Anika Hillmann Die Großstadt in der skandinavischen...
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Diplomica Verlag
Anika Hillmann
Analysiert anhand der Romane Hærværk, Rand,Röda Rummet, Sult und Stuk
Die Großstadt in derskandinavischen Literatur
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Hillmann, Anika: Die Großstadt in der skandinavischen Literatur: Analysiert anhand der Romane Hærværk, Rand, Röda Rummet, Sult und Stuk, Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2013 Buch-ISBN: 978-3-8428-9778-6 PDF-eBook-ISBN: 978-3-8428-4778-1 Druck/Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2013 Covermotiv: © Dennis Becher Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
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Inhalt
1 Einleitung ............................................................................................................................. 7
2 Die Ausgangssituation ....................................................................................................... 11 2.1 Industrialisierung und Urbanisierung ........................................................................... 11
2.2 Die Moderne ................................................................................................................. 12
2.3 Die Postmoderne Großstadt .......................................................................................... 14
2.4 Konzepte ....................................................................................................................... 15
3 Das Personeninventar der Großstadt .............................................................................. 19 3.1 Die Protagonisten der verschiedenen Werke ................................................................ 19
3.1.1 Röda Rummet ....................................................................................................... 19 3.1.2 Stuk ....................................................................................................................... 21 3.1.3 Sult ........................................................................................................................ 23 3.1.4 Hærværk ............................................................................................................... 25 3.1.5 Rand ..................................................................................................................... 27
3.2 Skurrile Persönlichkeiten .............................................................................................. 28
3.3 Der Flaneur ................................................................................................................... 29
3.4 Die Frau in der Großstadt ............................................................................................. 33
3.4.1 Agnes Rundgren/ Beda Pettersson ....................................................................... 34
3.4.2 Mathilde Stern ...................................................................................................... 35
3.4.3 Ylajali ................................................................................................................... 36
3.4.4 Johanne Jastrau und Anna Marie Jensen .............................................................. 37
3.4.5 Ingeborg ............................................................................................................... 39
4 Verdoppelung und Wiederholung .................................................................................... 41 4.1 Das Spiegelmotiv .......................................................................................................... 45
5 Der Großstadtraum ........................................................................................................... 49 5.1 Die Stadt als Kulisse ..................................................................................................... 49
5.1.1 Das Victoria-Theater ............................................................................................ 53
5.1.2 Das Einkaufszentrum ........................................................................................... 54
5.2 Die Stadt als Rückzugs- oder Sehnsuchtsort ................................................................ 56
5.2.1 Röda Rummet ....................................................................................................... 56 5.2.2 Stuk ....................................................................................................................... 58 5.2.3 Sult ........................................................................................................................ 59 5.2.4 Hærværk ............................................................................................................... 60
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5.2.5 Rand ..................................................................................................................... 61 5.3 Die Stadt als hässlicher Ort (Ästhetik des Hässlichen) ................................................ 62
5.4 Die Stadt als gottloser Ort ............................................................................................. 66
6 Symptome der Belastung .................................................................................................. 73 6.1 Ennui ............................................................................................................................. 73 6.2 Alkoholexzesse ............................................................................................................. 76
6.3 Anonymität und Entfremdung ...................................................................................... 79
6.4 Das nervöse Bewusstsein .............................................................................................. 82
6.5 Hunger .......................................................................................................................... 86
7 Die Großstadt als Thema .................................................................................................. 91 7.1 Expressionistische und impressionistische Darstellungsmöglichkeiten ....................... 91
7.2 Sprache und Umgangssprache ...................................................................................... 94
7.3 Helligkeit und Dunkelheit in der Stadt ......................................................................... 96
7.4 Die Stadt als Gegenort zum Land ............................................................................... 100
8 Das Bild der Großstadt ................................................................................................... 105
9 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 113
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1 Einleitung
„Her er Jord for en Verdensstad.
– Hvorpaa venter Skandinavien, [...] paa hvem venter man? Norden venter paa København,
[...].”1
„HERRE, FORLAD DEM, THI DE VIDE IKKE, HVAD DE GØRE.”2
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Darstellung der Großstadt in ausgewählten
skandinavischen Texten. Hierbei werden zum einen die Auswirkungen der Stadt auf die
jeweiligen Protagonisten hervorgehoben und zum anderen die Stadt aus der Perspektive der
zentralen Figuren betrachtet.
Bei der ausgewählten Literatur handelt es sich um August Strindbergs Röda Rummet, Herman
Bangs Stuk, Knut Hamsuns Sult, Tom Kristensens Hærværk und schließlich Jan Kjærstads
Rand. Diese Werke aus der Gattung Großstadtliteratur eignen sich, um einen Einblick in die
verschiedenen skandinavischen Hauptstädte zu gewinnen und bieten die Möglichkeit zu
umfassenden Vergleichen. Es handelt sich bei den jeweiligen Hauptpersonen um Charaktere
aus dem kreativen Milieu, die in ihrem Umfeld genauer analysiert werden.
Im Laufe der Analyse werden weiterhin verschiedene Begriffe geklärt, die in Zusammenhang
mit der Stadt und ihren Bewohnern stehen. Die Stadt wird aus Sicht der Einwohner reflektiert
um am Ende mit ihrer Hilfe ein charakteristisches Bild der Großstadt entstehen zu lassen.
Dabei werden mögliche Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten der Stadtdarstellung in den
jeweiligen Werken herausgearbeitet.
Zunächst wird jedoch ein kurzer Überblick zum Großstadtroman sowie zur jeweiligen Zeit, in
die die hier bearbeiteten Texte einzugliedern sind, gegeben. Dazu zählen die Moderne und die
Postmoderne, die in dem folgenden zweiten Abschnitt erläutert werden. Gleiches gilt für die
Begriffe der Urbanisierung und Industrialisierung. Im Anschluss daran werden in kurzer Form
die jeweiligen Konzepte zur Großstadt von Simmel, Hellpach, Milgram und Benjamin
vorgestellt, um auf eine mögliche Problematik der Großstadt hinzuweisen.
Das daran anschließende dritte Kapitel ist den Personen aus den in diesem Rahmen untersuch-
ten Romanen gewidmet. Begonnen wird mit der Analyse der jeweiligen Hauptprotagonisten.
Im Zusammenhang mit ihnen werden auch einige abseits stehende Charaktere erwähnt, die
1 Bang, Stuk S.48 2 Bang, Stuk S.71
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auf verschiedene Art und Weise das Leben dieser Helden beeinflussen. Das Personeninventar
wird nach dem jeweiligen Romanen gegliedert. Selbiger Abschnitt befasst sich weiterhin mit
den skurrilen Persönlichkeiten, die die Großstadt mit sich bringt, wozu u.a. Obdachlose oder
Prostituierte zählen. Im Anschluss wird das Motiv des Flaneurs erläutert, welches eine ganz
eigene Rolle spielt und dem Leser die Stadt aus neuen Perspektiven schildert. Der letzte
Passus dieses Abschnitts beschäftigt sich mit der Rolle der Frau in den hier untersuchten
Großstadtromanen. Die weibliche Person erscheint zwar in erster Linie nur als Randfigur, hat
aber eine wichtige Bedeutung, die an entsprechender Stelle erörtert werden soll.
Im darauffolgenden vierten Abschnitt geht es um das Motiv der Wiederholung, welches in
nahezu allen Werken anzutreffen ist. Besonders deutlich wird die Wiederholung in Form
eines Spiegels erläutert. Welche Auswirkungen dieser Gegenstand auf die Protagonisten hat,
wird ebenfalls geklärt.
Das fünfte Kapitel bildet neben dem sechsten den zentralen Teil der Studie. Hier wird die
Stadt als Raum, als Kulisse, als Ort der Städter erläutert. Zunächst wird sie als allgemeiner
Hintergrund betrachtet, welcher ein Sammelort der Menschen ist, wobei besonders auf das
Etablissement Einkaufszentrum und auf das stuckverzierte Victoria-Theater eingegangen
wird. Darauf folgt eine Betrachtung der Stadt als Sehnsuchts- bzw. Rückzugsort. Dieser
Aspekt wird ausführlich an jedem der Werke analysiert. Im nächsten Passus wird erläutert,
wovor sich mitunter zurückgezogen werden muss. Hier wird das Hässliche der Stadt zum
Ausdruck gebracht. Einen Schritt weiter geht schließlich der letzte Abschnitt dieses Kapitels,
in dem die Gottlosigkeit in der Großstadt angenommen und an markanten Stellen der Werke
bewiesen wird.
Nach diesen negativen Aspekten erörtert Kapitel sechs die Auswirkungen und Symptome, die
diese auf die Protagonisten haben können. Dazu zählen der ennui-Gedanke, Alkoholmiss-
brauch, Anonymität, Nervosität und Hunger, der sich auf verschiedenen Ebenen abspielt. Mit
diesen Phänomenen haben die meisten Helden zu kämpfen.
Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern die Stadt in den Romanen explizit
thematisiert wird. Hierfür wird zunächst nach expressionistischen und impressionistischen
Darstellungsmöglichkeiten gesucht. Im Anschluss erfolgt eine Analyse der Sprache der
Großstadt und des Gegensatzes von Helligkeit und Dunkelheit. Abschließend wird der häufig
wiederkehrende Diskurs zwischen Stadt und Land erläutert.
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Damit ist die Betrachtung abgeschlossen, die im letzten Kapitel nach einer kurzen Zusam-
menfassung der wichtigsten Punkte zu einem Fazit führt. Eine zentrale Frage dabei ist die
nach der Funktion der Stadt. Weiterhin wird ein Bezug zur angenommenen Intention der
Autoren hergestellt. Warum hat sich der Schriftsteller für die Großstadt entschieden und was
ist das zentrale Thema? Warum stellt er die Stadt auf diese Weise dar?
Bevor begonnen wird, ist noch darauf hinzuweisen, dass nicht jedes Kapitel jeden Roman
behandelt. Gewisse Aspekte kommen nicht in jedem Werk vor bzw. andererseits in reichhal-
tiger Form, sodass sich eine Zusammenfassung anbietet. Es werden die wichtigsten Punkte
zum Thema aus den jeweiligen Texten herausgegriffen, wobei einige weniger bedeutsame
Aspekte mangels Umfang außen vor bleiben müssen.
Nach diesem Hinweis folgt nun der Einblick in die Ausgangssituation, die diesen Romanen
vorausgeht bzw. ihren Aufbau ermöglicht.
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2 Die Ausgangssituation
An dieser Stelle werden zunächst die unterschiedlichen geschichtlichen Hintergründe der
Romane erläutert. Da ein Großteil der Texte gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschien, soll
zunächst die Industrialisierung und die damit verbundene Urbanisierung erläutert werden. Im
Anschluss daran wird der Begriff der Moderne und der des Modernen Durchbruchs geklärt.
Daran schließt sich ein kurzer Blick auf die Situation in der Postmoderne bzw. Gegenwart, da
der Roman Rand in diese Zeit einzuordnen ist. Am Ende werden vier wissenschaftliche
Konzepte zur Untersuchung der Großstadt erläutert.
2.1 Industrialisierung und Urbanisierung
In der Zeit zwischen 1860 und 1910 lässt sich in Skandinavien die Industrialisierung am
stärksten beobachten. Sie beinhaltet eine schnelle Verbreitung der Arbeitsteilung und der
Spezialisierung in der Gesellschaft. Es bietet sich eine Möglichkeit der Massenfertigung von
Waren, die sich als preiswerter als die manuelle Produktion erweist. Bereits im 18. Jahrhun-
dert kam es in Europa zum ersten Industrialisierungsprozess, welcher von Bedeutung für die
Moderne war. Es kam hierbei vermehrt zum Einsatz von Wasserkraft und Maschinen, später
zum Einsatz von Dampfkraft und elektrischer Energie. Die Frachtkosten sanken und ein
größeres Absatzgebiet ermöglichte günstigeren und schnelleren Warentransport. Die Indust-
riearbeit wurde immer effektiver und somit musste auch die Produktivität der Arbeiter
wachsen. Dies brachte verstärkt Konflikte zwischen Arbeitern und Arbeitgebern in Bezug auf
die Löhne und die Arbeitsbereitschaft. Es entwickelte sich eine Zweiklassengesellschaft. Auf
der einen Seite standen die Industriellen und auf der anderen Seite die Industriearbeiter. Mit
der Arbeitsteilung und Spezialisierung kam es zur Urbanisierung, welche mit der Wirtschaft
verknüpft war. Zu Beginn der Industrialisierung siedelten sich Industriegebiete in ländlichen
Gegenden an, in der Nähe der jeweiligen Rohstoffe, die verarbeitet wurden. Die sinkenden
Transportkosten ermöglichten einen Ausbau der Industrie innerhalb der Stadt. Das brachte
den Vorteil, dass die Unternehmen nun näher an den Abnehmern waren und eine gute
Geschäftskommunikation zu neuen Kontakten führen konnte. Die Arbeiter verfügten über
eine bessere Ausbildung als diejenigen auf dem Land. Eine bessere soziale Organisation
wurde möglich, zusätzlich ersparten die Arbeitgeber die Kosten für die Unterbringungen ihrer
Arbeiter und deren Familien. Allerdings traten gleichermaßen Nachteile hervor. Es mussten
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höhere Löhne gezahlt werden und die Grundstückspreise waren höher als auf dem Land und
es gab Schwierigkeiten bei der sozialen Kontrolle der Arbeiter. Die Urbanisierung erwies sich
als ein Teil des allgemeinen Strebens nach Arbeitsteilung und Spezialisierung. Dies kenn-
zeichnet den Industrialisierungsprozess.3
Mit der industriellen Revolution wurde das Leben bunter, lauter, eindrucksvoller und vielsei-
tiger. Das brachte allerdings auch viele negative Faktoren mit sich. Es herrschte ein regelrech-
ter sozialer Krieg, jeder kämpfte gegen jeden, es gab eine starke Kritik an den politischen
Verhältnissen und dem Geld wurde eine größere Bedeutung beigemessen. Das Geld wurde
u.a. verantwortlich gemacht für die Moral bzw. Unmoral, die vorherrschte. Es wurde keine
Rücksicht mehr auf Mitmenschen genommen, und somit kam es zum Verfall des häuslichen
Lebens.4
2.2 Die Moderne
Im Verlauf der Periode, in der einige der hier untersuchten Romane entstanden, änderte sich
das Leben drastisch. Ab 1870 bzw. 1871 gab es einen Einschnitt in der skandinavischen
Literatur. Diese Zeit wurde als Moderner Durchbruch bezeichnet. Hierbei wurde sich mit den
Gegebenheiten beschäftigt, die das neue Leben mit sich brachte. Er ist eine Reaktion auf den
Modernisierungsschub in der Gesellschaft, welcher wiederum durch Industrialisierung und
Technisierung im 19. Jahrhundert zustande kam.5 Seit den 1880er Jahren begann in Skandi-
navien die Großstadtliteratur, kaum dass es dort überhaupt Großstädte gab. Die Autoren
schildern hierin einerseits eine fiktionale, von ihnen erschaffene Welt, andererseits lassen sich
die Texte als Sozialstudien verstehen. Die Schriftsteller waren häufig auch journalistisch tätig
und waren in das zeitliche Geschehen involviert, somit selbst von der Situation betroffen.6
Von den hier untersuchten Werken fallen Röda Rummet, Stuk und Sult in diese Zeit.
Mit der Modernisierung kam es zur Urbanisierung. Die Menschen zogen vom Land in die
Städte, die daraufhin regelrecht explodierten. Dies hatte große Auswirkungen auf die Wohn-
und Verkehrslage sowie auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Plötzlich wurden aus
provinziell wirkenden Hauptstädten Metropolen. Die bedeutsamsten Innovationen, die dafür
von Bedeutung waren, sind die elektrische Beleuchtung sowie der Ausbau von Verkehrs- und
3 Vgl.: Gustafson, Industrialismens storstad S.8ff 4 Vgl.: Riha, Die Beschreibung der „Großen Stadt“ S.78ff 5 Vgl.: Heitmann, Die Moderne im Durchbruch S.183f 6 Vgl.: Dennis, Cities in Modernity S.80
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Telefonnetz, Läden, Schaufenstern und Flaniermeilen, außerdem die Entwicklung der
öffentlichen Vergnügungs- und Café-Kultur.7
Es ist verständlich, dass das explosive Wachstum der Städte psychische Auswirkungen auf
die Einwohner hatte. Die Verstädterung brachte Geschwindigkeit, Masse, Lärm und Unruhe
mit sich, was zur Anonymisierung, Fragmentarisierung und schließlich zu Nervenkrankheiten
führen konnte.8 An dieser Stelle soll gesagt sein, dass die Größe der Stadt im eigentlichen
Sinne keine Rolle spielt. Mit ihren knapp über 200.000 Einwohnern ist Kristiania gerade eine
Mittelstadt, von einer Großstadt weit entfernt, dennoch wird im Folgenden weiterhin von
Großstadt gesprochen. Dies liegt daran, dass sich die in den Romanen beschriebene Situation
nicht an Einwohnerzahlen messen lässt, vielmehr geht es um das Gefühl Großstadt, um die
Art des Erlebens der Stadt.9 Dieses Gefühl wird auch in Hærværk umgesetzt. Der Roman ist
etwa vierzig Jahre nach den drei zuvor genannten Werken entstanden und ist damit nicht mehr
in den Modernen Durchbruch einzuordnen, wohl aber in die Klassische Moderne. Die Zeit
zwischen den Kriegen ist geprägt von der Auseinandersetzung mit Organisationsformen
sozialer Gemeinschaften. Weiterhin ist der Klassenkampf ein wichtiges Thema.10 Thematisch
passt der Text allerdings zu den bisher erwähnten Werken, da er ihnen sehr ähnlich ist.
Bevor mit der Postmoderne forgefahren wird, werden an dieser Stelle in aller Kürze zwei
Begriffe geklärt.
Das Wort Metropole bedeutet wörtlich übersetzt „Mutterstadt“, wird allerdings eher mit
„Weltstadt“ erklärt. Eine Metropole gilt als Mittelpunkt, ein Zentrum. Genau genommen ist
dieser Begriff allerdings eher ein Marketingkonzept und dient der Vermarktung der Städte.11
Im weiteren Verlauf der Studie wird dieser Begriff synonym zu dem Begriff der Großstadt
verwendet.
Neben dem Begriff der Metropole wird im Laufe der Untersuchung des Öfteren der Begriff
der Moderne auftauchen, wobei zu betonen ist, dass damit keine epochale Abgrenzung
vorgenommen wird, sondern lediglich auf den allgemeinen Zustand des modernen, neuartigen
Lebens hingewiesen wird. Sollte die Moderne einmal in anderem Zusammenhang, als eine
bestimmte zeitliche Abgrenzung anzusehen sein, so wird dies speziell gekennzeichnet
werden. Bis auf Weiteres gilt der Begriff der „Moderne“ oder „modern“ als epochenübergrei-
7 Vgl.: Heitmann, Die Moderne im Durchbruch S. 184ff 8 Vgl.: Heitmann, Die Moderne im Durchbruch S.188 9 Vgl.: Detering, ”Mein Name sei der und der“ S. 47 10 Vgl.: Strauß, Klassische Moderne S.230f 11 Vgl.: Zohlen, Metropole als Metapher S.27ff
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fend und in zeitlicher Hinsicht ohne bestimmte Einschränkungen, entscheidend ist allein das
damit verknüpfte Neuartige.
2.3 Die Postmoderne Großstadt
Die Bedeutung der Stadt hat sich im Laufe der Zeit stark verändert, sie ist zu einem gegen-
sätzlichen Raum geworden. Einerseits wird sie geliebt und gepflegt, andererseits wird sie
geschmäht und beschimpft. Früher war sie ein Ort, der Schutz versprach, in dessen Mauern
gehandelt und in Ruhe gelebt werden konnte, nun ist sie ein Ort der Vermarktung geworden.12
Die Stadt dient mit ihren verschiedenen Vierteln im Laufe der Zeit mehr und mehr dazu, die
einzelnen Klassen der Gesellschaft hervorzuheben. Durch die Sanierung ganzer Stadtteile
werden diese an den Dienstleistungs- und Unterhaltungsbereich angepasst und damit zu
Attraktionen, wie beispielsweise Aker Brygge in Oslo. Hier wird die Stadtkultur als positiv
gedeutet, die Verstädterung dient dem kulturellen und sozialen Leben. Der Städter bekommt
durch Beteiligung am öffentlichen Leben und durch die Anwesenheit an angesehenen Orten
die Möglichkeit, Teil der städtischen Elite zu werden.13 Das Konzept der Stadt variiert je
nachdem, welche Intention der Autor verfolgt und wie sein Interesse am Kontext lautet. Die
Figuren in dem Roman der Großstadt sind häufig damit beschäftigt, selbst über die Stadt und
ihre Wahrnehmung dieser zu schreiben. Sie erforschen gewissermaßen die Stadt und liefern
dadurch metafiktionale Deutungen, da der Schreibvorgang mit dem Thema Stadt reflektiert
wird. Die Stadt wird als Text dargestellt, der Text als Stadt. Der Begründer dieses konstrukti-
vistischen Stadtromans Skandinaviens ist Jan Kjærstad,14 dessen Held über die Großstadt
nachsinnt. Dies tut er auf sehr abstrakt Weise in einem Labyrinth aus teilweise zusammen-
hanglosen Textpassagen und Verweisen. Das Labyrinth wird vom Erzähler konstruiert, und
der Leser muss es entschlüsseln. Die Toten trugen z.B. allesamt Schuhe der Marke ECCO,
und aus ECCO wird mit der Zeit Umberto Eco, welcher ebenfalls postmoderne Literatur
hervorbrachte. Kjærstad selbst sagt, er wolle mit dem Konkreten das Abstrakte aufspüren,
nicht wie üblich vom Abstrakten auf das Konkrete verweisen.15
Die Postmoderne lässt sich zum einen als eine Epoche begreifen, bedeutet zum anderen
aber auch bestimmte Gegebenheiten. Im Wesentlichen bezieht sich der postmoderne
12 Vgl.: Zohlen, Metropole als Metapher S.31f 13 Vgl.: Wischmann, Gegenwart S.342 14 Vgl.: Wischmann, Gegenwart S.342ff 15 Vgl.: Keil, Kjærstad vs. Høeg S.65