt, so erklaren wir das Unterintegral I(f)und Oberintegral I(f) von f als

I(f) = IQ(f) := supSZ(f) : Z ist Zerlegung von Q

,

I(f) = IQ(f) := infSZ(f) : Z ist Zerlegung von Q

.

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202 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Bemerkung: Fur jede beschrankte Funktion f : Q → R und jede Zerlegung Z vonQ gilt nach Hilfssatz 1.1 (i):

−∞ < |Q| infQf ≤ SZ(f) ≤ SZ(f) ≤ |Q| sup

Qf < +∞.

Also sind I(f), I(f) ∈ R wohl definiert und Hilfssatz 1.1 (ii) entnehmen wir noch

SZ(f) ≤ I(f) ≤ I(f) ≤ SZ(f) (1.2)

fur alle Zerlegungen Z von Q.

Definition 1.4: Eine beschrankte Funktion f : Q → R heißt (Riemann)-integrier-bar auf dem Quader Q ⊂ Rn, wenn I(f) = I(f) erfullt ist. Wir setzen dann

I(f) := I(f) = I(f)

fur das (Riemannsche) Integral von f auf Q und schreiben auch

I(f) =∫Q

f(x) dx =

∫Q

f dx1 . . . dxn =

∫Q

f dV,

wobei dV = dx = dx1 . . . dxn das Volumenelement bezeichnet. Die Klasse allerRiemann-integrierbaren Funktionen auf Q bezeichen wir mit R(Q).

Beispiel: f(x) := c, x ∈ Q ⊂ Rn, mit einer Konstante c ∈ R. Wegen

SZ(f) =∑α∈A

c|Qα|(1.1)= c|Q|, SZ(f) = c|Q|

fur beliebige Zerlegungen Z von Q in Teilquader Qα, α ∈ A, folgt f ∈ R(Q) und∫Q

c dx = c|Q|.

Exakt wie Satz 4.1 in Kap. 3 beweist man nun den

Satz 1.1: (Integrabilitatskriterium I)Fur eine beschrankte Funktion f : Q→ R gilt

f ∈ R(Q) ⇔Fur alle ε > 0 existiert eine Zerlegung Zvon Q mit SZ(f)− SZ(f) < ε.

Ein wenig anpassen muss man den Beweis von Satz 4.2 aus Kap. 3, um das fol-gende Ergebnis zu erhalten:

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1. DAS INTEGRAL UBER QUADER 203

Satz 1.2: (Integrabilitatskriterium II)Fur eine beschrankte Funktion f : Q→ R gilt

f ∈ R(Q) ⇔Fur alle ε > 0 existiert ein δ = δ(ε), so dass gilt:

SZ(f)− SZ(f) < ε fur alle Zerlegungen Z mit ∆(Z) < δ.

Wiederum durch wortliches Ubertragen von Folgerung 4.1 aus Kap. 3 erhaltenwir die

Folgerung 1.1: Sei f ∈ R(Q) und Zpp eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge vonQ, d.h. ∆(Zp) → 0 (p → ∞). Ist dann SZp(f)p eine zugehorige Folge beliebigerRiemannscher Zwischensummen, so gilt∫

Q

f(x) dx = limp→∞

SZp(f).

Bemerkung: Verknupfung von Satz 1.2 und Folgerung 1.1 zeigt sofort: Ist f ∈ R(Q)und Zpp eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge von Q, so folgt

limp→∞

SZp(f) = limp→∞

SZp(f) =

∫Q

f(x) dx.

Mit Hilfe der obigen Integrabilitatskriterien lassen sich viele Ergebnisse der In-tegration uber Intervalle direkt auf Integrale uber Quader Q ubertragen. Wir ver-zichten daher auf die Beweise der folgenden beiden Satze:

Satz 1.3: (Rechenregeln; vgl. Satz 4.3 in Kap. 3)

(i) Gilt f, g ∈ R(Q), so auch αf + βg ∈ R(Q) fur beliebige α, β ∈ R, und es gilt

I(αf + βg) = αI(f) + βI(g);

R(Q) ist also ein reeller Vektorraum.

(ii) Sind f, g ∈ R(Q) mit f ≤ g auf Q gegeben, so folgt

I(f) ≤ I(g).

(iii) Mit f ∈ R(Q) ist auch |f | ∈ R(Q) richtig mit

|I(f)| ≤ I(|f |).

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204 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

(iv) Sind f, g ∈ R(Q), so auch f · g ∈ R(Q) und es gilt

|I(fg)| ≤(supQ

|g|)· I(|f |).

(v) Gilt f, g ∈ R(Q) sowie |g| ≥ c > 0 auf Q mit einer Konstanten c > 0, so folgtauch f

g ∈ R(Q) mit ∣∣∣I(fg

)∣∣∣ ≤ 1

cI(|f |).

Satz 1.4: (vgl. Satz 4.5 in Kap. 3) Es gilt C0(Q) ⊂ R(Q).

Bemerkungen:

1. Fur Funktionen f = (f1, . . . , fd) : Q → Rd auf einem Quader Q ⊂ Rn mitfj ∈ R(Q), j = 1, . . . , d, erklaren wir das Integral wieder komponentenweise:∫

Q

fdx :=

(∫Q

f1dx, . . . ,

∫Q

fddx

).

Wir schreiben R(Q,Rd) fur die Klasse der integrierbaren Rd-wertigen Funktio-nen. Entsprechend ist R(Q,C) die Klasse der komplexwertigen integrierbarenFunktionen mit ∫

Q

fdx :=

∫Q

Re f dx+ i

∫Q

Im f dx.

Die Rechenregeln, Satz 1.3 (i), (iii), (iv) (in (iv) entspricht das Produkt natur-lich ⟨f, g⟩ fur f, g ∈ R(Q,Rd)) und Satz 1.4 lassen sich wieder sofort ubertra-gen.

2. Eine Funktion f : Q → Rd heißt integrierbar uber Q′ ⊂ Q, wenn f |Q′ ∈R(Q′,Rd) gilt. Man uberlegt sich leicht R(Q,Rd) ⊂ R(Q′,Rd) fur alle QuaderQ′ ⊂ Q; wir schreiben ∫

Q′

f dx :=

∫Q′

f |Q′ dx.

Wir wollen nun Integrale uber Quader im Rn auf Integrale uber niederdimen-sionale Quader zuruckfuhren. Sei dazu f = f(x, y) : Q × R → R ∈ R(Q × R) furQuader Q ⊂ Rq, R ⊂ Rr mit q + r = n vorgelegt. Fur festes x ∈ Q schreiben wirdann

φ(x) := IR(f(x, ·)), φ(x) := IR(f(x, ·)), x ∈ Q, (1.3)

fur das Unter- bzw. Oberintegral von f(x, ·) : R→ R, welche nicht ubereinstimmenmussen. Wir bemerken, dass φ,φ : Q→ R wieder beschrankt sind und gemaß (1.2)φ ≤ φ auf Q erfullen. Es gilt nun der

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1. DAS INTEGRAL UBER QUADER 205

Satz 1.5: (Iterierte Integration)Fur beliebiges f = f(x, y) : Q × R → R ∈ R(Q × R) sind die in (1.3) erklartenFunktionen φ,φ : Q→ R integrierbar uber Q und es gilt∫

Q×R

f(x, y) dx dy =

∫Q

φ(x) dx =

∫Q

φ(x) dx.

Beweis: Wir betrachten Zerlegungen ZQ von Q in Teilquader Qα, α ∈ A, und ZRvon R in Teilquader Rβ, β ∈ B. Dann ist ZT := ZQ × ZR eine Zerlegung vonT := Q×R mit Teilquadern Tαβ := Qα ×Rβ, (α, β) ∈ A×B. Umgekehrt lasst sichso jede Zerlegung von T durch Zerlegungen von Q und R darstellen. Wir bemerkennoch

∆(ZT ) = max∆(ZQ),∆(ZR)

. (1.4)

Nun erklaren wir die Großen

mαβ := infTαβ

f, mαβ := supTαβ

f, (α, β) ∈ A×B.

Fur beliebiges x ∈ Qα mit einem α ∈ A folgt dann∑β∈B

mαβ |Rβ| ≤∑β∈B

(infy∈Rβ

f(x, y))|Rβ| ≤ IR(f(x, ·)) = φ(x)

und entsprechend ∑β∈B

mαβ |Rβ| ≥ φ(x) ≥ φ(x).

Insbesondere konnen wir zum Infimum bzw. Supremum bez. x ∈ Qα ubergehen underhalten ∑

β∈Bmαβ |Rβ| ≤ inf

Qαφ ≤ sup

φ ≤∑β∈B

mαβ |Rβ|. (1.5)

Die gleiche Relation gilt offenbar fur φ. Multiplizieren wir (1.5) mit |Qα| und sum-mieren uber α ∈ A, so folgt (beachte |Tαβ | = |Qα| |Rβ|):

SZT (f) ≤ SZQ(φ) ≤ SZQ(φ) ≤ SZT (f), (1.6)

und wiederum gilt die gleiche Relation auch fur φ. Da nun f uber T = Q × Rintegrierbar ist, existiert nach Satz 1.1 zu beliebigem ε > 0 eine Zerlegung ZT vonT mit

SZT (f)− SZT (f) < ε.

Fur die zugehorige Zerlegung ZQ von Q folgt also aus (1.6):

SZQ(φ)− SZQ(φ) < ε,

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206 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

und wiederum nach Satz 1.1 ist φ und entsprechend φ integrierbar. Wahlen wirschließlich in (1.6) eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge ZT,pp mit ∆(ZT,p) →0 (p → +∞), so ist wegen (1.4) auch die zugehorige Folge ZQ,pp ausgezeichnetund Folgerung 1.1 bzw. die anschließende Bemerkung liefern∫

Q×R

f(x, y) dx dy = limp→∞

SZT,p(f) = limp→∞

SZQ,p(φ) =

∫Q

φ(x) dx.

Entsprechend folgt aus der (1.6) entsprechenden Relation fur φ noch∫Q×R

f(x, y) dx dy =

∫Q

φ(x) dx.

Damit ist alles gezeigt. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Offensichtlich ubertragt sich die Aussage von Satz 1.5 sofort auf vektor-bzw.komplexwertige Funktionen, wobei dann die Definition von φ und φ kompo-nentweise zu verstehen ist.

2. φ und φ stimmen genau dann in Q uberein, wenn f(x, ·) : R → R fur jedesx ∈ Q integrierbar ist; dann ist φ(x) = IR(f(x, ·)) = φ(x) auf Q richtig. Danach Satz 1.4 jede stetige Funktion integrierbar ist, erhalten wir sofort denfolgenden

Satz 1.6: (Iterierte Integration stetiger Funktionen)Ist f = f(x, y) : Q × R → Rd ∈ C0(Q × R,Rd) gegeben, so ist f(x, ·) : R → Rd furjedes x ∈ Q uber R integrabel und es gilt∫

Q×R

f(x, y) dx dy =

∫Q

(∫R

f(x, y) dy

)dx. (1.7)

Bemerkungen:

1. Durch Umbezeichnung x ↔ y, also Vertauschen der Koordinaten, entnimmtman (1.7):∫

Q

(∫R

f(x, y) dy

)dx =

∫Q×R

f(x, y) dx dy =

∫R

(∫Q

f(x, y) dx

)dy. (1.8)

Auf die Reihenfolge der Integration kommt es also nicht an!

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2. UNSTETIGKEITSSTELLEN UND HEINE-BOREL 207

2. Ist Q = I1 × . . .× In ⊂ Rn ein Quader und f : Q → Rd ∈ C0(Q,Rd), so folgtaus Satz 1.6∫

Q

f dx1 . . . dxn =

∫I1

(∫I2

(. . .

(∫In

fdxn

). . .

)dx2

)dx1. (1.9)

Wir konnen also jedes Integral einer stetigen Funktion auf einem Quader im Rndurch sukzessives eindimensionales Integrieren auswerten. Wie in (1.8) spieltdie Reihenfolge der Integration dabei keine Rolle.

Beispiele:

1. Sei f(x, y) = xy, Q = [0, 2]× [0, 1]. Dann gilt

∫Q

f dx dy(1.9)=

2∫0

( 1∫0

xy dy

)dx

(1.8)=

1∫0

( 2∫0

xy dx

)dy

=

1∫0

(y

2∫0

x dx

)dy =

1∫0

2y dy = 1.

2. Sei f(x, y) = xyex2y, Q ∈ [0, 1]× [0, 1]. Dann gilt

∫Q

f dx dy =

1∫0

( 1∫0

xyex2y dx

)dy =

1∫0

( 1∫0

∂x

[12ex

2y]dx

)dy

=

1∫0

1

2(ey − 1) dy =

1

2(e− 2).

2 Unstetigkeitsstellen integrierbarer Funktionenund der Satz von Heine-Borel

Wir wollen nun untersuchen, wie”groß“ die Menge der Unstetigkeitsstellen einer

Funktion f : Q → R (oder auch Rd,C) werden darf, damit f noch integrierbarbleibt. Dies ist entscheidend fur die Integration uber allgemeinere Mengen des Rn,siehe § 3. Wir benotigen zunachst die

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208 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Definition 2.1:

(i) Eine Menge M ⊂ Rn hat den Inhalt Null (i.Z. |M | = 0), wenn es zu jedemε > 0 Quader Q1, . . . , QN mit einem N = N(ε) ∈ N so gibt, dass gilt

M ⊂N∪j=1

Qj ,

N∑j=1

|Qj | < ε.

(ii) M hat das Maß Null (i.Z. measM = 0), falls zu jedem ε > 0 hochstensabzahlbar viele Quader Q1, Q2, . . . so existieren, dass gilt

M ⊂∞∪j=1

Qj ,∞∑j=1

|Qj | < ε.

M heißt dann Nullmenge.

Bemerkungen:

1. Mengen vom Inhalt Null besitzen also zu jedem ε > 0 eine endliche Uber-deckung durch offene Quader mit Gesamtinhalt < ε (vgl. Definition 2.2 un-ten). Hingegen sind fur Mengen vom Maß Null auch solche Uberdeckungenmit abzahlbar unendlich vielen Quadern zulassig. Jede Menge vom Inhalt Nullist also auch Nullmenge; die Umkehrung gilt nicht!

2. Offenbar hat jede Teilmenge einer Menge mit Inhalt Null (bzw. Maß Null)ebenfalls den Inhalt Null (bzw. Maß Null).

Hilfssatz 2.1:

(i) Die Vereinigung endlich vieler Mengen vom Inhalt Null hat ebenfalls den InhaltNull.

(ii) Die Vereinigung hochstens abzahlbar vieler Nullmengen ist wieder Nullmenge

Beweis:

(i) Ist klar.

(ii) Seien M1,M2, . . . ⊂ Rn mit measMk = 0 fur alle k gegeben und M =∪kMk.

Zu beliebigem ε > 0 und jedem k existieren dann hochstens abzahlbar vieleQuader Qk1, Qk2, . . . mit

Mk ⊂∪j

Qkj und∑j

|Qkj | < 2−kε.

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2. UNSTETIGKEITSSTELLEN UND HEINE-BOREL 209

Die Menge der auftretenden Indizes (j, k) ist Teilmenge von N× N und somithochstens abzahlbar. Es gilt nun

M =∪k

Mk ⊂∪(j,k)

Qkj

sowie ∑(j,k)

|Qkj | < ε∑k

2−k ≤ ε

∞∑k=1

(12

)k= ε,

wie behauptet. q.e.d.

Hilfssatz 2.2: Ist K ⊂ Rn kompakt und φ ∈ C0(K), so ist graphφ ⊂ Rn+1 eineMenge vom Inhalt Null.

Beweis: Da K kompakt ist, gibt es einen Wurfel W = [−r, r]× . . .× [−r, r] mit |W | = (2r)n, r > 0,so dass K ⊂W gilt. Zu beliebigem ε > 0 wahlen wir η = η(ε) > 0 mit

2n+1η|W | < ε.

Da φ auf K gleichmaßig stetig ist, existiert weiter ein δ = δ(ε) > 0, so dass

|φ(x)− φ(x′)| < η fur alle x, x′ ∈ K : |x− x′| < δ

erfullt ist. Schließlich wahlen wir eine aquidistante ZerlegungW =∪α∈A Wα vonW mit diam Wα <

δ fur alle α ∈ A (A ⊂ Nn ist eine endliche Indexmenge). Sind dann ξα ∈ Wα, α ∈ A′ := α ∈ A :Wα ∩K = ∅ beliebig gewahlt, so erklaren wir

Qα := Wα ×(φ(ξα)− η, φ(ξα) + η

)⊂ Rn+1, α ∈ A′.

Damit gilt offenbar

graphφ ⊂∪α∈A′

Qα.

Ersetzen wir noch Wα durch den gleichzentrierten Wurfel Wα mit doppelter Kantenlange, so folgtfur

Qα :=Wα ×[φ(ξα)− η, φ(ξα) + η

], α ∈ A′,

dann Qα ⊂ Qα und somit

graphφ ⊂∪α∈A′

Qα ⊂∪α∈A′

Qα.

Wegen |Qα| = 2n|Qα| erhalten wir noch∑α∈A′

|Qα| =∑α∈A′

2n|Qα| = 2n(2η)∑α∈A′

|Wα|(1.1)= 2n+1η|W | < ε,

wie behauptet. q.e.d.

Als nachstes werden wir zeigen, dass jede kompakte Nullmenge den Inhalt Nullhat. Hierzu beweisen wir einen zentralen Satz der Analysis, fur den wir noch diefolgenden Begriffe erklaren:

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210 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Definition 2.2: Es sei J eine beliebige, nicht notwendig abzahlbare Indexmenge.Eine Familie F = Ωjj∈J offener Mengen Ωj ⊂ Rn heißt dann offene Uberdeckungeiner Menge M ⊂ Rn, wenn gilt

M ⊂∪j∈J

Ωj .

Die Uberdeckung heißt endlich, wenn sie nur endlich viele Mengen Ωj enthalt, d.h. Jist endliche Indexmenge.

Bemerkungen:

1. Jede Menge M = ∅ hat eine triviale offene Uberdeckung, namlich M ⊂∪x∈M Br(x) mit beliebigem Radius r = r(x) > 0.

2. Ist M offen, so ist M eine endliche offene Uberdeckung von M .

3. Jede beschrankte Menge M , d.h. |x| < R fur alle x ∈ M mit einem R > 0,besitzt die endliche offene Uberdeckung BR(0).

Satz 2.1: (Heine-Borel)Eine Menge K ⊂ Rn ist genau dann kompakt, wenn sich aus jeder offenen Uber-deckung von K eine endliche Uberdeckung von K auswahlen lasst.

Bemerkung: Die Richtung”⇒“ in Satz 2.1 ist der beruhmte Satz von Heine-Borel.

Die angegebene aquivalente Eigenschaft wird als Heine-Borel-Eigenschaft bezeich-net. Sie wird insbesondere in unendlich-dimensionalen Raumen als Definition furKompaktheit verwendet.

Wir halten noch die schon angekundigte Folgerung aus Satz 2.1 fest:

Folgerung 2.1: Eine kompakte Menge K ⊂ Rn ist genau dann Nullmenge, wennK den Inhalt Null hat.

Beweis von Satz 2.1:

•”⇐“: Zunachst habe K die Heine-Borel-Eigenschaft. Wir zeigen, dass dann Kkompakt, also abgeschlossen und beschrankt ist.

(a) Beschranktheit: Offenbar ist F = BN (0) : N ∈ N eine offene Uber-deckung von K mit B1(0) ⊂ B2(0) ⊂ . . . Nach Voraussetzung existierenZahlen N1 < N2 < . . . < Np, p ∈ N, mit K ⊂ BN1(0) ∪ . . . ∪ BNp(0) =BNp(0), d.h. K ist beschrankt.

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2. UNSTETIGKEITSSTELLEN UND HEINE-BOREL 211

(b) Abgeschlossenheit: Angenommen, K ist nicht abgeschlossen, d.h. K = K.Dann existiert also ein x0 ∈ K \K und eine Folge xkk ⊂ K mit xk →x0 (k → ∞).

Nun ist F = ΩN : N ∈ N mit ΩN := x ∈ Rn : |x − x0| > 1N

eine offene Uberdeckung von K mit Ω1 ⊂ Ω2 ⊂ . . . Nach Voraussetzungexistieren also wieder Zahlen N1 < . . . < Np, p ∈ N, mit K ⊂ ΩN1 ∪ . . .∪ΩNp = ΩNp . Fur alle x ∈ K folgt also x ∈ ΩNp bzw. |x − x0| > 1

Np, im

Widerspruch zu |xk − x0| → 0 (k → ∞) mit der oben gewahlten Folgexkk ⊂ K. Also ist K doch abgeschlossen.

•”⇒“: Sei nunK ⊂ Rn kompakt. Angenommen, es gibt eine offene UberdeckungF von K, aus der sich keine endliche Uberdeckung auswahlen lasst. Mittelseiner Wurfelschachtelung fuhren wir dies zum Widerspruch.

(a) Da K beschrankt ist, existiert ein abgeschlossener Wurfel W ⊂ Rn mitK ⊂ W . Wir zerlegen W in N := 2n Teilwurfel W ∗

1 , . . . ,W∗N , indem

wir die Seiten halbieren, d.h. es gilt |W ∗j | = 2−n|W |. Offenbar ist F

auch Uberdeckung der Mengen W ∗j ∩ K. Nach Annahme existiert nun

mindestens ein j1 ∈ 1, . . . , N, so dass keine endliche Uberdeckung vonW ∗j1∩K aus F ausgewahlt werden kann. Wir schreiben W1 :=W ∗

j1.

(b) Nun zerlegen wir W1 in N = 2n Teilwurfel W ∗∗1 , . . . ,W ∗∗

N , indem wirwieder die Seiten halbieren. Dann gilt |W ∗∗

j | = 2−n|W1| = 2−2n|W |. Fuberdeckt wieder alle W ∗∗

j ∩ K und nach (a) existiert mindestens einj2 ∈ 1, . . . , N, so dass W ∗∗

j2∩K nicht durch eine endliche Unterfamilie

von F uberdeckt werden kann. Wir setzen dann W2 :=W ∗∗j2.

(c) Fortsetzung des Verfahrens liefert eine Folge W1 ⊃ W2 ⊃ W3 ⊃ . . . mit|Wl| = 2−ln|W | und folgender Eigenschaft:

Fur alle l ∈ N ist F offene Uberdeckung von Wl ∩K,

aus der keine endliche Uberdeckung von Wl ∩K aus-gewahlt werden kann.

(*)

Insbesondere gilt also liml→∞ |Wl| = 0 und damit auch

diamWl =√n n√

|Wl| → 0 (l → ∞). (2.1)

Nun ist wegen (*) Wl ∩K = ∅ fur alle l ∈ N. Also existieren xl ∈Wl ∩Kund wegen (2.1) bildet xll ⊂ K eine Cauchyfolge: Zu beliebigem ε > 0existiert namlich ein N = N(ε) ∈ N mit diamWl < ε fur alle l ≥ N . Sinddann k, l ≥ N gewahlt, so folgt xk, xl ∈WN und damit

|xk − xl| ≤ diamWN < ε fur alle k, l ≥ N.

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212 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Da Rn vollstandig ist, existiert ein x0 mit liml→∞ xl = x0. Und da Kabgeschlossen ist, gilt x0 ∈ K. Somit gibt es ein Ω ∈ F mit x0 ∈ Ω. Undda Ω offen ist, finden wir ein ϱ > 0 mit Bϱ(x0) ⊂ Ω.

Schließlich existiert wegen (2.1) und liml→∞ xl = x0 ein l0 ∈ N mit Wl ⊂Bϱ(x0) fur alle l ≥ l0 und damit insbesondere

Wl0 ∩K ⊂ Bϱ(x0) ⊂ Ω ∈ F .

Also haben wir Wl0 ∩K durch die endliche Teiluberdeckung Ω von Fuberdeckt, im Widerspruch zu (*). Somit war die Annahme falsch, undder Satz ist bewiesen.

q.e.d.

Definition 2.3: Eine kompakte Menge K ⊂ Rn heißt dunn, wenn zu jedem x0 ∈K eine Kugel Br(x

0), eine kompakte Menge Z ⊂ Rn−1 und eine stetige Funktionφ = φ(y) : Z → R mit y = (x1, . . . , xj−1, xj+1, . . . , xn) so existieren, dass gilt

K ∩Br(x0) =(x1, . . . , xn) ∈ Rn : xj = φ(y), y ∈ Z

.

Eine dunne Menge im Rn ist also ein Kompaktum, das sich lokal als Grapheiner stetigen Funktion uber einer der Hyperebenen x ∈ Rn : xj = 0 darstellenlasst. Z.B. ist nach Folgerung 6.1 aus Kap. 4 jede beschrankte (n − 1)-dimensionaleMannigfaltigkeit der Klasse C1 eine dunne Menge.

Folgerung 2.2: Eine dunne Menge K ⊂ Rn hat den Inhalt Null.

Beweis: Nach dem Satz von Heine-Borel konnen wir aus der Uberdeckung Br(x) : x ∈ K mitden in Definition 2.3 angegebenen Radien r = r(x) > 0 endlich viele Kugeln Br1(x

1), . . . , Brp(xp)

auswahlen, die K uberdecken. Nach Hilfssatz 2.2 haben K ∩ Brl(xl) den Inhalt Null fur alle l =

1, . . . , p. Und nach Hilfssatz 2.1 (i) gilt dies auch fur

K ⊂p∪l=1

K ∩Brl(xl)

,

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Insbesondere hat also der Rand ∂Q jedes Quaders Q ⊂ Rn den Inhalt Null, dajede berandende Seite eines Quaders dunn ist.

2. Durch nahezu wortliches Ubertragen des Beweises von Hilfssatz 2.2 sieht man,dass auch m-dimensionale Graphen graphφ ⊂ Rn+m von Funktionen φ ∈C0(K,Rm) uber Kompakta K ⊂ Rn den Inhalt Null haben (als Teilmengendes Rn+m). Folgerung 6.1 aus Kap. 4 und der Beweis von Folgerung 2.2 zeigendann:

Jede beschrankte C1-Mannigfaltigkeit hat den Inhalt Null.

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2. UNSTETIGKEITSSTELLEN UND HEINE-BOREL 213

Wie angekundigt, wollen wir nun die Unstetigkeitsstellen integrierbarer Funk-tionen f ∈ R(Q) untersuchen, wobei Q ⊂ Rn wie immer einen (abgeschlossenen,achsenparallelen) Quader bezeichne. Fur eine beliebige Menge M ⊂ Q und einebeschrankte Funktion f : Q → R erklaren wir hierzu die Oszillation von f auf Mgemaß

oscMf := sup

Mf − inf

Mf = sup

x,x′∈M|f(x)− f(x′)|

und setzenσf (x) := lim

r→0+

(osc

Q∩Br(x)f), x ∈ Q. (2.2)

Wir bemerken, dass oscQ∩Br(x)f nichtnegativ und monoton wachsend in r ist, d.h.σf : Q → R ist wohldefiniert und nichtnegativ. Ist ferner U = U(x) eine offeneUmgebung von x ∈ Q, so gilt Q ∩Br(x) ⊂ Q ∩ U fur hinreichend kleines r > 0 undfolglich

σf (x) ≤ oscQ∩U

f fur alle x ∈ Q und U = U(x) ⊂ Rn. (2.3)

Ist nun f in x ∈ Q stetig, so gilt offenbar σf (x) = 0. Und x ∈ Q heißt Unstetigkeits-stelle von f , falls σf (x) > 0 richtig ist. Wir schreiben

S(f) :=x ∈ Q : σf (x) > 0

fur die Menge aller Unstetigkeitsstellen und beginnen mit dem

Hilfssatz 2.3: Zu beschranktem f : Q → R erklaren wir σf : Q → R wie in (2.2)und setzen

Q(ε) :=x ∈ Q : σf (x) ≥ ε

.

Dann ist S(f) genau dann Nullmenge, wenn Q(ε) fur alle ε > 0 den Inhalt Null hat.

Beweis:

•”⇒“: Ist S(f) Nullmenge, so ist fur jedes ε > 0 auch Q(ε) ⊂ S(f) Nullmenge. Da Q(ε)kompakt ist (Ubungsaufgabe! ), hat Q(ε) nach Folgerung 2.1 fur alle ε > 0 den Inhalt Null.

•”⇐“: Gilt andererseits |Q(ε)| = 0 fur alle ε > 0, so insbesondere auch |Q( 1

k)| = 0 fur k ∈ N.

Nun gilt die Relation

S(f) =∞∪k=1

Q( 1k

). (2.4)

Nach Hilfssatz 2.1 (ii) ist damit S(f) Nullmenge. q.e.d.

Wir kommen nun zum zentralen

Satz 2.2: Eine beschrankte Funktion f : Q→ R ist genau dann integrierbar, wenndie Menge S(f) ihrer Unstetigkeitsstellen eine Nullmenge ist.

Beweis:

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214 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

•”⇒“: Es gelte f ∈ R(Q). Nach Satz 1.1 existiert dann zu jedem ε > 0 undjedem k ∈ N eine Zerlegung Z von Q in Teilquader Qα, α ∈ A, mit

SZ(f)− SZ(f) <ε

2k.

Wie in Hilfssatz 2.3 betrachten wir Q( 1k ) = x ∈ Q : σf (x) ≥ 1k mit der in

(2.2) erklarten Funktion σf : Q→ R und setzen

A(k) :=α ∈ A : Qα ∩Q

(1k

)= ∅.

Offenbar ist dann

Q(1k

)⊂[ ∪α∈A(k)

]∪[ ∪α∈A

∂Qα

](2.5)

richtig. Fur x ∈ Qα ∩Q( 1k ) mit einem α ∈ A(k) gilt

1

k≤ σf (x)

(2.3)

≤ oscQα

f

und somit

1

k

∑α∈A(k)

|Qα| ≤∑

α∈A(k)

(oscQα

f)|Qα| ≤ SZ(f)− SZ(f) <

ε

2k

bzw. ∑α∈A(k)

|Qα| <ε

2. (2.6)

Ferner haben wir oben bemerkt, dass |∂Qα| = 0 fur jedes α ∈ A gilt und nachHilfssatz 2.1 (i) somit auch |

∪α∈A ∂Qα| = 0. Also gibt es Quader Q′

1, . . . , Q′p,

p ∈ N, mit ∪α∈A

∂Qα ⊂p∪j=1

Q′j ,

p∑j=1

|Q′j | <

ε

2. (2.7)

Aus (2.5)-(2.7) erhalten wir nun

Q(1k

)⊂[ ∪α∈A(k)

]∪[ p∪j=1

Q′j

],

∑α∈A(k)

|Qα|+p∑j=1

|Q′j | < ε,

d.h. |Q( 1k )| = 0 fur alle k ∈ N. Formel (2.4) und Hilfssatz 2.1 (ii) liefern alsomeasS(f) = 0.

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2. UNSTETIGKEITSSTELLEN UND HEINE-BOREL 215

•”⇐“: Sei nun S(f) Nullmenge. Nach Hilfssatz 2.3 ist dann |Q(ε)| = 0 furbeliebiges ε > 0 richtig. Also existiert eine endliche Uberdeckung

∪pj=1 Qj von

Q(ε) durch p ∈ N Quader mit Inhaltssumme∑p

j=1 |Qj | < ε.

Wir betrachten nun die kompakte Menge Q := Q \ (Q1 ∪ . . . ∪ Qp). NachKonstruktion gilt σf (x) < ε fur jedes x ∈ Q. Also gibt es zu jedem x ∈ Qeinen Wurfel Wx mit Mittelpunkt x, so dass oscQ∩Wxf < ε erfullt ist. Nun

liefert∪x∈Q Wx eine offene Uberdeckung von Q, aus der wir nach dem Satz

von Heine-Borel endlich viele Wurfel Wx1 , . . . ,Wxr mit Wx1 ∪ . . . ∪ Wxr ⊃ Qauswahlen konnen.

Insgesamt ist also Q1, . . . , Qp,Wx1 , . . . ,Wxr eine Uberdeckung von Q durchQuader. Wir ordnen nun eine Zerlegung Z von Q in Teilquader Q∗

α, α ∈ A,so zu, dass die Indexmenge gemaß A = A′ ∪ A′′ in zwei disjunkte Teilmengenzerfallt, fur die gilt:

•∪α∈A′

Q∗α ⊂

p∪j=1

Qj und folglich∑α∈A′

|Q∗α| ≤

p∑j=1

|Qj | < ε.

• Fur jedes α ∈ A′′ gilt Q∗α ⊂ Wxk ∩ Q mit einem k = k(α) ∈ 1, . . . , r

und folglich oscQ∗α

f < ε.

Fur die zu Z gehorigen Ober- und Untersummen erhalten wir dann:

SZ∗(f)− SZ∗(f) =∑α∈A′

(oscQ∗α

f)|Q∗

α|+∑α∈A′′

(oscQ∗α

f)|Q∗

α|

< 2(supQ

|f |) ∑α∈A′

|Q∗α|+ ε

∑α∈A′′

|Q∗α|

≤ ε(2 sup

Q|f |+ |Q|

).

Da ε > 0 beliebig gewahlt war, ist also f nach Satz 1.1 integrierbar.

q.e.d.

Bemerkung: Wir konnen das Ergebnis von Satz 2.2 direkt auf vektor- bzw. komplex-wertige Funktionen verallgemeinern. Ist etwa f : Q→ Rd beschrankt, so gilt

f ∈ R(Q,Rd) ⇐⇒ f1, . . . , fd ∈ R(Q)

Satz 2.2⇐⇒ measS(f1) = . . . = measS(fd) = 0

HS2.1 (ii)⇐⇒ measS(f) = 0,

wobei f = (f1, . . . , fd) in x ∈ Q genau dann unstetig ist, wenn mindestens eine der

Komponenten fk in x unstetig ist, d.h. S(f) =d∪

k=1

S(fk).

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216 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

3 Integration uber quadrierbare Mengen

Wir wollen nun allgemeinere Mengen M ⊂ Rn als Integrationsbereiche wahlen, in-dem wir das Riemann-Integral auf

”charakteristische Funktionen“ χM spezialisieren:

Definition 3.1: Eine beschrankte Menge M ⊂ Rn heißt quadrierbar (oder Jordan-messbar, Jordanmenge), wenn ihre charakteristische Funktion

χM (x) :=

1, fur x ∈M,

0, fur x ∈ Rn \M: Rn → R

auf einem Quader Q ⊂ Rn mit M ⊂ Q integrierbar ist. Den Wert

|M | := v(M) :=

∫Q

χM (x) dx (3.1)

nennen wir den (n-dimensionalen) Inhalt von M (oder Volumen oder JordanschesMaß von M).

Bemerkungen:

1. Obige Definition ist von der Wahl des Quaders Q ⊂ Rn mit M ⊂ Q un-abhangig.

2. Jeder Quader Q = [a1, b1]× . . .× [an, bn] ist quadrierbar mit

v(Q) =n∏j=1

(bj − aj) = |Q|.

Die ursprungliche Definition des Inhalts eines Quaders stimmt also mit der in(3.1) uberein.

3. Jede Menge M vom Inhalt Null ist quadrierbar mit v(M) = 0 (siehe Anhang(A1)); auch hier stimmt also v(M) mit der ursprunglichen Definition von |M |uberein.

Aus Satz 2.2 erhalten wir nun sofort den

Satz 3.1: (Quadrierbarkeitskriterium I)Eine beschrankte Menge ist genau dann quadrierbar, wenn ihr Rand ∂M Nullmengeist (⇔ |∂M | = 0).

Beweis: Offenbar gilt S(χM ) = ∂M , da Rn \ ∂M offen ist. Wahlen wir also Q ⊂ Rnmit M ⊂ Q, so ist χM nach Satz 2.2 genau dann auf Q integrierbar,wenn ∂Meine Nullmenge ist. Da ∂M kompakt ist, ist dies nach Folgerung 2.1 aquivalent zu|∂M | = 0.

q.e.d.

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3. INTEGRATION UBER QUADRIERBARE MENGEN 217

Folgerung 3.1: Sind M,N ⊂ Rn quadrierbar, so sind auch M ∪ N , M ∩ N undM \N quadrierbar.

Beweis: Offenbar sind M ∪N , M ∩N und M \N beschrankt, da M,N beschranktsind. Und wegen

∂(M ∪N), ∂(M ∩N), ∂(M \N) ⊂ ∂M ∪ ∂N

folgt die Behauptung sofort aus Hilfssatz 2.1 (i) und Satz 3.1. q.e.d

Satz 3.2: (Quadrierbarkeitskriterium II)Ist M ⊂ Rn beschrankt und ∂M eine dunne Menge im Sinne von Definition 2.3, soist M quadrierbar.

Beweis: Nach Folgerung 2.2 gilt |∂M | = 0 fur die dunne Menge ∂M und nach Satz 3.1ist M quadrierbar.

q.e.d.

Zum Beispiel ist also der Kreisring R(a, b) := x ∈ Rn : a < |x| < b mit0 < a < b < +∞ eine quadrierbare Menge, da ∂R(a, b) aus den beiden disjunk-ten (n− 1)-dimensionalen C1-Mannigfaltigkeiten ∂Ba(0), ∂Bb(0) besteht. Beachtetman noch Folgerung 3.1 und die zweite Bemerkung im Anschluss an Folgerung 2.2,so ist allgemeiner jeder Durchschnitt und jede Vereinigung endlich vieler Mengenquadrierbar, deren Rander C1-Mannigfaltigkeiten sind.

Sei nun M ⊂ Rn eine beliebige beschrankte Menge und f : M → Rd ebenfallsbeschrankt. Wir erklaren die kanonische Fortsetzung fM : Rn → Rd von f gemaß

fM (x) :=

f(x), fur x ∈M

0, fur x ∈ Rn \M.

Die kanonische Fortsetzung der Funktion f(x) ≡ 1, x ∈ M , ist also gerade diecharakteristische Funktion von M .

Definition 3.2: Sei M ⊂ Rn quadrierbar und f : M → Rd beschrankt. Dannheißt f (Riemann)-integrierbar auf M , i.Z. f ∈ R(M,Rd), wenn die kanonischeFortsetzung fM auf einem Quader Q ⊂ Rn mitM ⊂ Q integrierbar ist. Wir erklarendann das (Riemannsche) Integral von f auf M gemaß∫

M

f dV =

∫M

f dx1 . . . dxn =

∫M

f dx :=

∫Q

fM dx.

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218 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Bemerkungen:

1. Die Definition ist wieder unabhangig von der Wahl des Quaders Q ⊂ Rn mitM ⊂ Q.

2. Insbesondere ist die Funktion f(x) ≡ 1 nach obiger Definition auf jeder qua-drierbaren Menge M integrierbar mit∫

M

1 dx = |M |.

Satz 3.3: (Lebesguesches Integrabilitatskriterium)Sei M ⊂ Rn quadrierbar und f :M → Rd beschrankt. Dann gilt

f ∈ R(M,Rd) ⇐⇒ measS(f |M ) = 0.

Beweis: Wir betrachten wieder die kanonische Fortsetzung fM : Rn → Rd, fur derenUnstetigkeitsstellen offenbar gilt

S(f |M ) ⊂ S(fM ) ⊂ S(f |M ) ∪ ∂M.

Ist Q ⊂ Rn ein Quader mit M ⊂ Q, so folgt

f ∈ R(M,Rd) Def. 3.2⇐⇒ fM ∈ R(Q,Rd)

Satz 2.2⇐⇒ S(fM ) ist Nullmenge

Satz 3.1⇐⇒ S(f |M ) ist Nullmenge,

wie behauptet. q.e.d.

Folgerung 3.2: Jede beschrankte Funktion f : M → Rd ∈ C0(M,Rd) auf derquadrierbaren Menge M ⊂ Rn ist integrierbar.

Durch Definition 3.2 lassen sich die Rechenregeln aus Satz 1.3 und der anschlie-ßenden Bemerkung ubertragen:

Satz 3.4: (Rechenregeln) Sei M ⊂ Rn quadrierbar.

(i) Fur f, g ∈ R(M,Rd) und α, β ∈ R gilt αf + βg ∈ R(M,Rd) und∫M

[αf(x) + βg(x)

]dx = α

∫M

f(x) dx+ β

∫M

g(x) dx.

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3. INTEGRATION UBER QUADRIERBARE MENGEN 219

(ii) Fur d = 1: Sind f, g ∈ R(M,R) =: R(M) mit f ≤ g auf M gegeben, so folgt∫M

f dx ≤∫M

g dx.

(iii) Fur jedes f ∈ R(M,Rd) gilt auch |f | ∈ R(M) und∣∣∣∣ ∫M

f dx

∣∣∣∣ ≤ ∫M

|f | dx.

(iv) Gilt f, g ∈ R(M,Rd), so folgt ⟨f, g⟩ ∈ R(M) und∣∣∣∣ ∫M

⟨f, g⟩ dx∣∣∣∣ ≤ ( sup

M|g|) ∫M

|f | dx.

(v) Fur d = 1: Gilt f, g ∈ R(M) und |g| ≥ c > 0 auf M mit einer Konstantec > 0, so folgt f

g ∈ R(M) und∣∣∣∣ ∫M

f

gdx

∣∣∣∣ ≤ 1

c

∫M

|f | dx.

Beweis: Die Aussagen gelten nach Satz 1.3 fur die kanonischen Fortsetzungen fM , gM , woraus dieBehauptungen (i)-(iv) direkt folgen. Zum Beweis von (v) setzen wir

g(x) :=

g(x), fur x ∈M

c, fur x ∈ Rn \M.

Dann gilt g = gM + c(1− χM ). Fur beliebigen Quader Q ⊂ Rn mit M ⊂ Q ist also g ∈ R(Q) nachSatz 1.3. Und da auch fM ∈ R(Q) und |g| ≥ c auf Q gilt, folgt aus Satz 1.3 (v):(f

g

)M

=fMg

∈ R(Q), d.h.f

g∈ R(M).

Schließlich berechnen wir noch∣∣∣∣ ∫M

f

gdx

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ ∫Q

(fg

)M

dx

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ ∫Q

fMgdx

∣∣∣∣Satz 1.3 (v)

≤ 1

c

∫Q

|fM | dx|fM |=|f |M=

1

c

∫M

|f | dx,

wie behauptet. q.e.d.

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220 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Folgerung 3.3: Ist M ⊂ Rn quadrierbare Nullmenge, so ist jedes beschrankte f :M → Rd integrierbar auf M und es gilt∫

M

f dx = 0.

Bemerkung: Insbesondere gilt dies fur jede Menge vom Inhalt Null, da diese, wieoben bemerkt, quadrierbar sind. Nach Satz 3.1 gilt die Aussage von Folgerung 3.3dann fur den Rand ∂M jeder quadrierbaren Menge M ⊂ Rn.

Beweis von Folgerung 3.3: Da M quadrierbar ist, ist ∂M und somit auch das Kom-paktum M = M ∪ ∂M Nullmenge. Also gilt |M | = 0 nach Folgerung 2.1. Fernerist fur beliebiges f : M → Rd die Menge S(f |M ) ⊂ M Nullmenge. Also ist f nachSatz 3.3 integrierbar und Satz 3.4 (iv) liefert:∣∣∣∣ ∫

M

f dx

∣∣∣∣ ≤ ( supM

|f |) ∫M

1 dx =(supM

|f |)|M | = 0,

wie behauptet. q.e.d.

Definition 3.3: Sei f :M → Rd auf einer Menge M ⊂ Rn erklart und sei M ′ ⊂Mquadrierbar. Dann heißt f auf M ′ integrierbar, i.Z. f ∈ R(M ′,Rd), wenn f |M ′ ∈R(M ′,Rd) gilt, und wir setzen ∫

M ′

f dx :=

∫M ′

f |M ′ dx.

Hilfssatz 3.1: Ist M ⊂ Rn quadrierbar, so gilt fur jede quadrierbare TeilmengeM ′ ⊂M :

R(M,Rd) ⊂ R(M ′,Rd).

Beweis: Es sei Q ⊂ Rn mit M ⊂ Q und damit auch M ′ ⊂ Q gewahlt. Wir bemerkenfur die kanonischen Fortsetzungen von f ∈ R(M,Rd) bez. M und M ′:

fM ′(x) = χM ′(x)fM (x).

Wegen χM ′ ∈ R(Q) und fM ∈ R(Q,Rd) gilt nach Satz 3.4 (iv) fM ′ ∈ R(Q,Rd)bzw. f |M ′ ∈ R(M ′,Rd), wie behauptet.

q.e.d.

Hilfssatz 3.2: SeienM1,M2 ⊂ Rn quadrierbar mitM1∩M2 = ∅, und eine Funktionf : M1 ∪ M2 → Rd sei gegeben. Gilt dann f ∈ R(Mj ,Rd) fur j = 1, 2, so folgtf ∈ R(M1 ∪M2,Rd) und ∫

M1∪M2

f dx =

∫M1

f dx+

∫M2

f dx.

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3. INTEGRATION UBER QUADRIERBARE MENGEN 221

Beweis: Nach Folgerung 3.1 ist M1 ∪M2 quadrierbar. Fur die kanonische Fortsetzung fM1∪M2von

f haben wir

fM1∪M2= χM1∪M2fM1∪M2

= χM1fM1∪M2+ χM2fM1∪M2

=: f1 + f2. (3.2)

Dann ist offenbar

fj := χMjfM1∪M2= (f |Mj )Mj

, j = 1, 2, (3.3)

richtig, und nach Satz 3.4 (i) folgt f ∈ R(M1 ∪M2) und fur beliebige Quader Q ⊂ Rn mit M ⊂ Qerhalten wir ∫

M1∪M2

f dx =

∫Q

fM1∪M2dx

(3.2)=

∫Q

f1 dx+

∫Q

f2 dx

(3.3)=

∫M1

f |M1 dx+

∫M2

f |M2 dx =

∫M1

f dx+

∫M2

f dx,

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Wendet man Hilfssatz 3.2 speziell auf charakteristische Funktionen an,so erhalt man verschiede Inhalts-Beziehungen zwischen quadrierbaren Mengen. Sindz.B. M,N ⊂ Rn quadrierbar mit M ⊂ N , so folgt |M | ≤ |N | (→ Ubungsaufgabe).

Folgerung 3.4: Sei M ⊂ Rn quadrierbar und fur ein beschranktes f : M → Rdgelte f(x) = 0 fur alle x ∈M \E mit einer quadrierbaren Nullmenge E ⊂M . Dannfolgt f ∈ R(M,Rd) und ∫

M

f dx = 0.

Beweis: Nach Folgerung 3.1 ist M \ E quadrierbar. Gemaß Folgerung 3.3 ist f aufE integrierbar. Und da fM\E ≡ 0 auf Rn gilt, ist f auch auf M \ E integrierbar.

Wegen M =M \ E ∪ E liefert Hilfssatz 3.2 also f ∈ R(M,Rd) sowie∫M

f dx =

∫M\E

f dx+

∫E

f dx = 0 + 0 = 0,

wie behauptet. q.e.d.

Hilfssatz 3.3: Sei M ⊂ Rn quadrierbar und f : M → Rd beschrankt. Dann istauch M quadrierbar, und aus f ∈ R(M,Rd) folgt f ∈ R(M,Rd) sowie∫

M

f dx =

∫M

f dx. (3.4)

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222 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Bemerkung: Dabei fassen wir die linke Seite in (3.4) fur den Fall M = ∅ als Null auf,d.h. ∫

f dx := 0.

Wegen M = M \ M ⊂ ∂M ist dann nach Folgerung 3.3 (siehe auch die darananschließende Bemerkung) Relation (3.4) erfullt.

Beweis von Hilfssatz 3.3: Sei also o.B.d.A. M = ∅. Wegen

∂M = M \ M ⊂M \ M = ∂M

ist ∂M Nullmenge und M somit quadrierbar nach Satz 3.1. Weiter gilt M = M ∪ (M \ M) mit derMengeM \M ⊂ ∂M vom Inhalt Null (vgl. Satz 3.1). Nach Folgerung 3.3 gilt also f ∈ R(M \ M,Rd)und ∫

M\M

f(x) dx = 0,

so dass Hilfssatz 3.2 liefert f ∈ R(M,Rd) und∫M

f dx =

∫M\M

f dx+

∫M

f dx =

∫M

f dx,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 3.5: (Additivitat des Integrals)Sei M =

∪pl=1Ml mit quadrierbaren Mengen M1, . . . ,Mp ⊂ Rn, die Ml ∩ Mk = ∅

fur l = k erfullen. Ist dann f : M → Rd beschrankt und uber Ml integrierbar furalle l = 1, . . . , p, so folgt f ∈ R(M,Rd) und∫

M

f dx =

p∑l=1

∫Ml

f dx =

p∑l=1

∫Ml

f dx.

Beweis: Zunachst ist f nach Hilfssatz 3.2 uber M1 ∪ . . . ∪ Mp und nach Hilfssatz 3.3auch uber Ml integrierbar, und es gilt∫

M1∪...∪Mp

f dx =

p∑l=1

∫Ml

f dx =

p∑l=1

∫Ml

f dx. (3.5)

Ferner haben wir die Relation

M =

p∪l=1

Ml ∪N mit N ⊂p∪l=1

∂Ml, (3.6)

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3. INTEGRATION UBER QUADRIERBARE MENGEN 223

und nach Satz 3.1 ist N eine Menge vom Inhalt Null und damit quadrierbare Null-menge. Nach Folgerung 3.3 ist also f ∈ R(N,Rd) mit∫

N

f(x) dx = 0

richtig, so dass Hilfssatz 3.2 und Formeln (3.5), (3.6) liefern f ∈ R(M,Rd) und∫M

f dx =

∫M1∪...∪Mp

f dx+

∫N

f dx(3.5)=

p∑l=1

∫Ml

f dx =

p∑l=1

∫Ml

f dx,

wie behauptet. q.e.d.

Wir kommen nun zu einer Verallgemeinerung von Satz 1.6. Dazu benotigen wirnoch die

Definition 3.4: Eine Menge M ⊂ Rn heißt Normalbereich (bez. der xj-Achse),wenn es eine quadrierbare, kompakte Menge K ⊂ Rn−1 und Funktionen ψ, χ : K →R ∈ C0(K) mit ψ ≤ χ auf K so gibt, dass M die folgende Form hat:

M =x ∈ Rn : y := (x1, . . . , xj−1, xj+1, . . . , xn) ∈ K, ψ(y) ≤ xj ≤ χ(y)

. (3.7)

Bemerkung: Normalbereiche sind kompakt. Und nach Hilfssatz 2.2 hat ∂M den In-halt Null, d.h. jeder Normalbereich ist quadrierbar.

Satz 3.6: (Cavalierisches Prinzip oder Satz von Fubini)Es sei M ⊂ Rn Normalbereich der Form (3.7) und f ∈ C0(M,Rd) sei gegeben. Danngilt ∫

M

f dx =

∫K

( χ(y)∫ψ(y)

f dxj

)dy.

Beweis: O.B.d.A. sei d = 1 und j = n. Nach Folgerung 3.2 ist f auf M integrierbar, d.h. diekanonische Fortsetzung fM : Rn → Rd ist auf jedem Quader Q ⊂ Rn mit M =M ⊂ Q integrierbar.Ist Q ⊂ Rn−1 ein beliebiger Quader mit K = K ⊂ Q und I := [a, b] mit

−∞ < a < infKψ ≤ sup

Kχ < b < +∞

erklart, so gilt dies insbesondere fur Q := Q× I. Nach Satz 1.5 ist also∫M

f dx =

∫Q

fM dx =

∫Q

φ(y) dy =

∫Q

φ(y) dy (3.8)

richtig, wobei wir noch

φ(y) := II(fM (y, ·)

), φ(y) := II

(fM (y, ·)

), y ∈ Q,

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224 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

gesetzt haben. Nun ist fur jedes y ∈ K die Funktion fM (y, ·) : I → Rd stuckweise stetig und damitintegrierbar nach Folgerung 4.2 aus Kap. 3. Der dortige Satz 4.7 zeigt noch

φ(y) = φ(y) =

∫I

fM (y, xn) dxn =

χ(y)∫ψ(y)

f(y, xn) dxn fur y ∈ K.

Fur y ∈ Q \K gilt andererseits fM (y, xn) ≡ 0 auf I, also

φ(y) = φ(y) =

∫I

fM (y, xn) dxn = 0 fur y ∈ Q \K.

Einsetzen in (3.8) bringt somit

∫M

f dx =

∫K

φ(y) dy +

∫Q\K

φ(y) dy =

∫K

( χ(y)∫ψ(y)

f dxn

)dy,

wie behauptet. q.e.d.

Beispiel: Gesucht ist |BR(0)| fur die Kugel BR(0) ⊂ R3 mit Radius R > 0. Wir konnen schreiben

BR(0) =(x, y, z) : (x, y) ∈ KR(0), −

√R2 − x2 − y2 ≤ z ≤

√R2 − x2 − y2

mit der abgeschlossen Kreisscheibe

KR(0) :=(x, y) : x2 + y2 ≤ R2

=(x, y) : −R ≤ x ≤ R, −

√R2 − x2 ≤ y ≤

√R2 − x2

.

Satz 3.6 zeigt also

|BR(0)| = |BR(0)| =

∫BR(0)

1 dx dy dz =

∫KR(0)

( √R2−x2−y2∫

−√R2−x2−y2

1 dz

)dx dy

= 2

∫KR(0)

√R2 − x2 − y2 dx dy = 2

R∫R

( √R2−x2∫

−√R2−x2

√R2 − x2 − y2 dy

)dx.

Fur beliebiges ϱ > 0 gilt nun (substituiere y = ϱ cos t, t ∈ [0, π]):

ϱ∫−ϱ

√ϱ2 − y2 dy =

[− ϱ2

2arccos

y

ϱ+y

2

√ϱ2 − y2

]ϱ−ϱ

=πϱ2

2.

Einsetzen mit ϱ =√R2 − x2 liefert schließlich

|BR(0)| = π

R∫−R

(R2 − x2) dx = π[R2x− x3

3

]R−R

=4πR3

3.

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4. DIE TRANSFORMATIONSFORMEL FUR TESTFUNKTIONEN 225

Bemerkung: Ist M ⊂ Rn darstellbar als Vereinigung M = M1 ∪ . . . ∪Mp endlichvieler Normalbereiche mit Ml ∩ Mk = ∅ fur l = k, d.h. kann man M in p ∈ NNormalbereiche

”zerschneiden“, so kann man mit Satz 3.6 fur jedes f ∈ C0(M)

zunachst∫Mlf dx, l = 1, . . . , p, berechnen und anschließend

∫M f dx mit Satz 3.5

bestimmen.

Zum Abschluss geben wir noch die Verallgemeinerung von Satz 5.6 aus Kap. 3auf Funktionen mehrerer Veranderlicher an:

Satz 3.7: Sei M ⊂ Rn quadrierbar und die Folge fk :M → Rd ∈ R(M,Rd), k ∈ N,konvergiere gleichmaßig gegen eine Funktion f :M → Rd. Dann folgt f ∈ R(M,Rd)und ∫

M

f(x) dx =

∫M

(limk→∞

fk(x))dx = lim

k→∞

(∫M

fk(x) dx

).

Beweis: Ubungsaufgabe.

4 Die Transformationsformel fur Testfunktionen

Wir wollen zunachst den Begriff”Testfunktion“ erklaren:

Definition 4.1:

• Ist M ⊂ Rn beliebig und f :M → Rd gegeben. Dann heißt die Menge

supp f := x ∈M : f(x) = 0

der Trager oder Support von f .

• Ist Θ ⊂ Rn beliebig, so heißt M ⊂ Θ kompakt enthalten in Θ, i.Z. M ⊂⊂ Θ,wenn M kompakt ist und M ⊂ Θ erfullt.

• Ist Ω ⊂ Rn offen und s ∈ N0 ∪ ∞, d ∈ N beliebig, so bezeichnet

Csc (Ω,Rd) :=f ∈ Cs(Ω,Rd) : supp f ⊂⊂ Ω

die Menge der s-mal stetig differenzierbaren, Rd-wertigen Funktionen mit kom-paktem Trager in Ω. Ein solches f ∈ Csc (Ω,Rd) nennen wir auch kurz Test-funktion.

Bemerkung: Wir konnen uns eine Funktion f ∈ Csc (Ω,Rd) immer auf ganz Rn erklartdenken, indem wir f zu 0 auf Rn \ Ω fortsetzen. Dann ist offenbar f ∈ Cs(Rn,Rd)und supp f ⊂⊂ Ω richtig.

Ziel dieses Paragraphen ist der folgende

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226 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Satz 4.1: (Transformationsformel fur Testfunktionen)Seien Ω,Ω∗ ⊂ Rn offene, quadrierbare Mengen und ϕ = ϕ(x) : Ω → Ω∗ ein C1-Diffeomorphismus von Ω auf Ω∗. Dann gilt fur beliebiges f ∈ C0

c (Ω∗) die Identitat∫

Ω∗

f(y) dy =

∫Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx. (4.1)

Bemerkung: Satz 4.1 ist ein Spezialfall der allgemeinen Transformationsformel. Dasentsprechende Resultat fur offene, nicht notwendig quadrierbare Mengen Ω,Ω∗ undf ∈ C0(Ω∗) werden wir in § 5 durch Approximation erhalten.

Der Beweis von Satz 4.1 beruht auf zwei zentralen Ideen:

1. Lokalisierung.

2. Induktion uber die Raumdimension.

Die Lokalisierung basiert auf dem folgenden wichtigen Werkzeug:

Definition 4.2: (Zerlegung der Eins)Sei M ⊂ Rn nichtleer. Eine Zerlegung der Eins (auf M) ist eine Familie ηαα∈Ivon Funktionen ηα ∈ C∞

c (Rn) mit hochstens abzahlbarer Indexmenge I und denfolgenden Eigenschaften:

(i) Fur alle α ∈ I gilt 0 ≤ ηα ≤ 1 auf Rn.

(ii) Fur jedes x ∈ Rn existieren hochstens endlich viele α ∈ I mit ηα(x) = 0.

(iii) Es gilt∑α∈I

ηα(x) ≡ 1 fur alle x ∈M sowie 0 ≤∑α∈I

ηα ≤ 1 auf Rn.

Hilfssatz 4.1: Sei K ⊂ Rn kompakt und F = Ox : x ∈ K eine beliebige offeneUberdeckung, wobei Ox eine offene Umgebung von x ∈ K bezeichne. Dann gibt eseine endliche Zerlegung der Eins ηαα=1,...,p auf K mit der zusatzlichen Eigenschaftηα ∈ C∞

c (Oxα) fur xα ∈ K, α = 1, . . . , p.

Beweis: Da Ox offen ist, existiert zu jedem x ∈ K ein r(x) ∈ (0, 1) mit B(x) := Br(x)(x) ⊂⊂ Ox.Ferner gibt es eine Kugel B := BR(0) mit∪

x∈K

B(x) ⊂⊂ B.

Und zu jedem x ∈ B \K finden wir eine Kugel B(x) = Br(x)(x) ⊂ Rn \K. Aus der so gewonnen

offenen Uberdeckung F := B(x) : x ∈ B der kompakten Kugel B konnen wir nach dem Satzvon Heine-Borel endlich viele Kugeln Bα := B(xα), α = 1, . . . , N , auswahlen, die B uberdecken.Diese sortieren wir so, dass

xα ∈

K, fur α = 1, . . . , p

B \K, fur α = p+ 1, . . . , N

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4. DIE TRANSFORMATIONSFORMEL FUR TESTFUNKTIONEN 227

mit einem p < N richtig ist. Nach Konstruktion gilt dann Bα ∩K = ∅ fur α = p+ 1, . . . , N .

Mit dem Radius rα := r(xα) > 0 der Kugel Bα setzen wir

ξα(x) := ψ(r2α − |x− xα|2

), x ∈ Rn,

mit der Funktion

ψ(t) :=

e−

1t , fur t > 0

0, fur t ≤ 0∈ C∞(R).

Dann gilt ξα ∈ C∞c (Rn) fur alle α = 1, . . . , N und wir bemerken

ξα(x) > 0 ⇔ x ∈ Bα fur alle α = 1, . . . , N.

Insbesondere haben wir also supp ξα = Bα ⊂ B ∩ Oxα fur α = 1, . . . , p und ξα = 0 auf K furα = p+ 1, . . . , N . Schließlich setzen wir noch

ξ(x) :=

N∑α=1

ξα(x), x ∈ Rn,

und beachten ξ > 0 auf B. Fur

ηα(x) :=

ξα(x)ξ(x)

, fur x ∈ B

0, fur x ∈ Rn \B∈ C∞

c (Oxα), α = 1, . . . , p,

sind dann die Eigenschaften (i)-(iii) aus Definition 4.2 erfullt. q.e.d.

Folgerung 4.1: Ist Ω ⊂ Rn offen und K ⊂ Ω kompakt, so existiert ein η ∈ C∞c (Ω)

mit η ≡ 1 auf K und 0 ≤ η ≤ 1 auf Ω.

Beweis: Zu jedem x ∈ K gibt es ein r(x) > 0 mit B(x) := Br(x)(x) ⊂ Ω. Nach

Hilfssatz 4.1 konnen wir zur Uberdeckung F = B(x) : x ∈ K eine endlicheZerlegung der Eins ηαα=1,...,p auf K mit ηα ∈ C∞

c (B(xα)) finden. Folglich leistetη :=

∑pα=1 ηα das Gewunschte.

q.e.d.

Hilfssatz 4.2: (Lokalisierung)Es seien Ω,Ω∗ ⊂ Rn und ϕ = ϕ(x) : Ω → Ω∗ wie in Satz 4.1. Dann gilt Formel (4.1)genau dann fur alle f ∈ C0

c (Ω∗), wenn zu jedem y0 ∈ Ω∗ ein ϱ = ϱ(y0) > 0 mit

Bϱ(y0) ⊂ Ω∗ so existiert, dass Formel (4.1) fur alle f ∈ C0

c (Bϱ(y0)) erfullt ist.

Beweis:

•”⇒“: Klar, wegen C0

c (Bϱ(y0)) ⊂ C0

c (Ω∗) fur Bϱ(y

0) ⊂ Ω∗.

•”⇐“: Sei also f ∈ C0

c (Ω∗) gewahlt, d.h. K := supp f ⊂ Ω∗ ist kompakt. Dann

existiert nach Hilfssatz 4.1 eine endliche Zerlegung der Eins ηαα=1,...,p aufK mit ηα ∈ C∞

c (Bϱ(xα)(xα)) fur α = 1, . . . , p, wobei ϱ(xα) > 0 wie in der

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228 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Voraussetzung gewahlt seien. Es folgt nun mit gα := fηα ∈ C0c (Bϱ(xα)(xα)):∫

Ω∗

f(y) dy −∫Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx

=

∫Ω∗

[ p∑α=1

ηα(y)

]f(y) dy −

∫Ω

[ p∑α=1

ηα(ϕ(x))

]f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx

=

p∑α=1

(∫Ω∗

gα(y) dy −∫Ω

gα(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx)

= 0,

nach Voraussetzung. q.e.d.

Beweis von Satz 4.1: Wegen Hilfssatz 4.2 genugt es, die Aussage fur f ∈ C0c (Bϱ(y

0))mit beliebigem y0 ∈ Ω∗ und geeignetem Radius ϱ = ϱ(y0) > 0 mit Bϱ(y

0) ⊂ Ω∗

zu zeigen. Wie schon angedeutet, benutzen wir eine vollstandige Induktion uber dieRaumdimension n ∈ N:

1. n = 1 : Zu y0 ∈ Ω∗ ⊂ R wahlen wir ϱ > 0 mit [y0−ϱ, y0+ϱ] ⊂ Ω∗. Setzen wira := ϕ−1(y0 − ϱ), b := ϕ−1(y0 + ϱ), so konnen wir o.B.d.A. a < b annehmen.Dann folgt [a, b] ⊂ Ω und fur beliebiges f ∈ C0

c ((y0− ϱ, y0+ ϱ)) berechnen wir

mit der Transformationsformel in einer Veranderlichen, Satz 5.5 in Kap. 3:

∫Ω∗

f(y) dy =

y0+ϱ∫y0−ϱ

f(y) dy =

b∫a

f(ϕ(x))ϕ′(x) dxϕ′>0=

∫Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx.

2. n → n + 1 :

(a) Wir fixieren wieder y0 ∈ Ω∗ ⊂ Rn+1 und schreiben y = (τ, ζ) mit τ ∈ R,ζ = (ζ1, . . . , ζn) ∈ Rn, speziell also y0 = (τ0, ζ0) ∈ Ω∗. Ferner schreibenwir

ϕ = ϕ(x) = (γ(x), ψ(x)) : Ω → Ω∗, Ω ⊂ Rn+1,

wobei γ ∈ C1(Ω) die erste und ψ = (ψ1, . . . , ψn) ∈ C1(Ω,Rn) die letz-ten n Komponenten von ϕ bezeichnen. Zu beliebigem y = (τ, ζ) ∈ Ω∗

betrachten wir nun

Mζ :=x ∈ Ω : ψ(x)− ζ = 0

.

Offenbar ist Mζ nicht leer, und wegen rgDψ = n ist Mζ eine 1-dimensio-nale Mannigfaltigkeit der Klasse C1. In einer hinreichend kleinen Um-gebung von x0 := ϕ−1(y0) ∈ Mζ0 konnen wir also o.B.d.A. annehmen,

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4. DIE TRANSFORMATIONSFORMEL FUR TESTFUNKTIONEN 229

dass die Vektoren D2ψ(x), . . . , Dn+1ψ(x) linear unabhangig sind. Wirschreiben x = (t, z) mit t ∈ R, z = (z1, . . . , zn) ∈ Rn. Nach Folge-rung 6.1 aus Kap. 4 lasst sich dann Mζ lokal (um x0) als Graph uber dert-Achse schreiben. Wahlen wir also r > 0 hinreichend klein und schreibenW ⊂ Rn fur den um ζ0 zentrierten Wurfel der Kantenlange 2r, so gibtes zu jedem ζ ∈ W eine Funktion g = g(t, ζ) : I → Rn ∈ C1(I,Rn) mitI := [t0 − r, t0 + r], so dass

Mζ ∩ U =(t, g(t, ζ)

): t ∈ I

mit einer (von ζ unabhangigen) offenen Umgebung U = U(x0) ⊂ Ω gilt.Man uberlegt sich noch leicht, dass g auch glatt von ζ abhangt, d.h. g ∈C1(I ×W,Rn) erfullt ist.

(b) Wir erklaren nun die Funktion

h(t, ζ) :=(t, g(t, ζ)

), (t, ζ) ∈ I ×W,

und setzen σ(t, ζ) := γh(t, ζ) ∈ C1(I×W ). Dann gilt nach Konstruktion

ϕh(t, ζ) =(γh(t, ζ), ψ(t, g(t, ζ))

)=(σ(t, ζ), ζ

), (t, ζ) ∈ I×W, (4.2)

und folglich

Dϕh(t, ζ) =

(σt(t, ζ) 0

∇ζσ(t, ζ) E

)sowie

Jϕh(t, ζ) = σt(t, ζ), (t, ζ) ∈ I ×W. (4.3)

Wir behaupten nun σt = 0 auf I ×W . In der Tat gilt nach Konstruktionψ(t, g(t, ζ)) = ζ und folglich Dzψ(h(t, ζ)) Dζg(t, ζ) = E auf I ×W . Alsomuss

Jh(t, ζ) = detDζg(t, ζ) = 0, (t, ζ) ∈ I ×W, (4.4)

gelten, und wegen Jϕ = 0 auf Ω folgt aus (4.3) und (4.4) die Behauptungσt = 0 auf I ×W . Wir konnen noch o.B.d.A. σt > 0 annehmen, also

|Jϕh(t, ζ)| = σt(t, ζ) > 0, (t, ζ) ∈ I ×W. (4.5)

(c) Wegen (4.4) ist fur fixiertes t ∈ I die Abbildung g(t, ·) :W → Rn ein C1-Diffeomorphismus (Kantenlange 2r > 0 von W hinreichend klein). Wirsetzen fur das Bild

Ω(t) :=z ∈ Rn : z = g(t, ζ), ζ ∈W

, t ∈ I,

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230 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

und beachten

V :=(t, z) : t ∈ I, z ∈ Ω(t)

=

(t, g(t, ζ)

): (t, ζ) ∈ I ×W

=

∪ζ∈W

Mζ ∩ U(4.6)

mit der in (a) erklarten Umgebung U = U(x0) ∈ Ω. Die Mengen Ω(t) ⊂Rn sind quadrierbar, da das Bild der quadrierbaren, kompakten Men-ge W unter einem C1-Diffeomorphismus wieder quadrierbar ist (sieheS.Hildebrandt: Analysis 2, Lemma1 in § 5.2).Wir konnen nun ϱ > 0 so klein wahlen, dass ϕ−1(Bϱ(y

0)) ⊂ V erfullt ist.Aus (4.2) folgt dann

Bϱ(y0) ⊂ ϕ(V ) =

(σ(t, ζ), ζ

): (t, ζ) ∈ I ×W

(4.7)

und dass σ(·, ζ) : I → R gemaß (b) fur jedes feste ζ ∈ W ein Diffeomor-phismus ist.

(d) Ist nun f ∈ C0c (Bϱ(y

0)) beliebig gewahlt, so gilt wegen (4.7) fϕ ∈ C0c (V ).

Mit der Induktionsvoraussetzung und der Substitutionsformel berechnenwir somit:∫

Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx =

∫V

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx

(4.6)=

∫I

( ∫Ω(t)

f(ϕ(t, z))|Jϕ(t, z)| dz)dt

(IV)=

∫I

(∫W

f(ϕ(t, g(t, ζ))

)|Jϕ(t, g(t, ζ))| | detDζg(t, ζ)| dζ

)dt

(4.2),(4.4)=

∫I

(∫W

f(σ(t, ζ), ζ

)|Jϕh(t, ζ)| dζ

)dt

(4.5)=

∫W

( t0+r∫t0−r

f(σ(t, ζ), ζ

)σt(t, ζ) dt

)dζ

Subst.-formel=

∫W

( σ(t0+r,ζ)∫σ(t0−r,ζ)

f(τ, ζ) dτ

)dζ

(4.7)=

∫ϕ(V )

f(τ, ζ) dτ dζ =

∫Ω∗

f(y) dy,

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5. UNEIGENTLICHE INTEGRALE & TRANSFORMATIONSFORMEL 231

wie behauptet. q.e.d.

5 Uneigentliche Integrale und die allgemeine Transfor-mationsformel

Durch einen Ausschopfungsprozess erklaren wir nun, ahnlich wie im Eindimensio-nalen, das uneigentliche Integral uber beliebige offene, nicht notwendig beschrankteTeilmengen Ω ⊂ Rn und beginnen mit der

Definition 5.1: Es seien Ω ⊂ Rn offen und Mj ⊂⊂ Ω, j ∈ N, gewahlt. Dannheißt Mjj∈N eine Ausschopfung von Ω, wenn fur jedes Kompaktum K ⊂ Ω einj0 = j0(K) ∈ N existiert mit

K ⊂Mj fur alle j ≥ j0.

Wir schreiben dann Mj → Ω(j → ∞). Sind die Mengen Mj quadrierbar, so heißtMjj quadrierbare Ausschopfung.

Hilfssatz 5.1: Seien A,K ⊂ Rn nichtleer, A abgeschlossen, K kompakt und es gelteA ∩K = ∅. Dann folgt fur die Distanz zwischen A und K:

dist (A,K) := inf|x− y| : x ∈ A, y ∈ K

> 0.

Beweis: Ware dist (A,K) = 0, so existierten Folgen xll ⊂ A und yll ⊂ K mit

|xl − yl| <1

lfur l ∈ N. (5.1)

DaK kompakt ist, konnen wir nach Satz 10.8 aus Kap. 1 eine konvergente Teilfolge ylkk auswahlenmit ξ := limk→∞ ylk ∈ K. Aus (5.1) folgt dann auch xlk → ξ (k → ∞), d.h. ξ ist Haufungspunktder abgeschlossenen Menge A, also ξ ∈ A ∩K, Widerspruch!

q.e.d.

Hilfssatz 5.2: (Ausschopfungslemma)Zu jeder offenen Menge Ω ⊂ Rn existiert eine quadrierbare Ausschopfung Mjjvon Ω.

Beweis: Zu jedem j ∈ N betrachten wir eine aquidistante Zerlegung Zj des WurfelsWj := [−j, j]× . . .× [−j, j] ⊂ Rn in Teilwurfel Wjα, α ∈ Aj , mit diamWjα ≤ 1

j furalle α ∈ Aj . Die Mengen

Mj :=∪

α∈Aj :Wjα⊂Ω

Wjα, j ∈ N,

sind dann kompakte quadrierbare Mengen mit Mj =M j ⊂ Ω.

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232 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Ist K ⊂ Ω eine beliebige kompakte Teilmenge, so existiert ein j1 = j1(K) ∈ Nmit K ⊂Wj fur alle j ≥ j1. Nach Hilfssatz 5.1 gilt weiter

d := dist(Rn \ Ω,K) > 0.

Wahlen wir j0 ≥ j1 mit 1j0< d, so folgt

diamWjα ≤ 1

j< d fur alle j ≥ j0, α ∈ Aj .

Ist nun x ∈ K beliebig gewahlt, so existiert zu jedem j ≥ j0 ein α ∈ Aj mit x ∈Wjα.Fur alle y ∈Wjα folgt dann |y−x| < d, also y ∈ Ω, d.h.Wjα ⊂ Ω. Folglich ist x ∈Mj ,d.h. K ⊂Mj fur alle j ≥ j0, wie behauptet.

q.e.d.

Definition 5.2: Sei Ω ⊂ Rn offen und f ∈ C0(Ω,Rd) gegeben. Wenn dann fur jedequadrierbare Ausschopfung Mjj von Ω die Folge

∫Mj

f dx konvergiert, so setzenwir ∫

Ω

f(x) dx := limj→∞

∫Mj

f(x) dx (5.2)

fur das uneigentliche Integral von f uber Ω. Wir sagen dann auch, f ist integrierbaruber Ω oder das uneigentliche Integral

∫Ω f dx existiert bzw. konvergiert.

Bemerkungen:

1. Die Definition des uneigentlichen Integrals in (5.2) ist sinnvoll da unabhangigvon der gewahlten Ausschopfung Mjj .Denn: Ist M ′

jj eine weitere quadrierbare Ausschopfung von Ω, so ist offenbar auch die

gemischte Folge Mjj := M1,M′1,M2,M

′2, . . . quadrierbare Ausschopfung von Ω. Also

existiert der Grenzwert limj→∞

∫Mj

f dx und es gilt insbesondere

limj→∞

∫Mj

f(x) dx = limj→∞

∫Mj

f(x) dx = limj→∞

∫M′

j

f(x) dx.

2. Falls Ω selbst quadrierbar und f ∈ C0(Ω,Rd) beschrankt ist, so stimmt das in(5.2) erklarte uneigentliche Integral mit dem Riemannschen Integral

∫Ω f dx

aus Definition 3.2 uberein.

Denn: Man kann dann zu vorgegebenem ε > 0 ein quadrierbares Kompaktum K ⊂ Ω sokonstruieren, dass |Ω \K| < ε gilt (→ Ubungsaufgabe). Fur eine quadrierbare Ausschopfungfolgt dann Mj ⊃ K und folglich |Ω \Mj | ≤ |Ω \K| < ε fur j ≥ j0(ε). Dies liefert∣∣∣∣ ∫

Ω

f dx−∫Mj

f dx

∣∣∣∣ HS 3.2=

∣∣∣∣ ∫Ω\Mj

f dx

∣∣∣∣ ≤ ( supΩ

|f |)|Ω \Mj | ≤

(supΩ

|f |)ε

fur j ≥ j0(ε).

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5. UNEIGENTLICHE INTEGRALE & TRANSFORMATIONSFORMEL 233

Definition 5.3: Das uneigentliche Integral∫Ω f dx einer Funktion f ∈ C0(Ω,Rd)

heißt absolut konvergent, wenn das Integral∫Ω |f(x)| dx konvergiert. Wir schreiben

dann auch∫Ω |f(x)| dx < +∞.

Hilfssatz 5.3: Falls das uneigentliche Integral∫Ω f dx absolut konvergiert, so kon-

vergiert es auch im gewohnlichen Sinn.

Beweis: Sei M∗kk eine quadrierbare Ausschopfung von Ω. Setzen wir

Ml :=

l∪k=1

M∗k , l ∈ N,

so ist auch Mll quadrierbare Ausschopfung von Ω und es gilt M1 ⊂ M2 ⊂ . . .. Nach Voraussetzungist also

∫Ml

|f | dxl konvergent und daher auch Cauchyfolge. Ist ε > 0 beliebig gewahlt, so existiert

somit ein L = L(ε) ∈ N, so dass∫Ml\ML

|f | dx =

∫Ml

|f | dx−∫ML

|f | dx < ε

2fur alle l ≥ L. (5.3)

Sei nun Mjj eine beliebige quadrierbare Ausschopfung von Ω. Dann existiert ein J = J(ε) ∈ N,so dass gilt

ML ⊂⊂Mj fur alle j ≥ J.

Sind nun j, j′ ≥ J beliebig, so existiert andererseits ein K = K(ε) ≥ L, so dass gilt

Mj ,Mj′ ⊂⊂ MK .

Verwendung von (5.3) liefert dann∣∣∣∣ ∫Mj

f dx−∫M′

j

f dx

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ ∫Mj\ML

f dx−∫

Mj′\ML

f dx

∣∣∣∣≤

∫Mj\ML

|f | dx+

∫Mj′\ML

|f | dx

≤ 2

∫MK\ML

|f | dx(5.3)< ε fur alle j, j′ ≥ J.

Folglich ist ∫Mj

f dxj Cauchyfolge und somit konvergent. q.e.d.

Hilfssatz 5.4: (Charakterisierung absoluter Konvergenz)Fur beliebiges f ∈ C0(Ω,Rd) ist

∫Ω f dx genau dann absolut konvergent, wenn eine

Konstante c ∈ [0,+∞) so existiert, dass gilt∫M

|f(x)| dx ≤ c fur alle quadrierbaren M ⊂⊂ Ω. (5.4)

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234 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Beweis:

•”⇒“: Sei

∫Ω|f | dx konvergent, so setzen wir c :=

∫Ω|f | dx. Ist dann M ⊂⊂ Ω quadrierbar

und Mjj quadrierbare Ausschopfung von Ω, so folgt M ⊂M ⊂Mj fur alle j ≥ j0(M) undfolglich ∫

M

|f | dx ≤∫Mj

|f | dx fur alle j ≥ j0.

Grenzubergang j → ∞ liefert (5.4).

•”⇐“: Ist andererseits (5.4) erfullt, so gilt dies insbesondere fur die Elemente Mj ⊂⊂ Ωeiner Ausschopfung Mjj von Ω mit M1 ⊂ M2 ⊂ . . . (siehe Beweis von Hilfssatz 5.3). DieFolge

∫Mj

|f | dxj ist dann monoton wachsend und nach oben durch c beschrankt, also auch

konvergent.q.e.d.

Bemerkung: Man kann nun die meisten Rechenregeln aus Satz 3.4 leicht auf unei-gentliche Integrale stetiger Funktionen ubertragen, soweit letztere existieren. AberVorsicht: Mit

∫Ω f dx muss nicht

∫Ω |f | dx existieren, so dass Satz 3.4 (iii) nur dann

richtig ist, wenn∫Ω f dx absolut konvergiert. Entsprechend gelten (iv) und (v) nur,

falls∫Ω f dx absolut konvergiert, und in (iv) muss zusatzlich g in Ω beschrankt sein.

Haben wir eine Folge fj : Ω → Rd stetiger Funktionen, fur die das uneigentli-che Integral uber Ω existiert, so fragen wir wieder nach der Vertauschbarkeit vonGrenzwertbildung und Integration. Der dafur angemessene Konvergenzbegriff ist derfolgende:

Definition 5.4: Eine Folge fj : Ω → Rd ∈ C0(Ω,Rd), j = 1, 2, . . ., heißt kom-pakt gleichmaßig konvergent, wenn fur jede kompakte Teilmenge K ⊂ Ω die Ein-schrankungen fj |Kj gleichmaßig konvergieren.

Bemerkung: Insbesondere existiert dann eine Grenzfunktion f(x) := limj→∞ fj(x),x ∈ Ω, und nach dem Weierstraßschen Konvergenzsatz gilt f ∈ C0(Ω,Rd).

Satz 5.1: Seien Ω ⊂ Rn offen und fj ∈ C0(Ω,Rd), j = 1, 2, . . ., kompakt gleichma-ßig konvergent gegen f ∈ C0(Ω,Rd). Weiter existiere eine integrable Majorante furfjj, d.h. es gibt ein nichtnegatives F ∈ C0(Ω) mit

∫Ω F dx < +∞, so dass gilt

|fj(x)| ≤ F (x) fur alle x ∈ Ω und j ∈ N. (5.5)

Dann konvergieren auch die uneigentlichen Integrale∫Ω fj dx fur j = 1, 2, . . . und∫

Ω f dx (sogar absolut), und es gilt∫Ω

f(x) dx =

∫Ω

(limj→∞

fj(x))dx = lim

j→∞

(∫Ω

fj(x) dx

). (5.6)

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5. UNEIGENTLICHE INTEGRALE & TRANSFORMATIONSFORMEL 235

Beweis: Zunachst existiert nach Hilfssatz 5.4 und Formel (5.5) ein c ∈ [0,+∞), sodass fur beliebiges quadrierbares M ⊂⊂ Ω gilt∫

M

|fj(x)| dx ≤∫M

F (x) dx ≤ c.

Wieder nach Hilfssatz 5.4 sind also∫Ω |fj | dx existent und nach Hilfssatz 5.3 erst

recht∫Ω fj dx. Ferner entnehmen wir (5.5) auch |f | ≤ F auf Ω, so dass aus dem

gleichen Grund∫Ω |f | dx und

∫Ω f dx existieren. Nun wahlen wir zu vorgegebenem

ε > 0 ein Element M ⊂⊂ Ω einer quadrierbaren Ausschopfung so groß, dass gilt∣∣∣∣ ∫Ω\M

F (x) dx

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣ ∫Ω

F (x) dx−∫M

F (x) dx

∣∣∣∣ < ε.

(Man ubertrage hierzu Hilfssatz 3.2 auf uneigentliche Integrale!) Dann folgt aus derMonotonie des Integrals auch∫

Ω\M

|fj(x)| dx < ε fur j = 1, 2, . . . ,

∫Ω\M

|f(x)| dx < ε. (5.7)

Da andererseits fj →→ f auf M gilt, entnehmen wir Satz 3.7:∣∣∣∣ ∫M

fj(x) dx−∫M

f(x) dx

∣∣∣∣ < ε fur alle j ≥ j0(ε). (5.8)

Kombination von (5.7) und (5.8) liefert nun∣∣∣∣ ∫Ω

fj dx−∫Ω

f dx

∣∣∣∣ ≤ ∫Ω\M

|fj | dx+

∫Ω\M

|f | dx+

∣∣∣∣ ∫M

(fj − f) dx

∣∣∣∣ < 3ε

fur j ≥ j0(ε), also die behauptete Relation (5.6). q.e.d.

Wir wollen nun die allgemeine Transformationsformel beweisen. Zur Vorberei-tung benotigen wir noch den einfachen

Hilfssatz 5.5: Zu jeder offenen Menge Ω ⊂ Rn und f ∈ C0c (Ω) existiert eine qua-

drierbare offene Menge Θ ⊂ Ω mit f ∈ C0c (Θ). Das uneigentliche Integral

∫Ω f dx

existiert, und es gilt ∫Ω

f dx =

∫Θ

f dx.

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236 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Bemerkung: Die Transformationsformel fur Testfunktionen, Satz 4.1, gilt also furbeliebige offene, nicht notwendig quadrierbare Mengen Ω,Ω∗ ⊂ Rn.

Beweis von Hilfssatz 5.5: Wir setzen K := supp f ⊂⊂ Ω. Dann existiert ein Kompaktum K′ ⊂ Ωmit K ⊂ K′ (man verwende den Satz von Heine-Borel und Hilfssatz 5.1). Sei nun M ⊂⊂ Ω einElement einer nach Hilfssatz 5.2 existierenden, quadrierbaren Ausschopfung von Ω mit M ⊃ K′.Wir setzen Θ := M . Nach Hilfssatz 3.3 ist Θ quadrierbar und wir haben nach Konstruktion Θ ⊃K′ ⊃ K = supp f , d.h. f ∈ C0

c (Θ).Ist schließlich Mjj eine beliebige quadrierbare Ausschopfung von Ω, so existiert ein j0 = j0(Θ)

mit Θ ⊂ Θ ⊂Mj fur alle j ≥ j0. Es folgt∫Mj

f dx =

∫Mj\Θ

f dx+

∫Θ

f dx =

∫Θ

f dx fur j ≥ j0,

d.h. ∫Mj

f dxj konvergiert trivial fur beliebige quadrierbare Ausschopfungen Mjj , und es gilt∫Ω

f dx := limj→∞

∫Mj

f dx =

∫Θ

f dx,

wie behauptet. q.e.d.

Unser wichtigstes Ergebnis dieses Kapitels ist nun der folgende

Satz 5.2: (Transformationsformel)Es seien Ω,Ω∗ ⊂ Rn offene Mengen und ϕ = ϕ(x) : Ω → Ω∗ ein C1-Diffeomorphis-mus von Ω auf Ω∗. Ist dann f ∈ C0(Ω∗) mit

∫Ω∗ |f | dy < +∞ gewahlt, so gilt∫

Ω∗

f(y) dy =

∫Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx. (5.9)

Bemerkungen:

1. Wir erinnern daran, dass ϕ ∈ C1(Ω,Rn) genau dann C1-Diffeomorphismus ist,wenn ϕ bijektiv auf sein Bild ist und Jϕ = 0 auf Ω gilt (Folgerung 1.1 undSatz 5.2 aus Kap. 4).

2. Durch komponentenweise Betrachtung ubertragt sich (5.9) offenbar sofort aufkomplex- bzw. vektorwertige Funktionen f .

3. Es genugt, (5.9) fur f ∈ C0(Ω∗) mit f ≥ 0 in Ω∗ und∫Ω∗ f dy < +∞ zu zeigen.

Hierzu zerlegen wir ein beliebiges, nicht notwendig nichtnegatives f gemaß

f = f+ − f− mit f± :=1

2(|f | ± f)

in seinen Positivanteil f+ und seinen Negativanteil f−. Dann folgt offenbarf± ≥ 0 und |f | = f+ + f− auf Ω∗. Gilt also (5.9) fur f+ und f−, so aufgrundder Linearitat des Integrals auch fur f .

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5. UNEIGENTLICHE INTEGRALE & TRANSFORMATIONSFORMEL 237

Beweis von Satz 5.2: Sei also o.B.d.A. f ≥ 0 in Ω∗. Ist Mjj eine quadrierbareAusschopfung von Ω, so zeigt man leicht, dass dann M∗

j j mit M∗j := ϕ(Mj) die

offene Menge Ω∗ = ϕ(Ω) ausschopft (→ Ubungsaufgabe) und auch M∗j quadrierbar

sind (→ S.Hildebrandt: Analysis 2, Lemma1 in § 5.2). Zu jedemM∗j ⊂⊂ Ω∗ existiert

nach Folgerung 4.1 eine Funktion η∗j ∈ C∞c (Ω∗) mit η∗j ≡ 1 auf M∗

j und η∗j (Ω∗) ⊂

[0, 1]. Folglich gilt auch ηj := η∗j ϕ : Ω → R ∈ C1c (Ω), ηj ≡ 1 auf Mj und ηj(Ω) ⊂

[0, 1].Wir betrachten nun die Funktionen fj := fη∗j : Ω

∗ → R ∈ C0c (Ω

∗). Nach Satz 4.1und Hilfssatz 5.5 gilt dann die Transformationsformel∫

Ω∗

fj(y) dy =

∫Ω

fj(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx. (5.10)

Ferner konvergiert fjj kompakt gleichmaßig gegen f auf Ω∗, und es gilt 0 ≤ fj ≤ fauf Ω∗ sowie

∫Ω∗ f dy < +∞. Satz 5.1 liefert also

limj→∞

∫Ω∗

fj(y) dy =

∫Ω∗

f(y) dy. (5.11)

Andererseits konvergiert auch (fj ϕ)|Jϕ|j kompakt gleichmaßig gegen (f ϕ)|Jϕ|auf Ω. Und fur beliebiges quadrierbares M ⊂⊂ Ω existiert ein j0 ∈ N mit Mj ⊃ Mfur alle j ≥ j0, so dass fur solch ein j folgt

0 ≤∫M

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dxfj=fηj=

∫M

fj(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx

≤∫Ω

fj(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx(5.10)=

∫Ω∗

fj(y) dy ≤∫Ω∗

f(y) dy =: c < +∞.

Die Konstante c =∫Ω∗ f dy ist unabhangig von der Wahl von M , so dass nach

Hilfssatz 5.4 das uneigentliche Integral∫Ω(f ϕ)|Jϕ| dx existiert. Wiederum nach

Satz 5.1 haben wir also

limj→∞

∫Ω

fj(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx =

∫Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx. (5.12)

Kombination von (5.10), (5.11) und (5.12) liefert die behauptete Formel (5.9).q.e.d.

Beispiele:

1. Polarkoordinaten: Es sei f ∈ C0(KR) mit∫KR

|f | dy < +∞ auf der Kreisschei-

be KR := y ∈ R2 : |y| < R gegeben. Dann gilt∫KR

f(y) dy =

R∫0

( 2π∫0

f(r cos θ, r sin θ)r dθ

)dr. (5.13)

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238 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

In der Tat ist die Abbildung ϕ = ϕ(r, θ) := (r cos θ, r sin θ) ein C1-Diffeomor-phismus von der offenen Menge Ω := (0, R) × (0, 2π) auf die offene MengeΩ∗ = ϕ(Ω) = y = (y1, y2) : 0 < |y| < R, y = (a, 0) mit a ≥ 0 = KR \ [0, R),fur den gilt Jϕ(r, θ) = r. Die Transformationsformel (5.9) liefert also

∫KR\[0,R)

f(y) dy =

R∫0

( 2π∫0

f(r cos θ, r sin θ)r dθ

)dr.

Und da [0, R) := [0, R)×0 ⊂ R2 fur jedes R > 0 eine quadrierbare Nullmengeist, existiert nach Folgerung 3.3 auch

∫[0,R) f dy = 0, so dass (5.13) folgt.

Ist speziell f radialsymmetrisch, d.h. f(y) = g(|y|) mit einem g = g(r) ∈C0([0, R)), so folgt aus (5.13):

∫KR

f(y) dy =

R∫0

( 2π∫0

g(r)r dθ

)dr = 2π

R∫0

g(r)r dr. (5.14)

Noch spezieller, fur f ≡ 1 auf KR, erhalten wir somit

|KR| =∫KR

1 dx = 2π

R∫0

r dr = πR2.

Allgemein gilt: Quadrierbare Nullmengen (insbesondere also Mengen vom In-halt Null, z.B. die Rander quadrierbarer Mengen) konnen bei der Integration

”ignoriert“ werden.

2. Gaußsches Fehlerintegral: Wir wollen zeigen

+∞∫−∞

e−x2

dx =√π. (5.15)

In Kap. 3, § 6 haben wir bereits gesehen, dass dieses Gaußsche Fehlerintegral existiert. ZurBerechnung setzen wir WR := [−R,R]× [−R,R] fur beliebiges R > 0 und beachten∫

WR

e−(y21+y22) dy1 dy2

Satz 1.6=

[ R∫−R

e−x2

dx

]2 HS 5.4

≤ c < +∞ (5.16)

mit einer von R > 0 unabhangigen Konstanten c ∈ [0,+∞). Ist M ⊂⊂ R2 quadrierbar, soexistiert ein R > 0 mit M ⊂ WR, so dass nach (5.16) und Hilfssatz 5.4 das uneigentliche

Integral von e−(y21+y22) uber R2 existiert. Da Wjj=1,2,... quadrierbare Ausschopfung des R2

ist, erhalten wir∫R2

e−(y21+y22) dy1 dy2 = lim

j→∞

∫Wj

e−(y21+y22) dy1 dy2 =

[ +∞∫−∞

e−x2

dx

]2< +∞. (5.17)

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6. ANHANG: VERWENDETES UND WEITERFUHRENDES 239

Nun ist auch Kjj=1,2,... mit den Kreisscheiben Kj = y = (y1, y2) : |y| < j einequadrierbare Ausschopfung von R2. Formeln (5.14) und (5.17) liefern also

+∞∫−∞

e−x2

dx =

[ ∫R2

e−(y21+y22) dy1 dy2

] 12

=

[limj→∞

∫Kj

e−(y21+y22) dy1 dy2

] 12

=

[π limj→∞

j∫0

e−r2

(2r) dr

] 12

=√π

[− limj→∞

j∫0

d

dr(e−r

2

) dr

] 12

=√π[limj→∞

(1− e−j

2)] 12

=√π.

6 Anhang: Verwendetes und Weiterfuhrendes

(A1) Jede Menge M ⊂ Rn mit Inhalt Null ist quadrierbar, und es gilt

v(M) :=

∫M

χM (x) dx = 0.

Denn: Zu beliebigem M ⊂ Rn mit Inhalt Null existieren fur jedes ε > 0 Quader Q1, . . . , Qp,p = p(ε) ∈ N, mit

M ⊂ Q1 ∪ . . . ∪ Qp,p∑j=1

|Qj | < ε.

Wir wahlen Q ⊂ Rn mit Q1 ∪ . . . ∪ Qp ⊂ Q. Dann wahlen wir eine Zerlegung Z von Q inTeilquader Qα, α ∈ A, deren Zerlegungskanten alle Kanten der Qj enthalten. Die MengeA der Indizes zerfallt dann gemaß A = A′ ∪ A′′ in zwei disjunkte Teilmengen A′, A′′ mitfolgenden Eigenschaften

•∪

α∈A′Qα =

p∪j=1

Qj und folglich∑α∈A′

|Qα| ≤p∑j=1

|Qj |.

• Qα ∩M = ∅ fur alle α ∈ A′′.

Fur die Oszillation von χM ergibt sich daraus

oscQα

χM

≤ 1, fur α ∈ A′

= 0, fur α ∈ A′′ .

Folglich finden wir

SZ(χM )− SZ(χM ) =∑α∈A′

(oscQαχM

)|Qα|+

∑α∈A′

(oscQαχM

)|Qα|

≤∑α∈A′

|Qα| ≤p∑j=1

|Qj | < ε.

Somit ist χM integrabel uber Q, d.h. M ist quadrierbar. Außerdem haben wir

0 ≤ SZ(χM ) =∑α∈A′

(supQα

χM)|Qα| ≤

p∑j=1

|Qj | < ε.

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240 KAPITEL 5. DAS N -DIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL

Wahlen wir noch eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge Zpp und setzen Z ′p := Zp ∨Z, so ist

auch Z ′pp ausgezeichnete Zerlegungsfolge. Nach Hilfssatz 1.1 (i) gilt somit

0 ≤ SZ′p(χM ) ≤ SZ(χM ) < ε,

also nach Grenzubergang p→ ∞:

0 ≤ limp→∞

SZ′p(χM ) =

∫Q

χM dx < ε.

Da ε > 0 beliebig war, haben wir die Behauptung.

(A2) Wenn M ⊂ Rn Nullmenge ist, so folgt M = ∅.Denn: Wie in der Vorlesung bemerkt, ist jeder Quader Q = [a1, b1] × . . . × [an, bn] ⊂ Rnquadrierbar mit

v(Q) = |Q| =n∏j=1

(bj − aj).

Ware nun M = ∅, so existierte ein Wurfel Wx ⊂ M zentriert um x mit Kantenlange ε > 0.Fur das Volumen vonWx gilt dann aber v(Wx) = εn > 0. Nach (A1) ist alsoWx keine Mengemit Inhalt Null und, da kompakt, auch keine Nullmenge, im Widerspruch zu Wx ⊂ M ⊂M .

(A3) Sind M ⊂ Rm, N ⊂ Rn quadrierbar, so ist auch M ×N ⊂ Rm+n quadrierbar.

Denn: Man uberlegt sich leicht (M ×N)c = (Mc × Rn) ∪ (Rm ×Nc), woraus folgt

∂(M ×N) = (∂M ×N) ∪ (M × ∂N).

Wir zeigen nun, dass |∂(M ×N)| = 0 gilt; nach Satz 3.1 ist dann M ×N quadrierbar.

Da M und N kompakt sind, gibt es Quader QM ⊂ Rm, QN ⊂ Rn mit M ⊂ QM , N ⊂ QN .Nach Voraussetzung existieren weiter Quader Q1, . . . , Qr ⊂ Rm, Qr+1, . . . , Qp ⊂ Rn zubeliebigen ε > 0 mit

∂M ⊂ Q1 ∪ . . . ∪ Qr,r∑j=1

|Qj | < ε,

∂N ⊂ Qr+1 ∪ . . . ∪ Qp,p∑

j=r+1

|Qj | < ε.

Mit den Quadern

Q′j :=

Qj ×QN , fur j = 1, . . . , r

QM ×Qj , fur j = r + 1, . . . , p⊂ Rm+n

gilt dann offenbar

∂(M ×N) ⊂( r∪j=1

Q′j

)∪( p∪j=r+1

Q′j

)=

( p∪j=1

Q′j

),

und wir haben

p∑j=1

|Q′j | =

r∑j=1

|Qj | |QN |+p∑

j=r+1

|QM | |Qj | < ε(|QN |+ |QM |

).

Da ε > 0 beliebig war, ist also ∂(M ×N) Menge mit Inhalt Null.

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6. ANHANG: VERWENDETES UND WEITERFUHRENDES 241

(A4) Sind M ⊂ Rm, N ⊂ Rn quadrierbar und f = f(x, y) ∈ C0(M ×N,Rd) beschrankt, so folgt∫M×N

f(x, y) dx dy =

∫M

(∫N

f dy

)dx =

∫N

(∫M

f dx

)dy.

Folgerung: |M ×N | = |M | |N |.Denn: Nach (A3) ist zunachst M ×N quadrierbar, und nach Folgerung 3.1 auch f ∈ R(M ×N,Rd) richtig. Sei o.B.d.A. d = 1. Wir wahlen Quader Q ⊂ Rm, R ⊂ Rn mitM ⊂ Q, N ⊂ R.Setzen wir noch g := fM×N ∈ R(Q×R) und

φ(x) := IR(g(x, ·)), φ(x) := IR(g(x, ·)), x ∈ Q,

so gilt nach Satz 1.5: ∫Q×R

f dx dy =

∫Q

φ(x) dx =

∫Q

φ(x) dx.

Nun beachten wir

g(x, ·) =

f(x, ·)N , fur x ∈M

0, fur x ∈ Q \M.

Somit erhalten wir∫Q×R

f dx dy =

∫Q\M

φ(x) dx+

∫Q\M

φ(x) dx

=

∫M

(∫R

f(x, y)N dy

)dx =

∫M

(∫N

f dy

)dx.

Die zweite Relation folgt durch Vertauschen x↔ y.

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Kapitel 6

Integration aufMannigfaltigkeiten

Viele Fragestellungen der Analysis fuhren auf Integrationsprobleme auf Kurven oderFlachen oder allgemein auf Mannigfaltigkeiten, die wir in Form des Spezialfalls glei-chungsdefinierter Mannigfaltigkeiten bereits in Kapitel 4, § 6 kennengelernt haben.Die naturlichen zu integrierenden Objekte sind hierbei die Differentialformen.

1 Multilinear- und Differentialformen

Wir beginnen mit einem algebraischen Begriff:

Definition 1.1: Eine Abbildung ω = ω(v1, . . . , vk) : (Rn)k → R heißt alternieren-de Multilinearform vom Grad k oder kurz alternierende k-Form, wenn ω in jederVariablen linear ist und wenn gilt

ω(v1, . . . , vi, . . . , vj , . . . , vk) = −ω(v1, . . . , vj , . . . , vi, . . . , vk) (1.1)

fur beliebige Indizes 1 ≤ i < j ≤ k und alle Eintrage v1, . . . , vk ∈ Rn. Die alternie-renden k-Formen bilden einen Vektorraum uber R mit den Operationen

(cω)(v1, . . . , vk) := c · ω(v1, . . . , vk),

(ω1 + ω2)(v1, . . . , vk) := ω1(v1, . . . , vk) + ω2(v1, . . . , vk)

(fur c ∈ R und alternierende k-Formen ω, ω1, ω2), den wir mit Altk(Rn) bezeichnen.Außerdem setzen wir Alt0(Rn) := R.

243

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244 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Bemerkungen:

1. Fur k > n gilt Altk(Rn) = 0, wobei 0 die alternierende k-Form mit derEigenschaft 0(v1, . . . , vk) = 0 fur alle v1, . . . , vk ∈ Rn bezeichnet. Beliebigek > n Vektoren v1, . . . , vk ∈ Rn sind namlich linear abhangig; ist o.B.d.A. vk =∑k−1

i=1 civi mit Skalaren c1, . . . , ck−1 ∈ R richtig und ω ∈ Altk(Rn) eine belie-bige alternierende k-Form, so folgt

ω(v1, . . . , vk) =k−1∑i=1

ciω(v1, . . . , vk−1, vi)

(1.1)=

k−1∑i=1

ci[− ω(v1, . . . , vk−1, vi)

]= −ω(v1, . . . , vk),

also 2ω(v1, . . . , vk) = 0 bzw. ω = 0.

2. Ist ω ∈ Altk(Rn) eine alternierende k-Form und (i1, . . . , ik) eine Permutationτ von (1, . . . , k), d.h. (i1, . . . , ik) = (τ(1), . . . τ(k)), so gilt

ω(vi1 , . . . , vik) = sgn(τ)ω(v1, . . . , vk) (1.2)

fur beliebige v1, . . . , vk ∈ Rn. Dabei bezeichnet sgn(τ) das Vorzeichen derPermutation τ , d.h. sgn(τ) = (−1)l mit l =Anzahl der Transpositionen.

3. Formen ω1, . . . , ωp ∈ Altk(Rn) heißen linear unabhangig, falls aus∑p

j=1 cjωj =0 folgt c1 = . . . = cp = 0; anderenfalls heißen ω1, . . . , ωp linear abhangig.

4. Fur k = 1 entfallt Bedingung (1.1); die (alternierenden) 1-Formen oder Line-arformen sind gerade die linearen Abbildungen von Rn nach R. Jeder Vektora ∈ Rn induziert eine Linearform mittels

ω(v) := ⟨a, v⟩, v ∈ Rn. (1.3)

Umgekehrt besitzt jedes ω ∈ Alt1(Rn) eine Darstellung (1.3) mit eindeutigbestimmtem Vektor a ∈ Rn, namlich

a :=

n∑i=1

ω(ei)ei,

wobei e1, . . . , en ∈ Rn wie ublich die Standard-Einheitsvektoren sind. Hierauserhalten wir die Basisdarstellung

ω =

n∑i=1

aiδi (1.4)

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1. MULTILINEAR- UND DIFFERENTIALFORMEN 245

mit den Skalaren ai := ω(ei) und den Elementen

δi(v) := ⟨ei, v⟩, v ∈ Rn, i = 1, . . . , n, (1.5)

der sogenannten dualen Basis δ1, . . . , δn von Alt1(Rn), die in der Tat linearunabhangig sind. Also ist Alt1(Rn) ein n-dimensionaler Vektorraum uber R.In Hilfssatz 1.1 unten werden wir eine Basisdarstellung fur ω ∈ Altk(Rn) mitbeliebigem k ∈ 1, . . . , n ableiten.

5. Die Determinante det(v1, . . . , vn), aufgefasst als Funktion der n Spaltenvekto-ren v1, . . . , vn ∈ Rn ist eine alternierende n-Form auf Rn.

Wir wollen nun die wichtigste Operation auf den alternierenden Multilinearfor-men erklaren und beginnen mit der

Definition 1.2: Fur Linearformen φ1, . . . , φk ∈ Alt1(Rn) erklaren wir das Dach-produkt oder außere Produkt φ1 ∧ . . . ∧ φk ∈ Altk(Rn) gemaß

φ1 ∧ . . . ∧ φk(v1, . . . , vk) := det

φ1(v1) . . . φ1(vk)...

. . ....

φk(v1) . . . φk(vk)

, v1, . . . , vk ∈ Rn. (1.6)

Bemerkung: Insbesondere ist also φ1∧ . . .∧φk = 0, falls die Linearformen φ1, . . . , φklinear abhangig sind, und daher gilt dies fur beliebige φ1, . . . , φk, wenn k > n ist.Außerdem halten wir fur beliebige Permutationen τ von 1, . . . , k fest

φτ(1) ∧ . . . ∧ φτ(k) = sgn(τ)φ1 ∧ . . . ∧ φk. (1.7)

Hilfssatz 1.1: Mit den dualen Basisformen δ1, . . . , δn ∈ Alt1(Rn) aus (1.5) ist δi1∧. . . ∧ δik : 1 ≤ i1 < . . . < ik ≤ n eine Basis von Altk(Rn) fur k ∈ 1, . . . , n; jedesω ∈ Altk(Rn) hat die eindeutige Darstellung

ω =∑

1≤i1<...<ik≤nai1...ikδi1 ∧ . . . ∧ δik mit ai1...ik := ω(ei1 , . . . , eik). (1.8)

Insbesondere folgt dimAltk(Rn) =(nk

).

Beweis:

1. Seien bi1...ik ∈ R gewahlt mit∑1≤i1<...<ik≤n

bi1...ikδi1 ∧ . . . ∧ δik = 0 (1.9)

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246 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Fur beliebige Indizes 1 ≤ j1 < . . . < jk ≤ n setzen wir vl = ejl , l = 1, . . . , n, in(1.6) ein und erhalten speziell fur φl := δil , l = 1, . . . , n:

δi1 ∧ . . . ∧ δik(ej1 , . . . , ejk) = det

δi1(ej1) . . . δi1(ejk)...

. . ....

δik(ej1) . . . δik(ejk)

(1.5)= det

⟨ei1 , ej1⟩ . . . ⟨ei1 , ejk⟩...

. . ....

⟨eik , ej1⟩ . . . ⟨eik , ejk⟩

=

1, falls il = jl fur l = 1 . . . k

0, sonst.

Einsetzen in (1.9) liefert bj1...jk = 0; also ist das System δi1 ∧ . . . ∧ δik : 1 ≤i1 < . . . < ik ≤ n linear unabhangig.

2. Sei nun ω ∈ Altk(Rn) beliebig gewahlt und ai1...ik := ω(ei1 , . . . , eik) fur 1 ≤i1 < . . . < ik ≤ n gesetzt. Fur beliebige Einheitsvektoren ej1 , . . . , ejk zeigenwir

ω(ej1 , . . . , ejk) =∑

1≤i1<...<ik≤nai1...ikδi1 ∧ . . . ∧ δik(ej1 , . . . , ejk). (1.10)

Dann folgt die Behauptung (1.8) aus der Multilinearitat beider Seiten. ZumBeweis von (1.10):

• Falls zwei Indizes jl ubereinstimmen, verschwinden wegen (1.1) beide Sei-ten von (1.10).

• Anderenfalls gibt es genau ein Tupel (i1, . . . , ik) mit 1 ≤ i1 < . . . <ik ≤ n und eine Permutation τ mit (j1, . . . , jk) = (τ(i1), . . . , τ(ik)). Dannberechnen wir mit Teil 1 des Beweises:∑1≤i1<...<ik≤n

ai1...ikδi1 ∧ . . . ∧ δik(ej1 , . . . ejk)

(1.2)= sgn(τ)

∑1≤i1<...<ik≤n

ai1...ikδi1 ∧ . . . ∧ δik(ei1 , . . . eik)

= sgn(τ) ai1...ik = sgn(τ)ω(ei1 , . . . , eik)(1.2)= ω(ej1 , . . . , ejk),

wie behauptet. q.e.d.

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1. MULTILINEAR- UND DIFFERENTIALFORMEN 247

Definition 1.3: (Dachprodukt oder außeres Produkt)Fur zwei alternierende Formen

ω =∑

1≤i1<...<ik≤nai1...ikδi1 ∧ . . . ∧ δik ∈ Altk(Rn),

σ =∑

1≤j1<...<jl≤nbj1...jlδj1 ∧ . . . ∧ δjl ∈ Altl(Rn)

mit k, l ∈ N erklaren wir die (k + l)-Form

ω ∧ σ :=∑

1≤i1<...<ik≤n1≤j1<...<jl≤n

ai1...ikbj1...jlδi1 ∧ . . . ∧ δik ∧ δj1 ∧ . . . ∧ δjl .

Bemerkungen:

1. Wir halten folgende Rechenregeln fest, die man als Ubungsaufgabe beweist;dabei sind ω1, ω2, ω3 jeweils alternierende Formen geeigneten Grades > 0:

• Assoziativitat: (ω1 ∧ ω2) ∧ ω3 = ω1 ∧ (ω2 ∧ ω3),

• Distributivitat: (ω1 + ω2) ∧ ω3 = ω1 ∧ ω3 + ω2 ∧ ω3,

• Antikommutativitat: ω1 ∧ ω2 = (−1)klω2 ∧ ω1 fur ω1 ∈ Altk(Rn), ω2 ∈Altl(Rn).

2. Ist σ = a ∈ R eine 0-Form und ω eine k-Form, k ∈ N0, so setzen wir

ω ∧ a = a ∧ ω := aω.

Dann gelten obige Regeln auch fur 0-Formen.

3. Wegen der Assoziativitat sind Ausdrucke der Form ω1 ∧ . . . ∧ ωk wohl defi-niert. Man beachte, dass der Ausdruck φ1∧ . . .∧φk aus (1.6) fur Linearformenφ1, . . . , φk ∈ Alt1(Rn) dem in Definition 1.3 erklarten, allgemeinen Dachpro-dukt entspricht.

Rechenbeispiel: n = 3, ω = 3δ1 + 7δ2, σ = 4δ2 ∧ δ3 − 3δ1 ∧ δ3. Dann folgt

ω ∧ σ = (3δ1 + 7δ2) ∧ (4δ2 ∧ δ3 − 3δ1 ∧ δ3)= 12 · δ1 ∧ δ2 ∧ δ3 − 21 · δ2 ∧ δ1 ∧ δ3= 33 · δ1 ∧ δ2 ∧ δ3.

Fur spateren Gebrauch halten wir noch folgendes Transformationsverhalten fest:

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248 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Hilfssatz 1.2: Seien φ1, . . . , φk ∈ Alt1(Rn) und A = (aij)i,j=1,...,k ∈ Matk(R)gewahlt. Setzen wir

ψi :=k∑j=1

aijφj , i = 1, . . . , k,

so giltψ1 ∧ . . . ∧ ψk = (detA)φ1 ∧ . . . ∧ φk. (1.11)

Beweis: Wir benutzen die Leibniz-Formel

detA =∑τ∈Sk

sgn(τ)a1τ(1) . . . akτ(k), (1.12)

wobei Sk die Menge der Permutationen von 1, . . . , k bezeichnet. Es folgt

ψ1 ∧ . . . ∧ ψk =

k∑i1,...,ik=1

a1i1 . . . akikφi1 ∧ . . . ∧ φik

=∑τ∈Sk

a1τ(1) . . . akτ(k)φτ(1) ∧ . . . ∧ φτ(k)

(1.2)=

[ ∑τ∈Sk

sgn(τ)a1τ(1) . . . akτ(k)

]φ1 ∧ . . . ∧ φk

(1.12)= (detA)φ1 ∧ . . . ∧ φk,

wie behauptet. q.e.d.

Definition 1.4: Sei Ω ⊂ Rn offen. Dann heißt eine Abbildung ω : Ω → Altk(Rn)Differentialform vom Grad k oder außere Form oder kurz k-Form (auf Ω). Eine k-Form ω ordnet also jedem x ∈ Ω eine alternierende Multilinearform ω(x) vom Gradk zu.

Beispiele:

1. Die Funktionen f : Ω → R sind gerade die 0-Formen auf Ω.

2. Das fur ein f ∈ C1(Ω) erklarte Differential df ordnet jedem Punkt x ∈ Ω einelineare Abbildung von Rn nach R zu und ist gegeben durch (vgl. Kap. 4, § 2):

df(x)(v) = ⟨∇f(x), v⟩, v ∈ Rn.

Also ist df eine 1-Form auf Ω. Speziell fur die Koordinatenfunktionen f(x) =xi, i = 1, . . . , n, erhalten wir

dxi(v) = ⟨ei, v⟩(1.5)= δi(v), v ∈ Rn.

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1. MULTILINEAR- UND DIFFERENTIALFORMEN 249

Das System dx1, . . . , dxn liefert uns also in jedem Punkt x ∈ Ω die dualeBasis von Alt1(Rn). Fur beliebiges f ∈ C1(Ω) folgt noch

df(x)(v) =⟨ n∑i=1

fxi(x)ei, v⟩=

n∑i=1

fxi(x) dxi(v), v ∈ Rn,

also

df =n∑i=1

fxi dxi. (1.13)

Wegen obigem Beispiel 2 entnehmen wir nun Hilfssatz 1.1 sofort den

Satz 1.1: Jede k-Form ω : Ω → Altk(Rn) hat eine Darstellung

ω(x) =∑

1≤i1<...<ik≤nai1...ik(x) dxi1 ∧ . . . ∧ dxik (1.14)

mit eindeutig bestimmten Funktionen ai1...ik : Ω → R.

Schreibweise: Wir schreiben haufig kurz

ω(x) =∑I

aI(x) dxI , (1.15)

wobei aI := ai1,...,ik , dxI := dxi1 ∧ . . . ∧ dxik gesetzt wurde und stets uber solcheMultiindizes I = (i1, . . . , ik) summiert wird, die gemaß 1 ≤ i1 < . . . < ik ≤ nangeordnet sind.

Definition 1.5:

• Wir sagen ω : Ω → Altk(Rn) gehort zur Klasse Cs(Ω,Altk) fur ein s ∈ N0,wenn die Koeffizientenfunktionen aI = ai1...ik : Ω → R der Darstellung (1.14)bzw. (1.15) zur Klasse Cs(Ω) gehoren.

• Wir definieren Addition, skalare Multiplikation und Dachprodukt fur k-Formenpunktweise, d.h. fur α ∈ R, ω, ω1, ω2 : Ω → Altk(Rn) und σ : Ω → Altl(Rn)setzen wir

(αω)(x) := α · ω(x), (ω1 + ω2)(x) := ω1(x) + ω2(x),

(ω ∧ σ)(x) := ω(x) ∧ σ(x), x ∈ Ω.

Insbesondere wird damit Cs(Ω,Altk) zu einem Vektorraum.

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250 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Bemerkung: Die Rechenregeln fur alternierende Multilinearformen wie Assoziati-vitat, Distributivitat und Antikommutativitat ubertragen sich somit wortlich aufDifferentialformen.

Wir verallgemeinern nun das Differential, das jeder 0-Form der Klasse C1 eine1-Form zuordnet, auf beliebige k-Formen der Klasse C1:

Definition 1.6: Ist Ω ⊂ Rn offen und ω =∑

I aI dxI ∈ C1(Ω,Altk), so heißt die(k + 1)-Form

dω :=∑I

daI ∧ dxI =∑

1≤i1<...<ik≤ndai1...ik ∧ dxi1 ∧ . . . ∧ dxik

der Klasse C0(Ω,Altk+1) die außere Ableitung oder das Differential von ω.

Hilfssatz 1.3: Es gelten die folgenden Rechenregeln:

(i) Linearitat: Fur α1, α2 ∈ R und ω1, ω2 ∈ C1(Ω,Altk) haben wir

d(α1ω1 + α2ω2) = α1 dω1 + α2 dω2.

(ii) Produktregel: Fur ω ∈ C1(Ω,Altk) und σ ∈ C1(Ω,Altl) gilt

d(ω ∧ σ) = dω ∧ σ + (−1)kω ∧ dσ.

(iii) Komplexeigenschaft: Fur beliebiges ω ∈ C2(Ω,Altk) gilt

d2ω := d(dω) = 0.

Beweis: (i) ist klar, (ii) lassen wir zur Ubung. Zum Beweis von (iii) sei zunachstf ∈ C2(Ω) beliebig. Dann gilt

d2f(1.13)= d

( n∑i=1

fxi dxi

)=

n∑i=1

d(fxi) ∧ dxi

=

n∑i,j=1

fxixj dxj ∧ dxi =∑

1≤i<j≤n

(fxjxi − fxixj

)dxi ∧ dxj

= 0

nach dem Satz von Schwarz. Fur beliebige ω =∑

I aI dxI ∈ C2(Ω,Altk) folgt nun

d2ω = d

(∑I

daI ∧ dxI)

(i)=∑I

d(daI ∧ dxI

)(ii)=

∑I

(d2aI ∧ dxI − daI ∧ d2xI

)= 0,

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1. MULTILINEAR- UND DIFFERENTIALFORMEN 251

wobei sich d2xI = d(dxi1 ∧ . . . ∧ dxik) = 0 wiederum aus (ii) ergibt.q.e.d.

Wir wollen nun das Verhalten von Differentialformen unter Transformationenuntersuchen und erklaren hierzu die folgende Operation:

Definition 1.7: Sei Ω ⊂ Rn offen und ω =∑

I aI dxI eine k-Form auf Ω. Weitersei Θ ⊂ Rm offen und Φ = (ϕ1, . . . , ϕn) : Θ → Rn ∈ C1(Θ) eine Abbildung mitΦ(Θ) ⊂ Ω. Dann heißt

Φ∗ω :=∑I

(aI Φ) dΦI :=∑

1≤i1<...<ik≤n(ai1...ik Φ) dϕi1 ∧ . . . ∧ dϕik

der Rucktransport oder Pullback von ω unter Φ. Wir sagen auch, die k-Form Φ∗ωauf Θ entsteht aus ω durch Zuruckholen mittels Φ.

Spezialfalle:

• k = 0 : Fur ω = f haben wir Φ∗ω = f Φ, also die ubliche Verkettung vonFunktionen.

• k = 1 : Fur ω =∑n

i=1 ai dxi und Φ = Φ(t), t ∈ Θ ⊂ Rm, haben wir dϕi =∑mj=1 ϕi,tj dtj , i = 1, . . . , n und somit

Φ∗ω =

n∑i=1

(ai Φ)[ m∑j=1

ϕi,tj dtj

]=

m∑j=1

bj dtj , (1.16)

wobei wir noch

bj(t) :=n∑i=1

(ai Φ)(t)ϕi,tj (t), t ∈ Θ, j = 1, . . . ,m,

gesetzt haben.

• k = m : Wir wenden Hilfssatz 1.2 an mit

φl = dtl und ψl = dϕil =

k∑j=1

ϕil,tj dtj , l = 1, . . . , k,

und erhalten

dϕi1 ∧ . . . ∧ dϕik = det

ϕi1,t1 . . . ϕi1,tk...

. . ....

ϕik,t1 . . . ϕik,tk

dt1 ∧ . . . ∧ dtk

Fur beliebige k-Formen ω =∑

I aI dxI folgt also

Φ∗ω =

[ ∑1≤i1<...<ik≤n

(ai1...ik Φ)J(ϕi1 ,...,ϕik )]dt1 ∧ . . . ∧ dtk (1.17)

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252 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

• k = m = n : Dann ist ω = a dx1∧ . . .∧dxn und aus (1.17) ergibt sich speziell

Φ∗ω = (a Φ)JΦ dt1 ∧ . . . ∧ dtk. (1.18)

Beispiel: Wir betrachten die 2-Form

ω = x dy ∧ dz − y dx ∧ dz + z dx ∧ dy, (x, y, z) ∈ R3.

Durch die Abbildung

Φ(u, v) =

cosu cos vsinu cos v

sin v

, (u, v) ∈ R2,

wird der R2 (mehrfach uberdeckend) auf die Einheitssphare S2 abgebildet. Aus (1.17)berechnen wir

Φ∗ω =[ϕ1 · J(ϕ2,ϕ3) − ϕ2 · J(ϕ1,ϕ3) + ϕ3 · J(ϕ1,ϕ2)

]du ∧ dv

=[cos2 u cos3 v + sin2 u cos3 v + sin2 v cos v

]du ∧ dv

= cos v du ∧ dv.

Hilfssatz 1.4: Seien Ω ⊂ Rn, Θ ⊂ Rm offen und Φ ∈ C1(Θ,Rn) mit Φ(Θ) ⊂ Ωgegeben. Dann gelten folgende Rechenregeln:

(i) Fur α1, α2 ∈ R und ω1, ω2 : Ω → Altk(Rn) haben wir

Φ∗(α1ω1 + α2ω2) = α1(Φ∗ω1) + α2(Φ

∗ω2).

(ii) Fur ω : Ω → Altk(Rn), σ : Ω → Altl(Rn) gilt

Φ∗(ω ∧ σ) = (Φ∗ω) ∧ (Φ∗σ).

(iii) Außere Ableitung und Pullback vertauschen, d.h. fur ω ∈ C1(Ω,Altk) gilt

d(Φ∗ω) = Φ∗(dω).

(iv) Ist zusatzlich U ⊂ Rl offen und ist Ψ ∈ C1(U,Rm) mit Ψ(U) ⊂ Θ gegeben, sogilt fur beliebiges ω : Ω → Altk(Rn):

Ψ∗(Φ∗ω) = (Φ Ψ)∗ω.

Beweis: (i) ist klar, (ii) lassen wir zur Ubung.

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1. MULTILINEAR- UND DIFFERENTIALFORMEN 253

(iii) Fur Funktionen f ∈ C1(Ω) gilt

d(f Φ) (1.13)=

m∑j=1

∂(f Φ)∂tj

dtj

=m∑j=1

n∑i=1

( ∂f∂xi

Φ)∂ϕi∂tj

dtj

(1.16)= Φ∗(df).

(1.19)

Insbesondere ergibt sich aus (1.19) fur die Koordinatenfunktionen f(x) = xi:

dϕi = d(xi Φ) = Φ∗(dxi), i = 1, . . . , n. (1.20)

Ist also ω =∑

I aI dxI ∈ C1(Ω,Altk) beliebig, so folgt:

d(Φ∗ω) = d

( ∑1≤i1<...<ik≤n

(ai1...ik Φ) dϕi1 ∧ . . . ∧ dϕik)

HS1.3=

∑1≤i1<...<ik≤n

d(ai1...ik Φ) ∧ dϕi1 ∧ . . . ∧ dϕik

(1.19),(1.20)=

∑1≤i1<...<ik≤n

Φ∗(dai1...ik) ∧ Φ∗(dxi1) ∧ . . . ∧ Φ∗(dxik)

(i),(ii)= Φ∗

( ∑1≤i1<...<ik≤n

dai1...ik ∧ dxi1 ∧ . . . ∧ dxik)

= Φ∗(dω).

(iv) Fur die Komponentenfunktionen χi := ϕi Ψ ∈ C1(U) der Abbildung χ :=Φ Ψ gilt nach (1.19)

dχi = d(ϕi Ψ) = Ψ∗(dϕi). (1.21)

Es folgt also fur beliebiges ω =∑

I aI dxI : Ω → Altk(Rn):

Ψ∗(Φ∗ω) = Ψ∗( ∑

1≤i1<...<ik≤n(ai1...ik Φ) dϕi1 ∧ . . . ∧ dϕik

)(i),(ii)=

∑1≤i1<...<ik≤n

Ψ∗(ai1...ik Φ)Ψ∗(dϕi1) ∧ . . . ∧Ψ∗(dϕik)

(1.21)=

∑1≤i1<...<ik≤n

(ai1...ik χ)dχi1 ∧ . . . ∧ dχik

= χ∗ω = (Φ Ψ)∗ω.

Damit ist alles gezeigt. q.e.d.

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254 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Bevor wir uns im nachsten Paragraphen der Integration von Differentialformenzuwenden, wollen wir noch ein Resultat beweisen, das fur viele Anwendungen, z.B. inder Theorie partieller Differentialgleichungen, von immenser Beteutung ist. Dazubenotigen wir noch die folgende

Definition 1.8:

• Eine Differentialform ω ∈ C1(Ω,Altk) heißt geschlossen, wenn gilt

dω = 0 in Ω.

• Ein ω ∈ C0(Ω,Altk), k > 0, heißt exakt, wenn eine (k − 1)-Form σ ∈C1(Ω,Altk−1) so existiert, dass

dσ = ω in Ω

erfullt ist. Wir nennen σ dann die Stammform von ω.

Jede exakte k-Form ω ∈ C1(Ω,Altk) ist wegen dω = d(dσ) = 0 gemaß Hilfs-satz 1.3 (iii) geschlossen. Die Umkehrung gilt zwar i.A. nicht, jedoch haben wir furspezielle Gebiete Ω den

Satz 1.2: (Poincaresches Lemma)Sei Ω ⊂ Rn ein sternformiges Gebiet, d.h. es existiert ein a ∈ Ω – der sogenannteSternpunkt –, so dass fur jedes x ∈ Ω die Verbindungsstrecke [a, x] := λa+(1−λ)x :λ ∈ [0, 1] in Ω liegt. Dann ist fur k > 0 jede geschlossene k-Form ω ∈ C1(Ω,Altk)exakt in Ω.

Bemerkungen:

1. Offenbar ist jedes konvexe Gebiet auch sternformig. Ein sternformiges Gebiet,das nicht konvex ist, ist z.B. durch R2 \ (−∞, 0] gegeben.

2. Die Aussage von Satz 1.2 gilt nicht fur jedes Gebiet Ω. Wir betrachten z.B.

Ω = R2 \ 0, ω =x

x2 + y2dy − y

x2 + y2dx.

Man rechnet sofort dω = 0 nach. Gabe es nun eine Funktion f ∈ C1(Ω) mitdf = ω, also

∇f(x, y) =(− y

x2 + y2,

x

x2 + y2

)fur alle (x, y) ∈ Ω,

so wurde fur die Einschrankung von f auf S1, namlich g(t) := f(cos t, sin t),t ∈ R, gelten g(0) = g(2π), im Widerspruch zu

g′(t) =⟨∇f(cos t, sin t), (− sin t, cos t)

⟩≡ 1.

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1. MULTILINEAR- UND DIFFERENTIALFORMEN 255

3. Ist ω =n∑i=1

ai dxi ∈ C1(Ω,Alt1) eine 1-Form, so gilt

dω =n∑i=1

( n∑j=1

∂ai∂xj

dxj

)∧ dxi = −

∑1≤i<j≤n

( ∂ai∂xj

− ∂aj∂xi

)dxi ∧ dxj .

ω ist somit genau dann geschlossen, wenn die Integrabilitatsbedingungen

∂ai∂xj

=∂aj∂xi

fur i, j = 1, . . . , n in Ω (1.22)

erfullt sind. Satz 1.2 besagt also:

Sei a ∈ C1(Ω,Rn) und Ω ⊂ Rn sternformiges Gebiet. Dann existiert genaudann eine Funktion f ∈ C2(Ω) mit ∇f = a in Ω, wenn a = (a1, . . . , an) dieIntegrabilitatsbedingungen (1.22) erfullt. Man nennt f eine Stammfunktionvon a.

Der Beweis von Satz 1.2 beruht auf dem folgenden

Hilfssatz 1.5: Sei Ω ⊂ Rn offen und Θ ⊂ Rn × R eine offene Menge mit derEigenschaft Ω× [0, 1] ⊂ Θ. Ferner seien die zwei Abbildungen Φ0,Φ1 : Ω → Rn ×Rgegeben durch

Φ0(x) := (x, 0), Φ1(x) := (x, 1), x ∈ Ω.

Ist dann η ∈ C1(Θ,Altk) eine geschlossene k-Form mit k > 0, so gibt es eine (k−1)-Form σ ∈ C1(Ω,Altk−1) mit

Φ∗1η − Φ∗

0η = dσ in Ω.

Beweis: Schreiben wir (x, t) = (x1, . . . , xn, t) fur die Koordinaten in Θ ⊂ Rn+1, sokonnen wir η darstellen als

η =∑I

bI dxI +∑J

cJ dxJ ∧ dt in Θ; (1.23)

hierbei sind I = (i1, . . . , ik) ∈ Nk und J = (j1, . . . , jk−1) ∈ Nk−1

”geordnete“ Multi-

indizes (d.h. 1 ≤ i1 < . . . < ik ≤ n, 1 ≤ j1 < . . . < jk−1 ≤ n) und bI = bi1...ik(x, t),cJ = cj1...jk−1

(x, t) sind geeignete Koeffizientenfunktionen der Klasse C1(Θ). Fur diePullbacks bez. Φ0 bzw. Φ1 erhalten wir in Ω:

Φ∗1η =

∑I

(bI Φ1) dΦ1,I +∑J

(cJ Φ1) dΦ1,J ∧ dϕ1,n+1 =∑I

bI(x, 1) dxI (1.24)

und entsprechend

Φ∗0η =

∑I

bI(x, 0) dxI in Ω. (1.25)

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256 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Aus der Geschlossenheit von η und der Darstellung (1.23) berechnen wir noch

0 = dη =∑I

n∑l=1

∂bI∂xl

dxl ∧ dxI +∑I

∂bI∂t

dt ∧ dxI

+∑J

n∑l=1

∂cJ∂xl

dxl ∧ dxJ ∧ dt.

Sortieren wir nach den Termen in dt, so folgt insbesondere

∑I

∂bI∂t

dxI = (−1)k+1∑J

n∑l=1

∂cJ∂xl

dxl ∧ dxJ in Θ.

Dies gilt speziell in Ω × [0, 1] ⊂ Θ und damit auch fur die k-Formen, die durchIntegration der auftretenden Koeffizienten ∂bI

∂t und ∂cJ∂xl

bezuglich t ∈ [0, 1] entstehen.Wir beachten noch

1∫0

∂bI∂t

dt = bI(x, 1)− bI(x, 0),

1∫0

∂cJ∂xl

dt =∂

∂xl

1∫0

cJ(x, t) dt,

wobei die zweite Identitat aus der gleichmaßigen Konvergenz des Differenzenquoti-enten und Satz 5.6 aus Kap. 3 folgt (→ Ubungsaufgabe). Es ergibt sich also

∑I

[bI(x, 1)− bI(x, 0)

]dxI = (−1)k+1

∑J

n∑l=1

∂xl

( 1∫0

cJ(x, t) dt

)dxl ∧ dxJ

= d

[(−1)k+1

∑J

( 1∫0

cJ(x, t) dt

)dxJ

], x ∈ Ω.

(1.26)Setzen wir schließlich

σ := (−1)k+1∑J

( 1∫0

cJ(x, t) dt

)dxJ ,

so folgt aus (1.24)-(1.26):

Φ∗1η − Φ∗

0η(1.24),(1.25)

=∑I

[bI(x, 1)− bI(x, 0)

]dxI

(1.26)= dσ in Ω,

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2. UNTERMANNIGFALTIGKEITEN DES RN 257

wie behauptet. q.e.d.

Beweis von Satz 1.2: O.B.d.A. sei Ω sternformig bez. des Nullpunktes, d.h. fur allex ∈ Ω gilt tx ∈ Ω mit beliebigem t ∈ [0, 1]. Wir betrachten die Abbildung

Φ = Φ(x, t) := tx ∈ C∞(Rn × R)

und setzen Θ := (x, t) ∈ Rn × R : Φ(x, t) = tx ∈ Ω. Damit folgt Ω× [0, 1] ⊂ Θ.Ist nun ω ∈ C1(Ω,Altk) geschlossen, so gilt dies nach Hilfssatz 1.4 (iii) auch fur

η := Φ∗ω ∈ C1(Θ,Altk). Nach Hilfssatz 1.5 existiert also ein σ ∈ C1(Ω,Altk−1) mit

dσ = Φ∗1η − Φ∗

0η in Ω

mit den dort angegebenen Abbildungen Φ0,Φ1 : Ω → Rn × R; man beachte dieBeziehungen

Φ Φ1 ≡ Id, Φ Φ0 ≡ 0 in Ω.

Zusammen mit Hilfssatz 1.4 (iv) erhalten wir nun schließlich

dσ = Φ∗1η − Φ∗

0η = Φ∗1(Φ

∗ω)− Φ∗0(Φ

∗ω)

= (Φ Φ1)∗ω − (Φ Φ0)

∗ω = ω in Ω,

wie behauptet. q.e.d.

2 Untermannigfaltigkeiten des Rn

Wir beginnen mit der

Definition 2.1:

• Sei T ⊂ Rm offen und eine Abbildung Φ = Φ(t) = Φ(t1, . . . , tm) ∈ Cs(T,Rn)mit m ≤ n und s ∈ N gegeben. Dann heißt Φ (m-dimensionale) parametrisierteFlache der Klasse Cs, falls gilt

rgDΦ(t) = m fur alle t ∈ T. (2.1)

• Ist t = t(u) ∈ Cs(T ,Rm) ein Diffeomorphismus von T ⊂ Rm nach T = t(T ),so heißt Φ(u) := Φ(t(u)), u ∈ T , Umparametrisierung von X. Die Aquiva-lenzklasse aller Umparametrisierungen heißt (regulare) Flache F . Wollen wireine Parametrisierung Φ von F hervorheben, so schreiben wir auch F : Φ(t),t ∈ T . Und Sp (F ) := Φ(T ) wird als Spur der Flache F bezeichnet.

• Die Umparametrisierung Φ(u) = Φ(t(u)) heißt orientierungserhaltend, fallsJt(u) = detDt(u) > 0 fur alle u ∈ T gilt. Die Aquivalenzklasse aller orien-tierungserhaltenden Umparametrisierungen nennen wir orientierte (regulare)Flache.

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258 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

• Schließlich heißt die Flache F : Φ(t), t ∈ T , eingebettet, wenn die AbbildungΦ : T → Rn injektiv ist.

Bemerkung: Die Regularitatsforderung (2.1) erlaubt in jedem Punkt der Flache dieDefinition eines m-dimensionalen Tangentialraumes, der die Richtung der Flacheangibt (siehe auch die u.s. Bemerkung im Anschluss an Satz 2.1). Fur solche Objekte– und allgemeiner fur die u.a. Mannigfaltigkeiten – lasst sich Differentialgeometriebetreiben.

Beispiele:

1. Φ = Φ(t1, t2) := (cos t1, sin t1, t2), t = (t1, t2) ∈ R2, ist Parametrisierungeines (mehrfach uberdeckten) 2-dimensionalen Zylinders Z im R3. Wegen derPeriodizitat von cos und sin ist Z nicht eingebettet. Durch die Einschrankungauf den (nicht offenen) Parameterbereich t ∈ [0, 2π) × R ware der einfachuberdeckte Zylinder jedoch eingebettet. Eine orientierte Umparametrisierungerhalt man etwa aus t(u1, u2) = (au1, bu2) fur a, b ∈ R mit ab > 0.

2. Fur m = 1 sprechen wir von Kurven K : Φ(t), t ∈ T ⊂ R, statt von 1-dimensionalen Flachen. Bedingung (2.1) erscheint dann in der Form

Φ(t) = 0, fur alle t ∈ T. (2.2)

Die Orientierung einer Kurve gibt an, in welcher”Richtung“ sie durchlaufen

wird.

3. Ist f = f(t) ∈ Cs(T,Rd), T ⊂ Rm, gegeben, so ist Φ(t) = (t, f(t)), t ∈ T ,Parametrisierung einer eingebetteten m-dimensionalen Flache F im Rm+d mitder Spur Sp (F ) = Φ(T ) = graph f ; es gilt namlich

rgDΦ(t) = rg

(E

Df(t)

)= m,

wobei E die m×m-Einheitsmatrix bezeichnet.

4. Sei M = x ∈ Ω : f(x) = 0, Ω ⊂ Rn offen, eine gleichungsdefinierteMannigfaltigkeit der Dimension m < n; siehe Definition 6.1 in Kap. 4. NachFolgerung 6.1 aus Kap. 4 lasst sich M lokal als Graph schreiben; zu jedemPunkt x0 ∈ M gibt es also nach Beispiel 3 eine Umgebung W ⊂ Ω, so dassM ∩W die Spur einer m-dimensionalen, eingebetteten Flache ist.

Definition 2.2:

• Eine Menge M ⊂ Rn heißt m-dimensionale Cs-Untermannigfaltigkeit des Rn(m ≤ n, s ∈ N), wenn zu jedem x0 ∈ M eine offene Umgebung W ⊂ Rn vonx0 existiert, so dass M ∩W Spur einer eingebetteten m-dimensionalen Flacheder Klasse Cs ist. Wir sprechen kurz von einer Cs-Mannigfaltigkeit.

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2. UNTERMANNIGFALTIGKEITEN DES RN 259

• Zu jedem Punkt x0 ∈ M einer m-dimensionalen Cs-Mannigfaltigkeit M gibtes also eine Umgebung W = W (x0) ⊂ Rn, eine offene Menge T ⊂ Rm undeine injektive Abbildung Φ = Φ(t) ∈ Cs(T,Rn) mit rgDΦ = m in T undΦ(T ) = M ∩W . Das Tupel (Φ, T ) heißt Karte von M (um x). Eine Familievon Karten

A :=(Φj , Tj) : j ∈ J

, J ist Indexmenge,

nennen wir Atlas von M , wenn gilt∪j∈J

Φj(Tj) =M.

Bemerkung: Offenbar existiert immer ein solcher Atlas, namlich

A =(Φx, Tx) : x ∈M

,

wobei (Φx, Tx) eine (beliebige) Karte von M um x ∈M bezeichnet.

Definition 2.3: Seien (Φj , Tj), j = 1, 2, zwei Karten von M mit Θ := Φ1(T1) ∩Φ2(T2) = ∅. Dann ist die Abbildung Φ−1

2 Φ1 : Φ−11 (Θ) → Rm wohl definiert. Gilt

nun

JΦ−12 Φ1

(t) > 0 fur alle t ∈ Φ−11 (Θ) ⊂ T1,

so heißen (Φ1, T1) und (Φ2, T2) gleich orientiert. Existiert furM ein Atlas A, so dassje zwei Karten mit nichtleerem Schnitt gleich orientiert sind, so heißtM orientierbarund A orientiert. Wir sagen dann auch, A gibt M eine Orientierung.

Bemerkungen:

1. Ist M orientierbar und zusammenhangend, so gibt es genau zwei verschiedeneOrientierungen auf M ; siehe Konigsberger: Analysis 2, S. 415.

2. Es gibt nicht orientierbare Mannigfaltigkeiten, z.B. das Mobiusband ; siehe For-ster: Analysis 3, S. 244.

Obiges Beispiel 4 zeigt, dass gleichungsdefinierte Mannigfaltigkeiten der Dimensi-on m < n auch Mannigfaltigkeiten im Sinne von Definition 2.2 sind. Die Umkehrunggilt nur lokal :

Satz 2.1: M ⊂ Rn ist genau dann eine m-dimensionale Cs-Mannigfaltigkeit (m <n, s ∈ N), wenn es zu jedem Punkt x0 ∈ M eine Umgebung V = V (x0) ⊂ Rn sogibt, dass M ∩ V m-dimensionale, gleichungsdefinierte Mannigfaltigkeit der KlasseCs ist.

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260 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Beweis:

•”⇐“: Klar nach obigem Beispiel 4.

•”⇒“: Um dies zu zeigen, schreiben wir die Cs-Mannigfaltigkeit M der Di-mension m < n lokal als Graph; wie in Kap. 4, § 6 gesehen, sind Graphengleichungsdefinierte Mannigfaltigkeiten.

Wir wahlen also x0 ∈M und eine Karte (Φ, T ) von M um x0 ∈ Φ(T ). WegenrgDΦ = m auf T konnen wir fur t0 := Φ−1(x0) nach eventueller Umbezeich-nung der Koordinaten annehmen

det(∇ϕ1(t0), . . . ,∇ϕm(t0)

)= 0,

wobei ϕj die j-te Komponente von Φ bezeichnet. Nach dem Umkehrsatz exi-stiert nun eine Umgebung U = U(t0) ⊂ T , so dass Ψ := (ϕ1, . . . , ϕm)|U einenCs-Diffeomorphismus von U nach U∗ = Ψ(U) ⊂ Rm darstellt. Setzen wir nochgl(x1, . . . , xm) := ϕm+l Ψ−1(x1, . . . , xm), l = 1, . . . , d mit d := n −m, so istg := (g1, . . . , gd) ∈ Cs(U∗,Rd) richtig und

Φ(x1, . . . , xm) := Φ Ψ−1(x1, . . . , xm) =(x1, . . . , xm, g(x1, . . . , xm)

)fur (x1, . . . , xm) ∈ U∗ ist die gesuchte Graphendarstellung von M ∩ V , wobeiwir nochV ⊂ U∗ × Rd ⊂ Rn hinreichend klein wahlen mussen.

q.e.d.

Bemerkung: Wir erklaren den Tangentialraum TxM und Normalraum T⊥x M einer

C1-Mannigfaltigkeit wortlich wie in Definition 6.2 aus Kap. 4. Wegen Satz 2.1 lassensich TxM und T⊥

x M wie im dortigen Satz 6.2 charakterisieren. Einfacher und direkterist aber die folgende Darstellung, die man als Ubungsaufgabe beweist: Ist x ∈ Mund (Φ, T ) Karte von M mit x ∈ Φ(T ), so gilt

TxM = spanD1Φ(t), . . . , DmΦ(t)

, t := Φ−1(x).

Wir wollen auch den Rand einer Mannigfaltigkeit untersuchen; hierzu erklarenwir noch die folgenden Mengen:

H− :=t = (t1, . . . , tm) ∈ Rm : t1 < 0

,

E :=t = (t1, . . . , tm) ∈ Rm : t1 = 0

= ∂H− ∼= Rm−1.

(2.3)

Ist t0 ∈ E gewahlt und Br(t0) die offene Kugel um t0 vom Radius r > 0, so setzen

wir weiterhin

H−r (t

0) := Br(t0) ∩H− und Er(t

0) := Br(t0) ∩ E ⊂ ∂H−

r (t0).

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2. UNTERMANNIGFALTIGKEITEN DES RN 261

Definition 2.4: Es sei M ⊂ Rn eine m-dimensionale Cs-Mannigfaltigkeit fur m ≤n, s ∈ N.

(i) Ein Punkt x0 ∈ ∂M := M \M heißt regularer Randpunkt von M , wenn eseine offene Umgebung W =W (x0) ⊂ Rn, einen Punkt t0 ∈ E und eine Karte(Φ,H−

r (t0)) von M so gibt, dass Φ : H−

r (t0) ∪ Er(t0) → Rn ∈ Cs(H−

r (t0) ∪

Er(t0),Rn) gilt, Φ auf H−

r (t0) ∪ Er(t0) injektiv ist und DΦ dort den Rang m

hat, und dass gilt

Φ(t0) = x0, Φ(H−r (t

0)) =M ∩W, Φ(Er(t0)) = ∂M ∩W.

Eine solche Karte (Φ,H−r (t

0)) nennen wir Rand-adaptiert.

(ii) M heißt glatt berandete Cs-Mannigfaltigkeit, wenn jeder Randpunkt x0 ∈∂M regular ist. Einen Atlas A von M , der fur jeden Randpunkt eine Rand-adaptierte Karte enthalt, heißt dann selbst Rand-adaptiert.

Bemerkungen:

1. ∂M ist nicht der topologische Rand der Punktmenge M ⊂ Rn im Sinne vonDefinition 10.4 aus Kap. 1. Fur m < n ist ubrigens jeder Punkt von M auchtopologischer Randpunkt; siehe z.B. Satz 2.1.

2. Per Definition ist jede Mannigfaltigkeit M mit ∂M = ∅ glatt berandet, z.B.Sn−1 = x ∈ Rn : |x| = 1. Ist M beschrankt, so gilt ∂M = ∅ genau dann,wenn M kompakt ist.

3. Ist M glatt berandet, so existiert stets ein Rand-adaptierter Atlas A von M ,der einfach durch Hinzunahme aller Rand-adaptierten Karten zu einem gege-benen Atlas A′ von M entsteht.

Satz 2.2: Sei M ⊂ Rn eine m-dimensionale, glatt berandete Cs-Mannigfaltigkeitmit einem Rand-adaptierten Atlas A. Dann ist ∂M eine (m−1)-dimensionale Man-nigfaltigkeit der Klasse Cs mit Atlas

∂A :=

(Φ∣∣Er(t0)

, Er(t0)):

(Φ,H−(t0)

)ist Rand-adaptierte Karte

aus A um x0 = Φ(t0) ∈ ∂M

. (2.4)

Ist A orientiert, so wird durch A eine Orientierung in ∂A induziert, die wir daherinduzierte Orientierung nennen.

Beweis:

1. Sei x0 ∈ ∂M beliebig gewahlt und (Φ,H−r (t

0)) Rand-adaptierte Karte aus Amit t0 := Φ−1(x0) ∈ E. Wir schreiben

Φ(t2, . . . , tm) := Φ(0, t2, . . . , tm), (t2, . . . , tm) ∈ Er(t0),

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262 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

fur die Einschrankung von Φ auf Er(t0). Dann gilt

rgDΦ(t2, . . . , tm) = rg(D2Φ(0, t2, . . . , tm), . . . , DmΦ(0, t2, . . . , tm)

)= m− 1

und Φ : Er(t0) → Rn ist injektiv mit Bild Φ(Er(t

0)) = W ∩ ∂M . Folglich ist(Φ, Er(t

0)) Karte von ∂M , und ∂M selbst ist (m − 1)-dimensionale Mannig-faltigkeit mit dem Atlas ∂A aus (2.4).

2. Seien nun (Φ1, Er1(t1)), (Φ2, Er2(t

2)) zwei Karten aus ∂A, fur die Φ1(Er1(t1))∩

Φ2(Er2(t2)) =: Θ = ∅ gelte. Sind (Φ1,H

−r1(t

1)), (Φ2,H−r2(t

2)) die zugehori-

gen Rand-adaptierten Karten (d.h. Φj = Φj |Erj (tj), j = 1, 2), so folgt Θ :=

Φ1(H−r1(t

1)) ∩ Φ2(H−r2(t

2)) = ∅. Da A orientiert ist, erfullt die Abbildung

χ = (χ1, . . . , χm) := Φ−12 Φ1 : Φ

−11 (Θ ∪ Θ) → Rm

die Relation

Jχ(t1, . . . , tm) > 0, (t1, . . . , tm) ∈ Φ−11 (Θ ∪ Θ).

Zu zeigen ist, dass auch χ := Φ−12 Φ1 : Φ

−11 (Θ) → Rm−1 positive Funktional-

determinante in Φ−11 (Θ) besitzt.

Zunachst halten wir die offensichtliche Beziehung

χ(t2, . . . , tm) = (χ2, . . . , χm)(0, t2, . . . , tm), (t2, . . . , tm) ∈ Φ−1(Θ), (2.5)

fest. Nach Definition gilt

χ1(t1, . . . , tm)

< 0, wenn t1 < 0

= 0, wenn t1 = 0fur (t1, . . . , tm) ∈ Φ−1

1 (Θ ∪ Θ). (2.6)

Fur die Funktionalmatrix von χ ergibt sich also in einem beliebigen Punkt ausΦ−11 (Θ) ⊂ Er1(t

1):

Dχ =

D1χ1 0 . . . 0D1χ2 D2χ2 . . . Dmχ2

......

. . ....

D1χm D2χm . . . Dmχm

,

und (2.5) liefert

0 < Jχ(0, t2, . . . , tm) = D1χ1(0, t2, . . . , tm)Jχ(t2, . . . , tm) auf Φ−11 (Θ). (2.7)

Andererseits folgern wir aus (2.6) noch

D1χ1(0, t2, . . . , tm) = limh→0−

χ1(h, t2, . . . , tm)− χ1(0, t2, . . . , tm)

h≥ 0.

Formel (2.7) liefert somit Jχ > 0 auf Φ−11 (Θ), wie behauptet. q.e.d.

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2. UNTERMANNIGFALTIGKEITEN DES RN 263

Festlegung: Im Folgenden betrachten wir immer beschrankte, glatt berandete Man-nigfaltigkeitenM mit Rand-adaptiertem Atlas A. Deren Rand ∂M sei stets mit demAtlas ∂A aus (2.4) ausgestattet und wird so zu einer kompakten Mannigfaltigkeit.IstM insbesondere orientiert, so denken wir uns also immer ∂M induziert orientiert.

Bemerkung: Da M beschrankt ist, ist M = M ∪ ∂M kompakt. Ist A = (Φj , Tj) :j ∈ J Rand-adaptierter Atlas von M , so existieren offene Mengen Wj ⊂ Rn, j ∈ J ,mit

Φj(Tj) =M ∩Wj und M ⊂∪j∈J

Wj . (2.8)

Nach dem Satz von Heine-Borel konnen wir endlich viele MengenW1, . . . ,Wµ, µ ∈ N,auswahlen, die bereitsM uberdecken. Die zugehorigen Karten (Φj , Tj), j = 1, . . . , µ,bilden dann einen endlichen Atlas von M .

Wir wollen nun Differentialformen uber Mannigfaltigkeiten passender Dimensionintegrieren. Dies erklaren wir schrittweise:

Definition 2.5:

(i) Seien Ω ⊂ Rn offen und ω = a dx1 ∧ . . . ∧ dxn ∈ C0(Ω, Altn) gewahlt. Dannheißt die n-Form ω integrierbar uber Ω, wenn das uneigentliche Integral

∫Ω a dx

existiert. Wir setzen dann∫Ω

ω :=

∫Ω

a dx =

∫Ω

a(x) dx1 . . . dxn.

Die Form ω heißt absolut integrierbar uber Ω, wenn∫Ω |a| dx < +∞ gilt. Wir

schreiben dann auch ∫Ω

|ω| :=∫Ω

|a| dx < +∞.

(ii) Sei F : Φ = Φ(t), t ∈ T eine eingebettete, orientierte m-dimensionale Flacheder Klasse C1. Ist Ω ⊂ Rn offen und Φ(T ) ⊂ Ω richtig, so heißt eine m-Formω ∈ C0(Ω,Altm) integrierbar uber F , wenn die nach T zuruckgeholte m-FormΦ∗ω = a dt1 ∧ . . . ∧ dtm uber T absolut integrierbar ist; wir setzen dann∫

F

ω :=

∫T

Φ∗ω =

∫T

a dt;

vergleiche Formel (1.17).

(iii) Sei schließlich M ⊂ Rn eine m-dimensionale, orientierte (beschrankte, glattberandete) Mannigfaltigkeit der Klasse C1 mit endlichem Atlas A = (Φj , Tj) :

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264 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

j = 1, . . . , µ. Ferner sei ηjj=1,...,µ eine Zerlegung der Eins auf M , die demAtlas A im Sinne der nachstehenden Bemerkung 3 untergeordnet sei. Ist dannω ∈ C0(Ω,Altm) eine m-Form auf Ω ⊃ M und ist ηjω ∈ C0(Ω,Altm) uberFj : Φj = Φj(t), t ∈ Tj, integrierbar fur alle j = 1, . . . , µ, so nennen wir ωintegrierbar uber M und setzen∫

M

ω :=

µ∑j=1

∫Fj

ηjω.

Bemerkungen:

1. Da eine offene Menge Ω ⊂ Rn eine n-dimensionale Flache mit der trivialenParametrisierung Φ(t) = t, t ∈ T , darstellt, ist (i) ein Spezialfall von (ii).

2. Das Integral∫Ω ω in (ii) ist unabhangig von der gewahlten Parametrisierung

Φ = Φ(t), t ∈ T , der Flache F . Ist namlich Φ = (Φ t)(u), u ∈ T , eineorientierungserhaltende Umparametrisierung von F , so gilt mit Φ∗ω = a dt1 ∧. . . ∧ dtm:

Φ∗ω = (Φ t)∗(u)HS 1.4 (iv)

= t∗(Φ∗ω) = t∗(a dt1 ∧ . . . ∧ dtm)(1.18)= (a t)Jt du1 ∧ . . . ∧ dum =: a du1 ∧ . . . ∧ dum.

Da nun∫T

|a| dt < +∞ gilt, ist nach der Transformationsformel auch∫T |a| du =∫

T |a t|Jt du < +∞ richtig, und es gilt∫T

Φ∗ω =

∫T

a dtTrans.-formel

=

∫T

a du =

∫T

Φ∗ω.

Man spricht daher beim Integral∫F ω (und allgemeiner bei

∫M ω) auch von

parameterinvarianten Integralen.

Beachte: Bei Orientierungsumkehr in der Parametrisierung von F wechselt dasVorzeichen des Integrals!

3. Sei A = (Xj , Tj) : j = 1, . . . , µ Rand-adaptierter Atlas von M und furdie offenen Mengen W1, . . . ,Wµ ⊂ Rn gelte (2.8). Wir sagen, eine Zerlegungder Eins ηjj=1,...,µ auf M (vgl. Kap. 5, §4) sei dem Atlas A untergeordnet,wenn ηj ∈ C∞

c (Wj) fur alle j = 1, . . . , µ gilt. Man zeigt noch leicht, dass dieDefinition von

∫M ω in (iii) von dem gewahlten Atlas und der Zerlegung der

Eins unabhangig ist (→ Ubungsaufgabe).

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3. DER SATZ VON STOKES 265

4. Ahnlich wie beim Riemannschen Integral uber Teilmengen des Rn konnen”nie-

derdimensionale Mengen“ vernachlassigt werden. Dies beweist man leicht imRahmen der Lebesgue-Theorie, so dass wir an dieser Stelle darauf verzich-ten wollen. Fur die praktische Berechnung von Integralen sei nur angemerkt:Lasst sich M schreiben als Vereinigung M = F1∪ . . .∪Fp mit p ∈ N paarweisedisjunkten regularen Flachen Fl : Φl(t), t ∈ Tl, wobei Tl beschrankte Parame-tergebiete sind und Φl ∈ C1(Tl) gilt, so konnen wir das Integral einer uber Mintegrierbaren Form ω berechnen als∫

M

ω =

p∑l=1

∫Fl

ω.

Beispiel: Wir wollen∫S2 ω fur ω = x dy∧dz−y dx∧dz+z dx∧dy berechnen. Hierzu

setzen wirA :=

(x, 0, z) ∈ S2 : x ≥ 0

.

Dann ist S2 \A eine Flache mit Parametrisierung

Φ(u, v) =

cosu cos vsinu cos v

sin v

, (u, v) ∈ (0, 2π)×(− π

2,π

2

).

Im Beispiel aus § 1 haben wir bereits berechnet Φ∗ω = cos v du ∧ dv. Wir erhaltenalso ∫

S2\A

ω :=

∫(0,2π)×(0,π)

Φ∗ω =

2π∫0

( π2∫

−π2

cos v dv

)du = 4π.

Wegen S2 = S2 \A und Φ ∈ C1([0, 2π]× [−π2 ,

π2 ],R

3) liefert obige Bemerkung 4:∫S2

ω =

∫S2\A

ω = 4π.

3 Der Satz von Stokes

Wir kommen nun zum zentralen Ergebnis des Kapitels:

Satz 3.1: (Satz von Stokes)Es sei Ω ⊂ Rn offen und M ⊂ Ω eine m-dimensionale, orientierte, beschrank-te C2-Mannigfaltigkeit mit glattem Rand. Dann gilt fur jede (m − 1)-Form ω ∈C1(Ω,Altm−1) die Relation ∫

M

dω =

∫∂M

ω. (3.1)

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266 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Bemerkungen:

1. Falls ∂M = ∅ gilt, so ist das Integral auf der rechten Seite von (3.1) als 0aufzufassen.

2. Wir erinnern daran, dass ∂M selbst Mannigfaltigkeit ist und die induzierteOrientierung tragt; vgl. Satz 2.2 und die anschließende Festlegung.

3. Wegen M ⊂ Ω existieren beide Integrale in (3.1); vgl. Definition 2.5.

4. Durch Approximation kann die Aussage von Satz 3.1 fur deutlich allgemeinereMannigfaltigkeiten bewiesen werden, insbesondere auch fur solche mit nicht-glattem Rand, solange die Menge der nicht regularen Randpunkte nicht

”zu

groß“ wird; wir verweisen auf Sauvigny: Partielle Differentialgleichungen derGeometrie und der Physik, Kap. I, § 4.

Zum Beweis von Satz 3.1 benotigen wir noch den einfachen

Hilfssatz 3.1:

(a) Sei Θ ⊂ Rm offen und a = a(t) ∈ C1c (Θ,Rm), so folgt∫

Θ

div a(t) dt = 0.

(b) Ist Θ ⊂ Rm offen, Θ− := Θ ∩ H− = ∅, S := Θ ∩ E = ∅ und a = a(t) ∈C1c (Θ

− ∪ S,Rm) gewahlt. Dann gilt∫Θ−

div a(t) dt =

∫S

a1(0, t2, . . . , tm) dt2 . . . dtm.

Beweis:

(a) Ubungsaufgabe.

(b) Wir wahlen einen Wurfel W = [−R,R]m mit supp a ⊂⊂ W und setzenW− := W ∩H−. Setzen wir a zu 0 auf den Rn fort, so bleibt a in W− stetigdifferenzierbar, und der Satz uber die iterierte Integration liefert∫

Θ−

∂a1∂t1

dt =

∫W−

∂a1∂t1

dt =

∫[−R,R]m−1

( 0∫−R

∂a1∂t1

dt1

)dt2 . . . dtm

=

∫[−R,R]m−1

a1(0, t2, . . . , tm) dt2 . . . dtm

=

∫S

a1(0, t2, . . . , tm) dt2 . . . dtm

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3. DER SATZ VON STOKES 267

sowie∫Θ−

∂ai∂ti

dt =

∫[0,R]×[−R,R]m−2

( R∫−R

∂ai∂ti

dti

)dt1 . . . dti−1dti+1 . . . dtm = 0

fur i = 2, . . . ,m. Insgesamt folgt also∫Θ−

div a(t) dt =

∫Θ−

∂a1∂t1

(t) dt+m∑i=2

∫Θ−

∂ai∂ti

(t) dt

=

∫S

a1(0, t2, . . . , tm) dt2 . . . dtm,

wie behauptet. q.e.d.

Beweis von Satz 3.1: Sei also M ⊂ Rn orientierte, beschrankte und glatt beran-dete m-dimensionale C2-Mannigfaltigkeit. Wir betrachten einen endlichen, Rand-adaptierten Atlas A = (Φl, Tl) : l = 1, . . . , µ von M , wobei folgendes gelte: Esexistieren offene Mengen Wl ⊂ Rn, l = 1, . . . , µ, und ein 1 ≤ ν ≤ µ, so dass:

(a) Fur l = 1, . . . , ν haben wir Φl(Tl) =M ∩Wl und ∂M ∩Wl = ∅.

(b) Fur l = ν + 1, . . . , µ gilt Tl = H−rl(t(l)) mit t(l) ∈ E und (Φl,H

−rl(t(l))) sind

Rand-adaptierte Karten mit

Φl(H−rl(t(l))) =M ∩Wl, Φl(Erl(t

(l))) = ∂M ∩Wl;

vgl. Satz 2.2 und die anschließende Bemerkung. Zur besseren Ubersichtlichkeitsetzen wir noch

H−l := H−

rl(t(l)), El := Erl(t

(l)), l = ν + 1, . . . , µ.

Der Fall ν = µ tritt genau dann ein, wenn ∂M = ∅ gilt.

Sei weiter ηll=1,...,µ eine A untergeordnete Zerlegung der Eins, d.h. insbeson-dere ηl ∈ C∞

c (Wl). Setzen wir ωl := ηlω, so haben wir mit der Flache Fl : Φl(t),t ∈ Tl: ∫

Fl

dωl =

∫Tl

Φ∗l (dωl)

HS 1.3 (iii)=

∫Tl

d(Φ∗l ωl), l = 1, . . . , µ. (3.2)

Nun ist Φ∗l ωl eine (m− 1)-Form auf Tl ⊂ Rm und hat daher die Darstellung

Φ∗l ωl =

m∑i=1

(−1)i−1ai(t) dt1 ∧ . . . ∧ dti−1 ∧ dti+1 ∧ . . . ∧ dtm (3.3)

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268 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

mit eindeutig bestimmten Koeffizientenfunktionen a1, . . . , am ∈ C1(Tl). Setzen wira := (a1, . . . , am) ∈ C1(Tl,Rm), so ergibt sich daher

d(Φ∗l ωl) =

( m∑i=1

∂ai(t)

∂ti

)dt1 ∧ . . . ∧ dtm = div a(t) dt1 ∧ . . . ∧ dtm,

und (3.2) liefert ∫Fl

dωl =

∫Tl

div a(t) dt1 . . . dtm, l = 1, . . . , µ. (3.4)

Wir unterscheiden nun wieder die Falle (a) und (b):

(a) Fur l = 1, . . . , ν hat Φ∗l ωl kompakten Trager in Tl, d.h. a ∈ C1

c (Tl,Rm) in derDarstellung (3.3). Aus (3.4) und Hilfssatz 3.1 (a) folgt also∫

Fl

dωl = 0 fur l = 1, . . . , ν. (3.5)

(b) Fur l = ν+1, . . . , µ hat Φ∗l ωl kompakten Trager in H−

l ∪El, d.h. a ∈ C1c (H

−l ∪

El,Rm). Formel (3.4) und Hilfssatz 3.1 (b) liefern also in diesem Fall∫Fl

dωl =

∫El

a1(0, t2, . . . , tm) dt2 . . . dtm fur l = ν + 1, . . . , µ. (3.6)

Nun bemerken wir, dass sich Φl := Φl|El schreiben lasst als Φl = Φl Ψ mitΨ(t2, . . . , tm) := (0, t2, . . . , tm). Folglich ergibt sich

Φ∗l ωl = (Φl Ψ)∗ωl

HS 1.3 (iv)= Ψ∗(Φ∗

l ωl)

(3.3)=

m∑i=1

(−1)i−1ai(0, t2, . . . , tm) dψ1 ∧ . . . ∧ dψi−1 ∧ dψi+1 ∧ . . . ∧ dψm

= a1(0, t2, . . . , tm) dt2 ∧ . . . ∧ dtm.

Definieren wir also die (m − 1)-dimensionalen Flachen Fl : Φl(t2, . . . , tm),(t2, . . . , tm) ∈ El, so konnen wir (3.6) schreiben als∫

Fl

dωl =

∫El

Φ∗l ωl =

∫Fl

ωl, l = ν + 1, . . . , µ. (3.7)

Wir erinnern daran, dass (Φl, El) : l = ν + 1, . . . , µ einen Atlas von ∂Mliefert.

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3. DER SATZ VON STOKES 269

Insgesamt entnehmen wir nun (3.5) und (3.7):∫M

dω =

∫M

d[( µ∑

l=1

ηl

)ω]=

µ∑l=1

∫Fl

dωl(3.5),(3.7)

=

µ∑l=ν+1

∫Fl

ωl =

∫∂M

ω,

wie behauptet. q.e.d.

Beispiel: Wir wollen ω =∑n

i=1(−1)i−1xi dx1 ∧ . . . ∧ dxi−1 ∧ dxi+1 ∧ . . . ∧ dxnuber Sn−1 integrieren (vgl. das Beispiel am Ende von § 2). Beachten wir dω =div(x1, . . . , xn) dx1 ∧ . . . ∧ dxn = ndx1 ∧ . . . ∧ dxn, so liefert der Stokessche Satz∫

Sn−1

ω =

∫B1(0)

dω = n|B1(0)|.

Wir beschließen diesen Paragraphen mit der

Folgerung 3.1: Ist Ω ⊂ Rn offen und sternformig und σ ∈ C1(Ω,Altm) geschlos-sen, so gilt fur jede m-dimensionale, orientierte und kompakte C2-MannigfaltigkeitM ⊂ Ω: ∫

M

σ = 0.

Beweis:WegenM =M gilt ∂M = ∅ und σ ist uberM integrierbar. Da σ geschlossenund Ω sternformig ist, existiert nach dem Poincareschen Lemma eine Stammformω ∈ C1(Ω,Altm−1) mit dω = σ in Ω. Der Stokessche Satz liefert also∫

M

σ =

∫M

dω =

∫∂M

ω = 0,

wie behauptet. q.e.d.

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270 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

4 Der Gaußsche und der klassische Stokessche Integral-satz

Neben Differententialformen wollen wir nun auch Funktionen uber Mannigfaltigkei-ten integrieren und erklaren dazu:

Definition 4.1:

(i) Sei F : Φ(t), t ∈ T , eine orientierte, eingebettete m-dimensionale Flache derKlasse C1 im Rn. Wir erklaren den Maßtensor DΦT DΦ : T → Matm(R)und die zugehorige Gramsche Determinante

g(t) := det(DΦT DΦ)(t), t ∈ T.

Eine Funktion f ∈ C0(F ) heißt uber F integrierbar, wenn∫T

|f(Φ(t))|√g(t) dt < +∞

gilt; wir setzen dann∫F

f dS =

∫F

fdmS :=

∫T

f(Φ(t))√g(t) dt (4.1)

fur das Integral von f uber F . Der (formale) Ausdruck

dmS = dS = dS(x) =√g(t) dt, t = Φ−1(x),

wird als Flachen- oder Volumenelement bezeichnet.

(ii) Sei M ⊂ Rn eine m-dimensionale, orientierte, beschrankte und glatt berandeteC1-Mannigfaltigkeit mit endlichem Atlas A = (Φj , Tj) : j = 1, . . . , µ undηjj=1,...,µ sei eine untergeordnete Zerlegung der Eins. Ist f ∈ C0(M) eineFunktion, fur die ηjf : Fj → R fur alle j = 1, . . . , µ uber Fj : Φj(t), t ∈ Tj,integrierbar sind, so erklaren wir das Integral von f uber M gemaß∫

M

f dS :=

µ∑j=1

∫Fj

ηjf dS.

Bemerkungen:

1. Aufgrund der Transformationsformel ist diese Definition wieder unabhangigvon der gewahlten Parametrisierung von F bzw. dem Atlas von M und derZerlegung der Eins (→ Ubungsaufgabe).

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4. GAUSSSCHER UND KLASSISCHER STOKESSCHER SATZ 271

2. Die Definition des Flachenintegrals in (4.1) lasst sich geometrisch motivieren;wir verweisen auf Konigsberger: Analysis 2, Kap. 11.

3. Fur f ≡ 1 erhalt man den (Flachen-)Inhalt

|F | :=∫F

ds

von F und entsprechend den Inhalt |M | von M .

Zur Formulierung des Gaußschen Satzes benotigen wir noch die folgenden Be-griffe:

Definition 4.2:

• Wir sagen, eine offene und beschrankte Menge Ω ⊂ Rn habe Cs-Rand ∂Ω furein s ∈ N, wenn Ω eine orientierte Cs-Mannigfaltigkeit mit glattem Rand undAtlas A ist, fur die (Ω, Id) ∈ A gelte. Insbesondere ist also ∂Ω eine (n − 1)-dimensionale, orientierte Mannigfaltigkeit.

• Hat Ω ⊂ Rn einen C1-Rand ∂Ω, so nennen wir ein Vektorfeld ν : ∂Ω → Rnein außeres Einheitsnormalenfeld, wenn folgendes gilt:

(i) ν(x) ∈ T⊥x ∂Ω fur alle x ∈ ∂Ω.

(ii) |ν(x)| = 1 fur alle x ∈ ∂Ω.

(iii) Zu jedem x ∈ ∂Ω existiert ein ε0 > 0, so dass x+ εν(x) ∈ Ω gilt fur alleε ∈ [0, ε0).

Bemerkung: Fur Anwendungen ist folgende Beobachtung oft hilfreich (ohne Beweis):Eine offene, beschrankte Menge Ω ⊂ Rn hat genau dann den Cs-Rand ∂Ω, wenn eszu jedem Punkt x0 ∈ ∂Ω eine offene Umgebung U = U(x0) ⊂ Rn und eine Funktionψ ∈ Cs(U) so gibt, dass gilt

(i) Ω ∩ U = x ∈ U : ψ(x) ≤ 0.

(ii) ∇ψ(x) = 0 fur alle x ∈ U ∩ ∂Ω.

Zum Beispiel ist damit sofort klar, dass jede offene Kugel BR(a) = x ∈ Rn :|x− a| < R C∞-Rand hat, denn mit

ψ(x) := |x− a|2 −R2 ∈ C∞(Rn)

konnen wir schreiben BR(a) = x ∈ Rn : ψ(x) ≤ 0, und es gilt

∇ψ(x) = 2(x− a) = 0 fur x ∈ Rn \ a.

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272 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Hilfssatz 4.1: Zu jeder offenen, beschrankten Menge Ω mit C1-Rand ∂Ω existiertgenau ein außeres Einheitsnormalenfeld ν : ∂Ω → Rn, und es gilt ν ∈ C0(∂Ω,Rn).

Beweis:

1. Existenz: Sei x0 ∈ ∂Ω beliebig gewahlt und (Φ,H−r (t0)) mit t0 = Φ−1(x0) eine Rand-

adaptierte Karte des orientierten Atlas A von Ω. Insbesondere haben wir also Φ(H−r (t0)) =

Ω ∩W und Φ(Er(t0)) = ∂Ω ∩W mit einer Umgebung W = W (x0) ⊂ Rn. Wir schreiben

Φ(t2, . . . , tn) := Φ(0, t2, . . . , tn), (t2, . . . , tn) ∈ Er(t0), fur die Einschrankung Φ|Er(t0) und

setzen

∆i := (−1)i−1

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

D2ϕ1 . . . Dnϕ1

......

D2ϕi−1 . . . Dnϕi−1

D2ϕi+1 . . . Dnϕi+1

......

D2ϕn . . . Dnϕn

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣auf Er(t

0) (4.2)

fur i = 1, . . . , n. Mit ν := (∆1, . . . ,∆n) gilt dann fur beliebiges b ∈ Rn:

det(b,D2Φ, . . . , DnΦ) = ⟨b, ν⟩. (4.3)

Insbesondere folgt also ν(t2, . . . , tn) ⊥ DlΦ(t2, . . . , tn) fur alle l = 2, . . . , n und alle Parameter(t2, . . . , tn) ∈ Er(t

0). Gemaß der Bemerkung im Anschluss an Satz 2.2 gilt also ν(t2, . . . , tn) ∈T⊥Φ(t2,...,tn)

∂Ω auf Er(t0). Aus (4.3) lesen wir noch |ν| > 0 auf Er(t

0) ab. Also erfullt

ν(x) :=ν Φ−1(x)

|ν Φ−1(x)|, x ∈ ∂Ω ∩W, (4.4)

die Eigenschaften (i) und (ii) aus Definition 4.2, und es gilt ν ∈ C0(∂Ω ∩ W,Rn). Da x0

beliebig gewahlt war und ∂Ω orientiert ist, konnen wir durch (4.4) ν auf ganz ∂Ω erklarenmit ν ∈ C0(∂Ω,Rn). Zu zeigen bleibt also (iii) aus Definition 4.2.

Angenommen, (iii) gilt nicht. Dann gibt es zu jedem k ∈ N ein εk ∈ (0, 1k), so dass x0 +

εkν(x0) ∈ Ω erfullt ist. Fur hinreichend großes k existiert also ein tk ∈ H−

r (t0) mit

x0 + εkν(x0) = Φ(tk) ∈W ∩ Ω.

Wir entwickeln Φ um t0:

Φ(tk) = x0 +DΦ(t0)(tk − t0) + o(|tk − t0|) fur tk → t0.

Nach Multiplikation mit ν(x0) folgt also (beachte ν(x0) ⊥ DlΦ(t0) fur l = 2, . . . , n):

0 < εk = ⟨ν(x0),Φ(tk)− x0⟩ = tk1⟨ν(x0), D1Φ(t0)⟩+ o(|tk − t0|).

Wegen tk = (tk1 , . . . , tkn) ∈ H−

r (t0) gilt tk1 < 0; also musste ⟨ν(x0), D1Φ(t0)⟩ < 0 erfullt sein.

Andererseits ist aber (Φ, H−r (t0)) per Voraussetzung gleich orientiert zu Id,Ω ∈ A, d.h.

JId−1Φ(t) = JΦ(t) = det(D1Φ(t), . . . , DnΦ(t)

)> 0 fur alle t ∈ H−

r (t0).

Die Stetigkeit von DΦ liefert also fur t→ t0:

0 ≤ det(D1Φ(t

0), . . . , DnΦ(t0))

(4.3)=

⟨D1Φ(t

0), ν(t02, . . . , t0n)⟩

= ⟨D1Φ(t0), ν(x0)⟩|ν(t02, . . . , t0n)|

bzw. ⟨D1Φ(t0), ν(x0)⟩ ≥ 0, Widerspruch! Damit ist (iii) aus Definition 4.2 erfullt, und ν :

∂Ω → Rn ist stetiges außeres Einheitsnormalenfeld.

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4. GAUSSSCHER UND KLASSISCHER STOKESSCHER SATZ 273

2. Eindeutigkeit: Wegen dimT⊥x0∂Ω = 1 ware fur jedes weitere außere Einheitsnormalenfeld

ν : ∂Ω → Rn naturlich ν(x0) = σν(x0) mit einem σ ∈ −1,+1 richtig. Golte σ = −1, sofolgte aus Eigenschaft (iii) in Definition 4.2: x0 + εν ∈ Ω fur alle ε ∈ (−ε0, ε0) mit einemε0 > 0. Dies liefert einen Widerspruch, wie man sich etwa durch Graphendarstellung derEinschrankungen Φ|Eδ∩Br(t0)

mit Eδ := (t1, . . . , tn) : t1 = −δ, δ > 0, uberlegt.q.e.d.

Bemerkung: Sei Ω ⊂ Rn mit C1-Rand gegeben und (Φ, Er(t0)) Karte von ∂Ω um

x0 = Φ(t0). Erlaren wir ∆1, . . . ,∆n wie in (4.2), so zeigt der nachstehende Hilfs-satz 4.2:

n∑i=1

∆2i = det(DΦT DΦ) = g auf Er(t

0)

mit der Gramschen Determinante g : Er(t0) → R. Das in (4.4) erklarte stetige

Einheitsnormalenfeld ν : ∂Ω → Rn lasst sich also in Φ(Er(t0)) ⊂ ∂Ω schreiben als

ν(x) =(∆1 Φ−1, . . . ,∆n Φ−1)√

g Φ−1

(x). (4.5)

Hilfssatz 4.2 : Fur m ≤ n seien Matrizen A,B ∈ Matn,m(R) gewahlt. Die quadratischen Unter-matrizen der Zeilen i1, . . . , im bezeichnen wir mit Ai1...im , Bi1...im . Dann gilt

det(AT B) =∑

1≤i1<...<im≤n

detAi1...im detBi1...im .

Beweis: Ubungsaufgabe.

Wir kommen nun zu einem der grundlegendsten Satze der modernen Analysisuberhaupt:

Satz 4.1: (Gaußscher Integralsatz)Es sei Ω ⊂ Rn eine offene, beschrankte Menge mit C2-Rand und außerem Einheits-normalenfeld ν : ∂Ω → Rn. Ist Ω0 ⊃ Ω eine offene Menge im Rn, so gilt fur jedesf ∈ C1(Ω0,Rn) die Identitat∫

Ω

div f(x) dx =

∫∂Ω

⟨f(x), ν(x)

⟩dS(x). (4.6)

Bemerkung: Die Identitat (4.6) bleibt (wie der Stokessche Satz) auch unter deutlichschwacheren Voraussetzungen an Ω und f richtig. So kann Ω stuckweise C1-Randhaben (also auch Kanten und Ecken aufweisen) und fur f genugt die Vorausset-zung f ∈ C1(Ω,Rn) ∩ C0(Ω,Rn) mit

∫Ω |div f | dx < +∞. Wir verweisen auf Sau-

vigny: Partielle Differentialgleichungen der Geometrie und der Physik, Kap. I, § 5und Konigsberger: Analysis 2, Kap. 12.

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274 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

Beweis von Satz 4.1: Wir betrachten die Differentialform

ω :=

n∑i=1

(−1)i−1fi(x) dx1 ∧ . . . ∧ dxi−1 ∧ dxi+1 ∧ . . . ∧ dxn ∈ C1(Ω0,Altn−1).

Nach dem Stokesschen Satz gilt ∫Ω

dω =

∫∂Ω

ω. (4.7)

Fur die linke Seite von (4.7) ergibt sich wegen dω = div f(x) dx1 ∧ . . . ∧ dxn sofort(Ω ist Flache mit der Parametrisierung Φ(x) = x, x ∈ Ω):∫

Ω

dω =

∫Ω

div f(x) dx. (4.8)

Zur Auswertung der rechten Seite von (4.7) wahlen wir eine Karte (Φ, Er(t0)) um

x0 = Φ(t0) ∈ ∂Ω. Mit Hilfe von Hilfssatz 1.2 ergibt sich dann

Φ∗ω =n∑i=1

(−1)i−1(fi Φ) dϕ1 ∧ . . . ∧ dϕi−1 ∧ dϕi+1 ∧ . . . ∧ dϕn

=

n∑i=1

(−1)i−1(fi Φ) det

D2ϕ1 . . . Dnϕ1...

...

D2ϕi−1 . . . Dnϕi−1

D2ϕi+1 . . . Dnϕi+1...

...

D2ϕn . . . Dnϕn

dt2 ∧ . . . ∧ dtn

(4.2)=

n∑i=1

(fi Φ)∆i dt2 ∧ . . . ∧ dtn

(4.5)=

⟨f Φ, ν Φ

⟩√g dt2 ∧ . . . ∧ dtn.

(4.9)Ist nun ∂A = (Φl, Tl) : l = 1, . . . , µ ein orientierter Atlas von ∂Ω und ηll=1,...,µ

untergeordnete Zerlegung der Eins, so finden wir∫∂Ω

ω =

µ∑l=1

∫Tl

Φ∗l (ηlω) =

µ∑l=1

∫Tl

(ηl Φl)(Φ∗l ω)

(4.9)=

µ∑l=1

∫Tl

(ηl Φl)⟨f Φl, ν Φl

⟩√g dt2 . . . dtn

=

µ∑l=1

∫Φl(Tl)

ηl⟨f, ν⟩ dS =

∫∂Ω

⟨f, ν⟩ dS.

(4.10)

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4. GAUSSSCHER UND KLASSISCHER STOKESSCHER SATZ 275

Verknupfung von (4.7) mit (4.8) und (4.10) liefert schließlich die behauptete Gauß-sche Identitat (4.6).

q.e.d.

Bemerkung: Formel (4.10) im obigen Beweis zeigt, dass das Integral∫∂Ω ω fur die

spezielle Differentialform

ω :=n∑i=1

(−1)i−1fi(x) dx1 ∧ . . . ∧ dxi−1 ∧ dxi+1 ∧ . . . ∧ dxn

mit dem Integral∫∂Ω⟨f, ν⟩ dS ubereinstimmt. Ist speziell ∂Ω = Sn−1 und f(x) = x,

so haben wir wegen ν(x) = x:∫Sn−1

ω =

∫Sn−1

dS = |Sn−1|.

Das Beispiel im Anschluss an den Stokesschen Satz, Satz 3.1, zeigt also

|Sn−1| = n|B1(0)|.

Als direkte Konsequenz des Gaußschen Satzes ergeben sich die Greenschen For-meln, die das Fundament der gesamten Potentialtheorie bilden:

Folgerung 4.1: (Greensche Formeln)Seien Ω0,Ω ⊂ Rn offen und Ω habe C2-Rand mit Ω ⊂ Ω0. Fur beliebige f ∈ C1(Ω0)und g ∈ C2(Ω0) gilt dann die 1. Greensche Identitat∫

Ω

(f ∆g + ⟨∇f,∇g⟩

)dx =

∫∂Ω

f∂g

∂νdS,

wobei ν : ∂Ω → Rn das außere Einheitsnormalenfeld an ∂Ω bezeichnet. Ist zusatzlichf ∈ C2(Ω0,Rn) erfullt, so gilt auch die 2. Greensche Identitat∫

Ω

(f ∆g − g∆f) dx =

∫∂Ω

(f∂g

∂ν− g

∂f

∂ν

)dS.

Beweis: Ubungsaufgabe.

Zum Abschluss des Kapitels wollen wir den Stokesschen Satz in seiner klassischenVariante angeben. Hierzu benotigen wir noch die

Definition 4.3: Sei F : Φ(t), t ∈ T , eine 2-dimensionale, eingebettete Flache imR3 der Klasse Cs.

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276 KAPITEL 6. INTEGRATION AUF MANNIGFALTIGKEITEN

(i) Wir sagen F habe Cs-Rand ∂F := F \ F , wenn folgendes gilt:

– T ⊂ R2 ist offen und beschrankt und hat Cs-Rand ∂T .

– Es gilt Φ ∈ Cs(T ,R3), und Φ ist auf T injektiv und DΦ hat dort vollenRang.

Es gilt dann ∂F = Φ(∂T ). Ist ν = (ν1, ν2) : ∂T → R2 das außere Einheitsnor-malenfeld an ∂T , so setzen wir τ := (−ν2, ν1) : ∂T → R2 und

τ :=(DΦ τ)|DΦ τ |

Φ−1 : ∂F → R3 (4.11)

fur das (orientierte) Einheitstangentenfeld an F .

(ii) Mit

N :=Φt1 × Φt2|Φt1 × Φt2 |

Φ−1 : F → R3

bezeichnen wir den Einheitsnormalenvektor N = N(x) an die Flache F imPunkt x ∈ F .

Bemerkung: Man beachte, dass ∂F = Φ(∂T ) eindimensionale Cs-Mannigfaltigkeit,also eine Kurve ist. Man rechnet leicht nach mittels lokaler Parametrisierung, dassτ tatsachlich tangential zu ∂F verlauft.

Satz 4.2: (Klassischer Stokesscher Integralsatz)Es sei Ω ⊂ R3 offen, a = (a1, a2, a3) : Ω → R3 ∈ C1(Ω,R3) ein beliebiges Vektorfeldund F : Φ(t), t ∈ T , eine Flache der Klasse C2 mit C2-Rand und F ⊂ Ω. Dann giltdie Relation ∫

F

⟨rot a,N⟩ d2S =

∫∂F

⟨a, τ⟩ d1S.

Beweis: Wir betrachten die Linearform

ω :=

3∑i=1

ai dxi ∈ C1(Ω,Alt1)

und berechnen∫F

⟨rot a,N⟩ d2S =

∫T

⟨rot a(Φ(t)), N(Φ(t))

⟩√g(t) dt

HS 4.2=

∫T

⟨rot a Φ, Φt1 × Φt2

|Φt1 × Φt2 |

⟩|Φt1 × Φt2 | dt

=

∫T

⟨rot a Φ,Φt1 × Φt2

⟩dt

=

∫T

Φ∗⟨rot a, dS⟩ =

∫T

Φ∗ dω =

∫F

dω,

(4.12)

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4. GAUSSSCHER UND KLASSISCHER STOKESSCHER SATZ 277

wobei wir noch dS := (dx2∧dx3,−dx1∧dx3, dx1∧dx2) gesetzt haben (vgl. Aufgabe 2auf Ubungsblatt 2).

Sei nun (Ψl, Il) : l = 1, . . . , µ orientierter Atlas von ∂T . Dann ist nach Formel(4.5) fur t ∈ Ψl(Il) ⊂ ∂T die Darstellung

ν(t) =(ψ′

l2,−ψ′l1)

|Ψ′l|

(s), s = Ψ−1l (t) ∈ Il,

fur die außere Einheitsnormale ν : ∂T → R2 richtig, wobei wir noch Ψl = (ψl1, ψl2)und Ψ′

l =dΨlds geschrieben haben. Es folgt somit

τ := (−ν2, ν1) =Ψ′l

|Ψ′l| Ψ−1

l auf Ψl(Il).

Nun ist auch (Ψl, Il) : l = 1, . . . , µ mit Ψl := Φ Ψl ein orientierter Atlas von∂F , und aus (4.11) ergibt sich

τ(x) =Ψ′l

|Ψ′l|Ψ−1

l (x), x ∈ Ψl(Il) ⊂ ∂F.

Ist schließlich ηll=1,...,µ eine dem Atlas von ∂F untergeordnete Zerlegung der Eins,so konnen wir berechnen∫

∂F

⟨a, τ⟩ d1S =

µ∑l=1

∫Ψl(Il)

ηl⟨a, τ⟩ d1S

=

µ∑l=1

∫Il

(ηl Ψl)⟨a Ψl,

Ψ′l

|Ψ′l|

⟩|Ψ′

l| ds

=

µ∑l=1

∫Il

(ηl Ψl)⟨a Ψl,Ψ′l⟩ ds

=

µ∑l=1

∫Il

Ψ∗l (ηlω) =

µ∑l=1

∫Ψl(Il)

ηlω =

∫∂F

ω.

(4.13)

Der allgemeine Stokessche Satz zusammen mit Formeln (4.12) und (4.13) liefert also∫F

⟨rot a,N⟩ d2S =

∫F

dω =

∫∂F

ω =

∫∂F

⟨a, τ⟩ d1S,

wie behauptet. q.e.d.

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Kapitel 7

LebesguescheIntegrationstheorie

Das Riemannsche Integral ist in einiger Hinsicht unbefriedigend; so ist z.B. die Di-richletsche Sprungfunktion

f(x) =

1, x ∈ Q0, x ∈ R \Q

uber kein Intervall I ⊂ R mit positiver Lange integrierbar, da bei jeder Zerlegung Zvon I in Teilintervalle Ik positiver Lange stets infIk f = 0 < 1 = supIk f und folglichfur die Unter- und Obersummen gilt (vgl. Kap. 3, § 4):

SZ(f) :=∑k

(infIkf)|Ik| = 0 < |I| =

∑k

(supIk

f)|Ik| =: SZ(f).

Der Vorschlag von H. Lebesgue fur eine alternative Integraldefinition basiert auf derZerlegung Z des Bildbereiches J := [infRn f, supRn f ] einer beliebigen beschranktenFunktion f : Rn → R mit Zerlegungspunkten infRn f = y0 < . . . < yN = supRn f .Man setzt

S∗Z(f) :=

N∑j=1

yj−1 λ(Mj), S∗Z(f) :=

N∑j=1

yj λ(Mj)

mit Mj := x ∈ Rn : yj−1 ≤ f(x) < yj, j = 0, . . . , N − 1, sowie MN := x ∈ Rn :yN−1 ≤ f(x) ≤ yN. Und dann untersucht man, wann supZ S

∗Z(f) = infZ S

∗Z(f)

gilt. Dabei bezeichnet λ(Mj) das (noch zu definierende) Maß der Urbildmenge Mj ,welches die folgenden Eigenschaften haben soll:

(i) Normierung: λ([0, 1]n) = 1.

(ii) Translationsinvarianz: λ(a +M) = λ(M) fur beliebige M ⊂ Rn und a ∈ Rn,wobei a+M := a+ x : x ∈M gesetzt wurde.

279

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280 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

(iii) σ-Additivitat: Fur Mll∈N ⊂ P(Rn) mit Ml ∩Mk = ∅ fur l = k gelte stets

λ( ∞∪l=1

Ml

)=

∞∑l=1

λ(Ml).

Dabei bezeichnet P(Rn) := A : A ist Teilmenge von Rn die Produktmengedes Rn.

Das Jordan-Maß aus Kap. 5, Definition 3.1 erfullt (i)-(iii) ((iii) nur fur∪∞l=1Ml ∈ Q

und bei Konvergenz der rechten Reihe) auf der Klasse Q ⊂ P(Rn) der quadrierbarenMengen. Das sogenannte klassische Problem der Maßtheorie ist die Frage, ob furjede Dimension n ∈ N eine Maß-Funktion λ = λn : P(Rn) → [0,+∞] mit denEigenschaften (i)-(iii) existiert. Leider ist die Antwort fur jedes n ∈ N: Nein! Mansucht daher nach einer

”moglichst großen“ Teilmenge M ⊂ P(Rn), die zumindest

alle topologisch relevanten Mengen – wie z.B. offene Mengen – enthalt, und nacheiner Maß-Funktion λ = λn : M → [0,+∞], die (i)-(iii) auf M erfullt. Das Jordan-Maß ist hierbei nicht befriedigend, da es z.B. offene, nicht quadrierbare Mengengibt.

U.a. da µ den Wert +∞ annehmen kann, benotigen wir i.F. Rechenregeln inR = R ∪ −∞ ∪ +∞:

• Addition: a+(±∞) = ±∞ und a−(±∞) = ∓∞ fur a ∈ R sowie ±∞+(±∞) =±∞.

• Multiplikation: a · (±∞) = ±∞ fur a > 0, a · (±∞) = ∓∞ fur a < 0 und0 · (±∞) = 0. Weiter a : (±∞) = 0 fur alle a ∈ R und a : 0 = ±∞ fur ±a > 0.

Ferner gilt Assoziativitat, Kommutativitat und Distributivitat, wenn die enstehen-den Ausdrucke erklart sind. Ausdrucke der Form +∞+(−∞) sind z.B. nicht erklart.

Wir beginnen in § 1 mit der Konstruktion des Lebesgueschen Maßes λn. Gleich-zeitig wollen wir den Maßbegriff und die darauf aufbauende Integrationstheorie ingroßerer Allgemeinheit (und damit Anwendbarkeit) bereitstellen, ohne dass sich da-durch der Schwierigkeitsgrad erhoht.

1 Das Lebesguesche Maß und messbare Raume

Wie in Kap. 6 beginnen wir mit einem algebraischen Begriff: Wir nennen eine FamilieR von Mengen einen (Mengen-)Ring, wenn mit A,B ∈ R auch A ∪ B,A \ B ∈ Rgilt. Ferner heißt ein Ring R σ-Ring, wenn mit All∈N ⊂ R auch

∪∞l=1Al ∈ R gilt.

Wegen

A ∩B = A \ (A \B) und

∞∩l=1

Al = A1 \∞∪l=1

(A1 \Al)

gilt in einem Ring auch A ∩B ∈ R und in einem σ-Ring zusatzlich∩∞l=1Al ∈ R.

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1. DAS LEBESGUESCHE MASS UND MESSBARE RAUME 281

Definition 1.1: Sei R ein Ring und µ : R → [0,+∞] eine Funktion auf R (ge-nannt Mengenfunktion). µ heißt additiv, wenn fur paarweise disjunkte MengenA1, . . . , Ap ∈ R stets

µ(A1 ∪ . . . ∪Ap) = µ(A1) + . . .+ µ(Ap)

gilt. Ist R ein σ-Ring und gilt fur paarweise disjunkte A1, A2, . . . ∈ R stets

µ( ∞∪l=1

Al

)=

∞∑l=1

µ(Al),

so heißt µ σ-additiv.

Hilfssatz 1.1: Sei R Ring und µ : R → [0,+∞] additiv. Dann gelten:

(i) µ(∅) = 0.

(ii) µ(A ∪B) + µ(A ∩B) = µ(A) + µ(B) fur alle A,B ∈ R.

(iii) Monotonie: µ(A) ≤ µ(B) fur alle A,B ⊂ R mit A ⊂ B.

(iv) µ(B \A) = µ(B)− µ(A) fur alle A,B ⊂ R mit A ⊂ B und µ(A) < +∞.

(v) Ist R zusatzlich σ-Ring und µ σ-additiv, so gilt fur beliebige A1, A2, . . . ∈ Rmit A1 ⊂ A2 ⊂ . . .:

limk→∞

µ(Ak) = µ( ∞∪l=1

Al

).

Beweis: (i)-(iv) sind Ubungsaufgaben. Zu (v): Wir setzen A0 := ∅ und Bl := Al\Al−1

fur l ∈ N. Dann folgt Bl ∩Bk = ∅ fur l = k und

k∪l=1

Bl = A1 ∪ (A2 \A1) ∪ . . . ∪ (Ak \Ak−1) =

k∪l=1

Al = Ak

fur beliebige k ∈ N. Fur k → ∞ erhalten wir∪∞l=1Bl =

∪∞l=1Al, und die σ-

Additivitat liefert schließlich

limk→∞

µ(Ak) = limk→∞

k∑l=1

µ(Bl) =

∞∑l=1

µ(Bl)

= µ( ∞∪l=1

Bl

)= µ

( ∞∪l=1

Al

),

wie behauptet. q.e.d.

Wir beschranken uns nun zwischenzeitlich wieder auf Teilmengen des Rn, be-trachten also Ringe R ⊂ P(Rn).

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282 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Definition 1.2: Im folgenden nennen wir Q ⊂ Rn einen Quader, wenn Q =I1 × . . . × In gilt mit beliebigen, beschrankten Intervallen Il ⊂ R, l = 1, . . . , n (alsoIl ist offen, halboffen oder abgeschlossen). Eine Menge A ⊂ Rn heißt Elementar-menge, wenn A =

∪pl=1Ql mit Quadern Q1, . . . , Qp, p ∈ N, gilt. Die Menge aller

Elementarmengen bezeichnen wir mit E ⊂ P(Rn).

Hilfssatz 1.2:

(i) E ist ein Ring, aber kein σ-Ring.

(ii) Jedes A ∈ E kann geschrieben werden als A =∪pl=1Ql mit paarweise disjunk-

ten Quadern Q1, . . . , Qp.

Beweis:

(i) Ist per Definition klar.

(ii) Uberlappen sich etwa Qj und Qk fur j = k, so zerlegen wir beide geeignet inhochstens 2n disjunkte Teilquader und zahlen den identischen Teilquader nureinmal.

q.e.d.

Definition 1.3: Eine additive Mengenfunktion µ : E → [0,+∞] nennen wir re-gular, wenn folgendes gilt: Zu jedem A ∈ E und jedem ε > 0 existieren eine abge-schlossene Menge M ∈ E und eine offene Menge Ω ∈ E, so dass

M ⊂ A ⊂ Ω und µ(Ω)− ε ≤ µ(A) ≤ µ(M) + ε. (1.1)

Beispiele:

1. Hauptbeispiel: Wir erklaren fur einen Quader Q = I1 × . . .× In ⊂ Rn

λ(Q) = λn(Q) := |Q| =n∏j=1

|Ij |.

Fur ein A ∈ E mit disjunkter Darstellung – nach Hilfssatz 1.2 (ii) immer exi-stent –

A =

p∪l=1

Ql, Ql ∩Qk = ∅ fur k = l,

setzen wir weiter

λ(A) = λn(A) :=

p∑l=1

λ(Ql). (1.2)

Man uberzeugt sich leicht, dass λ(A) von der gewahlten disjunkten Darstellungvon A unabhangig ist.

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1. DAS LEBESGUESCHE MASS UND MESSBARE RAUME 283

Es gilt: λ : E → [0,+∞) ist additive, regulare und endliche Mengenfunktion;letzteres heißt λ(A) < +∞ fur alle A ∈ E.Denn: Additivitat und Endlichkeit sind per Definition klar. Zur Regularitat:Jeder Quader A = Q lasst sich offenbar so in einen offenen Quader Ω undeinen abgeschlossen Quader M einsperren, dass (1.1) gilt. Ist A =

∪pl=1Ql

mit disjunkten Quadern Q1, . . . , Qp, so verfahren wir entsprechend mit jedemQuader Ql und konstruieren offene Ωl und abgeschlossene Ml, fur die (1.1)bez. λ und Ql mit ε ersetzt durch ε

p gilt. Wir setzen dann Ω :=∪pl=1Ωl ⊃ A

und M :=∪pl=1Ml ⊂ A. Nun entnehmen wir der Additivitat von λ und

Hilfssatz 1.1 (ii–iii):

λ(Ω) ≤p∑l=1

λ(Ωl) ≤p∑l=1

[λ(Ql) +

ε

p

]= λ(A) + ε.

Und da mit den Ql auch Ml ⊂ Ql paarweise disjunkt sind, folgt andererseits

λ(M) =

p∑l=1

λ(Ml) ≥p∑l=1

[λ(Ql)−

ε

p

]= λ(A)− ε.

Insgesamt haben wir also (1.1) gezeigt.

2. Sei n = 1. Fur eine monoton wachsende Funktion α : R → [0,+∞) setzen wir

µ([a, b)) = α(b−)− α(a−),

µ([a, b]) = α(b+)− α(a−),

µ((a, b]) = α(b+)− α(a+),

µ((a, b)) = α(b−)− α(a+),

und fur Elementarmengen A =∪pl=1 Il ∈ E mit Ik ∩ Il = ∅, k = l, erklaren wir

µ(A) :=

p∑l=1

µ(Il).

Man erkennt wieder, dass µ additiv, regular und endlich ist (→ Ubungsaufga-be). Fur α(x) := x erhalten wir µ = λ1.

Fur die folgende Definition bemerken wir, dass jede Menge A ⊂ Rn durchhochstens abzahlbar viele offene Elementarmengen uberdeckt werden kann; etwamit Al := (−l, l)n ∈ E gilt immer

A ⊂ Rn =

∞∪l=1

Al.

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284 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Definition 1.4: (Außeres Maß)Sei E ⊂ P(Rn) die Menge der Elementarmengen im Rn und µ : E → [0,+∞) seiadditiv, regular und endlich. Dann setzen wir fur beliebiges A ⊂ Rn:

µ∗(A) := inf

∞∑l=1

µ(Al) : Al ∈ E sind offen mit A ⊂∞∪l=1

Al

∈ [0,+∞]

fur das zu µ gehorige außere Maß von A. Ist µ = λ die Mengenfunktion aus unseremHauptbeispiel, so heißt λ∗ = λ∗n : P(Rn) → [0,+∞] das (n-dimensionale) außereLebesgue-Maß.

Satz 1.1: Sei µ : E → [0,+∞) additiv, regular und endlich, und µ∗ : P(Rn) →[0,+∞] sei das zugehorige außere Maß. Dann gelten:

(a) µ∗ ist monoton, d.h. µ∗(A) ≤ µ∗(B) fur alle A,B ⊂ Rn mit A ⊂ B.

(b) µ∗ ist eine Erweiterung von µ, d.h. fur alle A ∈ E gilt µ∗(A) = µ(A).

(c) µ∗ ist σ-subadditiv, d.h. fur beliebige All∈N ⊂ P(Rn) gilt

µ∗( ∞∪l=1

Al

)≤

∞∑l=1

µ∗(Al).

Beweis:

(a) Klar, da jede offene Uberdeckung∪∞l=1Al von B auch A ⊂ B uberdeckt.

(b) •”≤“: Sei also A ∈ E . Da µ regular ist, existiert zu beliebigem ε > 0 eineoffene Menge Ω ∈ E mit A ⊂ Ω und µ(Ω) − ε ≤ µ(A). Per Definition istdann

µ∗(A) ≤ µ(Ω) ≤ µ(A) + ε

richtig. Da ε > 0 beliebig war, folgt also µ∗(A) ≤ µ(A).

•”≥“: O.B.d.A. sei µ∗(A) < +∞. Nach Definition existiert zu beliebi-gem ε > 0 eine offene Uberdeckung

∪∞l=1Al ⊃ A von Elementarmengen

All∈N ⊂ E mit∞∑l=1

µ(Al) ≤ µ∗(A) + ε. (1.3)

Wegen der Regularitat von µ existiert eine abgeschlossene Menge M ⊂ Amit µ(A) ≤ µ(M)+ε. Da A ⊂ E beschrankt ist, istM kompakt und nach

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1. DAS LEBESGUESCHE MASS UND MESSBARE RAUME 285

dem Satz von Heine-Borel genugen endlich viele Mengen A1, . . . , Ap zurUberdeckung von M . Es folgt also

µ(A) ≤ µ(M) + εHS 1.1 (iii)

≤ µ( p∪l=1

Al

)+ ε

HS 1.1 (ii)

≤p∑l=1

µ(Al) + ε(1.3)

≤ µ∗(A) + 2ε.

Da ε > 0 wieder beliebig war, folgt µ∗(A) ≥ µ(A).

(c) O.B.d.A. sei∑∞

l=1 µ∗(Al) < +∞ und damit auch µ∗(Al) < +∞ fur alle l ∈ N

richtig. Nach Definition von µ∗ existieren zu jedem ε > 0 und jedem Al offeneElementarmengen B1l, B2l, . . . ∈ E mit

Al ⊂∞∪k=1

Bkl und

∞∑k=1

µ(Bkl) ≤ µ∗(Al) + 2−lε.

Offenbar ist dann∪∞k,l=1Bkl eine offene Uberdeckung von

∪∞l=1Al, und der

Definition von µ∗ entnehmen wir

µ∗( ∞∪l=1

Al

)≤

∞∑k,l=1

µ(Bkl) ≤∞∑l=1

[µ∗(Al) + 2−lε

]=

∞∑l=1

µ∗(Al) + ε.

Da ε > 0 beliebig war, folgt die Behauptung. q.e.d.

Wir wollen nun µ∗ auf einen geeigneten σ-Ring M(µ) ⊃ E einschranken, auf demsich µ∗ als σ-additiv erweist. Hierfur benotigen wir noch ein wenig Vorbereitung.

Definition 1.5: Zu beliebigen Mengen A,B ⊂ Rn erklaren wir die symmetrischeDifferenz

S(A,B) := (A \B) ∪ (B \A)

und setzen

d(A,B) = dµ(A,B) := µ∗(S(A,B)).

Der nachste Hilfssatz enthalt alle fur uns wesentlichen Eigenschaften der sym-metrischen Differenz S und der

”Abstandsfunktion“ d = µ∗ S:

Hilfssatz 1.3:

(i) Fur die symmetrische Differenz d(·, ·) gelten die folgenden Aussagen:

(a) S(A,B) = S(B,A), S(A,A) = ∅ fur alle A,B ⊂ Rn.

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286 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

(b) S(A,B) ⊂ S(A,C) ∪ S(C,B) fur alle A,B,C ⊂ Rn.(c) Fur alle A1, A2, B1, B2 ⊂ Rn gilt

S(A1 ∪B1, A2 ∪B2)

S(A1 ∩B1, A2 ∩B2)

S(A1 \B1, A2 \B2)

⊂ S(A1, A2) ∪ S(B1, B2).

(ii) Fur d(·, ·) = µ∗(S(·, ·)) gelten die folgenden Relationen:

(a) d(A,B) = d(B,A), d(A,A) = 0 fur alle A,B ⊂ Rn.(b) d(A,B) ≤ d(A,C) + d(C,B) fur alle A,B,C ⊂ Rn.(c) Fur alle A1, A2, B1, B2 ⊂ Rn gilt

d(A1 ∪B1, A2 ∪B2)

d(A1 ∩B1, A2 ∩B2)

d(A1 \B1, A2 \B2)

≤ d(A1, A2) + d(B1, B2).

(iii) Sind schließlich A,B ⊂ Rn mit µ∗(A) < +∞ oder µ∗(B) < +∞ gewahlt, sogilt

|µ∗(A)− µ∗(B)| ≤ d(A,B).

Beweis:

(i) (a) Ist klar.

(b) Wegen (A \B) ⊂ (A \C)∪ (C \B) und (B \A) ⊂ (C \A)∪ (B \C) folgt

S(A,B) = (A \B) ∪ (B \A) ⊂ S(A,C) ∪ S(B,C).

(c) Die erste Formel ergibt sich sofort aus

(A1 ∪B1) \ (A2 ∪B2) ⊂ (A1 \A2) ∪ (B1 \B2)

und der durch Vertauschung A1 ↔ A2, B1 ↔ B2 hervorgehenden Relati-on. Ferner gilt

S(Ac, Bc) = (Ac \Bc) ∪ (Bc \Ac) = (B \A) ∪ (A \B) = S(A,B),

so dass sich die zweite Formel wie folgt ergibt:

S(A1 ∩B1, A2 ∩B2) = S((A1 ∩B1)c, (A2 ∩B2)

c)

= S(Ac1 ∪Bc1, A

c2 ∪Bc

2)

1. Formel⊂ S(Ac1, A

c2) ∪ S(Bc

1, Bc2)

= S(A1, A2) ∪ S(B1, B2).

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1. DAS LEBESGUESCHE MASS UND MESSBARE RAUME 287

Schließlich erhalten wir die dritte Formel folgendermaßen:

S(A1 \B1, A2 \B2) = S(A1 ∩Bc1, A2 ∩Bc

2)

2. Formel⊂ S(A1, A2) ∪ S(Bc

1, Bc2)

= S(A1, A2) ∪ S(B1, B2).

(ii) Zunachst gilt fur beliebiges A ⊂ Rn:

d(A,A)(i a)= µ∗(∅)

Satz 1.1 (b)= µ(∅)

HS1.1 (i)= 0.

Alle ubrigen Relationen (a)-(c) fur d ergeben sich sofort aus (i) und der Mo-notonie und Subbaditivitat von µ∗; vgl. Satz 1.1 (a), (c).

(iii) Sei o.B.d.A. µ∗(B) ≤ µ∗(A), so dass insbesondere µ∗(B) < +∞ gilt. Aus (ii b)folgt dann

µ∗(A) = µ∗(S(A, ∅)) = d(A, ∅) ≤ d(A,B) + d(B, ∅) = d(A,B) + µ∗(B),

so dass wir wegen µ∗(B) < +∞ erhalten |µ∗(A) − µ∗(B)| ≤ d(A,B). Damitist alles gezeigt.

q.e.d

Definition 1.6: Fur Mengen A,A1, A2, . . . ⊂ Rn schreiben wir Al → A (fur l →∞), falls gilt

liml→∞

d(A,Al) = liml→∞

µ∗(S(A,Al)) = 0.

• Sei µ : E → [0,+∞) regular, additiv und endlich. Falls fur A ⊂ Rn eine FolgeAll ⊂ E existiert mit Al → A fur l → ∞, so nennen wir A endlich µ-messbarund schreiben A ∈ ME(µ).

• GiltM =∪∞l=1Ml fur eine Folge endlich µ-messbarer Mengen Mll ⊂ME(µ),

so nennen wir M µ-messbar und schreiben M ∈ M(µ). Speziell fur µ = λsprechen wir von Lebesgue-messbaren Mengen M ∈ M(λ).

Bemerkungen:

1. Fur beliebiges A ∈ ME(µ) gilt µ∗(A) < +∞, was den Namen endlich µ-messbar erklart. Ist namlich All ⊂ E mit Al → A gewahlt, so liefert Hilfs-satz 1.3 (iii) und Satz 1.1 (b):

µ∗(A) ≤ d(A,Al) + µ(Al) < +∞.

Ferner lesen wir dort ab

liml→∞

µ(Al) = liml→∞

µ∗(Al) = µ∗(A). (1.4)

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288 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

2. Sind A,B ∈ ME(µ) und All, Bll ⊂ E mit Al → A, Bl → B gewahlt, soliefert Hilfssatz 1.3 (ii c):

Al ∪Bl → A ∪B, Al ∩Bl → A ∩B, Al \Bl → A \B. (1.5)

Insbesondere haben wir also A ∪ B,A ∩ B,A \ B ∈ ME(µ), d.h. ME(µ) istein Ring.

3. Jedes beliebige M ∈ M(µ) kann geschrieben werden als M =∪∞l=1Ml mit

paarweise disjunkten MengenM1,M2, . . . ∈ ME(µ). Ist namlichM =∪∞l=1M

′l

mit M ′ll ⊂ ME(µ), so setzen wir

M1 :=M ′1 und Ml :=M ′

l \ (M ′1 ∪ . . . ∪M ′

l−1) fur l ≥ 2.

Wegen Bemerkung 2 gilt dann Mll ⊂ ME(µ), und fur alle p ∈ N haben wir∪pl=1Ml =

∪pl=1M

′l , also auch M =

∪∞l=1Ml.

Entscheidend ist nun der folgende

Satz 1.2: Fur jede regulare, additive und endliche Mengenfunktion µ : E → [0,+∞)ist M(µ) ein σ-Ring und µ∗ ist σ-additiv auf M(µ).

Definition 1.7: Die Abbildung µ : M(µ) → [0,+∞], M 7→ µ∗(M), nennen wir einMaß. Speziell fur µ = λn sprechen wir vom (n-dimensionalen) Lebesgue-Maß.

Beweis von Satz 1.2:

1. Zunachst ist nach obiger Bemerkung 2 die Menge ME(µ) ⊂ P(Rn) ein Ring.Sind A,B ∈ ME(µ) und Elementarmengen All, Bll ⊂ E mit Al → A,Bl → B gewahlt, so gilt nach Hilfssatz 1.1 (ii):

µ(Al) + µ(Bl) = µ(Al ∪Bl) + µ(Al ∩Bl).

Nach Formeln (1.4), (1.5) gilt also

µ∗(A) + µ∗(B) = µ∗(A ∪B) + µ∗(A ∩B).

Speziell fur A ∩ B = ∅ haben wir also µ∗(A ∪ B) = µ∗(A) + µ∗(B). DurchInduktion folgt daraus die (endliche) Additivitat von µ∗ auf ME(µ).

2. Sei nun M ∈ M(µ) beliebig und Ml ⊂ ME(µ) eine paarweise disjunkteFolge mit M =

∪∞l=1Ml (vgl. Bemerkung 3 oben). Die σ-Subadditivitat und

Monotonie von µ∗ und die endliche Additivitat von µ∗ auf ME(µ) liefern dann

p∑l=1

µ∗(Ml) = µ∗( p∪l=1

Ml

)≤ µ∗(M) ≤

∞∑l=1

µ∗(Ml).

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1. DAS LEBESGUESCHE MASS UND MESSBARE RAUME 289

Fur p→ ∞ folgt also

µ∗(M) =

∞∑l=1

µ∗(Ml). (1.6)

3. Wir behaupten nun: Gilt µ∗(M) < +∞ fur ein M ∈ M(µ), so folgt M ∈ME(µ). Ist namlich M =

∪∞l=1Ml wie in Teil 2, so setzen wir Bl :=M1 ∪ . . .∪

Ml ∈ ME(µ). Dann folgt

S(M,Bl) = (M \Bl) ∪ (Bl \M) =

∞∪k=l+1

Mk,

und wegen µ∗(M) < +∞ liefert Formel (1.6):

d(M,Bl) = µ∗( ∞∪k=l+1

Mk

)≤

∞∑k=l+1

µ∗(Mk)(1.6)→ 0 (l → ∞),

d.h. Bl → M fur l → ∞. Wegen Bl ∈ ME(µ) existieren weiter MengenAklk ⊂ E mit Akl → Bl fur k → ∞.

Wir wahlen nun ε > 0 beliebig und k0 = k0(l, ε) ∈ N so, dass d(Ak0l, Bl) <ε2

gilt. Damit erklaren wir Ml := Ak0l, l ∈ N. Wahlen wir noch l0 = l0(ε) ∈ N so,dass d(Bl,M) < ε

2 fur l ≥ l0 erfullt ist, so folgt dann

d(Ml,M) ≤ d(Ml, Bl) + d(Bl,M) < ε fur alle l ≥ l0.

Wir haben also Ml →M fur l → ∞, d.h. M ∈ ME(µ).

4. Nun gilt (1.6) fur beliebigeM ∈ M(µ) und paarweise disjunktenM1,M2, . . . ∈M(µ) mit M =

∪∞l=1Ml, d.h. µ

∗ ist auf M(µ) σ-additiv. In der Tat ist dieseRelation trivial, wenn µ∗(Ml) = +∞ fur ein Ml gilt. Und ist µ∗(Ml) < +∞fur alle l ∈ N richtig, so folgt nach Teil 3 Ml ∈ ME(µ) fur alle l ∈ N; in diesemFall haben wir (1.6) bereits in Teil 2 gezeigt.

5. Wir zeigen schließlich, dass M(µ) ein σ-Ring ist. Zunachst ist offensichtlichmit Mll ⊂ M(µ) auch M =

∪∞l=1Ml ∈ M(µ) richtig, denn sind Aklk ⊂

ME(µ) mit∪∞k=1Akl =Ml gewahlt, so gilt M =

∪∞k,l=1Akl.

Zu zeigen bleibt, dass mit A,B ∈ M(µ) auch A \ B ∈ M(µ) gilt. Seien dazuAll, Bkk ⊂ ME(µ) mit A =

∪∞l=1Al, B =

∪∞k=1Bk gewahlt. Dann folgt

Al ∩B = Al ∩( ∞∪k=1

Bk

)=

∞∪k=1

(Al ∩Bk).

Wegen Al∩Bk ∈ ME(µ) haben wir also Al∩B ∈ M(µ). Und da µ∗(Al∩B) ≤µ∗(Al) < +∞ gilt (vgl. obige Bemerkung 1), folgt nach Teil 3 des Beweises

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290 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

sogar Al∩B ∈ ME(µ). Schließlich haben wir damit auch Al\B = Al\(Al∩B) ∈ME(µ) und folglich

A \B =( ∞∪l=1

Al

)∩Bc =

∞∪l=1

(Al \B) ∈ M(µ).

Damit ist alles gezeigt. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Eine alternative Charakterisierung der µ-messbaren Mengen geht auf Carathe-odory zuruck:

M ∈ M(µ) ⇐⇒ µ∗(M) = µ∗(M ∩A) + µ∗(M \A) fur alle A ∈ P(Rn).

Fur eine Diskussion verweisen wir auf Walter: Analysis 2, Kap. 9.

2. Jede offene Menge Ω ⊂ Rn (und insbesondere der Rn selbst) ist µ-messbar (furjedes Maß µ). Denn wir konnen Ω also abzahlbare Vereinigung offener Quaderschreiben (→ Ubungsaufgabe).

3. Ist M ∈ M(µ), so gilt auch M c = Rn \M ∈ M(µ), denn M(µ) ist ein Ring.Insbesondere sind also auch alle abgeschlossenen Mengen µ-messbar.

4. Eine Menge M , die durch eine abzahlbare Anzahl von Vereinigungen, Durch-schnitten und Komplementen von offenen Teilmengen des Rn entsteht, heißtBorel-Menge. Die Familie B aller Borel-Mengen im Rn ist offenbar ein σ-Ring.Man kann zeigen, dass B der kleinste σ-Ring ist, der alle offenen Teilmengendes Rn enthalt. Nach Bemerkung 2 gilt also B ⊂ M(µ).

5. µ ist auf M(µ) regular, d.h. zu jedem M ∈ M(µ) und jedem ε > 0 existierenein offenes Ω ⊂ Rn und ein abgeschlossenes A ⊂ Rn mit A ⊂M ⊂ Ω und

µ(Ω \M) < ε, µ(M \A) < ε, (1.7)

vgl. Definition 1.3. Nach Bemerkung 4 gibt es dann zuM ∈ M(µ) BorelmengenF,G mit F ⊂M ⊂ G und

µ(G \M) = µ(M \ F ) = 0.

Inbesondere lasst sich also jedes µ-messbare M gemaß M = F ∪ (M \ F ) alsVereinigung einer Borelmenge und einer Menge vom Maß 0 schreiben.

6. Das Lebesgue-Maß µ = λ lost das klassische Maßproblem auf der Mengeder Lebesgue-messbaren Mengen. Außerdem ist jede quadrierbare Menge KLebesgue-messbar und es gilt λ(K) = |K|. Fur letztere Aussage verweisen wirwieder auf Walter: Analysis 2, Abschnitte 9.4 (d) und 9.5 (c).

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2. MESSBARE FUNKTIONEN 291

7. Jede abzahlbare Menge M ⊂ Rn hat das Lebesgue-Maß λn(M) = 0; z.B. giltalso λ1(Q) = 0, λ1(R \ Q) = λ1(R) − λ1(Q) = +∞. Es gibt aber auchuberabzahlbare Mengen mit Lebesgue-Maß 0, wie z.B. die Cantor-Menge (sie-he Ubung).

Definition 1.8: Sei X eine Menge (nicht notwendig Teilmenge des Rn). Falls einσ-Ring M ⊂ P(X) mit X ∈ M und eine σ-additive Mengenfunktion µ : M →[0,+∞] existieren, so heißt das Tripel (X,M, µ) messbarer Raum. Eine Menge A ∈M heißt dann wieder messbar und µ(A) ist deren Maß.

Bemerkung: Wir nennen auch manchmal einfach X einen messbaren Raum, wennM und µ wie in Definition 1.8 existieren. Falls X ∈ M gilt, nennt man (X,M, µ)(bzw. X) einen Maßraum.

Beispiele:

1. Zum Beispiel ist X = Rn messbarer Raum, etwa mit dem σ-Ring M = M(λn)der Lebesgue-messbaren Funktionen und dem Lebesgueschen Maß µ = λn.

2. X = N wird zu einem messbaren Raum, wenn wir M = P(N) und

µ := Anzahl der Elemente von A

setzen. µ ist das sogenannte Zahlmaß.

3. In der Wahrscheinlichkeitstheorie werden Ereignisse als Mengen interpretiertund die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens als σ-additive Mengenfunktion.Ein Maß µ auf einem messbaren Raum X (= Menge aller Ereignisse) wirdWahrscheinlichkeitsmaß genannt, wenn µ(X) = 1 gilt. Inbesondere sind alsoWahrscheinlichkeitsmaße endlich.

2 Messbare Funktionen

Definition 2.1: Sei (X,M, µ) ein messbarer Raum. Eine Funktion f : X → Rheißt dann messbar (oder µ-messbar), wenn fur alle a ∈ R die Menge Fa := x ∈X : f(x) > a messbar ist, d.h. Fa ∈ M gilt.

Beispiele:

1. Ist A ⊂ X und

χA(x) :=

1, fur x ∈ A

0, fur x ∈ Ac := X \A

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292 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

die charakteristische Funktion von A, so ist χA genau dann messbar, wenn Amessbar ist. Denn es gilt

Fa =

∅, fur a ≥ 1

A, fur a ∈ [0, 1)

X, fur a < 0

.

2. Ist X = Rn und µ = µ∗∣∣M(µ)

wie in § 1 erklart, so ist jedes stetige f : Rn → Rmessbar, denn fur alle a ∈ R ist dann Fa offen.

Hilfssatz 2.1: Folgende Aussagen sind aquivalent

(a) f : X → R ist messbar.

(b) x ∈ X : f(x) ≥ a ist fur alle a ∈ R messbar.

(c) x ∈ X : f(x) < a ist fur alle a ∈ R messbar.

(d) x ∈ X : f(x) ≤ a ist fur alle a ∈ R messbar.

Beweis: Wir konnen schreiben

x ∈ X : f(x) ≥ a =

∞∩l=1

x ∈ X : f(x) > a− 1

l

,

x ∈ X : f(x) < a = X \ x ∈ X : f(x) ≥ a,

x ∈ X : f(x) ≤ a =∞∩l=1

x ∈ X : f(x) < a+

1

l

,

x ∈ X : f(x) > a = X \ x ∈ X : f(x) ≤ a.

Da M ein σ-Ring ist und X ∈ M gilt, entnehmen wir diesen Relationen die Impli-kationskette

f ist messbar ⇒ x ∈ X : f(x) ≥ a messbar fur alle a ∈ R

⇒ x ∈ X : f(x) < a messbar fur alle a ∈ R

⇒ x ∈ X : f(x) ≤ a messbar fur alle a ∈ R

⇒ f ist messbar.

Das liefert die Behauptung. q.e.d.

Satz 2.1: Sind f, g : X → R messbar, so sind auch |f |, f+ := maxf, 0, f− :=max−f, 0 = −minf, 0 sowie h1 := maxf, g und h2 := minf, g messbar.

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2. MESSBARE FUNKTIONEN 293

Beweis: Fur beliebiges a ∈ R haben wir

x ∈ X : h1(x) > a = x ∈ X : f(x) > a ∪ x ∈ X : g(x) > a,

x ∈ X : h2(x) > a = x ∈ X : f(x) > a ∩ x ∈ X : g(x) > a.

Also sind h1, h2 messbar. Ferner sind offenbar h ≡ 0 und −f messbar (verwendeHilfssatz 2.1), so dass insbesondere auch f± = max±f, 0 und |f | = max−f, fmessbar sind.

q.e.d.

Satz 2.2: Ist fll eine Folge messbarer Funktionen auf X, so sind auch

supl∈N

fl, infl∈N

fl, lim supl→∞

fl, lim infl→∞

fl

messbar. Ist fll insbesondere (punktweise) konvergent gegen f : X → R, so istliml→∞ fl messbar.

Beweis: Wir setzen g(x) := supl∈N fl(x), h(x) := inf l∈N fl(x), x ∈ X, und bemerken

x ∈ X : g(x) > a =

∞∪l=1

x ∈ X : fl(x) > a,

x ∈ X : h(x) < a =∞∩l=1

x ∈ X : fl(x) < a.

Folglich sind supl∈N fl und inf l∈N fl messbar. Wegen

lim supl→∞

fl(x) = infl∈N

[supk≥l

fk(x)],

lim infl→∞

fl(x) = − lim supl→∞

(−fl(x)), x ∈ X,

sind damit auch lim supl→∞ fl und lim inf l→∞ fl messbar. q.e.d.

Satz 2.3: Seien f, g : X → R endliche, messbare Funktionen. Fur beliebiges Φ :R2 → R ∈ C0(R2) ist dann die Funktion

h(x) := Φ(f(x), g(x)), x ∈ X,

messbar.

Beweis: Sei a ∈ R beliebig. Wir schreiben die offene Menge Fa := (u, v) ∈ R2 :Φ(u, v) > a als Vereinigung abzahlbar vieler offener Rechtecke Ql ⊂ R2, also Fa =∪∞l=1Ql. Mit Ql = (al, bl)× (cl, dl) sind die Mengen

x ∈ X : (f(x), g(x)) ∈ Ql = x ∈ X : al < f(x) < bl∩x ∈ X : cl < g(x) < dl

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294 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

nach Hilfssatz 2.1 messbar. Folglich ist auch

x ∈ X : h(x) > a = x ∈ X : (f(x), g(x)) ∈ Fa

=∞∪l=1

x ∈ X : (f(x), g(x)) ∈ Ql

messbar, wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Insbesondere sind mit endlichen f, g : X → R auch f ± g, f · g und cffur Konstanten c ∈ R messbar. Als Ubungsaufgabe zeigt man noch, dass sich dieForderung der Endlichkeit in diesen Fallen abschwachen lasst.

Definition 2.2: Eine Funktion f : X → R heißt einfache Funktion auf X, wennder Bildbereich f(X) endlich ist.

Bemerkungen:

1. Die charakteristische Funktion χA : X → R zu A ⊂ X ist eine einfacheFunktion mit χA(X) = 0, 1.

2. Ist f : X → R einfach und gilt f(X) = c1, . . . , cp mit p ∈ N verschiedenenZahlen c1, . . . , cp ∈ R, so setzen wir

Ai := x ∈ X : f(x) = ci, i = 1, . . . , p. (2.1)

Dann gilt

f =

p∑i=1

ciχAi . (2.2)

Jede einfache Funktion ist also endliche Linearkombination charakteristischerFunktionen. f ist genau dann messbar, wenn die paarweise disjunkten MengenAi messbar sind.

Satz 2.4: Sei f : X → R endlich auf dem messbaren Raum X. Dann gibt es eineFolge einfacher Funktionen fkk mit fk(x) → f(x) fur k → ∞ und x ∈ X. Ist fmessbar, so kann fkk messbar gewahlt werden. Ist f nichtnegativ, so kann fkkmonoton wachsend gewahlt werden, d.h. f1 ≤ f2 ≤ . . . auf X.

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2. MESSBARE FUNKTIONEN 295

Beweis:

1. Sei zunachst f ≥ 0. Zu beliebigen k ∈ N setzen wir dann

Aik :=x ∈ X :

i− 1

2k≤ f(x) <

i

2k

, i = 1, 2, . . . , k · 2k,

Fk := x ∈ X : f(x) ≥ k.

Wir erklaren dann

fk :=k·2k∑i=1

i− 1

2kχAik + kχFk .

Wahlen wir x ∈ X fest, so folgt fur hinreichend großes k0 ∈ N: x ∈ Aikk fur allek ≥ k0 mit geeignetem ik ∈ 1, . . . , k · 2k. Es gilt also fk(x) = ik−1

2kχAikk(x) =

ik−12k

und folglich

0 ≤ f(x)− fk(x) <ik2k

− ik − 1

2k=

1

2kfur k ≥ k0. (2.3)

Fur k → ∞ folgt also fk → f auf X, und es gilt f1 ≤ f2 ≤ . . . auf X. Offenbarist fkk noch messbar, wenn f (und damit Aik, Fk) messbar ist.

2. Ist f : X → R beliebig, so zerlegen wir f = f+−f− und wenden das Argumentaus Teil 1 auf f+ ≥ 0 und f− ≥ 0 an. Wir finden also einfache Funktionenfolgenf±k k mit f±k → f± auf X fur k → ∞. Die Folge f+k − f−k k einfacherFunktionen konvergiert dann offenbar gegen f auf X. Ist schließlich f messbar,so sind nach Satz 2.1 auch f+ und f− messbar, und nach Teil 1 und Satz 2.3gilt dies dann auch fur f+k − f−k , k ∈ N. Damit ist alles gezeigt.

q.e.d.

Bemerkung: Fur beschranktes f : X → [0,+∞) kann k0 in Teil 1 des obigen Beweisesunabhangig von x ∈ X gewahlt werden: Formel (2.3) zeigt dann: Ist f : X → Rbeschrankt, so existiert eine Folge einfacher Funktionen fkk, die auf X gleichmaßiggegen f konvergiert.

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296 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

3 Lebesgue-integrierbare Funktionen

Sei weiterhin (X,M, µ) ein messbarer Raum mit dem σ-Ring M ⊂ P(X), X ∈ M,und dem Maß µ : M → [0,+∞]. Mit Messbarkeit einer Menge A ⊂ X ist i.F. immerµ-Messbarkeit, d.h. A ∈ M, gemeint.

Definition 3.1: (Lebesguesches Integral)

(i) Ist f =∑p

i=1 ciχAi eine einfache, messbare, nichtnegative Funktion auf X inder Darstellung (2.1), (2.2), so setzen wir fur A ∈ M:

IA(f) :=

p∑i=1

ciµ(Ai ∩A).

(ii) Fur ein nichtnegatives und messbares f : X → [0,+∞] und messbares A ⊂ Xsetzen wir

V(f) :=g : X → R messbar und einfach : 0 ≤ g ≤ f auf X

und erklaren ∫

A

f dµ := supg∈V(f)

IA(g).

(iii) Fur ein messbares f : X → R schreiben wir wieder f = f+ − f−. Fur einmessbares A ⊂ X erklaren wir dann

∫A f

+ dµ und∫A f

− dµ wie in (ii). Fallsmindestens eines der Integrale endlich ist, so setzen wir∫

A

f dµ :=

∫A

f+ dµ−∫A

f− dµ

fur das Lebesguesche Integral von f uber die Menge A.

Bemerkungen:

1. Man sieht leicht∫A f dµ = IA(f) := IA(f

+)−IA(f−) fur jede einfache, messba-re Funktion f : X → R und jedes A ∈ M. (→ Ubungsaufgabe).

2. Man beachte, dass das Integral in (ii) den Wert +∞ und in (iii) die Werte ±∞annehmen kann.

Definition 3.2: (Lebesgue-integrierbare Funktionen)Ist f = f+− f− : X → R messbar und gilt

∫A f

+ dµ < +∞ und∫A f

− dµ < +∞ furein A ∈ M, so ist

∫A f dµ endlich. Die Funktion f heißt dann Lebesgue-integrierbar

auf A bez. des Maßes µ. Wir schreiben f ∈ L(A,µ).

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3. LEBESGUE-INTEGRIERBARE FUNKTIONEN 297

Bemerkung: Auf A Lebesgue-integrierbare Funktionen bez. µ sind also messbareFunktionen, fur die

∫A f dµ erklart und endlich ist.

Hilfssatz 3.1: Sei A ∈ M und f : X → R messbar. Falls eines der Integrale∫A f dµ oder

∫X fχA dµ erklart ist, so gilt dies auch fur das andere. In diesem Fall

haben wir ∫A

f dµ =

∫X

fχA dµ. (3.1)

Insbesondere gilt also f ∈ L(A,µ) genau dann, wenn fχA ∈ L(X,µ) richtig ist.

Beweis:

1. Sei zunachst f ≥ 0 erfullt, so gilt∫A

f dµ = supg∈V(f)

IA(g),

∫X

fχA dµ = supg∈V(fχA)

IX(g).

Fur g ∈ V(f) ist offenbar g := gχA ∈ V(fχA) richtig. Hat ferner g die Dar-stellung g =

∑pi=1 ciχAi aus (2.1), (2.2), so folgt g =

∑pi=1 ciχAi∩A (denn

χAχB = χA∩B) und somit

IA(g) =

p∑i=1

ciµ(Ai ∩A) = IX(g) ≤∫X

fχA dµ fur alle g ∈ V(f).

Folglich ergibt sich∫A f dµ ≤

∫X fχA dµ. Die umgekehrte Relation folgt direkt

aus V(fχA) ⊂ V(f).

2. Im allgemeinen Fall f ≥ 0 beachten wir fχA = (fχA)+ − (fχA)

− = f+χA −f−χA. Nach Teil 1 ist also

∫A f

± dµ genau dann endlich, wenn∫X(fχA)

± dµendlich ist. Ist also z.B.

∫A f dµ erklart, so auch

∫X fχA dµ, und es folgt∫

A

f dµ =

∫A

f+ dµ−∫A

f− dµ =

∫X

(fχA)+ dµ−

∫X

(fχA)− dµ =

∫X

fχA dµ,

wie behauptet. q.e.d.

Wir halten eine Reihe von Eigenschaften des Lebesgueintegrals fest:

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298 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 3.1:

(a) Seien f, g ∈ L(A,µ) fur A ∈ M und ein messbares h : X → R mit f ≤ h ≤ gauf A sei gewahlt. Dann folgt h ∈ L(A,µ) und∫

A

f dµ ≤∫A

h dµ ≤∫A

g dµ.

(b) Mit f ∈ L(A,µ) fur A ∈ M gilt fur beliebiges c ∈ R auch cf ∈ L(A,µ) sowie∫A

cf dµ = c

∫A

f dµ.

(c) Sei A ∈ M mit µ(A) = 0 und f : X → R messbar. Dann folgt f ∈ L(A,µ)und ∫

A

f dµ = 0.

(d) Gilt f ∈ L(A,µ) fur A ∈ M, so auch f ∈ L(B,µ) fur jedes B ∈ M mitB ⊂ A. Falls f ≥ 0 auf A gilt, folgt noch∫

B

f dµ ≤∫A

f dµ.

Beweis: (b) und (c) lassen wir als Ubungsaufgabe.

(a) • Sei zunachst f ≥ 0 und somit auch h := hχA ≥ 0, g := gχA ≥ 0 auf X.Fur p ∈ V(h) gilt dann auch p ∈ V(g). Hilfssatz 3.1 liefert also

IX(p) ≤∫X

g dµ =

∫A

g dµ < +∞ fur alle p ∈ V(h)

und somit∫A h dµ =

∫X h dµ ≤

∫A g dµ sowie h ∈ L(A,µ). Ganz analog

erhalten wir noch∫A f dµ ≤

∫A h dµ.

• Falls nun f ≥ 0 gilt, so beachten wir 0 ≤ f+ ≤ h+ ≤ g+ und f− ≥ h− ≥g− ≥ 0 auf A. Nach Punkt 1 gilt dann h± ∈ L(A,µ) mit

±∫A

f± dµ ≤ ±∫A

h± dµ ≤ ±∫A

g± dµ.

Die Behauptung folgt nun aus der Definition von∫A h dµ.

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3. LEBESGUE-INTEGRIERBARE FUNKTIONEN 299

(d) Wir konnen wieder f ≥ 0 auf X annehmen. Anderenfalls zerlegen wir f =f+ − f− und zeigen die Aussage fur f± ≥ 0.

Nun gilt 0 ≤ fχB ≤ fχA auf X und gemaß Hilfssatz 3.1 ist fχA ∈ L(X,µ).Nach (a) ist somit auch fχB ∈ L(X,µ) und wieder nach Hilfssatz 3.1 schließlichf ∈ L(B,µ). Den gleichen Aussagen entnehmen wir ferner∫

B

f dµ =

∫X

fχB dµ ≤∫X

fχA dµ =

∫A

f dµ,

wie behauptet. q.e.d.

Wir zeigen nun, dass das Lebesgueintegral zu einem Maß µ selbst wieder einMaß auf M liefert:

Satz 3.2:

(a) Sei f : X → [0,+∞] messbar. Dann ist die Mengenfunktion

Φ(A) :=

∫A

f dµ, A ∈ M,

σ-additiv auf M; Φ : M → [0,+∞] ist also ein Maß auf M.

(b) Φ : M → R ist auch fur beliebiges f ∈ L(X,µ) σ-additiv (und endlich).

Beweis: Wir mussen nur (a) beweisen; (b) folgt dann wieder aus der Zerlegungf = f+ − f−. Zu zeigen ist also: Sind All ⊂ M paarweise disjunkt, so gilt furA =

∪∞l=1Al:

Φ(A) =∞∑l=1

Φ(Al). (3.2)

1. Wir zeigen (3.2) zunachst fur eine messbare, einfache Funktion f : X →[0,+∞). Mit der Standarddarstellung f =

∑pi=1 ciχBi , Bi := x ∈ X : f(x) =

ci, gilt dann

Φ(A) =

p∑i=1

ciµ(Bi ∩A) =

p∑i=1

ciµ( ∞∪l=1

(Bi ∩Al))

=

∞∑l=1

p∑i=1

ciµ(Bi ∩Al) =

∞∑l=1

Φ(Al).

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300 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

2. Sei nun f : X → [0,+∞] messbar. Fur beliebiges g ∈ V(f) gilt dann nachTeil 1:

IA(g) =

∞∑l=1

IAl(g) ≤∞∑l=1

∫Al

f dµ =

∞∑l=1

Φ(Al),

also nach Definition

Φ(A) = supg∈V(f)

IA(g) ≤∞∑l=1

Φ(Al). (3.3)

Falls nun Φ(A) = +∞ gilt, folgt (3.2) trivialerweise. Sei also Φ(A) < +∞.Dann folgt aus Satz 3.1 (d) auch Φ(Al) ≤ Φ(A) < +∞ fur alle l ∈ N. Wirzeigen nun

Φ( p∪l=1

Al

)≥

p∑l=1

Φ(Al) fur alle p ∈ N. (3.4)

Wegen A1 ∪ . . . ∪Ap ⊂ A fur alle p ∈ N folgt dann wiederum aus Satz 3.1 (d):

Φ(A) ≥ limp→∞

Φ( p∪l=1

Al

) (3.4)

≥ limp→∞

p∑l=1

Φ(Al) =

∞∑l=1

Φ(Al).

Zusammen mit (3.3) liefert dies die Behauptung.

3. Zu zeigen bleibt (3.4), und zwar per vollstandiger Induktion uber p: Die Aussa-ge ist klar fur p = 1. Gilt die Aussage fur ein p ∈ N, so setzen wir B :=

∪pl=1Al.

Zu beliebigem ε > 0 wahlen wir g, g ∈ V(f) mit

IB(g) ≥∫B

f dµ− ε, IAp+1(g) ≥∫

Ap+1

f dµ− ε.

Da B ∩Ap+1 = ∅ gilt, erhalten wir h := gχB + gχAp+1 ∈ V(f) und

IB(h) = IB(g) ≥ Φ(B)− ε, IAp+1(h) = IAp+1(g) ≥ Φ(Ap+1)− ε. (3.5)

Es folgt somit

Φ( p+1∪l=1

Al

)= Φ(B ∪Ap+1) ≥ IB∪Ap+1(h)

Teil 1= IB(h) + IAp+1(h)

(3.5)

≥ Φ(B) + Φ(Ap+1)− 2ε

(IV )=

p+1∑l=1

Φ(Al)− 2ε,

also fur ε→ 0 die Behauptung. q.e.d.

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3. LEBESGUE-INTEGRIERBARE FUNKTIONEN 301

Folgerung 3.1: Seien A,B ∈ M mit B ⊂ A und µ(A \B) = 0 gewahlt.

(i) Fur jedes messbare f : X → [0,+∞] gilt∫A

f dµ =

∫B

f dµ. (3.6)

(ii) Ist f ∈ L(B,µ), so gilt auch f ∈ L(A,µ) und Relation (3.6) ist erfullt.

Beweis:

(i) Wir schreiben A = B ∪ (A \B) und wenden Satz 3.2 (a) sowie Satz 3.1 (c) an.

(ii) Schreiben wir f = f+ − f−, so liefert (i):∫A

f± dµ =

∫B

f± dµ < +∞,

also f ∈ L(A,µ) und wiederum (3.6). q.e.d.

Folgerung 3.2:

(i) Seien f, g : X → [0,+∞] messbar und auf A ∈ M gelte

µ(x ∈ A : f(x) = g(x)

)= 0. (3.7)

Dann folgt ∫A

f dµ =

∫A

g dµ. (3.8)

(Beachte: x ∈ A : f(x) = g(x) ist messbar fur messbare f, g, vgl. Ubung.)

(ii) Sei f ∈ L(A,µ) fur A ∈ M und fur ein messbares g : X → R gelte (3.7).Dann folgt g ∈ L(Aµ) und (3.8) ist erfullt.

Beweis:

(i) Wir schreiben B = x ∈ A : f(x) = g(x). Dann gilt µ(A \ B) = 0 undFolgerung 3.1 (i) liefert∫

A

f dµ =

∫B

f dµ =

∫B

g dµ =

∫A

g dµ.

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302 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

(ii) Wir zerlegen wieder A = B∪ (A\B). Wegen f = g auf B ist g ∈ L(B,µ) nachSatz 3.1 (d) richtig. Wegen µ(A \ B) = 0 gilt nun nach Folgerung 3.1 (ii) auchg ∈ L(A,µ) und analog zu (i) folgt wieder (3.8) aus (3.6).

q.e.d.

Definition 3.3:

(i) Wir sagen, eine Menge N ∈ M ist µ-Nullmenge oder einfach Nullmenge,wenn µ(N) = 0 gilt.

(ii) Wir sagen, eine Eigenschaft P gilt fast uberall in A ⊂ X (i.Z. f.u. in A) oderfur fast alle x ∈ A (i.Z. fur f.a. x ∈ A), wenn eine Nullmenge N ⊂ A soexistiert, dass P in A \N erfullt ist.

Bemerkungen:

1. Ist X = Rn und µ : M(µ) → [0,+∞] wie in § 1 erklart, so gilt: N ⊂ Rn istµ-Nullmenge ⇔ µ∗(N) = 0. Teilmengen des Rn sind also automatisch messbarmit Maß 0, wenn das außere Maß verschwindet. (→ Ubungsaufgabe).

2. Fur µ = λn entsprechen λn-Nullmengen den in Kap. 5, Definition 2.1 eingefuhr-ten Nullmengen (→ Ubungsaufgabe).

3. Ist N Nullmenge, so gilt dies auch fur jedes E ∈ M mit E ⊂ N nachSatz 3.1 (d).

4. Die abzahlbare Vereinigung von Nullmengen ist wieder Nullmenge wegen derσ-Subadditivitat des Maßes.

5. Folgerungen 3.1 und 3.2 zeigen, dass (unter den angegebenen Voraussetzungen)Nullmengen bei der Integration vernachlassigt werden konnen. Wir halten nochdie folgende wichtige Konsequenz fest:

Folgerung 3.3: Sei f : X → [0,+∞] messbar. Dann gilt fur beliebige A ∈ M:∫A

f dµ = 0 ⇔ f = 0 f.u. auf A.

Beweis:

•”⇐“: Dies ist gerade Folgerung 3.2 (i) mit g ≡ 0.

•”⇒“: Wir setzen Nk := x ∈ A : f(x) ≥ 1

k. Dann ist Nk messbar und es gilt

0 =

∫A

f dµ ≥∫Nk

f dµ ≥∫Nk

1

kdµ =

1

kµ(Nk) ≥ 0,

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3. LEBESGUE-INTEGRIERBARE FUNKTIONEN 303

also µ(Nk) = 0. Wegen

N := x ∈ A : f(x) > 0 =

∞∪k=1

x ∈ A : f(x) ≥ 1

k

=

∞∪k=1

Nk

ist damit auch N Nullmenge, d.h. f = 0 f.u. in A. q.e.d.

Beispiel: Sei X = R, µ = λ1 und f = χQ. Wegen f = 0 f.u. auf R, liefert Folge-rung 3.3:

∫I χQ dλ1(x) = 0 fur jedes Intervall I ⊂ R.

Der nachste Satz zeigt, dass das Lebesgue-Integral ein absolut konvergentes In-tegral ist:

Satz 3.3: Mit f ∈ L(A,µ) fur A ∈ M gilt auch |f | ∈ L(A,µ), und wir haben dieAbschatzung ∣∣∣∣ ∫

A

f dµ

∣∣∣∣ ≤ ∫A

|f | dµ.

Beweis: Nach Satz 2.1 ist |f | messbar. Wir erklaren die messbaren Mengen A+ :=x ∈ A : f(x) ≥ 0, A− := A \A+. Dann liefern Satz 3.2 (a) und Satz 3.1 (b), (d):∫

A

|f | dµ =

∫A+

|f | dµ+

∫A−

|f | dµ =

∫A+

f+ dµ+

∫A−

f− dµ < +∞,

also |f | ∈ L(A,µ). Satz 3.1 (a), (b) und der Relation −|f | ≤ f ≤ |f | entnehmen wirnun noch

−∫A

|f | dµ ≤∫A

f dµ ≤∫A

|f | dµ,

also die Behauptung. q.e.d.

Wir kommen nun zu den ersten beiden grundlegenden Konvergenzsatzen fur dasLebesguesche Integral:

Satz 3.4: (Satz uber monotone Konvergenz; Satz von B. Levi)Sei A ∈ M und fll eine Folge messbarer Funktionen auf X mit

0 ≤ f1(x) ≤ f2(x) ≤ . . . fur f.a. x ∈ A. (3.9)

Dann existiert der Grenzwert liml→∞

fl ∈ [0,+∞ f.u. in A, und es gilt

liml→∞

∫A

fl dµ =

∫A

(liml→∞

fl)dµ. (3.10)

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304 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Bemerkung: Man beachte, dass∫A g dµ fur messbares g : X → R mit g ≥ 0 f.u. in

A erklart ist. Ist namlich N := x ∈ A : g(x) < 0, so existiert∫A\N g dµ und nach

Satz 3.1 (c) auch∫N g dµ, da N Nullmenge ist.

Beweis:

1. Zunachst ist f := lim inf l→∞ fl nach Satz 2.2 messbar. Wir setzen f0 := 0 aufX und erklaren die Nullmengen

Nl :=x ∈ A fl−1(x) > fl(x)

, l ∈ N.

Dann ist N :=∪∞l=1Nl Nullmenge, fll ist auf A \ N nichtnegativ und mo-

noton wachsend, und folglich gilt f = liml→∞ fl in A \N .

Zeigen wir (3.10) auf A\N , so folgt die Behauptung sofort aus Folgerung 3.1 (i).Daher konnen wir im Folgenden o.B.d.A. N = ∅ annehmen.

2. Wegen (3.9) – nun auf ganz A – und der Monotonie des Integrals existiert derGrenzwert

liml→∞

∫A

fl dµ ∈ [0,+∞].

Und wegen fl ≤ f auf A fur alle l ∈ N folgt

liml→∞

∫A

fl dµ ≤∫A

f dµ. (3.11)

Mit c ∈ (0, 1) erklaren wir die messbaren Mengen

A0 :=x ∈ A : f(x) = +∞, fl(x) < +∞ fur alle l ∈ N

,

Al :=x ∈ A : fl(x) ≥ cf(x)

, l ∈ N.

Aus (3.9) folgt A1 ⊂ A2 ⊂ . . . A \ A0. Fixieren wir x ∈ A \ A0, so konnen wirunterscheiden:

• f(x) = 0 und damit x ∈ Al fur alle l ∈ N.• f(x) = +∞. Wegen x ∈ A0 existiert dann ein l ∈ N mit fl(x) = +∞ und

damit x ∈ Al.

• f(x) ∈ (0,+∞) und somit

liml→∞

fl(x) = f(x) > cf(x),

so dass x ∈ Al fur hinreichend großes l ∈ N folgt.

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3. LEBESGUE-INTEGRIERBARE FUNKTIONEN 305

Insgesamt haben wir also

A \A0 =

∞∪l=1

Al.

Nun ist nach Satz 3.2 (a) die Funktion Φ : M → [0,+∞], B 7→∫B f dµ, σ-

additiv auf M. Hilfssatz 1.1 (v) liefert somit

liml→∞

∫Al

f dµ = liml→∞

Φ(Al) = Φ( ∞∪l=1

Al

)= Φ(A \A0) =

∫A\A0

f dµ

und folglich

liml→∞

∫A\A0

fl dµ ≥ liml→∞

∫Al

fl dµ ≥ liml→∞

∫Al

cf dµ = c

∫A\A0

f dµ.

Fur c→ 1− ergibt sich also

liml→∞

∫A\A0

fl dµ ≥∫

A\A0

f dµ. (3.12)

3. Falls nun µ(A0) = 0 und somit nach Satz 3.1 (c)∫A0

fl dµ =

∫A0

f dµ = 0 fur alle l ∈ N

gilt, so liefern (3.11) und (3.12) die Behauptung.

Ist hingegen µ(A0) > 0, so ergibt die Definition des Integrals – beachte f = +∞auf A0 – sofort

∫A0f dµ = +∞ (denn fur alle n ∈ N gilt nχA0 ∈ V(f)). Erklaren

wir zu c > 0 noch die messbaren Mengen

Bl :=x ∈ A0 : fl(x) ≥ c

, l ∈ N,

so gilt wegen (3.9) B1 ⊂ B2 ⊂ . . . ⊂ A0 und aus liml→∞ fl = +∞ auf A0 folgt

∞∪l=1

Bl = A0.

Die σ-Additivitat von µ und Hilfssatz 1.1 (v) liefern somit

liml→∞

∫A0

fl dµ ≥ liml→∞

∫Bl

fl dµ ≥ c liml→∞

µ(Bl) = cµ( ∞∪l=1

Bl

)= cµ(A0).

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306 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Mit c→ +∞ folgt also

liml→∞

∫A0

fl dµ = +∞ =

∫A0

f dµ,

und zusammen mit (3.11) und (3.12) erhalten wir die Behauptung. q.e.d.

Satz 3.5: (Lemma von Fatou)Sei fll eine Folge messbarer Funktionen auf X mit fl ≥ 0 f.u. in A ∈ M. Danngilt ∫

A

(lim infl→∞

fl)dµ ≤ lim inf

l→∞

∫A

fl dµ.

Beweis: Fur beliebiges p ∈ N setzen wir gp(x) := inf l≥p fl(x), x ∈ X. Dann gilt

0 ≤ g1 ≤ g2 ≤ . . . f.u. in A und limp→∞

gp = lim infl→∞

fl auf X.

Nach Satz 2.2 sind die gp, p ∈ N, messbar. Beachten wir noch gp ≤ fp auf X fur allep ∈ N, so liefert Satz 3.4∫

A

(lim infl→∞

fl)dµ = lim

p→∞

∫A

gp dµ ≤ lim infp→∞

∫A

fp dµ,

wie behauptet. q.e.d.

Bevor wir noch den dritten und wohl wichtigsten Konvergenzsatz angeben, wollenwir Summe und Differenz zweier Lebesgue-integrierbarer Funktionen betrachten.Hierzu sei angemerkt, dass f ± g fur f, g ∈ L(A,µ) f.u. auf A erklart ist, nach demfolgenden

Hilfssatz 3.2:Ist f ∈ L(A,µ) fur A ∈ M, so gilt f(x) ∈ R fur f.a. x ∈ A.

Beweis: Nach Satz 3.3 gilt |f | ∈ L(A,µ). Setzen wir N := x ∈ A : |f(x)| = +∞so ist gp := pχN ∈ V(|f |) fur jedes p ∈ N richtig. Es folgt also

pµ(N) = IA(gp) ≤∫A

|f | dµ < +∞ fur alle p ∈ N

und somit notwendig µ(N) = 0. q.e.d.

Fur beliebige f, g ∈ L(A,µ) existieren also Nullmengen Nf , Ng ⊂ A, so dass giltf(x), g(x) ∈ R fur x ∈ A \ (Nf ∪Ng). Indem wir f ± g im Folgenden mit

(f ± g)(x) := (f ± g)(x)χA\(Nf∪Ng)(x) =

(f ± g)(x), falls x ∈ A \ (Nf ∪Ng)

0, sonst

identifizieren, konnen wir also annehmen, dass f ± g auf X erklart und messbar ist.

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3. LEBESGUE-INTEGRIERBARE FUNKTIONEN 307

Satz 3.6: Mit f, g ∈ L(A,µ) fur A ∈ M ist auch f ± g ∈ L(A,µ) richtig, und esgilt ∫

A

(f ± g) dµ =

∫A

f dµ±∫A

g dµ.

Beweis: Es genugt offenbar, die Aussage fur f + g zu zeigen.

1. Seien f =∑p

i=1 ciχAi , g =∑q

j=1 djχBj einfache, nichtnegative und messbareFunktionen. O.B.d.A. gelte p ≤ q. Wir setzen dann ci := 0 fur i = p+ 1, . . . , qund erhalten

f + g =

q∑i=1

(ciχAi + diχBi) =

q∑i=1

[(ci + di)χAi∩Bi + ciχAi\Bi + diχBi\Ai

],

wobei wir noch χA∪B = χA + χB fur disjunkte A,B ⊂ X ausgenutzt haben.Damit finden wir∫A

(f + g) dµ

=

q∑i=1

[(ci + di)µ(Ai ∩Bi ∩A) + ci(µ

((Ai \Bi) ∩A

)+ diµ

((Bi \Ai) ∩A

)]

=

p∑i=1

ciµ(Ai ∩A) +q∑i=1

diµ(Bi ∩A) =

∫A

f dµ+

∫A

g dµ.

2. Seien nun f, g ∈ L(A,µ) mit f ≥ 0, g ≥ 0 in A. Wir setzen f, g zu 0 aufX fort. Nach Satz 2.4 existieren dann Folgen fkk, gkk einfacher messbarerFunktionen mit 0 ≤ f1 ≤ f2 ≤ . . ., 0 ≤ g1 ≤ g2 ≤ . . . und fk → f , gk → g aufA. Ferner gilt nach Teil 1∫

A

fk dµ+

∫A

gk dµ =

∫A

(fk + gk) dµ fur alle k ∈ N.

Der Satz uber monotone Konvergenz liefert also fur k → +∞:∫A

(f + g) dµ =

∫A

f dµ+

∫A

g dµ

und insbesondere f + g ∈ L(A,µ).

3. Nun gelte f, g ∈ L(A,µ) sowie f ≥ 0, g ≤ 0 in A. Wir zerlegen

A1 = x ∈ X : f(x) + g(x) ≥ 0, A2 := x ∈ X : f(x) + g(x) < 0.

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308 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Dann gilt f + g,−g ≥ 0 auf A1 und nach Teil 2 folgt∫A1

f dµ =

∫A1

(f + g) dµ+

∫A1

(−g) dµ =

∫A1

(f + g) dµ−∫A1

g dµ. (3.13)

Auf A2 haben wir f,−(f + g) ≥ 0, so daß Teil 2 hier liefert

−∫A2

g dµ =

∫A2

(−g) dµ =

∫A2

f dµ−∫A2

(f + g) dµ. (3.14)

Wegen A = A1 ∪ A2 erhalten wir die Behauptung aus (3.13), (3.14) undSatz 3.2.

4. Seien schließlich f, g ∈ L(A,µ) beliebig. Wir setzen

A1 := x ∈ A : f(x) ≥ 0, g(x) ≥ 0,

A2 := x ∈ A : f(x) ≥ 0, g(x) < 0,

A3 := x ∈ A : f(x) < 0, g(x) ≥ 0,

A4 := x ∈ A : f(x) < 0, g(x) < 0.

Nach Teil 2 und 3 folgt nun – ggf. nach Ubergang zu −f und −g –∫Ak

(f + g) dµ =

∫Ak

f dµ+

∫Ak

g dµ, k = 1, 2, 3, 4.

Wegen A =∪4k=1Ak und Satz 3.2 erhalten wir die Behauptung. q.e.d.

Satz 3.7: (Satz uber dominierte Konvergenz; Satz von Lebesgue)Es sei fkk eine Folge messbarer Funktionen auf X und A ∈ M sei gewahlt. F.u. aufA existiere der Grenzwert limk→∞ fk und stimme dort mit einem messbaren f : X →R uberein. Ferner existiere ein g ∈ L(A,µ), so daß |fk(x)| ≤ g(x) fur f.a. x ∈ Aerfullt ist. Dann folgt f ∈ L(A,µ) und∫

A

(limk→∞

fk)dµ =

∫A

f dµ = limk→∞

∫A

fk dµ. (3.15)

Bemerkung: Existiert der Grenzwert limk→∞ fk f.u. auf A, so erfullt nach Satz 2.2z.B. f := lim infk→∞ fk die Voraussetzung des Satzes.

Beweis von Satz 3.7: Zunachst konnen wir fk, f und g auf einer Nullmenge N ⊂ Aso zu 0 abandern, dass

f(x) = limk→∞

fk(x), |fk(x)| ≤ g(x) fur alle x ∈ A (3.16)

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4. VERGLEICH MIT RIEMANNS INTEGRAL; DER SATZ VON FUBINI 309

richtig ist. Nach Folgerung 3.2 (ii) folgt die Behauptung, wenn wir die Lebesgue-Integrierbarkeit von f und Formel (3.15) fur die abgeanderten Funktionen gezeigthaben.

Aus (3.16) und Satz 3.1 (a) folgt nun fk ∈ L(A,µ) fur alle k ∈ N sowie f ∈L(A,µ). Ferner gilt g ± fk ≥ 0 auf A, so dass das Lemma von Fatou und Satz 3.6liefern∫

A

g dµ±∫A

f dµ ≤ lim infk→∞

∫A

(g ± fk) dµ =

∫A

g dµ+ lim infk→∞

∫A

(±fk) dµ.

Umstellen ergibt nun

lim supk→∞

∫A

fk dµ ≤∫A

f dµ ≤ lim infk→∞

∫A

fk dµ

und folglich die Behauptung (3.15). q.e.d.

4 Vergleich mit Riemanns Integral; der Satz von Fubini

In diesem Paragraphen sei immer X = Rn (oder X ⊂ Rn) und µ : M(µ) → [0,+∞]das in § 1 konstruierte Maß. Speziell erinnern wir an das Lebesguesche Maß µ = λn.

Ist Q ⊂ Rn ein abgeschlossener Quader, so hatten wir in Kapitel 5 die Klasseder Riemann-integrierbaren Funktionen auf f : Q → R mit R(Q) bezeichnet. Wirdenken uns i.F. f zu 0 auf Rn fortgesetzt und schreiben kurz L(Q) := L(Q,λn).

Der nachste Satz zeigt, dass das Lebesgue-Integral bez. λn eine Fortsetzung desRiemann-Integrals liefert.

Satz 4.1: Sei f ∈ R(Q) beliebig gewahlt. Dann folgt f ∈ L(Q) und∫Q

f dx =

∫Q

f dλn.

Beweis:

1. Zunachst ist f : Rn → R messbar. Nach Satz 2.2 aus Kap. 5 ist namlich dieMenge S(f) der Unstetigkeitsstellen eine Nullmenge, d.h. S(f) ist messbar undes gilt λn(S(f)) = 0 (vgl. Ubungsaufgabe). Folglich ist auch M := Rn \ S(f)messbar und f |M ist stetig. Demnach sind die Mengen

x ∈ Rn : f(x) > a = x ∈M : f(x) > a︸ ︷︷ ︸offen inM

∪x ∈ S(f) : f(x) > a︸ ︷︷ ︸λn-Nullmenge

fur jedes a messbar, d.h. f ist messbar.

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310 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

2. Es genugt den Fall f ≥ 0 auf Q (und damit auf Rn) zu betrachten; im all-gemeinen Fall zerlegen wir wieder gemaß f = f+ − f−. Zu einer beliebigenZerlegung Z von Q in Teilquader Qα, α ∈ A, setzen wir

SZ(f) :=∑α∈A

(infQα

f)|Qα|, SZ(f) :=∑α∈A

(supQα

f)|Qα|

fur die zugehorige Unter- bzw. Obersumme. Denken wir uns die Qα paarweisedisjunkt, so gilt

SZ(f) = IQ(f), SZ(f) = IQ(f)

mit den einfachen, messbaren Funktionen

f :=∑α∈A

(infQα

f)χQα , f :=∑α∈A

(supQα

f)χQα .

Wegen 0 ≤ f ≤ f gilt nun f ∈ V(f) und folglich

SZ(f) = IQ(f) ≤∫Q

f dλn.

Bilden wir noch das Supremum uber alle Zerlegungen Z, so erhalten wir wegenf ∈ R(Q): ∫

Q

f dx = I(f) := supZSZ(f) ≤

∫Q

f dλn. (4.1)

3. Setzen wir andererseits c := supQ f < +∞, so ist auch c − f = c− f einfach

und messbar, und aus 0 ≤ c− f ≤ c− f ∈ R(Q) folgt wie in Teil 2:

c|Q| −∫Q

f dx =

∫Q

(c− f) dx ≤∫Q

(c− f) dλn = c|Q| −∫Q

f dλn,

also ∫Q

f dλn ≤∫Q

f dx. (4.2)

Aus (4.1) und (4.2) folgt die Behauptung. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Da jede quadrierbare MengeM ⊂ Rn nach einer Bemerkung in § 1 λn-messbarist, impliziert Satz 4.1:

Jedes f ∈ R(M) gehort auch zu L(M) und es gilt∫M f dx =

∫M f dλn.

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4. VERGLEICH MIT RIEMANNS INTEGRAL; DER SATZ VON FUBINI 311

Wegen dieser Beobachtung schreiben wir i.F. auch∫M

f dx :=

∫M

f dλn

fur das Lebesguesche Integral bez. λn einer Funktion f ∈ L(M) fur M ∈ M.

2. Satz 4.1 und Satz 2.2 aus Kap. 5 zeigen: Falls die Menge S(f) der Unstetig-keitsstellen von f : Q → R eine λn-Nullmenge ist, so gilt f ∈ L(Q). Sogarallgemeiner fur messbare Funktionen f : Rn → R bez. eines beliebigen Ma-ßes µ : M(µ) → [0,+∞] gilt die folgende

”approximative Umkehrung“ dieser

Aussage:

Satz 4.2: (Satz von Lusin)Sei f : Rn → R messbar bez. eines Maßes µ : M(µ) → [0,+∞]. Dann existiertzu jeder messbaren Menge B ∈ M(µ) und jedem ε > 0 eine abgeschlossene MengeA ⊂ B mit µ(B \A) < ε, so dass f |A : A→ R stetig ist.

Beweis: Siehe z.B. Sauvigny: Partielle Differentialgleichungen der Geometrie undder Physik; Kap. II, § 5.

Zum Abschluss des Paragraphen wollen wir die”Lebesgue-Version“des Satzes

von Fubini angeben; vgl. Satz 1.6 aus Kapitel 5 fur die”Riemann-Version“. Seien

dazu Q ⊂ Rn, R ⊂ Rm beschrankte, offene Quader und alle Maße seien Lebesgue-Maße.

Satz 4.3: (Satz von Fubini)Sei f = f(x, y) : Q × R → [0,+∞] eine messbare Funktion. Dann ist die Funktionf(x, ·) : R→ [0,+∞] fur fast alle x ∈ Q messbar. Setzen wir

φ(x) :=

∫R f(x, y) dy, falls f(x, ·) messbar ist

0, sonst, x ∈ Q,

so ist auch φ : Q→ [0,+∞] messbar, und es gilt∫Q×R

f(x, y) dx dy =

∫Q

φ(x) dx.

Beweis:

1. Wir erklaren die messbare Funktion

fl(x, y) :=

f(x, y), falls f(x, y) ≤ l

l, sonst.

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312 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Wegen 0 ≤ fl ≤ l auf Q × R und |Q × R| < +∞ ist dann fl ∈ L(Q × R) richtig nachSatz 3.1 (a). Wir bemerken noch

0 ≤ f1 ≤ f2 ≤ . . . und liml→∞

fl = f auf Q×R. (4.3)

Im nachsten Paragraphen werden wir zeigen, dass der Raum C∞c (Q × R) dicht liegt in

L(Q×R). Also existiert zu jedem fl existiert eine Folge fl,kk ⊂ C∞c (Q×R) mit

limk→∞

∫Q×R

|fl,k − fl| dx dy = 0. (4.4)

Mit dem Lebesgueschen Auswahlsatz, den wir ebenfalls in § 5 beweisen, konnen wir zu einerf.u. konvergenten Teilfolge f ′

l,kk ubergehen, d.h. fur jedes l ∈ N gibt es eine NullmengeNl ⊂ Q×R mit

limk→∞

f ′l,k(x, y) = fl(x, y) fur alle (x, y) ∈ (Q×R) \Nl. (4.5)

Bei Ubergang zu den Funktionen

fl,k :=

f ′l,k, falls |f ′

l,k| ≤ l

l, sonst

bleiben (4.4) und (4.5) offenbar auch fur die Folgen fl,kk ⊂ C0c (Q×R) erhalten.

2. Man kann nun zeigen, dass fur eine beliebige Nullmenge N ⊂ Q×R der Schnitt

Nx := y ∈ R : (x, y) ∈ N ⊂ R

fur f.a. x ∈ Q wieder eine Nullmenge (in R) ist. Insbesondere gibt es also NullmengenEl ⊂ Q, so dass Nl,x = y ∈ R : (x, y) ∈ Nl fur x ∈ Q \ El Nullmenge ist. Damit ist auchE :=

∪∞l=1 El Nullmenge. Fur beliebige x ∈ Q \ E entnehmen wir nun (4.5)

limk→∞

fl,k(x, ·) = fl(x, ·) f.u. auf R. (4.6)

Da aber fl,k stetig sind auf Q × R, sind auch fl,k(x, ·) : R → R stetig und insbesonderemessbar. Nach Satz 2.2 sind daher auch fl(x, ·) und dann f(x, ·) = liml→∞ fl(x, ·) messbarauf R fur x ∈ Q \ E.

3. Wir setzen nun

φl,k(x) :=

∫Rfl,k(x, y) dy, fur x ∈ Q \ E

0, fur x ∈ E,

φl(x) :=

∫Rfl(x, y) dy, fur x ∈ Q \ E

0, fur x ∈ E.

Wegen |fl,k(x, ·)| ≤ l auf R und Formel (4.6) liefert der Lebesguesche Konvergenzsatz

φl,k → φl auf Q. (4.7)

Außerhalb der Nullmenge E sind die φl,k stetig und somit messbar auf Q. Wiederum nachSatz 2.2 sind also auch φl messbar auf Q.

Andererseits entnehmen wir (4.3): 0 ≤ f1(x, ·) ≤ f2(x, ·) ≤ . . . und fl(x, ·) → f(x, ·) auf R.Der Satz von Levi und die Monotonie des Integrals liefern also

0 ≤ φ1 ≤ φ2 ≤ . . . , φl → φ auf Q. (4.8)

Folglich ist auch φ auf Q messbar.

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5. DIE LP -RAUME 313

4. Wir beachten nun |φl,k| ≤ l|R| ∈ L(Q). Formel (4.7) und der Satz von Lebesgue liefern alsoφl ∈ L(Q) und

limk→∞

∫Q

φl,k(x) dx =

∫Q

φl(x) dx fur alle l ∈ N. (4.9)

Wir konnen nun berechnen∫Q×R

fl(x, y) dx dy(4.4)= lim

k→∞

∫Q×R

fl,k(x, y) dx dy

Kap. 5, Satz 1.6= lim

k→∞

∫Q

(∫R

fl,k(x, y) dy

)dx

Folgerung 3.2= lim

k→∞

∫Q

φl,k(x) dx

(4.9)=

∫Q

φl(x) dx fur alle l ∈ N.

(4.10)

Schließlich wenden wir auf beiden Seiten von (4.10) noch einmal den Satz von Levi an underhalten aus (4.3) bzw. (4.8) fur l → ∞:∫

Q×R

f dx dy = liml→∞

∫Q×R

fl dx dy = liml→∞

∫Q

φl(x) dx =

∫Q

φ(x) dx,

wie behauptet. q.e.d.

5 Die Lp-Raume

Sei nun (X,M, µ) wieder ein beliebiger messbarer Raum. Im Folgenden betrachtenwir zur Vereinfachung nur noch Integrale uber X und schreiben

”f ∈ L(µ) :=

L(X,µ) fur den Raum der Lebesgue-integrierbaren Funktionen aufX. Alle folgendenAussagen gelten in analoger Weise fur die Integration uber beliebige TeilmengenA ∈ M von X.

Definition 5.1: Zu p ∈ [1,+∞) und messbarer Funktion f : X → R setzen wir

∥f∥p := ∥f∥Lp(µ) :=(∫X

|f |p dµ) 1p

.

Falls ∥f∥p < +∞ gilt, so nennen wir f p-fach integrierbar (auf X). Wir schreibendann f ∈ Lp(µ) und nennen ∥f∥p die Lp-Norm von f .

Bemerkungen:

1. Mit f ist auch |f |p, p ∈ [1,+∞), messbar, d.h. ∥f∥p ∈ [0,+∞] ist sinnvollerklart (verwende Satz 2.3 und die Messbarkeit von |f |−1(+∞)).

2. Wegen Satz 3.1 (a) und Satz 3.3 ist L1(µ) = L(µ) richtig.

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314 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Definition 5.2: Sei V ein reeller Vektorraum. Eine Abbildung ∥ · ∥ : V → R heißtdann Norm auf V, wenn die folgenden Eigenschaften erfullt sind:

(a) Positivitat: ∥f∥ ≥ 0 fur alle f ∈ V und ∥f∥ = 0 ⇔ f = 0.

(b) Homogenitat: ∥λf∥ = |λ| ∥f∥ fur alle f ∈ V und λ ∈ R.

(c) Dreiecksungleichung: ∥f + g∥ ≤ ∥f∥ + ∥g∥ fur alle f, g ∈ V. V oder genauer(V, ∥ · ∥) heißt dann normierter Vektorraum.

Die Homogenitat (b) ist fur ∥f∥p : Lp(µ) → [0,+∞) erfullt: Mit f ∈ Lp(µ) istnamlich auch λf ∈ Lp(µ) und es gilt

∥λf∥p =(∫X

|λf |p dµ) 1p

=

(|λ|p

∫X

|f |p dµ) 1p

= |λ| ∥f∥p.

Den Beweis der Dreiecksungleichung (c) fur ∥ · ∥p werden wir in Satz 5.2 erbringen.Allerdings gilt die Positivitat (a) zunachst nur eingeschrankt, da nach Folgerung 3.3∥f∥p = 0 genau dann erfullt ist, wenn f = 0 f.u. auf X gilt. Diesen

”Makel“ besei-

tigen wir durch Aquivalenzklassenbildung:

Definition 5.3: Wir nennen zwei Funktionen f, g ∈ Lp(µ), p ∈ [1,+∞), aquiva-lent, i.Z. f ∼ g, wenn f = g f.u. in X erfullt ist. Mit [f ] bezeichnen wir die zu fgehorige Aquivalenzklasse und setzen

Lp(µ) := [f ] : f ∈ Lp(µ)

fur den Lebesgueschen Raum der Ordnung p. Mit

∥[f ]∥p := ∥[f ]∥Lp(µ) := ∥f∥p, f ∈ Lp(µ),

bezeichnen wir die Lp-Norm von [f ].

Bemerkungen:

1. Wegen Folgerung 3.2 ist die Norm ∥[f ]∥p wohl definiert, d.h. unabhangig vonder Wahl des Reprasentanten f . Ist [0] die Aquivalenzklasse der Funktionf ≡ 0, so liefert Folgerung 3.3: ∥[f ]∥p = 0 ⇔ [f ] = [0], d.h. Normeigenschaft(a) ist erfullt.

2. Im Folgenden schreiben wir einfach f ∈ Lp(µ) statt [f ] ∈ Lp(µ), d.h. wiridentifizieren [f ] mit einem Reprasentanten. Wegen Hilfssatz 3.2 konnen wirnoch annehmen, dass f ∈ Lp(µ) endlich ist, also f(X) ⊂ R gilt.

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5. DIE LP -RAUME 315

Hilfssatz 5.1: (Youngsche Ungleichung)Fur beliebige Zahlen a, b ≥ 0 und p, q ∈ (1,+∞) mit 1

p +1q = 1 gilt

ab ≤ ap

p+bq

q.

Beweis: Aus der Konvexitat der Exponentialfunktion folgt

ab = eln(a)eln(b) = e1pln(ap)+ 1

qln(bq) ≤ 1

peln(a

p) +1

qeln(b

q) =ap

p+bq

q,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 5.1: (Holdersche Ungleichung)Seien p, q ∈ (1,+∞) konjugierte Exponenten, d.h. es gilt 1

p +1q = 1. Fur beliebige

f ∈ Lp(µ) und g ∈ Lq(µ) folgt dann fg ∈ L1(µ) und wir haben die Abschatzung

∥fg∥1 ≤ ∥f∥p · ∥g∥q.

Beweis: Falls ∥f∥p = 0 oder ∥g∥q = 0 ist, folgt f = 0 bzw. g = 0 und daher auchfg = 0 auf X, d.h. wir haben ∥fg∥1 = 0 und somit die Aussage.

Seien nun ∥f∥p > 0 und ∥g∥q > 0. Wir wenden die Youngsche Ungleichungpunktweise auf die Funktionen

φ(x) :=1

∥f∥p|f(x)|, ψ(x) :=

1

∥g∥q|g(x)|, x ∈ X,

an und erhalten

|f(x)g(x)|∥f∥p∥g∥q

= φ(x)ψ(x)HS5.1≤ φ(x)p

p+ψ(x)q

q=

1

p

|f(x)|p

∥f∥pp+

1

q

|g(x)|q

∥g∥qqauf X.

Da die rechte Seite Lebesgue-integrierbar ist, liefert Satz 3.1 |fg| ∈ L1(µ) und furdas Integral folgt

1

∥f∥p∥g∥q

∫X

|fg| dµ ≤ 1

p∥f∥pp

∫X

|f |p dµ+1

q∥g∥qq

∫X

|g|q dµ =1

p+

1

q= 1,

also die Behauptung. q.e.d.

Satz 5.2: (Minkowskische Ungleichung)Fur beliebige f, g ∈ Lp(µ), p ∈ [1,+∞), gilt f+g ∈ Lp(µ) und die Dreicksungleichung

∥f + g∥p ≤ ∥f∥p + ∥g∥p.

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316 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis: Fur p = 1 ist die Aussage klar wegen |f + g| ≤ |f | + |g| ∈ L1(µ) undSatz 3.1 (a). Falls ∥f+g∥p = 0 gilt, ist ebenfalls nichts zu zeigen. Sei also p ∈ (1,+∞)und ∥f + g∥p > 0. Die Funktion φ(s) := sp, s ≥ 0, ist konvex und insbesondere giltφ( s+t2 ) ≤ 1

2φ(s) +12φ(t), also auch∣∣∣f(x) + g(x)

2

∣∣∣p ≤ ( |f(x)|+ |g(x)|2

)p≤ 1

2|f(x)|p + 1

2|g(x)|p, x ∈ X,

und folglich f + g ∈ Lp(µ). Mit q := pp−1 ∈ (1,+∞) gilt nun 1

p + 1q = 1 und wir

haben die Abschatzung

|f(x) + g(x)|p = |f(x) + g(x)|p−1|f(x) + g(x)|≤ |f(x) + g(x)|

pq |f(x)|+ |f(x) + g(x)|

pq |g(x)|, x ∈ X.

Wegen |f + g|pq ∈ Lq(µ) und |f |, |g| ∈ Lp(µ) konnen wir die Holdersche Ungleichung

anwenden und erhalten∫X

|f + g|p dµ ≤∫X

|f + g|pq |f | dµ+

∫X

|f + g|pq |g| dµ

≤ ∥|f + g|pq ∥q · ∥f∥p + ∥|f + g|

pq ∥q · ∥g∥p.

Aus ∥|f+g|pq ∥q = (

∫X |f+g|p dµ)

1q > 0 und 1− 1

q = 1p folgt schließlich nach Division

durch ∥|f + g|pq ∥q:

∥f + g∥p =(∫X

|f + g|p dµ)1− 1

q

≤ ∥f∥p + ∥g∥p,

wie behauptet. q.e.d.

Zusammenfassend haben wir gezeigt:

Folgerung 5.1: Fur jedes p ∈ [1,+∞) ist Lp(µ) ein normierter Vektorraum mitder Norm ∥ · ∥p : Lp(µ) → [0,+∞).

Definition 5.4:

(i) Sei V ein normierter Vektorraum mit der Norm ∥ · ∥. Eine Folge fkk ⊂ Vheißt Cauchyfolge (in V), wenn fur alle ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit

∥fk − fl∥ < ε fur alle k, l ≥ N(ε).

(ii) Der normierte Raum V heißt vollstandig (bez. der Norm ∥ · ∥), wenn jedeCauchyfolge fkk ⊂ V in V konvergiert, d.h. es existiert ein f ∈ V mitlimk→∞ ∥fk − f∥ = 0. Wir schreiben dann f = limk→∞ fk oder fk → f (k →∞) in V.

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5. DIE LP -RAUME 317

(iii) Schließlich heißt ein vollstandiger normierter Vektorraum auch Banachraum.

Beispiele:

1. Der Rn ist (im Gegensatz zu Qn) vollstandig (bez. | · | und damit bez. jederNorm) nach dem Cauchyschen Konvergenzkriterium.

2. Ist K ⊂ Rn kompakt, so ist V := C0(K) bez. der Supremumsnorm ∥f∥ :=supK f vollstandig, also ein Banachraum; siehe Folgerung 4.1 aus Kap. 2.

Beachte: C0(K) ist nicht vollstandig bez. der Lp-Norm (→Ubung).

Wir wollen nun zeigen, dass Lp(µ) bez. der Lp-Norm ∥ · ∥p ein Banachraum ist.Dazu benotigen wir noch den folgenden Satz, der von unabhangigem Interesse ist(vgl. z.B. den Beweis von Satz 4.3):

Satz 5.3: (Lebesguescher Auswahlsatz)Es sei fll ⊂ Lp(µ) eine Cauchyfolge. Dann gibt es eine Teilfolge f ′rr ⊂ fll undein f ∈ Lp(µ), so dass lim

r→∞∥f ′r − f∥p = 0 und f ′r → f punktweise f.u. in X erfullt

ist.

Beweis:

1. Da fll Cauchyfolge in Lp(µ) ist, existieren N1 < N2 < . . ., so dass gilt

∥fk − fl∥p ≤1

2mfur alle k, l ≥ Nm, m ∈ N.

Setzen wir f ′m := fNm , m ∈ N, so folgt also insbesondere

∥f ′m+1 − f ′m∥p ≤1

2mfur alle m ∈ N. (5.1)

Fur die Funktionen gr :=∑r

m=1 |f ′m+1 − f ′m|, r ∈ N, gilt dann grr ⊂ Lp(µ)sowie 0 ≤ g1 ≤ g2 ≤ . . . Mit

g := limr→∞

gr =

∞∑m=1

|f ′m+1 − f ′m|

folgt somit aus dem Satz von Levi und der Minkowski-Ungleichung∫X

gp dµ = limr→∞

(∫X

gpr dµ

)≤ lim

r→∞

( r∑m=1

∥f ′m+1 − f ′m∥p)p (5.1)

≤ 1 < +∞,

also insbesondere g ∈ Lp(µ). Nach Hilfssatz 3.2 gilt somit g(x) < +∞ furf.a. x ∈ X, d.h. die Reihe

∑∞m=1 |f ′m+1 − f ′m| und damit auch die Reihe∑∞

m=1(f′m+1 − f ′m) konvergiert f.u. auf X.

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318 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

2. Wir betrachten nun die messbare Funktion f := lim infr→∞ f ′r. Nach Teil 1 gilt

f = limr→∞

f ′r =∞∑m=1

(f ′m+1 − f ′m) + f ′1 f.u. auf X.

Insbesondere folgt |f |p ≤ (g + |f ′1|)p ∈ L1(µ) f.u. auf X und somit f ∈ Lp(µ)nach Satz 3.1. Zu zeigen bleibt die Konvergenz in Lp(µ): Hierzu beachten wir

|f ′r − f | ≤∞∑m=r

|f ′m+1 − f ′m| ≤ g f.u. auf X

und somit |f ′r − f |p ≤ gp ∈ L1(µ) f. u. auf X. Wegen |f ′r − f |p → 0 f.u. auf Xliefert der Satz von Lebesgue die behauptete Relation lim

r→∞∥f ′r − f∥p = 0.

q.e.d.

Satz 5.4: (Fischer-Riesz)Die Raume Lp(µ), p ∈ [1,+∞), sind vollstandig (bez. ∥ · ∥p), also Banachraume.

Beweis: Sei fll ⊂ Lp(µ) Cauchyfolge. Nach dem Lebesgueschen Auswahlsatz exi-stiert eine Teilfolge f ′rr und ein f ∈ Lp(µ) mit

limr→∞

∥f ′r − f∥p = 0 und f ′r → f f.u. auf X.

Wir wahlen ε > 0 beliebig und N(ε) ∈ N so, dass

∥f ′r − fl∥p ≤ ε fur alle r, l ≥ N(ε)

gilt. Fur r → ∞ liefert dann das Lemma von Fatou:∫X

|f − fl|p dµ =

∫X

limr→∞

|f ′r − fl|p dµ ≤ lim infr→∞

∫X

|f ′r − fl|p dµ ≤ εp

bzw. ∥f − fl∥p ≤ ε fur alle l ≥ N(ε), wie behauptet. q.e.d.

Definition 5.5: Eine messbare Funktion f : X → R gehort zur Klasse L∞(µ), fallseine Konstante c ∈ [0,+∞) existiert mit

|f(x)| ≤ c fur f.a. x ∈ X.

Die Zahl

∥f∥∞ = ∥f∥L∞(µ) := ess supx∈X

|f(x)| := infc ≥ 0 : |f | ≤ c f.u. auf X

heißt L∞-Norm oder wesentliches Supremum von f .

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5. DIE LP -RAUME 319

Bemerkungen:

1. Es gilt |f(x)| ≤ ∥f∥∞ fur f.a. x ∈ X.

2. Wir betrachten wieder die Aquivalenzrelation aus Definition 5.3 und identifizie-ren die Aquivalenzklassen mit ihren Reprasentanten. ∥·∥∞ ist dann tatsachlicheine Norm. Man zeigt leicht, dass L∞(µ) ein Banachraum ist.

3. Fur X ⊂ Rn, µ : M(µ) → [0,+∞] wie in § 1 und stetiges f stimmen ∥f∥∞und supX |f | uberein.

4. Die Holderungleichung bleibt offenbar fur p = 1, q = +∞ bzw. p = +∞, q = 1richtig (→ 1

p +1q = 1).

5. Gilt µ(X) < +∞, so haben wir L∞(µ) ⊂∩

1≤p<∞ Lp(µ). Eine genauere Aus-sage liefert der folgende

Satz 5.5: Sei µ(X) < +∞ und f ∈∩

1≤p<∞ Lp(µ) gewahlt. Dann gilt f ∈ L∞(µ)genau dann, wenn lim supp→+∞ ∥f∥p < +∞ erfullt ist. In diesem Fall haben wir

∥f∥∞ = limp→+∞

∥f∥p.

Beweis:

•”⇒“: Sei f ∈ L∞(µ). Dann ist fur beliebiges p ∈ [1,+∞) auch |f |p ∈ L∞(µ) richtig, und esgilt ∥|f |p∥∞ = ∥f∥p∞. Folglich haben wir

∥f∥p ≤(∥|f |p∥∞

∫X

) 1p

= ∥f∥∞ µ(X)1p .

Wegen µ(X) < +∞ erhalten wir somit

lim supp→+∞

∥f∥p ≤ ∥f∥∞ < +∞. (5.2)

•”⇐“: Sei nun lim supp→+∞ ∥f∥p < +∞. Golte f ∈ L∞(µ), so ware fur jedes c ∈ [0,+∞)die Menge Ac := x ∈ X : |f(x)| > c keine Nullmenge, d.h. µ(Ac) > 0. Wir konnen dannabschatzen

lim infp→+∞

∥f∥p ≥ lim infp→+∞

(∫Ac

|f |p dµ) 1

p

≥ lim infp→+∞

[cµ(Ac)

1p]= c, (5.3)

Widerspruch! Somit folgt f ∈ L∞(µ). Wie oben erhalten wir dann (5.2). Und (5.3) bleibt furalle c < ∥f∥∞ richtig. Fur c→ ∥f∥∞− erhalten wir schließlich insgesamt

∥f∥∞ ≥ lim supp→+∞

∥f∥p ≥ lim infp→+∞

∥f∥p ≥ ∥f∥∞,

also ∥f∥p → ∥f∥∞ fur p→ +∞. q.e.d.

Zum Abschluss des Paragraphen wollen wir noch einmal den Fall X = Ω fureine offene Menge Ω ⊂ Rn betrachten, und µ : M(µ) → [0,+∞] sei i.F. wieder einregulares Maß wie in § 1 konstruiert. Wir beginnen mit der

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320 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Definition 5.6:

(i) Sei V ein normierter Vektorraum mit der Norm ∥ · ∥ : V → [0,+∞). Wirsagen, eine Menge M ⊂ V liegt dicht in V, wenn zu jedem ε > 0 und jedemf ∈ V ein g ∈M existiert mit ∥f − g∥ < ε.

(ii) Ein normierter Vektorraum V heißt separabel, wenn eine abzahlbare MengeM = fkk in V dicht liegt.

Beispiel: Der Rn ist separabel, denn Qn liegt dicht in Rn und ist abzahlbar.

Satz 5.6: (Lp-Approximation)Fur beliebiges p ∈ [1,+∞) liegt C∞

c (Ω) dicht in Lp(µ).

Zum Beweis von Satz 5.6 benotigen wir noch den

Hilfssatz 5.2: Sei A ⊂ Ω messbar. Dann gibt es zu jedem ε > 0 eine Funktionφ ∈ C∞

c (Ω) mit ∥φ− χA∥p < ε.

Beweis: Sei ε > 0 fixiert. Da µ regular ist, gibt es eine offene Menge Θ ⊂ Ω mitA ⊂ Θ und µ(Θ \A) < ( ε2)

p bzw.

∥χΘ − χA∥p = µ(Θ \A)1p <

ε

2. (5.4)

Die Mengen Θk := x ∈ Θ : dist(x, ∂Θ) ≥ 1k und |x| ≤ k ⊂ Θ sind kompakt. Nach

Folgerung 4.1 aus Kap. 5 existieren also Funktionen ηk ∈ C∞c (Θ) mit ηk ≡ 1 auf Θk

und ηk(Θ) ⊂ [0, 1]. Wir haben folglich

0 ≤ ηk ≤ χΘ und limk→∞

ηk = χΘ in Ω. (5.5)

Da Θ messbar ist, gilt χΘ ∈ L1(µ). Ferner entnehmen wir (5.5)

|ηk − χΘ|p ≤ 2pχpΘ = 2pχΘ ∈ L1(µ) und limk→∞

|ηk − χΘ|p = 0 auf Ω.

Der Lebesguesche Konvergenzsatz liefert somit limk→∞ ∥ηk−χΘ∥p = 0. Wahlen wirnun φ := ηk mit ∥φ− χΘ∥p < ε

2 , so folgt die Behauptung aus (5.4).q.e.d.

Beweis von Satz 5.6: Sei f ∈ Lp(µ) gewahlt. Nach Satz 2.4 existiert eine Folge fkkeinfacher, messbarer Funktionen mit |fk| ≤ |f | und fk → f auf Ω. Somit folgt|f − fk|p ≤ 2p|f |p ∈ L1(µ), und der Lebesguesche Konvergenzsatz liefert

limk→∞

∥f − fk∥p = 0.

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5. DIE LP -RAUME 321

Da die fk endliche Linearkombinationen von charakteristischen Funktionen messba-rer Teilmengen von Ω sind, existieren nach Hilfssatz 5.2 Funktionen φk ∈ C∞

c (Ω)mit ∥φk−fk∥p ≤ 1

k bzw. limk→∞ ∥φk−fk∥p → 0. Folglich erhalten wir limk→∞ ∥f−φk∥p = 0, wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkung: Fur p = +∞ wird die Aussage von Satz 5.6 falsch! Anderenfalls wurdenach dem Weierstraßschen Konvergenzsatz (Satz 4.1 aus Kap. 2) jedes f ∈ L∞(µ)fast uberall stetig sein, was z.B. fur f = χQ falsch ist.

Als direkte Folgerung erhalten wir die folgende Verallgemeinerung der Transfor-mationsformel; hierbei sei µ = λn das n-dimensionale Lebesguemaß und wir schrei-ben Lp = Lp(λn).

Satz 5.7: (Transformationsformel fur Lebesgue-Integrale)Es seien Ω,Ω∗ ⊂ Rn offene Mengen und ϕ = ϕ(x) : Ω → Rn sei ein C1-Diffeomor-phismus von Ω auf Ω∗ = Φ(Ω). Ist dann f : Ω∗ → R ∈ L1(Ω∗), so gilt (f ϕ)|Jϕ| ∈L1(Ω) und ∫

Ω∗

f(y) dy =

∫Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx. (5.6)

Beweis: Nach Satz 5.6 existiert eine Folge fll ⊂ C∞c (Ω∗) mit ∥f − fl∥L1 → 0 (l → ∞). Nach dem

Lebesgueschen Auswahlsatz gibt es daher eine Teilfolge f ′kk ⊂ fll mit f ′

k → f (k → ∞) f.u. inΩ∗. Ist N∗ ⊂ Ω∗ die Ausnahmemenge, so ist auch N := ϕ−1(N∗) ⊂ Ω Nullmenge. Setzen wir

g′k := (f ′k ϕ)|Jϕ|, g := (f ϕ)|Jϕ| auf Ω,

so gilt daher g′k → g (k → ∞) f.u. in Ω.Aus der Transformationsformel fur stetige Funktionen, Satz 5.2 aus Kap. 5 (oder auch schon

aus dem Spezialfall, Satz 4.1 aus Kap. 5), entnehmen wir

∥g′k − g′l∥1 =

∫Ω

|f ′k ϕ− f ′

l ϕ| |Jϕ| dx =

∫Ω∗

|f ′k − f ′

l | dy = ∥f ′k − f ′

l∥1, k, l ∈ N.

Da f ′kk Cauchyfolge ist, gilt dies also auch fur g′kk. Fur den Grenzwert gilt somit g ∈ L1(Ω)

und ∥g − g′k∥1 → 0 (k → ∞). Insgesamt erhalten wir nun wiederum aus der Transformationsformelfur stetige Funktionen ∣∣∣∣ ∫

Ω∗

f(y) dy −∫Ω

f(ϕ(x))|Jϕ(x)| dx∣∣∣∣

≤∣∣∣∣ ∫Ω∗

[f(y)− f ′k(y)] dy

∣∣∣∣+ ∣∣∣∣ ∫Ω∗

[g(x)− g′k(x)] dx

∣∣∣∣≤ ∥f − f ′

k∥1 + ∥g − g′k∥1 → 0 (k → ∞),

also die behauptete Relation (5.6). q.e.d.

Wir wollen abschließend zeigen, dass der Raum Lp(µ) mit p ∈ [1,+∞) fur das regulare Maßµ : M(µ) → [0,+∞] aus § 1 separabel ist. Fur den Beweis benotigen wir den wichtigen

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322 KAPITEL 7. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 5.8 : (Weierstraßscher Approximationssatz)Es sei Ω ⊂ Rn offen und f ∈ C0

c (Ω) beliebig gewahlt. Dann existiert eine Folge von PolynomenPkk ⊂ C∞(Rn), so dass gilt Pk →→ f (k → ∞) auf Ω, d.h.

supΩ

|f − Pk| → 0 (k → ∞).

Beweis: Wir verweisen auf Sauvigny: Partielle Differentialgleichungen der Geometrie und der Phy-sik, Kap. I, § 1 oder Walter: Analysis 2, Abschnitt 7.24.

Satz 5.9 : (Separabilitat von Lp)Seien X = Ω ⊂ Rn offen und beschrankt und µ : M(µ) → [0,+∞] das regulare Maß aus § 1.Dann ist der Banachraum Lp(µ) fur p ∈ [1,+∞) separabel. Genauer liegt die abzahlbare Menge derPolynome mit rationalen Koeffizienten dicht in Lp(µ).

Beweis: Sei f ∈ Lp(µ), p ∈ [1,+∞), gewahlt und ε > 0 beliebig. Nach Satz 5.6 gibt es ein g ∈ C∞c (Ω)

mit ∥f−g∥p < ε. Zu g gibt es wiederum nach demWeierstraßschen Approximationssatz ein PolynomP mit supΩ |g − P | < ε. Wegen der Beschranktheit von Ω und der Dichtheit der rationalen in denreellen Zahlen gibt es weiter ein Polynom Q mit rationalen Koeffizienten, so dass supΩ |P −Q| < εerfullt ist. Folglich haben wir

∥g −Q∥p =

(∫Ω

|g −Q|p dµ) 1

p

< 2εµ(Ω)1p

und insgesamt

∥f −Q∥p < ε[1 + 2µ(Ω)

1p].

Da ε > 0 beliebig war, folgt die Behauptung. q.e.d.

Bemerkung: Durch Ausschopfung sieht man, dass Lp(µ), p ∈ [1,∞), auch fur unbeschranktes Ω

separabel ist (→ Ubungsaufgabe).

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Kapitel 8

GewohnlicheDifferentialgleichungen

Wir betrachten in diesem Kapitel Gleichungen der Form

F (x, y(x), y′(x), . . . , y(N)(x)) = 0, x ∈ I, (0.1)

wobei I ⊂ R ein Intervall, F : I × R(N+1)d → Rn eine gegebene stetige Funktionund y : I → Rd ∈ CN (I,Rd) die gesuchte Losung der Gleichung (0.1) ist. DieGleichung (0.1) selbst heißt (Gewohnliche) Differentialgleichung (kurz DGL) derOrdnung N ∈ N; fur n > 1 spricht man auch von einem Differentialgleichungssystem.Zum Beispiel ist

y′(x) = f(x, y(x)), x ∈ I,

mit f ∈ C0(I×Rd,Rd) eine DGL 1.Ordnung bzw. ein System aus d ∈ NGleichungen.Gewohnliche und allgemeiner Partielle Differentialgleichungen – das sind Glei-

chungen, die neben der gesuchten Losung y : Ω → Rd, Ω ⊂ Rm, auch partielle Ablei-tungen von y enthalten – treten z.B. bei der Beschreibung der meisten physikalischenVorgange auf. Einige wenige Gleichungen lassen sich explizit mit elementaren Me-thoden losen, i.A. steht eine (mehr- oder weniger gut entwickelte) Existenztheoriefur Losungen zur Verfugung.

Wir werden vornehmlich Gleichungen und Systeme 1.Ordnung betrachten undGleichungen n-ter Ordnung auf diese zuruckfuhren.

1 Elementare Losungsmethoden

(A) Gleichungen mit getrennten Variablen

Seien f : I → R, g : J → R gegeben und stetig, I, J ⊂ R Intervalle. Wir betrachtendie Gleichung

y′(x) = f(x)g(y(x)

), x ∈ I, (1.1)

323

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324 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

und suchen nach einer Losung y ∈ C1(I) mit y(I) ⊂ J . (1.1) heißt Gleichung mitgetrennten Variablen.

Satz 1.1: Seien f, g wie oben und (x0, y0) ∈ I × J gewahlt. Zusatzlich sei g = 0 aufJ erfullt. Wir setzen dann

F (x) :=

x∫x0

f(t) dt, x ∈ I; G(y) :=

y∫y0

dt

g(t), y ∈ J.

Falls nun ein Intervall I ′ ⊂ I mit x0 ∈ I ′ und F (I ′) ⊂ G(J) existiert, so gibt esgenau eine Losung y : I ′ → R von (1.1) mit der Eigenschaft y(x0) = y0. Die Losungy genugt dann der Beziehung

G(y(x)) = F (x) fur alle x ∈ I ′. (1.2)

Bemerkungen:

1. y0 heißt Anfangswert von y in x0 und das Problem

y′ = f(x)g(y), x ∈ I, y(x0) = y0 (1.3)

ist ein Anfangswertproblem (kurz AWP).

2. Etwas nachlassig schreibt man (1.1) durch”Multiplikation“ mit dx

g(y) um in

dy

g(y)= f(x) dx (1.4)

und fasst x, y als unabhangig von einander auf (→ Gleichung mit”getrenn-

ten Variablen“). Zur Bestimmung einer Losung von (1.1) hat man dann zuintegrieren ∫

dy

g(y)=

∫f(x) dx.

Satz 1.1 ist die prazise Formulierung dieser Vorgehensweise. Die Verwandt-schaft von (1.4) zu den Differentialformen ist ubrigens nicht zufallig, wie wirim nachsten Paragraphen sehen werden.

Beweis von Satz 1.1: Wegen G′ = 1g = 0 auf J besitzt G eine Umkehrabbildung

H : G(J) → R. Setzen wir

y(x) := H(F (x)), x ∈ I ′,

so genugt y offenbar der Beziehung (1.2). Daraus folgt dann

f = F ′ = G′(y)y′ =1

g(y)y′ auf I ′

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1. ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN 325

bzw. die DGL (1.1). Schließlich haben wir noch

y(x0) = H(F (x0)) = H(0)G(y0)=0

= y0,

d.h. y lost das Anfangswertproblem (1.3). Da jede weitere Losung y ∈ C1(I ′) eben-

falls (1.2) erfullt – integriere dazu y′

g(y) = f –, liefert die Umkehrbarkeit von G sofortdie Eindeutigkeit der Losung.

q.e.d.

Beispiel: Die Gleichung y′ = f(x), x ∈ I, ist von der Form (1.1) mit g ≡ 1. Zubeliebigem y0 ∈ R haben wir also G(y) = y − y0, also aus (1.2)

y(x) =

x∫x0

f(t) dt+ y0, x ∈ I.

Zwei Losungen von y′ = f unterscheiden sich also nur durch eine Konstante c ∈ R.Man nennt

∫ xx0f dt+ c, x0 ∈ I beliebig, die allgemeine Losung von y′ = f .

(B) Lineare Differentialgleichungen 1.Ordnung

Sind a, b : I → R stetig, so betrachten wir die Gleichung

y′ = a(x)y + b(x), x ∈ I. (1.5)

(1.5) heißt linear, da y und ihre Ableitungen linear auftreten. Fur b ≡ 0 erhaltenwir die homogene (lineare) Gleichung

y′ = a(x)y, x ∈ I. (1.6)

Im Gegensatz dazu heißt (1.5) mit b ≡ 0 inhomogen.

Satz 1.2: Sei x0 ∈ I fixiert. Zu jedem c ∈ R hat dann die homogene Gleichung(1.6) die durch die Forderung y(x0) = c eindeutig bestimmte Losung

y(x) = c exp

( x∫x0

a(t) dt

), x ∈ I. (1.7)

Beweis: Offenbar lost y aus (1.7) die Gleichung (1.6) und erfullt y(x0) = c. Warez ∈ C1(I) eine weitere Losung, so setzen wir

u(x) := z(x) exp

(−

x∫x0

a(t) dt

)

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326 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

und erhalten

u′(x) = z′(x) exp

(−

x∫x0

a(t) dt

)− z(x)a(x) exp

(−

x∫x0

a(t) dt

)= 0 auf I,

d.h. u ≡ c bzw. z(x) = c exp(∫ xx0a(t) dt). Aus z(x0) = c folgt schließlich c = c

bzw. z = y, d.h. die Losung (1.7) ist eindeutig bestimmt.q.e.d.

Die inhomogene Gleichung (1.5) losen wir nach Lagrange durch”Variation der

Konstanten“: Die Konstante c ∈ R in (1.7) wird als Funktion C = C(x) angesetztund geeignet bestimmt:

Satz 1.3: Das Anfangswertproblem

y′ = a(x)y + b(x), x ∈ I, y(x0) = c,

besitzt fur jedes x0 ∈ I und jedes c ∈ R die eindeutige Losung

y(x) = φ(x)

(c+

x∫x0

b(t)

φ(t)dt

),

wobei wir noch φ(x) := exp( x∫x0

a(t) dt)gesetzt haben.

Beweis: Wie angedeutet machen wir den Ansatz y(x) = C(x)φ(x) mit einer zubestimmenden C1-Funktion C(x). Es folgt dann aus Satz 1.2:

0!= y′ − ay − b = C ′φ+ Cφ′ − aCφ− b = C ′φ− b,

also C ′ = bφ auf I. Ferner muss gelten C(x0) = y(x0)

!= c. Nach obigem Beispiel

folgt somit

C(x) =

x∫x0

b(t)

φ(t)dt+ c

und daraus

y(x) = φ(x)

(c+

x∫x0

b(t)

φ(t)dt

).

Schließlich ist die Losung auch eindeutig, da fur jede weitere Losung z ∈ C1(I) die

Funktion D(x) := z(x)φ(x) ebenfalls das Problem D′ = b

φ auf I, D(x0) = c losen muss.q.e.d.

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1. ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN 327

Bemerkung: Wir lesen aus Satz 1.3 noch ab: Kennt man eine (nichttriviale) Losungφ der homogenen Gleichung (1.6) und eine Losung ψ der inhomogenen Gleichung(1.5), so ergibt sich die Gesamtheit aller Losungen von (1.5) als y = cφ + ψ mitbeliebigem c ∈ R. Diese Struktur ist typisch fur lineare Gleichungen (vgl. obigesBeispiel und § 5, § 6 unten), wird aber fur nichtlineare Gleichungen i.A. falsch!

(C) Die Differentialgleichung y′ = f( yx)

Fur stetiges f : J → R betrachten wir die sogenannte homogene (nichtlineare)Differentialgleichung

y′ = f(yx

), x ∈ I ⊂ R \ 0. (1.8)

Mit dem folgenden Satz fuhren wir die Losung von (1.8) auf den Fall (A) getrennterVariablen zuruck:

Satz 1.4: Seien x0 ∈ I ⊂ R \ 0 und y0 ∈ R mit y0x0

∈ J gewahlt. Eine Funktion

y ∈ C1(I) lost genau dann die Gleichung (1.8) mit der Anfangsbedingung y(x0) = y0,

wenn die Funktion z(x) := y(x)x ∈ C1(I) dem Anfangswertproblem

z′ =1

x

[f(z)− z

]auf I, z(x0) =

y0x0

(1.9)

genugt.

Beweis: Ist y Losung von (1.8) mit y(x0) = y0, so folgt

z′ = − y

x2+y′

x

(1.8)=

1

x

[(f(z)− z

]auf I, z(x0) =

y(x0)

x0=y0x0,

also (1.9). Lost umgekehrt z das AWP (1.9), so folgt fur y(x) = xz(x):

y′ = z + xz′ = f(yx

)auf I, y(x0) = x0z(x0) = y0.

Damit ist alles gezeigt. q.e.d.

Beispiel: Wir betrachten die Gleichung y′ = 1+ yx+(yx

)2, x ∈ I ⊂ R \ 0. Satz 1.4 entnehmen wir

fur z = yxdie Gleichung

z′ =1

x(1 + z2) bzw.

dz

1 + z2=dx

x.

Integration liefert bei der Anfangsbedingung z(x0) =y0x0

:

arctan z − arctany0x0

= lnx

x0

bzw. z(x) = tan(ln∣∣ xx0

∣∣+ α)mit α := arctan y0

x0. Wiederum nach Satz 1.4 erhalten wir als Losung

der ursprunglichen DGL

y(x) = x tan(ln∣∣ xx0

∣∣+ α), x ∈ I ′ ⊂ I,

mit einer hinreichend kleinen Umgebung I ′ von x0 = 0.

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328 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

2 Exakte Differentialgleichungen

In § 1 haben wir eine Gleichung mit getrennten Variablen formal in eine Gleichungfur Linearformen, also Differentialformen vom Grad 1 umgeschrieben. Dies soll jetztprazisiert werden: Dazu sei Ω ⊂ R2 eine offene Menge und

ω = a dx+ b dy auf Ω

sei eine Linearform mit a, b ∈ C0(Ω), d.h. ω ∈ C0(Ω,Alt1). Ist Φ(t) = (x(t), y(t)) :I → R2, I ⊂ R Intervall, eine C1-Abbildung mit Φ(I) ⊂ Ω, so haben wir fur denPullback von ω unter Φ (vgl. Kap. 6, § 1):

Φ∗ω =[a(Φ(t))x(t) + b(Φ(t))y(t)

]dt, t ∈ I.

Es gilt also Φ∗ω = 0 auf I genau dann, wenn Φ = (x, y) die DGL

a(Φ(t))x(t) + b(Φ(t))y(t) = 0, t ∈ I, (2.1)

lost. Speziell fur x ≡ t erhalten wir zur Bestimmung von y = y(x), x ∈ I, die DGL

a(x, y) + b(x, y)y′ = 0 auf I (2.2)

Definition 2.1: Unter einer Losung der Differentialgleichung in Differentialform

a(x, y) dx+ b(x, y) dy = 0 in Ω (2.3)

verstehen wir eine C1-Kurve Φ = (x, y) ∈ C1(I,R2) mit Φ(I) ⊂ Ω, fur die Φ∗ω = 0auf I bzw. (2.1) gilt.

Wann konnen wir nun die DGL (2.3) im Sinne von Definition 2.1 losen?

Definition 2.2: Die Gleichung (2.3) heißt exakt, wenn eine Funktion F ∈ C1(Ω)existiert mit

∇F = (a, b) auf Ω.

Die Funktion F heißt dann Stammfunktion von (2.3).

Satz 2.1: Fur a, b ∈ C0(Ω) sei die zugehorige DGL in Differentialform (2.3) exaktmit der Stammfunktion F ∈ C1(Ω). Dann ist eine Kurve Φ = (x, y) ∈ C1(I,R2) mitΦ(I) ⊂ Ω genau dann Losung von (2.3), wenn gilt

F (x(t), y(t)) ≡ const, t ∈ I.

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2. EXAKTE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 329

Beweis: Offensichtlich, denn es gilt F Φ ≡ const auf dem Intervall I genau dann,wenn

0 = (F Φ)′(t) = Fx(Φ(t))x(t) + Fy(Φ(t))y(t) = a(Φ(t))x(t) + b(Φ(t))y(t) auf I

gilt. q.e.d.

Bemerkung: Fur exakte Differentialgleichungen genugt es also, Kurven Φ zu be-stimmen, fur die F Φ konstant ist. Ein Kriterium fur die Exaktheit einer DGLentnehmen wir nun dem folgenden

Satz 2.2: Sei Ω ⊂ R2 ein sternformiges Gebiet (vgl. Kap. 6, Satz 1.2) und a, b ∈C1(Ω) seien gegeben. Dann ist die DGL (2.3) genau dann exakt, wenn die Integra-bilitatsbedingung

ay = bx in Ω

erfullt ist.

Beweis: Wir betrachten die Linearform ω = a dx + b dy ∈ C1(Ω,Alt1). Nach demPoincareschen Lemma, Satz 1.2 aus Kap. 6, ist ω genau dann exakt, wenn ω geschlos-sen ist. D.h. es existiert eine Funktion F ∈ C2(Ω) mit dF = ω bzw. ∇F = (a, b) inΩ genau dann, wenn

dω = (−ay + bx) dx ∧ dy = 0 bzw. ay = bx in Ω

gilt. Damit ist der Satz bewiesen. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Ist Ω sternformig mit Sternpunkt (x0, y0) ∈ Ω, so erhalt man die Stammfunk-tion F von (2.3) wie folgt (siehe Ubungsaufgabe 4 von Blatt 2):

F (x, y) = (x− x0)

1∫0

a(γ(t)) dt+ (y − y0)

1∫0

b(γ(t)) dt,

wobei wir γ(t) := (tx+ (1− t)x0, ty + (1− t)y0) gesetzt haben.

2. Man kann das Integral in Bemerkung 1 als Wegintegral uber den Weg γ : [0, 1] → R2 mit

γ([0, 1]) ⊂ Ω interpretieren. Da jedes sternformige Gebiet einfach zusammenhangend ist, ist

der Wert von F im Punkt (x, y) vom speziellen Weg von (x0, y0) nach (x, y) in Ω unabhangig.

3. Ist Ω = I × J ein offenes Rechteck und (x0, y0) ∈ Ω beliebig, so kann F fureine exakte DGL auch folgendermaßen bestimmt werden: Aus Fx = a in Ωfolgt durch Integration

F (x, y) =

x∫x0

a(t, y) dt+ ψ(y) (2.4)

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330 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

mit einer Funktion ψ : J → R ∈ C1(J). Letztere lasst sich dann durch Diffe-renzieren von (2.4) nach y und aus der Bedingung Fy = b bestimmen:

ψ′(y) = b(x, y)−x∫

x0

ay(t, y) dt.

Hierbei konnen die Rollen von x und y naturlich auch vertauscht werden.

4. Ist Ω ⊂ R2 eine beliebige offene Menge, so lasst sich um jeden Punkt (x0, y0) ∈Ω ein offenes Rechteck finden mit (x0, y0) ∈ I × J ⊂ Ω. Gelten nun in Ω dieIntegrabilitatsbedingungen ay = bx, so ist nach Satz 2.2 die DGL (2.3) lokalexakt, namlich in I×J . Aus Bemerkung 3 erhalten wir dann die StammfunktionF in I × J .

Ist eine Gleichung der Form (2.3) nicht exakt, so kann man diese (zumindestlokal) durch Multiplikation mit einem geeigneten Faktor in eine exakte Gleichunguberfuhren.

Definition 2.3: Eine Funktion M = M(x, y) ∈ C1(Ω), Ω ⊂ R2 offen, heißt inte-grierender Faktor der DGL (2.3) mit a, b ∈ C1(Ω), falls M = 0 in Ω gilt und dieGleichung

M(x, y)a(x, y) dx+M(x, y)b(x, y) dy = 0 in Ω (2.5)

exakt ist.

Nach Satz 2.2 ist fur ein sternformiges Ω ⊂ R2 die Gleichung (2.5) genau dannexakt, wenn M Losung der folgenden partiellen Differentialgleichung ist:

0 = (Ma)y − (Mb)x =Mya−Mxb+M(ay − bx) in Ω. (2.6)

Man kann zeigen, dass zu jedem Punkt (x0, y0) ∈ Ω eine Umgebung U = U(x0, y0) ⊂Ω und ein integrierender Faktor M ∈ C1(U) existiert, d.h. lokal lasst sich jede DGLder Form (2.3) losen. Wir verweisen auf

F. Sauvigny: Analysis. Springer Spektrum, 2013 (Kap.VI, § 6, Satz 3).Wir wollen einen Spezialfall betrachten:

Satz 2.3: Sei Ω ⊂ R2 sternformig und a, b ∈ C1(Ω) mit b > 0 auf Ω seien gegeben.Weiter sei M = M(x) ∈ C1(Ω) ein von y unabhangiger integrierender Faktor der

DGL (2.3) mit M > 0 auf Ω. Dann ist auch die Funktionay−bxb unabhangig von y

und M hat notwendig die Form

M(x) = c exp

(∫ay − bx

bdx

), c ∈ R Konstante.

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3. DER BANACHSCHE FIXPUNKTSATZ 331

Beweis: Aus (2.6) und b,M > 0 lesen wir ab:

[lnM(x)]x =Mx

M=ay − bx

bauf Ω,

also lnM =∫ ay−bx

b dx+ c bzw. M = c exp(∫ ay−bx

b dx) mit c := ec, wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkung: Entsprechend bestimmt man eine Losung M = M(y). Auch spezielleAnsatze anderer Form wie M =M(x+ y) oder M =M(x · y) konnen integrierendeFaktoren liefern.

3 Der Banachsche Fixpunktsatz

Es seien B und E beliebige Banachraume (uber R) mit den Normen ∥·∥B bzw. ∥·∥E ,vgl. Kapitel 7, § 5. Eine Abbildung T : D → E, D ⊂ B, nennt man dann Operator(fur E = R auch Funktional).

Definition 3.1:

(i) Ein Operator T : D → E, D ⊂ B, heißt stetig in f0 ∈ D, falls ∥T (fk) −T (f0)∥E → 0 fur jede Folge fkk ⊂ D mit fk → f0 (k → ∞) in B (d.h. ∥fk −f0∥B → 0 (k → ∞)).

(ii) T : D → E heißt kontrahierend (auf D) falls ein Θ ∈ (0, 1) existiert mit

∥T (f)− T (g)∥E ≤ Θ∥f − g∥B fur alle f, g ∈ D. (3.1)

(iii) Fur E = B nennen wir T : D → B selbstabbildend, wenn T (D) ⊂ D gilt.

Bemerkung: Offenbar gilt: Ist T auf D kontrahierend, so ist T auch stetig. Fernerist fur D = B jeder Operator T : B → B trivialerweise selbstabbildend.

Wir werden im nachsten Paragraphen das Anfangswertproblem fur die Gleichungy′ = f(x, y) unter einer Zusatzvoraussetzung an f auf ein

”Fixpunktproblem“ fur

einen geeigneten Operator zuruckfuhren. Dies ist auch fur viele andere Existenzfra-gen der Analysis moglich. Zur Losung des Fixpunktproblems haben wir den

Satz 3.1: (Banachscher Fixpunktsatz)Es sei B ein Banachraum mit der Norm ∥ · ∥B und D ⊂ B eine nichtleere, ab-geschlossene Teilmenge, d.h. fur beliebige konvergente Folgen fkk ⊂ D gilt f :=limk→∞ fk ∈ D. Ist dann T : D → B kontrahierend und selbstabbildend, so existiertgenau ein Fixpunkt f ∈ D von T , d.h. es gilt T (f) = f .

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332 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beweis: Wir wahlen f0 ∈ D beliebig und erklaren sukzessive

f1 := T (f0), f2 := D(f1), . . . , fk+1 := T (fk), . . .

Dann gilt fkk ⊂ D und aus der Kontraktionseigenschaft folgt

∥fk+1−fk∥B = ∥T (fk)−T (fk−1)∥B ≤ Θ∥fk−fk−1∥B ≤ . . . ≤ Θk∥f1−f0∥B, k ∈ N.

Sind k, l ∈ N beliebig und o.B.d.A. l > k, so ergibt sich also

∥fl − fk∥B ≤ ∥fl − fl−1∥B + ∥fl−1 − fl−2∥B + . . .+ ∥fk+1 − fk∥B

≤(Θl−1 +Θl−2 + . . .+Θk

)∥f1 − f0∥B

≤ Θk

( ∞∑p=0

Θp

)∥f1 − f0∥B =

Θk

1−Θ∥f1 − f0∥B.

Also ist fkk eine Cauchyfolge. Da B vollstandig und D ⊂ B abgeschlossen ist,existiert der Grenzwert f = limk→∞ fk ∈ D. Aus der Stetigkeit von T folgt nochT (fk) → T (f) (k → ∞) in B und insgesamt

0 ≤ ∥f − T (f)∥B ≤ ∥f − fk+1∥B + ∥T (fk)− T (f)∥B → 0 (k → ∞),

also T (f) = f , d.h. f ist Fixpunkt von T in D. Gabe es schließlich einen weiterenFixpunkt f ∈ D von T , so hatten wir

∥f − f∥B = ∥T (f)− T (f)∥B(3.1)

≤ Θ∥f − f∥B bzw. (1−Θ)∥f − f∥B ≤ 0.

Wegen Θ ∈ (0, 1) folgt ∥f − f∥B = 0 bzw. f = f . Somit ist f auch eindeutigbestimmt.

q.e.d.

Wir betrachten nun Abbildungen f = f(λ) : Q → B, wobei Q ⊂ Rm ein Quader sei. Diesekonnen wir als Operatoren von Q in den Banachraum B auffassen. Und im Sinne von Definition 3.1ist die Abbildung λ 7→ f(λ) stetig in λ0 ∈ Q, wenn mit D ∋ λk → λ0 (k → ∞) auch ∥f(λk) −f(λ0)∥B → 0 (k → ∞) gilt. Der nachste Satz wird uns in § 4 die

”Stabilitat“ der Losung des

Anfangswertproblems y′ = f(x, y), y(x0) = y0 unter Storungen der rechten Seite f und/oder derAnfangsdaten y0 liefern.

Satz 3.2 : (Stetige Abhangigkeit)Sei B ein Banachraum, D ⊂ B abgeschlossen und nichtleer, und Q ⊂ Rm sei ein Quader. Weitersei T = T (f, λ) : D × Q → B fur jedes λ ∈ Q ein selbstabbildender Operator, fur den die Kon-traktionsbedingung (3.1) mit festem Θ ∈ (0, 1) gelte, und f(λ) bezeichne den zugehorigen Fixpunkt,d.h.

f(λ) = T (f(λ), λ), λ ∈ Q.

Ist dann die Abbildung λ 7→ T (f, λ) fur jedes feste f ∈ D stetig in λ0 ∈ Q, so ist auch die Abbildungλ 7→ f(λ) stetig in λ0 ∈ Q.

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4. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT BEI SYSTEMEN 1.ORDNUNG 333

Beweis: Fur die nach Satz 3.1 existenten und eindeutig bestimmten Fixpunkte f(λ), λ ∈ Q, gilt

∥f(λ)− f(λ0)∥B ≤ ∥T (f(λ), λ)− T (f(λ0), λ)∥B + ∥T (f(λ0), λ)− T (f(λ0), λ0)∥B(3.1)

≤ Θ∥f(λ)− f(λ0)∥B + ∥T (f(λ0), λ)− T (f(λ0), λ0)∥B

bzw.

∥f(λ)− f(λ0)∥B ≤ 1

1−Θ∥T (f(λ0), λ)− T (f(λ0), λ0)∥B .

Da nun λ 7→ T (f(λ0), λ) stetig in λ0 ist, folgt also auch ∥f(λk) − f(λ0)∥B → 0 fur λk → λ0,d.h. f(λ) ist stetig in λ0.

q.e.d.

4 Existenz und Eindeutigkeit bei Systemen 1.Ordnung

Satz 4.1: Sei I ⊂ R ein Intervall. Fur f ∈ C0(I × Rd,Rd) gelte die folgende Lip-schitzbedingung bez. y:

|f(x, y)− f(x, y)| ≤ L|y − y| fur alle y, y ∈ Rd, x ∈ I (4.1)

mit der Lipschitzkonstante L ∈ [0,+∞). Dann besitzt das Anfangswertproblem

y′ = f(x, y), x ∈ I, y(x0) = y0 (4.2)

zu jedem (x0, y0) ∈ I × Rd genau eine Losung y ∈ C1(I,Rd).

Beweis:

1. Sei I ′ ⊂ I ein kompaktes Intervall mit x0 ∈ I ′. Wir zeigen zunachst die Aqui-valenz der folgenden Aussagen:

(i) y ∈ C1(I ′,Rd) lost das AWP (4.2).

(ii) y ∈ C0(I ′,Rd) lost die Integralgleichung

y(x) = y0 +

x∫x0

f(t, y(t)) dt, x ∈ I ′. (4.3)

In der Tat folgt”(i)⇒(ii)“ sofort durch Integration von (4.2). Und

”(i)⇐(ii)“

ergibt sich aus der Stetigkeit der Abbildung t 7→ f(t, y(t)), denn nach Satz 5.1aus Kap. 3 ist die rechte Seite von (4.3), und damit auch die linke Seite, Stamm-funktion von f(·, y(·)).

2. Wir erklaren nun den Integraloperator

T = T (y) : C0(I ′,Rd) → C0(I ′,Rd), y 7→ y0 +

x∫x0

f(t, y(t)) dt

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334 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

und statten C0(I ′,Rd) mit der folgenden Norm aus:

∥y∥L := supx∈I′

(e−2Lx|y(x)|

), y ∈ C0(I ′,Rd). (4.4)

Man uberlegt sich analog zur Supremumsnorm sofort, dass ∥ · ∥L eine Normist und C0(I ′,Rd) bez. ∥ · ∥L vollstandig ist (∥ · ∥L heißt gewichtete Norm mitder Gewichtsfunktion g(x) := e−2Lx). Weiter ist T : C0(I ′,Rd) → C0(I ′,Rd)trivialerweise selbstabbildend. Schließlich schatzen wir ab

|T (y)(x)− T (y)(x)| ≤x∫

x0

∣∣f(t, y(t))− f(t, y(t))| dt

(4.1)

≤ L

x∫x0

(|y(t)− y(t)|e−2Lt

)e2Lt dt

≤ L∥y − y∥L

x∫x0

e2Lt dt ≤ 1

2∥y − y∥Le2Lx, x ∈ I ′,

bzw.

∥T (y)− T (y)∥L ≤ 1

2∥y − y∥L fur alle y, y ∈ C0(I ′,Rd).

Also ist T auch kontrahierend auf C0(I ′,Rd) bez. ∥·∥L. Nach dem BanachschenFixpunktsatz existiert somit ein eindeutiges y ∈ C0(I ′,Rd) mit y = T (y),d.h. y lost (4.3) und ist somit nach Teil 1 auch die eindeutige Losung desAnfangswertproblems (4.2) auf I ′.

3. Schließlich wahlen wir eine kompakte Ausschopfung Ikk von I, d.h. x0 ∈ I1 ⊂I2 ⊂ . . . sind kompakte Intervalle mit

∪∞k=1 Ik = I. Zu jedem Ik konstruieren

wir die eindeutige Losung yk von (4.2) auf Ik wie in Teil 2 des Beweises. Dannist die Folge yk(x)k in jedem Punkt x ∈ I fur hinreichend großes k erklartund wegen der Eindeutigkeit auch konstant. Also ist y := limk→∞ yk auf Iwohl definiert, es gilt y ∈ C1(I,Rd) und y lost (4.2) auf I.

q.e.d.

Bemerkung: Ist f nur stetig auf [a, b] × R und zusatzlich beschrankt, so bleibt dieExistenzaussage aus Satz 4.1 richtig. Dies ist der sogenannte Peanosche Existenz-satz ; siehe z.B. Heuser: Analysis 2, Nr. 118, 119 oder Sauvigny: Analysis, Kap. VI,§ 4. Jedoch wird die Eindeutigkeitsaussage dann falsch, wie etwa das Beispiel desAnfangswertproblems

y′ = n|y|1−1n auf R, y(0) = 0

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4. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT BEI SYSTEMEN 1.ORDNUNG 335

zeigt (d = 1). Dieses hat namlich fur n = 2, 3, . . . die beiden Losungen

y1(x) ≡ 0, y2(x) =

xn, x ≥ 0

0, x < 0.

Als Anwendung von Satz 4.1 betrachten wir die Gleichung n-ter Ordnung

y(n) = g(x, y, y′, . . . , y(n−1)

), x ∈ I, (4.5)

mit den zugehorigen Anfangsbedingungen

y(x0) = y0, y′(x0) = y1, . . . , y

(n−1)(x0) = yn−1. (4.6)

Hierbei sei y : I → R ∈ Cn(I) gesucht, g = g(x, z) : I × Rn → R ∈ C0(I × Rn)erfulle eine Lipschitzbedingung (4.1) bez. z ∈ Rn und y0, . . . , yn−1 ∈ R seien beliebiggewahlte Anfangswerte an der Stelle x0 ∈ I.

Satz 4.2: Unter den angegebenen Voraussetzungen hat das AWP (4.5), (4.6) zujedem x0 ∈ I und jeden y0, . . . , yn−1 ∈ R genau eine Losung y ∈ Cn(I).

Beweis: Wir setzen z∗ := (y0, . . . , yn−1) und

f = f(x, z) :=(z2, z3, . . . , zn, g(x, z1, . . . , zn)

)∈ C0(I × Rn,Rn).

Dann genugt f = f(x, z) bez. z offenbar einer Lipschitzbedingung (4.1). Außerdemlost eine Funktion y ∈ Cn(I) genau dann das Anfangswertproblem (4.5), (4.6), wennz := (y, y′, . . . , y(n−1)) ∈ C1(I,Rn) dem Anfangswertproblem

z′ = f(x, z) auf I, z(x0) = z∗

genugt. Somit liefert Satz 4.1 die Behauptung. q.e.d.

Abschließend wollen wir wie angekundigt untersuchen, wie sich die Losung des Anfangswert-problems (4.2) bei Storungen der rechten Seite f und/oder der Anfangsbedingung verhalt:

Satz 4.3 : (Stabilitatssatz)Sei Q ⊂ Rm ein Quader, f = f(x, y, λ) ∈ C0(I ×Rd ×Q,Rd) erfulle eine Lipschitzbedingung bez. ymit fester Lipschitzkonstante L > 0 und y0 = y0(λ) ∈ C0(Q) sei gegeben. Dann hat zu festem x0 ∈ Idas Anfangswertproblem

y′ = f(x, y, λ) auf I, y(x0) = y0(λ) (4.7)

fur jedes λ ∈ Q genau eine Losung y = y(x, λ) und die Abbildung y = y(x, λ) : I ×Q → Rd gehortzur Klasse C0(I × Q,Rd), d.h. die Losung y = y(x, λ) von (4.7) hangt insbesondere stetig vomParameter λ ∈ Q ab.

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336 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beweis: Die Existenz der eindeutigen Losungen y = y(·, λ) ∈ C1(I) von (4.7) fur jedes λ ∈ Qentnehmen wir Satz 4.1. Wir wollen nun y = y(x, λ) ∈ C0(I×Q,Rd) zeigen. Sei dazu (x0, λ0) ∈ I×Qbeliebig fixiert und I ′ ⊂ I kompakt mit x0 ∈ int I ′ gewahlt. Der Integraloperator

T = T (y, λ) := y0(λ) +

x∫x0

f(t, y, λ) dt, y ∈ C0(I ′,Rd),

ist dann wie in Teil 2 des Beweises von Satz 4.1 fur jedes feste λ ∈ Q kontrahierend auf C0(I ′,Rd)bez. der Norm ∥ · ∥L aus (4.4) und mit fester Kontraktionskonstante Θ = 1

2. Und y(·, λ) lost das

Fixpunktproblem

y(·, λ) = T (y(·, λ), λ), λ ∈ Q.

Ferner ist fur jedes feste y ∈ C0(I ′,Rd) die Abbildung λ 7→ T (y, λ) stetig bez. ∥ · ∥L, d.h.

∥T (y, λ)− T (y, λ0)∥L → 0 (λ→ λ0) fur alle y ∈ C0(I ′,Rd).

Satz 3.2 liefert somit ∥y(·, λ)− y(·, λ0)∥L → 0 (λ→ λ0) und folglich auch

supx∈I

|y(x, λ)− y(x, λ0)| → 0 (λ→ λ0).

Zu beliebigem ε > 0 wahlen wir δ = δ(ε, x0, λ0) > 0 so, dass

supI′

|y(·, λ)− y(·, λ0)| <ε

2fur λ ∈ Q : |λ− λ0| < δ

und

|y(x, λ0)− y(x0, λ0)| <ε

2fur x ∈ I : |x− x0| < δ

gelten. Dann folgt

|y(x, λ)− y(x0, λ0)| ≤ |y(x, λ)− y(x, λ0)|+ |y(x, λ0)− y(x0, λ0)| < ε

fur alle (x, λ) ∈ I ×Q mit |(x, λ)− (x0, λ0)| < δ, also y ∈ C0(I ×Q,Rd). q.e.d.

5 Lineare Systeme 1.Ordnung

Wie immer sei I ⊂ R ein Intervall. Wir schreiben Kd×d := MatK(d, d) fur die Mengeder quadratischen Matrizen mit K-wertigen Eintragen (K ist Korper). Zu gegebenenA ∈ C0(I,Rd×d) und b ∈ C0(I,Rd) untersuchen wir nun das inhomogene lineareSystem

y′ = A(x)y + b(x), x ∈ I, (5.1)

und das zugehorige homogene lineare System

y′ = A(x)y, x ∈ I. (5.2)

Satz 5.1: Sei (x0, y0) ∈ I × Rd beliebig gewahlt. Dann hat das System (5.1) zu derAnfangsbedingung y(x0) = y0 genau eine Losung y ∈ C1(I,Rd).

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5. LINEARE SYSTEME 1.ORDNUNG 337

Beweis: Mit den Argumenten aus Teil 3 des Beweises von Satz 4.1 konnen wir uns aufden Fall eines kompakten Intervalls I zuruckziehen. Wir schreiben A = (aij)i,j=1,...,d,y = (y1, . . . , yd)

T und setzen

|A(x)| :=

√√√√ d∑i,j=1

aij(x)2, x ∈ I.

Mit L := supx∈I |A(x)| < +∞ folgt dann fur die rechte Seite f(x, y) := A(x)y +b(x) ∈ C0(I × Rd,Rd) von (5.1):

|f(x, y)− f(x, y)| = |A(x)(y − y)| =

√√√√ d∑i=1

[ d∑j=1

aij(yj − yj)]2

√√√√ d∑i=1

[ d∑j=1

a2ij

][ d∑j=1

(yj − yj)2]

= |A(x)| |y − y|

≤ L|y − y| fur alle x ∈ I, y, y ∈ Rd.

Also erfullt f eine Lipschitzbedingung bez. y und nach Satz 4.1 besitzt (5.1) zu jedem(x0, y0) ∈ I × Rd genau eine Losung auf I zur Anfangsbedingung y(x0) = y0.

q.e.d.

Bemerkung: Sind A ∈ C0(I,Cd×d) und b ∈ C0(I,Cd) vorgegeben, so betrachtenwir auch das komplexe System (5.1) bzw. (5.2). Aufgrund des folgenden Hilfssatzesist dieses aquivalent zu einem reellen System aus 2d Gleichungen und somit nachSatz 5.1 ebenfalls eindeutig losbar zu beliebigen x0 ∈ I, y0 ∈ Cd.

Hilfssatz 5.1: y = y1+iy2 mit y1, y2 ∈ C1(I,Rd) lost genau dann das System (5.1)zu komplexen Daten A = A1 + iA2 ∈ C0(I,Cd×d), b = b1 + ib2 ∈ C0(I,Cd), wenn

y :=

(y1y2

)∈ C1(I,R2d) das System (5.1) zu den reellen Daten

A :=

(A1 −A2

A2 A1

)∈ C0(I,R2d×2d), b :=

(b1b2

)∈ C0(I,R2d×2d)

lost.

Beweis: Klar, durch Zerlegung des komplexen Systems in Real- und Imaginarteil.

Im Folgenden sei immer K = R oder K = C. Der nachstehende Satz be-schreibt die Struktur der Losungsmenge des (reellen oder komplexen) homogenenSystems (5.2):

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338 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Satz 5.2: Sei A ∈ C0(I,Kd×d) gegeben und LH := y ∈ C1(I,Kd) : y′ = Ay auf Ibezeichne die Losungsmenge (oder allgemeine Losung) des homogenen Systems (5.2).Dann gelten:

(a) LH ist ein d-dimensionaler Vektorraum uber K.

(b) Fur k ∈ N beliebige Losungen φ1, . . . , φk ∈ LH sind folgende Aussagen aqui-valent:

(i) φ1, . . . , φk sind linear unabhangig (als Elemente von LH).

(ii) Fur ein x0 ∈ I sind φ1(x0), . . . , φk(x0) ∈ Kd linear unabhangig (als Ele-mente von Kd).

(iii) Fur alle x0 ∈ I sind φ1(x0), . . . , φk(x0) ∈ Kd linear unabhangig.

Beweis:

(a) Zunachst ist LH ein linearer Unterraum von C1(I,Kd), also ein Vektorraumuber K. Sind namlich y1, y2 ∈ LH , so gilt y′1 = Ay1, y

′2 = Ay2 auf I und folglich

fur beliebige α1, α2 ∈ K:

(α1y1 + α2y2)′ = α1Ay1 + α2Ay2 = A(α1y1 + α2y2) auf I,

d.h. α1y1 + α2y2 ∈ LH .

Ist nun e1, . . . , ed ⊂ Kd eine Basis von Kd, so existieren nach Satz 5.1 ein-deutige Losungen φ1, . . . , φd ∈ LH von (5.2) zu festem x0 ∈ I und den An-fangswerten φj(x0) = ej , j = 1, . . . , d. Nach (b) sind also φ1, . . . , φd linearunabhangige Elemente von LH , d.h. dimLH ≥ d. Ware nun dimLH > d,so gabe es linear unabhangige Elemente ψ1, . . . , ψd+1 ∈ LH . Nach (b) warendann aber auch die Vektoren ψ1(x0), . . . , ψd+1(x0) ∈ Kd fur ein x0 ∈ I linearunabhangig, im Widerspruch zu dim(Kd) = d < d+ 1. Es folgt dimLH = d.

(b) Die Implikationen (iii) ⇒ (ii) ⇒ (i) sind offensichtlich, zu zeigen bleibt (i) ⇒(iii). Seien also φ1, . . . , φk ∈ LH linear unabhangig. Waren fur ein x0 ∈ I dieVektoren φ1(x0), . . . , φk(x0) ∈ Kd linear abhangig, so gabe es nicht samtlichverschwindende λ1, . . . , λk ∈ K mit λ1φ1(x0) + . . . + λkφk(x0) = 0. Aufgrundder Linearitat von LH ist auch φ := λ1φ1 + . . . + λkφk Losung von (5.2)zum Anfangswert φ(x0) = 0. Da ψ ≡ 0 offenbar eine Losung von (5.2) mitψ(x0) = 0 ist, liefert die Eindeutigkeit der Losung 0 = φ = λ1φ1 + . . .+ λkφkauf I, Widerspruch! Also gilt auch (i) ⇒ (iii).

q.e.d.

Definition 5.1: Ist φ1, . . . , φd ⊂ LH eine Basis des Losungsraumes von (5.2), soheißt Φ := (φ1, . . . , φd) ∈ LdH Fundamentallosung oder Losungs-Fundamentalsystemvon (5.2).

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5. LINEARE SYSTEME 1.ORDNUNG 339

Bemerkungen:

1. Fur jede Fundamentallosung Φ gilt detΦ(x) = 0 fur alle x ∈ I nach Satz 5.2(b). Sind umgekehrt φ1, . . . , φd ∈ LH Losungen von (5.2) und gilt detΦ(x0) =0 fur Φ = (φ1, . . . , φd) in einem Punkt x0 ∈ I, so ist Φ eine Fundamentallosung,ebenfalls nach Satz 5.2 (b). Insbesondere liefern die Losungen φ1, . . . , φd derAnfangswertprobleme

φ′j = A(x)φj auf I, φj(x0) = ej , j = 1, . . . , d,

fur eine beliebige Basis e1, . . . , ed von Kd eine Fundamentallosung Φ =(φ1, . . . , φd) ∈ LdH .

2. Fur eine beliebige Fundamentallosung Φ = (φ1, . . . , φd) zu (5.2) gilt

Φ′ = (φ′1, . . . , φ

′d) =

(A(x)φ1, . . . , A(x)φd

)= A(x) · Φ auf I. (5.3)

Wir betrachten nun wieder das inhomogene System (5.1):

Satz 5.3: Seien A ∈ C0(I,Kd×d), b ∈ C0(I,Kd) gegeben. Fur die LosungsmengeLI := y ∈ C1(I,Kd) : y′ = A(x)y + b(x) auf I von (5.1) gilt dann

LI = LH + ψ0 := y = φ+ ψ0 : φ ∈ LH.

Hierbei ist ψ0 ∈ LI eine beliebige Losung des inhomogenen Systems. Ist Φ ∈ LdH eineFundamentallosung von (5.2), so erhalt man eine spezielle Losung ψ0 ∈ LI gemaß

ψ0(x) := Φ(x) ·( x∫x0

Φ−1(t)b(t) dt

), x ∈ I, (5.4)

mit beliebigem x0 ∈ I.

Bemerkung: Eine Losung y von (5.1) lasst sich also stets schreiben als y = c1φ1 +. . . + cdφd + ψ0 mit beliebigem ψ0 ∈ LI , linear unabhangigen φ1, . . . , φd ∈ LH undKonstanten c1, . . . , cd ∈ K.

Beweis:

1. Sei zunachst ψ0 ∈ LI beliebig gewahlt. Fur y ∈ C1(I,Kd) gilt dann

y ∈ LI ⇔ y′ −Ay = b = ψ′0 −Aψ0 auf I

⇔ (y − ψ0)′ = A(y − ψ0) auf I

⇔ φ := y − ψ0 ∈ LH ⇔ y = φ+ ψ0 ∈ LH + ψ0.

Also gilt LI = LH + ψ0.

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340 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

2. Mittels Variation der Konstanten (vgl. § 1 (B)) zeigen wir nun, dass ψ0 inder Form (5.4) gewahlt werden kann: Wir setzen ψ0(x) = Φ(x)u(x) mit zubestimmendem u ∈ C1(I,Kd). Es folgt

ψ′0 = Φ′u+Φu′

(5.3)= A · Φu+Φu′

!= Aψ0 + b auf I,

d.h. es muss Φu′ = b bzw. u′ = Φ−1b auf I gelten. Dies ist offenbar fur

u(x) =

x∫x0

Φ−1(t)b(t) dt

mit beliebigem x0 ∈ I erfullt, d.h. ψ0 = Φu ∈ LI erscheint in der Form (5.4).

q.e.d.

Die Bestimmung der Losungsmenge von (5.1) und (5.2) reduziert sich also aufdas Auffinden einer Fundamentallosung des homogenen Systems (5.1). Fur den FallK = C und konstante Koeffizientenmatrix A ∈ Cd×d, also das Problem

y′ = Ay auf R (5.5)

gelingt dies leicht durch den Ansatz

y(x) = veλx, x ∈ R, (5.6)

mit zu bestimmenden v ∈ Cd und λ ∈ C. Nach Satz 1.6 aus Kap. 3 gilt namlich

d

dx(eλx) =

d

dx

( ∞∑k=0

λk

k!xk)= λ

∞∑k=1

λk−1

(k − 1)!xk−1 = λeλx.

Einsetzen in (5.5) liefert also

λveλx = y′ = Ay = (Av)eλx,

und nach Multiplikation mit e−λx folgt die Eigenwertgleichung

Av = λv, λ ∈ C, v ∈ Cd. (5.7)

Wir haben also den

Satz 5.4: (Konstante Koeffizienten)Ist λ ∈ C Eigenwert und v ∈ Cd \ 0 zugehoriger Eigenvektor von A ∈ Cd×d, so isty(x) = veλx, x ∈ R, eine Losung von (5.5).

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5. LINEARE SYSTEME 1.ORDNUNG 341

Bemerkung: Insbesondere fur d = 1 ist also y = ceλx die allgemeine Losung vony′ = λy mit λ ∈ C. Die Losung der inhomogenen Gleichung

y′ = λy + b(x) auf I, b = b(x) ∈ C0(I,C),

ergibt sich dann aus Satz 5.3 (mit d = 1):

y(x) = eλx(c+

x∫x0

e−λtb(t) dt

), x ∈ I,

mit beliebigen x0 ∈ I und c ∈ C.

Falls nun A ∈ Cd×d diagonalisierbar ist, d.h. es existiert eine Basis v1, . . . , vd ∈ Cdvon Eigenvektoren zu A, so liefert Satz 5.4 sofort die

Folgerung 5.1: (Fundamentallosung fur diagonalisierbares A)Ist A ∈ Cd×d diagonalisierbar, so erhalten wir eine Fundamentallosung zu (5.5)gemaß

Φ(x) =(v1e

λ1x, . . . , vdeλdx), x ∈ R,

wobei v1, . . . , vd eine Basis von Eigenvektoren zu A bilden und λ1, . . . , λd ∈ C diezugehorigen (nicht notwendig paarweise verschiedenen) Eigenwerte bezeichnen.

Beweis: Nach Satz 5.4 sind φj := vjeλjx, j = 1, . . . , d, Losungen von (5.5). Und

wegen detΦ(0) = det(v1, . . . , vd) = 0 folgt dann die Behauptung aus Satz 5.2 (b).q.e.d.

Bekanntlich ist nicht jede Matrix diagonalisierbar. Aus der linearen Algebra wissen wir aber,dass wir jede Matrix A ∈ Cd×d in die Jordansche Normalform bringen konnen. Insbesondere gibtes ein invertierbares S ∈ Cd×d, so dass die Matrix

B := S−1 ·A · S ∈ Cd×d

obere Dreiecksform hat. Genauer gilt

B =

λ1 ∗ . . . ∗

0. . .

. . ....

.... . .

. . . ∗0 . . . 0 λd

, (5.8)

d.h. auf der Diagonalen stehen gemaß ihrer Vielfachheit aufgefuhrte Eigenwerte von A und unterhalbder Diagonalen nur Nullen. Es gilt nun der

Hilfssatz 5.2 : Seien A ∈ Cd×d und ein invertierbares S ∈ Cd×d gegeben. Dann ist y ∈ C1(R,Cd)genau dann Losung von (5.5), wenn z := S−1y ∈ C1(R,Cd) das Problem

z′ = Bz auf R (5.9)

mit B := S−1 ·A · S lost.

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342 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beweis: Es gilt

y′ = Ay ⇐⇒ z′ = S−1y′ = S−1 ·Ay = (S−1 ·A · S)(S−1y) = Bz,

wie behauptet. q.e.d.

Wir konnen also die Bestimmung einer Fundamentallosung zu (5.5) durch geeignete Wahl vonS ∈ Cd×d auf die Bestimmung der Losung von (5.10) mit B = S−1 · A · S in der Dreiecksgestalt(5.8) reduzieren. Mit B = (bij)i,j=1,...,d und z = (z1, . . . , zd)

T erscheint dann das System (5.10) inder Form:

z′1 = λ1z1 + b12z2 + . . . + b1,d−1zd−1 + b1dzdz′2 = λ2z2 + . . . + b2,d−1zd−1 + b2dzd...

.... . .

......

z′d−1 = λd−1zd−1 + bd−1,dzdz′d = λdzd.

(5.10)

Zu beliebigem c = (c1, . . . , cd) ∈ Cd lasst sich die Losung von (5.10) zur Anfangsbedingung z(0) = cwie folgt explizit bestimmen (vgl. Bemerkung im Anschluss an Satz 5.4):

(1) Lose die letzte Gleichung zum Anfangswert zd(0) = cd: zd(x) = cdeλdx.

(2) Setze die Losung zd in die vorletzte Gleichung ein. Lose die entstehende Gleichung z′d−1 =λd−1zd−1 + b(x) mit b(x) := bd−1,dzd(x) zur Anfangsbedingung zd−1(0) = cd−1.

(3) Fahre entsprechend fort mit der Bestimmung von zd−2 bis z1.

Man erhalt fur jede Komponente zj eine Linearkombination von Funktionen der Form xpeλkx mitPotenzen p < d.

Folgerung 5.2 : (Fundamentallosung fur allgemeines A)Sei A ∈ Cd×d beliebig und S ∈ Cd×d so gewahlt, dass B = (bij)i,j = S−1 · A · S in der Form (5.8)erscheint. Sei ferner e1, . . . , ed eine Basis von Cd und ψ1, . . . , ψd seien die Losungen von (5.9)bzw. (5.10) zu den Anfangsbedingungen ψj(0) = ej, j = 1, . . . , d. Dann ist Φ := S · (ψ1, . . . , ψd) eineFundamentallosung zu (5.5).

Beweis: Dass Sψj , j = 1, . . . , d, Losungen von (5.5) sind, folgt aus Hilfssatz 5.2. Wegen

detΦ(0) = det(S) det(ψ1(0), . . . , ψd(0)) = det(S) det(e1, . . . , ed) = 0

ist Φ nach Satz 5.2 auch Fundamentallosung. q.e.d.

Bemerkung: Man kann die genaue Form des Fundamentalsystems exakter beschreiben, wenn man

mit der Jordanschen Normalform argumentiert. Wir verweisen z.B. auf Walter: Gewohnliche Diffe-

rentialgleichungen, § 17.

Zum Abschluss untersuchen wir noch einmal die Situation fur reelle Systeme(5.5), d.h. A ∈ Rd×d. Besitzt A komplexe Eigenwerte, so liefert der Ansatz ausSatz 5.4 komplexe Losungen. Zu den gewunschten reellen Losungen gelangt mandann m.H. des folgenden

Satz 5.5: (Reelle Systeme)Sei A ∈ Rd×d. Ist y = y1 + iy2 ∈ C1(R,Cd) eine komplexe Losung des zugehorigenSystems (5.5), so sind y1, y2 ∈ C1(R,Rd) reelle Losungen zu (5.5).

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6. LINEARE GLEICHUNGEN N -TER ORDNUNG 343

Beweis: Aus y′1 + iy′2 = y′ = Ay = Ay1 + iAy2 folgt die Behauptung. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Satz 5.5 zeigt auch, dass mit y ∈ C1(R,Cd) auch die komplex konjugierteFunktion y ∈ C1(R,Cd) das reelle System (5.5) lost.

2. Ist A ∈ Rd×d, λ ∈ C Eigenwert von A und v ∈ Cd\0 zugehoriger Eigenvektor,so ist nach Satz 5.4 y(x) = veλx Losung von (5.5). Fur λ = λ1+ iλ2 mit λ2 = 0und v = v1 + iv2 sind nach Satz 5.5 dann zwei reelle Losungen gegeben durch

y1(x) = Re y(x) = eλ1x[v1 cos(λ2x)− v2 sin(λ2x)],

y2(x) = Im y(x) = eλ1x[v1 sin(λ2x) + v2 cos(λ2x)], x ∈ R.

Ist A ∈ Rd×d diagonalisierbar, so erhalt man auf diese Art eine reelle Fun-damentallosung aus der in Folgerung 5.1 angegebenen komplexen Fundamen-tallosung Φ, indem man die zum konjugiert komplexen Eigenwert gehorigeLosung aus Φ streicht.

6 Lineare Gleichungen n-ter Ordnung

Seien I ⊂ R ein Intervall, a0, . . . , an−1 ∈ C0(I,K) und b ∈ C0(I,K), K = R oderK = C, gegebene Funktionen. Wir betrachten nun die inhomogene (lineare) Diffe-rentialgleichung n-ter Ordnung

y(n) + an−1(x)y(n−1) + . . .+ a1(x)y

′ + a0(x)y = b(x) auf I (6.1)

und die zugehorige homogene (lineare) Differentialgleichung n-ter Ordnung

y(n) + an−1(x)y(n−1) + . . .+ a1(x)y

′ + a0(x)y = 0 auf I. (6.2)

Direkt aus der Theorie der linearen Systeme leiten wir ab:

Satz 6.1:

(a) Zu jedem x0 ∈ I und ζ = (ζ0, . . . , ζn−1) ∈ Kn hat (6.1) eine eindeutige Losungy ∈ Cn(I,K) zur Anfangsbedingung

y(x0) = ζ0, y′(x0) = ζ1, . . . , y

(n−1)(x0) = ζn−1.

(b) Bezeichnet LH = y ∈ Cn(I,K) : y lost (6.2) die Losungsmenge der homo-genen Differentialgleichung (6.2), so ist LH ein n-dimensionaler Vektorraum.

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344 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

(c) n Losungen φ1, . . . , φn ∈ LH von (6.2) bilden genau dann eine Basis von LH ,wenn fur ein und damit fur alle x ∈ I die Wronski-Determinante

W (x) := det

φ1(x) φ2(x) . . . φn(x)

φ′1(x) φ′

2(x) . . . φ′n(x)

......

. . ....

φ(n−1)1 (x) φ

(n−1)2 (x) . . . φ

(n−1)n (x)

nicht verschwindet. Wir nennen eine Basis φ1, . . . , φn wieder Fundamen-tallosung oder Losungs-Fundamentalsystem zu (6.2).

(d) Ist LI := y ∈ Cn(I,K) : y lost (6.1) die Losungsmenge der inhomogenenDGL (6.1), so gilt

LI = ψ0 + LH , ψ0 ∈ LI beliebig.

Beweis: Wie bereits in Satz 4.2 gesehen, ist die DGL (6.1) aquivalent zum linearenSystem 1.Ordnung

z′0 = z1

z′1 = z2...

z′n−2 = zn−1

z′n−1 = −a0(x)z0 − . . .− an−1(x)zn−1 + b(x) auf I.

(6.3)

Jeder Losung y ∈ Cn(I,K) von (6.1) entspricht also genau eine Losung

z = (z0, . . . , zn−1) := (y, y′, . . . , y(n−1))T ∈ C1(I,Kn)

von (6.3) und umgekehrt. Insbesondere gilt dies naturlich fur b ≡ 0. Aussage (a)folgt somit sofort aus Satz 5.1, (b) ergibt sich aus Satz 5.2(a), und (d) folgt ausSatz 5.3. Schließlich sind φ1, . . . , φn ∈ LH genau dann eine Basis von LH , wenn

χj = (φj , φ′j , . . . , φ

(n−1)j )T , j = 1, . . . , n, eine Basis von LH := z ∈ C1(I,Kn) :

z lost (6.3) mit b ≡ 0 ist. Nach Satz 5.2 (b) ist dies aquivalent dazu, dass

W (x) = det(χ1(x), . . . , χn(x)

)= 0

in einem und damit in allen x ∈ I gilt. D.h. (c) ist ebenfalls erfullt. q.e.d.

Bemerkung: Eine spezielle Losung ψ0 der inhomogenen DGL (6.1) erhalt man aus(vgl. Satz 5.3):

ψ0(x)

ψ′0(x)...

ψ(n−1)0

= χ(x) ·( x∫x0

χ−1(t)b(t) dt

),

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6. LINEARE GLEICHUNGEN N -TER ORDNUNG 345

wobei x0 ∈ I beliebig, χ = (χ1, . . . , χn) eine Fundamentallosung von (6.3) mit b ≡ 0ist und b := (0, . . . , 0, b) ∈ C0(I,Kn) gesetzt wurde.

Wir betrachten nun wieder den Fall konstanter Koeffizienten fur die homo-gene Gleichung (6.2). Wie in § 5 konzentrieren wir uns dabei auf K = C, alsoa0, . . . , an−1 ∈ C. Zur Abkurzung erklaren wir den Differentialoperator

L = L(y) := y(n) + an−1y(n−1) + . . .+ a0y : Cn(R,C) → C0(R,C). (6.4)

Dann schreibt sich (6.2) in der Form

L(y) = 0 auf R.

Wir bemerken, dass L ein linearer Operator ist, d.h. fur beliebige y1, y2 ∈ Cn(R,C)und α1, α2 ∈ C gilt

L(α1y1 + α2y2) = α1L(y1) + α2L(y2).

Satz 6.2: (Konstante Koeffizienten)Seien a0, . . . , an−1 ∈ C gewahlt und p(λ) := λn+an−1λ

n−1+ . . .+a0, λ ∈ C, gesetzt.Bezeichnen λ1, . . . , λk ∈ C, k ≤ n, die paarweise verschiedenen Nullstellen von pmit Vielfachheiten m1, . . . ,mk ∈ N, m1 + . . .+mk = n, so bilden die Funktionen

φjl(x) = xjeλlx, j = 0, . . . ,ml − 1, l = 1, . . . , k, (6.5)

eine Fundamentallosung zur DGL (6.2).

Zum Beweis von Satz 6.2 benotigen wir noch etwas Vorbereitung: Ist p(λ) :=∑nj=0 ajλ

j , a0, . . . , an ∈ C, ein Polynom in λ ∈ C, so konnen wir zu beliebigemλ0 ∈ C nach Potenzen von λ − λ0 umordnen: Es existieren c0, . . . , cn ∈ C, so dassgilt

p(λ) =

n∑j=0

cj(λ− λ0)j . (6.6)

Zu beliebigen λ0 ∈ C und j ∈ N0 betrachten wir auch den linearen Differentialope-rator ( ddx − λ0)

j : Cj(R,C) → C0(R,C). Dann ist (mit λ0 = 0)

p( ddx

):=

n∑j=0

aj

( ddx

)j=

n∑j=0

ajdj

dxj: Cn(R,C) → C0(R,C)

ebenfalls ein linearer Differentialoperator und fur L aus (6.4) gilt

L(y) = p( ddx

)(y), y ∈ Cn(R,C),

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346 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

wobei wir an := 1 gesetzt haben. Der Entwicklung (6.6) um λ0 ∈ C entnehmen wirnoch

p( ddx

)=

n∑j=0

cj

( ddx

− λ0

)j(6.7)

mit geeigneten c0, . . . , cn ∈ C. Es gilt nun der folgende

Hilfssatz 6.1:

(a) Sei f ∈ Cj(R,C) mit j ∈ N0 gegeben. Fur beliebiges λ0 ∈ C gilt dann( ddx

− λ0

)j[f(x)eλ0x] = f (j)(x)eλ0x.

(b) Sei p = p(λ) : C → C ein Polynom. Fur beliebiges Polynom q = q(x) : R → Cund λ0 ∈ C gilt dann

p( ddx

)[q(x)eλ0x] = r(x)eλ0x

mit r(x) :=∑n

j=0 cjq(j)(x), wobei c0, . . . , cn ∈ C die Koeffizienten der Ent-

wicklung (6.6) von p um λ0 sind.

Bemerkung: Falls c0 = p(λ0) = 0 gilt, so folgt grad r = grad q mit den Notationenaus Hilfssatz 6.1 (b). Insbesondere impliziert dann r ≡ 0 zunachst q ≡ const undsomit 0 ≡ r(x) = c0q(x), d.h. es folgt q ≡ 0 auf R.

Beweis:

(a) Vollstandige Induktion uber j ∈ N0: Fur j = 0 ist nichts zu zeigen. Und furden Schluss j → j + 1 berechnen wir( d

dx− λ0

)j+1[f(x)eλ0x] =

( ddx

− λ0

)( ddx

− λ0

)j[f(x)eλ0x]

(IV )=

( ddx

− λ0

)[f (j)(x)eλ0x]

=d

dx[f (j)(x)eλ0x]− λ0f

(j)(x)eλ0x

= f (j+1)(x)eλ0x.

Dies liefert die Behauptung.

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6. LINEARE GLEICHUNGEN N -TER ORDNUNG 347

(b) Wir entwickeln p um λ0 und erhalten die Darstellung (6.6) bzw. (6.7). Teil (a)liefert dann

p( ddx

)[q(x)eλ0x]

(6.7)=

n∑j=0

cj

( ddx

− λ0

)j[q(x)eλ0x]

(a)=

n∑j=0

cjq(j)(x)eλ0x = r(x)eλ0x,

wie behauptet. q.e.d.

Beweis von Satz 6.2:

1. Zunachst zeigen wir, dass die Funktionen (6.5) Losungen der DGL (6.2) sind.Sei dazu l ∈ 1, . . . , k fixiert. Da λl Nullstelle von p zur Ordnung ml ist,existiert ein Polynom q : C → C mit q(λl) = 0, so dass gilt

p(λ) = q(λ)(λ− λl)ml .

Fur j = 0, . . . ,ml − 1 erhalten wir somit

L(φjl) = p( ddx

)(φjl) = q

( ddx

)[( ddx

− λl

)ml(xjeλlx)

]HS6.1 (a)

= q( ddx

)[ dmldxml

(xj)eλlx]

= 0,

also φjl ∈ LH fur j = 0, . . . ,ml − 1, l = 1, . . . , k.

2. Zu zeigen bleibt die lineare Unabhangigkeit der φjl. Seien dazu cjl ∈ C Kon-stanten mit

0 =

k∑l=1

ml−1∑j=0

cjlφjl =

k∑l=1

(ml−1∑j=0

cjlxj)eλlx.

Mit ql(x) :=ml−1∑j=0

cjlxj haben wir also

k∑l=1

ql(x)eλlx = 0 auf R, grad ql < ml. (6.8)

Per Induktion uber k ∈ N zeigen wir, dass aus (6.8) folgt ql ≡ 0 fur l = 1, . . . , k,also cjl = 0 fur alle j = 0, . . . ,ml − 1, l = 1, . . . , k. Die φjl sind somit linearunabhangig und bilden folglich eine Fundamentallosung zu (6.2).

• k = 1: Es gilt dann q1(x)eλ1x = 0 und somit q1 ≡ 0 auf R.

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348 KAPITEL 8. GEWOHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

• k → k+1: Fur festes k impliziere (6.8) das Verschwinden der auftretendenPolynome. Seien q1, . . . , qk+1 : R → C Polynome mit grad ql < ml und

k+1∑l=1

ql(x)eλlx = 0 auf R. (6.9)

Hierauf wenden wir den linearen Operator ( ddx −λk+1)mk+1 an und erhal-

ten

0 =k+1∑l=1

( ddx

− λk+1

)mk+1

[ql(x)eλlx]

=k∑l=1

( ddx

− λk+1

)mk+1

[ql(x)eλlx]

+( ddx

− λk+1

)mk+1

[qk+1(x)eλk+1x]

HS6.1=

k∑l=1

rl(x)eλlx + q

(mk+1)k+1 (x)eλk+1x =

k∑l=1

rl(x)eλlx,

wobei r1, . . . , rk wie in Hilfssatz 6.1 (b) gewahlt sind. Insbesondere giltalso fur l = 1, . . . , k (vgl. die Bemerkung im Anschluss an Hilfssatz 6.1)grad rl = grad ql < ml und somit rl ≡ 0 auf R nach Induktionsvorausset-zung. Dies liefert auch ql ≡ 0 fur l = 1, . . . , k, und (6.9) ergibt schließlichnoch qk+1 ≡ 0 auf R. Damit ist alles gezeigt.

q.e.d.

Bemerkung: Sind a0, . . . , an−1 ∈ R reelle Koeffizienten, so ist mit λ0 ∈ C \ R auchλ0 Nullstelle von p(λ) = λn + an−1λ

n−1 + . . . + a0 zur gleichen Vielfachheit. Manerhalt dann aus der komplexen Fundamentallosung (6.5) wieder eine reelle Funda-mentallosung fur die zugehorige reelle DGL (6.2), indem man

xjeλlx = xje(Reλl)xcos[(Imλl)x] + i sin[(Imλl)x]

in Real- und Imaginarteil zerlegt und die entsprechende Losung xjeλlx aus demSystem streicht.