Anmerkung zu OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 19.7.2013 – 13 A 719/13 (VG Köln)

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i. S. des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG ist, ist regelmäßig eine Frage des Einzelfalls, der keine grundsätzliche Bedeutung zu- kommt. Dies gilt auch für die Bedeutung, die dem Wort „akut“ als Teil einer Arzneimittelbezeichnung von den Verkehrskreisen bzw. von einem nicht unerheblichen [Teil] der Verkehrskreise zugeschrieben wird. Es ist von der Kl. nicht dargelegt (§ 124 a Abs. 4 S. 4 VwGO), dass bzw. wes- halb die Verbraucher dem Bezeichnungsbestandteil „akut“ immer dieselbe Bedeutung zuschreiben sollten, unabhän- gig von dem jeweiligen Anwendungsgebiet des jeweiligen Arzneimittels. Daher verhindert auch die Präsenz Dutzen- der anderer Arzneimittel, deren jeweilige Bezeichnung den Bestandteil „akut“ enthält, auf dem deutschen Arzneimit- telmarkt nicht den irreführenden Charakter der Bezeich- nung „O. akut 20 mg“. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i. S. des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ergibt sich auch nicht daraus, dass das OLG München in dem Urt. v. 25. 2. 2010 – 29 U 5347/09 – entschieden hat, der Bestandteil „akut“ in der Bezeichnung des streitgegenständlichen Arzneimittels ver- stoße nicht gegen § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG. Zwar kann eine abweichende Beurteilung einer Rechts- bzw. Tatsachenfrage durch ein anderes Oberverwaltungs- gericht die grundsätzliche Bedeutung begründen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2009 – 1 BvR 814/09 –, NJW 2009, 3642 = juris, Rdnrn. 22 bis 24; Seibert, in: Sodan/ Ziekow [Hrsg.], VwGO, 3. Aufl. 2010, § 124, Rdnr. 132), ein solches ist das OLG München aber nicht. Ebenso wenig ist es ein oberstes Bundesgericht, des- sen abweichende Auslegung einer Norm die grundsätzli- che Bedeutung einer Rechtssache begründen kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22. 6. 1984 – 8 B 121/83 –, juris, Rdnr. 3; Meyer=Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schnei- der/Bier [Hrsg.], VwGO, § 124, Rdnr. 39). 3. Schließlich liegt auch keine Abweichung i. S. des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO vor. Das Urt. des OLG München v. 25. 2. 2010 ist keine Ent- scheidung eines der in dieser Vorschrift abschließend be- nannten Divergenzgerichte. Diese sind allein das OVG, das BVerwG, der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes und das BVerfG. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erfasst Entscheidungen anderer Gerichtsbarkeiten nicht, sondern zielt allein auf die Einheitlichkeit der Recht- sprechung innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. Meyer=Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier [Hrsg], VwGO, § 124, Rdnr. 39 m. w. N.). Darüber hinaus fehlt es in dem angefochtenen Urteil des VG an einer Abweichung von dem Urt. des OLG München v. 25. 2. 2010 hinsichtlich einer abstrakten Rechts- oder Tatsachenfrage. Vielmehr liegt eine abweichende Anwen- dung des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG bezogen auf den Einzelfall der Arzneimittelbezeichnung „O. akut 20 mg“ vor. DOI: 10.1007/s00350-014-3710-7 Anmerkung zu OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 19. 7. 2013 – 13 A 719/13 (VG Köln) Kerstin Brixius Der Beschluss befasst sich mit zwei Rechtsfragen. Während die Einstufung der geänderten Bezeichnung als irreführend nachvollziehbar, wenn auch nicht über- zeugend ist, sind die Ausführungen mit Blick auf die Reichweite der Prüfkompetenz unzutreffend, aber gefes- tigte Rechtsprechung. So hatte das OVG Nordrh.-Westf. schon mit Urt. v. 23. 5. 2007 – 13 A 3657/04 – festgestellt, dass bei einer Än- derung der Bezeichnung des Arzneimittels der Zulassungs- bescheid zu ändern sei, der geänderte Zulassungsbescheid aber nur dann eine legale Zulassung aussprechen könne, wenn die Vereinbarkeit der Änderung mit § 25 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 i. V. mit § 8 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 AMG geprüft und bejaht worden sei. Diese Rechtsansicht war und ist rechtssystema- tisch verfehlt. Das AMG ist ein Schutzgesetz. Dessen systematische Ausgestaltung resp. die konkreten Inhalte, insb. die dahin- ter stehenden europarechtlichen Vorgaben sind das Ergeb- nis einer sorgfältigen risikobasierten Abwägung, die den Schutz der öffentlichen Gesundheit verfolgt. Vor diesem Hintergrund sieht das AMG zahlreiche (abschließende) Eingriffs- und Maßnahmebefugnisse vor, die der jeweili- gen Gefahrensituation Rechnung tragen. Konkret hat der Gesetzgeber den Zulassungsbehörden auf der Grundlage definierter Gefahrentatbestände Eingriffsbefugnisse einge- räumt, die gebundene wie auch Ermessensentscheidungen umfassen; bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzun- gen sind Rücknahme, Widerruf oder Ruhensanordnung zur vorhandenen Zulassung zu verfügen. Die jeweiligen Eingriffstatbestände, die eine bundesoberbehördliche Maß- nahme auslösen können, sind über Verweise auf definier- te versagungsrelevante Tatbestände, wie sie in § 25 Abs. 2 AMG enthalten sind, definiert. Die für die Bezeichnungsänderung maßgebliche Rechts- grundlage, § 29 Abs. 2 AMG, sieht indes weder eine Ein- griffsbefugnis noch eine Bezugnahme auf den Versagungs- tatbestand des § 25 Abs. 2 Nr. 7 AMG, sondern einen schrankenlosen Anspruch auf Bescheidänderung vor. Dies aus gutem Grund, da es nach der gesetzlichen Systematik schon keiner Eingriffsbefugnis bedarf. Denn das Arznei- mittelgesetz beinhaltet eine risikobasierte Regelung zum Umgang mit Bezeichnungen, die nach der Struktur des Gesetzes als abschließend anzusehen ist. So ist nach § 25 Abs. 3 AMG die Zulassung für ein Arzneimittel zu versa- gen, das sich von einem zugelassenen oder bereits im Ver- kehr befindlichen Arzneimittel gleicher Bezeichnung in der Art oder der Menge der Wirkstoffe unterscheidet. An- dere Änderungen der Arzneimittelbezeichnung sind indes nur dem abstrakten Verbot der Irreführung nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG unterstellt. Entsprechend ist es entgegen der Rechtsprechung des OVG Nordrh.-Westf. mitnichten Förmelei, im Falle ei- nes nach § 29 Abs. 2 AMG vorbehaltlos formulierten An- spruchs auf Bescheidänderung diesem schon deshalb nicht zu entsprechen, weil die hiernach geänderte Zulassung anschließend im Rahmen eines pflichtgemäßen Ermessens per Ruhensanordnung oder bestandsvernichtender Maß- nahme ausgesetzt oder vernichtet werden kann. Denn eine solche Ansicht ist mit der risikobasierten und ausgewogenen Gesetzessystematik des AMG schlicht nicht in Einklang zu bringen. Die Änderung der Bezeichnung wird – anders als die Zulassung eines bezeichnungsgleichen Arzneimittels – vom arzneimittelrechtlichen Grundansatz offensichtlich als evident weniger risikobehaftet eingestuft als die de lege lata versagungsrelevante „gleiche Bezeich- nung“ i. S. des § 25 Abs. 3 AMG. Dies bedeutet nicht, dass eine irreführende Bezeichnung im Einzelfall nicht (nahe- zu) gleichartige Gefahrensituationen wie eine gleiche Be- zeichnung auslösen kann – doch geht der Gesetzgeber ganz offensichtlich davon aus, dass die abstrakte Gefahrensitua- tion eine weitaus weniger gefahrenträchtige ist. Nicht zuletzt ist in diesem Kontext zu berücksichtigen, dass das Arzneimittelgesetz den Bundesoberbehörden und zuständigen Behörden alle Eingriffs- und Maßnahme- befugnisse zur Verfügung stellt, um einen tatsächlichen Rechtsanwältin Dr. iur. Kerstin Brixius, Fachanwältin für Medizinrecht, Kanzlei am Ärztehaus Frehse Mack Vogelsang, Gustav-Heinemann-Ufer 56, 50968 Köln, Deutschland Rechtsprechung MedR (2014) 32: 337–338 337

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i. S. des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG ist, ist regelmäßig eine Frage des Einzelfalls, der keine grundsätzliche Bedeutung zu-kommt. Dies gilt auch für die Bedeutung, die dem Wort „akut“ als Teil einer Arzneimittelbezeichnung von den Verkehrskreisen bzw. von einem nicht unerheblichen [Teil] der Verkehrskreise zugeschrieben wird. Es ist von der Kl. nicht dargelegt (§ 124 a Abs. 4 S. 4 VwGO), dass bzw. wes-halb die Verbraucher dem Bezeichnungsbestandteil „akut“ immer dieselbe Bedeutung zuschreiben sollten, unabhän-gig von dem jeweiligen Anwendungsgebiet des jeweiligen Arzneimittels. Daher verhindert auch die Präsenz Dutzen-der anderer Arzneimittel, deren jeweilige Bezeichnung den Bestandteil „akut“ enthält, auf dem deutschen Arzneimit-telmarkt nicht den irreführenden Charakter der Bezeich-nung „O. akut 20 mg“.

Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i. S. des § 124 Abs.  2 Nr.  3 VwGO ergibt sich auch nicht daraus, dass das OLG München in dem Urt. v. 25. 2. 2010 – 29 U 5347/09 – entschieden hat, der Bestandteil „akut“ in der Bezeichnung des streitgegenständlichen Arzneimittels ver-stoße nicht gegen § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG.

Zwar kann eine abweichende Beurteilung einer Rechts- bzw. Tatsachenfrage durch ein anderes Oberverwaltungs-gericht die grundsätzliche Bedeutung begründen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2009 – 1 BvR 814/09  –, NJW 2009, 3642 = juris, Rdnrn. 22 bis 24; Seibert, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], VwGO, 3. Aufl. 2010, § 124, Rdnr. 132), ein solches ist das OLG München aber nicht.

Ebenso wenig ist es ein oberstes Bundesgericht, des-sen abweichende Auslegung einer Norm die grundsätzli-che Bedeutung einer Rechtssache begründen kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22. 6. 1984 – 8  B 121/83  –, juris, Rdnr.  3; Meyer=Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schnei-der/Bier [Hrsg.], VwGO, § 124, Rdnr. 39).

3. Schließlich liegt auch keine Abweichung i. S. des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO vor.

Das Urt. des OLG München v. 25. 2. 2010 ist keine Ent-scheidung eines der in dieser Vorschrift abschließend be-nannten Divergenzgerichte. Diese sind allein das OVG, das BVerwG, der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes und das BVerfG. § 124 Abs.  2 Nr.  4 VwGO erfasst Entscheidungen anderer Gerichtsbarkeiten nicht, sondern zielt allein auf die Einheitlichkeit der Recht-sprechung innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. Meyer=Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier [Hrsg], VwGO, § 124, Rdnr. 39 m. w. N.).

Darüber hinaus fehlt es in dem angefochtenen Urteil des VG an einer Abweichung von dem Urt. des OLG München v. 25. 2. 2010 hinsichtlich einer abstrakten Rechts- oder Tatsachenfrage. Vielmehr liegt eine abweichende Anwen-dung des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG bezogen auf den Einzelfall der Arzneimittelbezeichnung „O. akut 20 mg“ vor.

DOI: 10.1007/s00350-014-3710-7

Anmerkung zu OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 19. 7. 2013 – 13 A 719/13 (VG Köln)

Kerstin Brixius

Der Beschluss befasst sich mit zwei Rechtsfragen. Während die Einstufung der geänderten Bezeichnung

als irreführend nachvollziehbar, wenn auch nicht über-zeugend ist, sind die Ausführungen mit Blick auf die

Reichweite der Prüfkompetenz unzutreffend, aber gefes-tigte Rechtsprechung.

So hatte das OVG Nordrh.-Westf. schon mit Urt. v. 23. 5. 2007 – 13 A 3657/04 – festgestellt, dass bei einer Än-derung der Bezeichnung des Arzneimittels der Zulassungs-bescheid zu ändern sei, der geänderte Zulassungsbescheid aber nur dann eine legale Zulassung aussprechen könne, wenn die Vereinbarkeit der Änderung mit § 25 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 i. V. mit § 8 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 AMG geprüft und bejaht worden sei. Diese Rechtsansicht war und ist rechtssystema-tisch verfehlt.

Das AMG ist ein Schutzgesetz. Dessen systematische Ausgestaltung resp. die konkreten Inhalte, insb. die dahin-ter stehenden europarechtlichen Vorgaben sind das Ergeb-nis einer sorgfältigen risikobasierten Abwägung, die den Schutz der öffentlichen Gesundheit verfolgt. Vor diesem Hintergrund sieht das AMG zahlreiche (abschließende) Eingriffs- und Maßnahmebefugnisse vor, die der jeweili-gen Gefahrensituation Rechnung tragen. Konkret hat der Gesetzgeber den Zulassungsbehörden auf der Grundlage definierter Gefahrentatbestände Eingriffsbefugnisse einge-räumt, die gebundene wie auch Ermessensentscheidungen umfassen; bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzun-gen sind Rücknahme, Widerruf oder Ruhensanordnung zur vorhandenen Zulassung zu verfügen. Die jeweiligen Eingriffstatbestände, die eine bundesoberbehördliche Maß-nahme auslösen können, sind über Verweise auf definier-te versagungsrelevante Tatbestände, wie sie in § 25 Abs. 2 AMG enthalten sind, definiert.

Die für die Bezeichnungsänderung maßgebliche Rechts-grundlage, § 29 Abs. 2 AMG, sieht indes weder eine Ein-griffsbefugnis noch eine Bezugnahme auf den Versagungs-tatbestand des § 25 Abs.  2 Nr.  7 AMG, sondern einen schrankenlosen Anspruch auf Bescheidänderung vor. Dies aus gutem Grund, da es nach der gesetzlichen Systematik schon keiner Eingriffsbefugnis bedarf. Denn das Arznei-mittelgesetz beinhaltet eine risikobasierte Regelung zum Umgang mit Bezeichnungen, die nach der Struktur des Gesetzes als abschließend anzusehen ist. So ist nach § 25 Abs. 3 AMG die Zulassung für ein Arzneimittel zu versa-gen, das sich von einem zugelassenen oder bereits im Ver-kehr befindlichen Arzneimittel gleicher Bezeichnung in der Art oder der Menge der Wirkstoffe unterscheidet. An-dere Änderungen der Arzneimittelbezeichnung sind indes nur dem abstrakten Verbot der Irreführung nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG unterstellt.

Entsprechend ist es entgegen der Rechtsprechung des OVG Nordrh.-Westf. mitnichten Förmelei, im Falle ei-nes nach § 29 Abs. 2 AMG vorbehaltlos formulierten An-spruchs auf Bescheidänderung diesem schon deshalb nicht zu entsprechen, weil die hiernach geänderte Zulassung anschließend im Rahmen eines pflichtgemäßen Ermessens per Ruhensanordnung oder bestandsvernichtender Maß-nahme ausgesetzt oder vernichtet werden kann.

Denn eine solche Ansicht ist mit der risikobasierten und ausgewogenen Gesetzessystematik des AMG schlicht nicht in Einklang zu bringen. Die Änderung der Bezeichnung wird – anders als die Zulassung eines bezeichnungsgleichen Arzneimittels – vom arzneimittelrechtlichen Grundansatz offensichtlich als evident weniger risikobehaftet eingestuft als die de lege lata versagungsrelevante „gleiche Bezeich-nung“ i. S. des § 25 Abs. 3 AMG. Dies bedeutet nicht, dass eine irreführende Bezeichnung im Einzelfall nicht (nahe-zu) gleichartige Gefahrensituationen wie eine gleiche Be-zeichnung auslösen kann – doch geht der Gesetzgeber ganz offensichtlich davon aus, dass die abstrakte Gefahrensitua-tion eine weitaus weniger gefahrenträchtige ist.

Nicht zuletzt ist in diesem Kontext zu berücksichtigen, dass das Arzneimittelgesetz den Bundesoberbehörden und zuständigen Behörden alle Eingriffs- und Maßnahme-befugnisse zur Verfügung stellt, um einen tatsächlichen

Rechtsanwältin Dr. iur. Kerstin Brixius, Fachanwältin für Medizinrecht, Kanzlei am Ärztehaus Frehse Mack Vogelsang, Gustav-Heinemann-Ufer 56, 50968 Köln, Deutschland

Rechtsprechung MedR (2014) 32: 337–338 337

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akuten Gefahrentatbestand mit sofortiger Wirkung zu be-seitigen. Auch insoweit droht keine Gefährdung der öffent-lichen Gesundheit.

An dieser Stelle verkennt die Rechtsprechung ganz offen-sichtlich den weiteren maßgeblichen Unterschied, der sich aus der abweichenden Darlegungs- und Beweislastvertei-lung ergibt. Denn nach der gesetzlichen Systematik ist die Bezeichnungsänderung einzutragen, das Arzneimittel hier-nach verkehrsfähig. Bei Annahme eines Rechtsverstoßes ist behördlicherseits sodann zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine bestandsvernichtende oder suspendierende Zulas-sungsmaßnahme vorliegen. Ist dies nicht der Fall, weil die Schwelle der versagungsrelevanten Tatbestände nicht über-schritten wird, so geht dies im Zweifel zulasten der Bun-desoberbehörde. Und eben dies entspricht der gesetzgeberi-schen Intention resp. dem risikobasierten Ansatz.

Die Rechtsprechung indes kehrt dieses Verhältnis regel- und systemwidrig um.

Rückwirkende Erhöhung der Abrechnungs-obergrenzen bei Job-Sharing-Praxen

SGB V § 101 Abs. 1 S. 1 Nr. 5; BedarfsplRL v. 20. 12. 2012 § 44 S. 2

1. Eine Vertragsarztpraxis, die als Gemeinschaftspra-xis gem. § 101 Abs. 1 Nr. 4 SGB V oder wegen Beschäf-tigung eines angestellten Arztes gem. § 101 Abs. 1 Nr. 5 SGB V einer Leistungsbeschränkung unterliegt ( Job-Sharing-Praxis), kann die Anpassung der vom Zulas-sungsausschuss gem. § 44 S. 2 BedarfsplRL festgelegten Abrechnungsobergrenzen auch rückwirkend zu dem Zeitpunkt verlangen, zu dem sich der EBM oder die vertraglichen Vereinbarungen, die für das Gebiet der Arztgruppe maßgeblich sind, geändert haben.

2. Der Antrag auf (rückwirkende) Anpassung der Abrechnungsobergrenzen ist jedenfalls innerhalb der Widerspruchsfrist gegen den Honorar- oder Rückfor-derungsbescheid, der Honorarkürzungen oder -rück-forderungen wegen Überschreitung der Abrechnungs-obergrenzen festlegt, zulässig.

3. Dem Antrag auf Anpassung der Abrechnungsober-grenzen fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn Hono-rar- oder Rückforderungsbescheide, die Honorarkür-zungen oder -rückforderungen wegen Überschreitung der Abrechnungsobergrenzen enthalten, bestandskräf-tig geworden sind.

4. Der Vertragsarzt muss bei einem Antrag auf An-passung der Abrechnungsobergrenzen substantiiert dar-legen, wie sich die Änderung des EBM bei konstanter Fallzahl und konstanter Behandlungsausrichtung auf seine Praxis ausgewirkt hat. (Leitsätze des Bearbeiters)BSG, Urt. v. 28. 8. 2013 – B 6 KA 36/12 R (LSG Bad.-Württ.)

Problemstellung: Die Entscheidung des BSG be-trifft die Frage, ob in Job-Sharing-Praxen gemäß § 101 Abs. 1 Nr. 4 oder Nr. 5 SGB V die Abrechnungsober-grenze auf Antrag des Vertragsarztes auch rückwirkend angepasst werden kann, wenn sich die Berechnungs-grundlagen (z. B. der EBM-Ä) geändert haben. Die Abrechnungsobergrenze wird gemäß § 42 Abs.  1 S.  1 BedarfsplRL durch quartalsbezogene Gesamtpunkt-

zahlvolumina festgelegt. Nach § 44 S.  2 BedarfsplRL können diese Gesamtpunktzahlvolumina auf Antrag des Arztes neu berechnet werden, wenn Änderungen des EBM oder der vertraglichen Vereinbarungen, die für das Gebiet der Arztgruppe maßgeblich sind, spürbar Aus-wirkungen auf die Berechnungsgrundlagen haben. Die Vorschrift regelt nicht, wann ein entsprechender Antrag zu stellen ist und zu welchem Termin die Anpassung begehrt werden kann. Das BSG stellte nun klar, dass bei einer Änderung des EBM die Neuberechnung der Ab-rechnungsobergrenzen rückwirkend auf die Änderung des EBM beantragt werden kann.

Zum Sachverhalt: Die Kl. ist eine Berufsausübungsgemein-schaft, die im maßgeblichen Zeitraum aus zwei Fachärzten für In-nere Medizin bestand, von denen der eine zum hausärztlichen und der andere zum fachärztlichem Versorgungsbereich zugelassen war. Mit Bescheid v. 27. 8. 1999 genehmigte der Zulassungsausschuss gem. § 101 Abs. 1 Nr. 5 SGB V i. V. mit den AÄRL (heute: Ä-BedarfsplRl) die Beschäftigung einer angestellten Fachärztin und legte dazu quar-talsbezogene Gesamtpunktzahlvolumina als Abrechnungsobergren-zen fest. Ab der Änderung des EBM zum 1. 4. 2005 hatte sich die vertragsärztliche Honoraranforderung der Kl. erheblich erhöht. Die beigeladene KÄV hatte die erhöhte Honoraranforderung zunächst mit den Honorarbescheiden II/2005 und folgende an die Kl. ausbe-zahlt. Am 27. 10. 2006 erließ die KÄV einen Rückforderungsbescheid wegen Überschreitung der Abrechnungsobergrenzen des Jahres 2005; der Rückforderungsbescheid ist Gegenstand eines gesonderten Klageverfahrens gegen die KÄV, welches derzeit in 1. Instanz ruht. Die Kl. beantragte auf den Rückforderungsbescheid v. 27. 10. 2006 am 7. 11. 2006 beim Zulassungsausschuss rückwirkend zum 1. 4. 2005 die Neuberechnung der Abrechnungsobergrenzen. Der Zulassungs-ausschuss lehnte die Neuberechnung der Abrechnungsobergrenzen ab. Widerspruch zum beklagten Berufungsausschuss, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Mit der Revision verfolgte die Kl. ihr Begehren, die Abrechnungsobergrenzen rückwirkend zum 1. 4. 2005 neu festzulegen, weiter.

Aus den Gründen: [13] II. Die Revision der Kl. ist i. S. einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Be-rufungsgericht begründet. Das LSG hat zu Unrecht ange-nommen, dass ein Anspruch auf rückwirkende Erhöhung der Abrechnungsobergrenzen für die Zeit vom Quartal II/2005 bis einschließlich IV/2006 schon dem Grunde nach nicht besteht.

[14] 1. Rechtsgrundlage des Korrekturbegehrens der Kl. ist die heute in § 44 S. 2 i. V. mit § 60 Abs. 1 S. 2 Bedarfspl-RL und zuvor wortgleich in Nr. 3.3 S. 2 AÄRL bzw. in § 23 e S. 2 i. V. mit § 23 k Abs. 1 S. 2 BedarfsplRL a. F. ent-haltene Regelung, wonach auf Antrag des Vertragsarztes die Gesamtpunktzahlvolumina neu zu bestimmen sind, wenn Änderungen des EBM-Ä oder vertragliche Verein-barungen, die für das Gebiet der Arztgruppe maßgeblich sind, spürbare Auswirkungen auf die Berechnungsgrund-lagen haben. Diese – vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bzw. nachfolgend dem Gemeinsamen Bun-desausschuss – erlassenen Regelungen haben ihre Ermäch-tigungsgrundlage in § 101 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SGB V; sie kon-kretisieren die dort normierten gesetzlichen Vorgaben über die Anstellung von Ärzten in Job-Sharing-Verhältnissen.

[15] Für die Entscheidung sind formal noch die Rege-lungen der bis zum 31. 3. 2007 geltenden AÄRL i. d. F. v. 1. 10. 1997- BAnz Nr. 9 S. 372 v. 15. 1. 1998 –, zuletzt geändert am 22. 10. 2001 – BAnz Nr. 20 S. 1618 v. 30. 1. 2002) maß-geblich, da eine rückwirkende Erhöhung der Abrechnungs-obergrenzen für den Zeitraum 1. 4. 2005 bis 31. 12. 2006 im Streit steht. Zwar sind nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. z. B. BSGE 94, 181 = SozR 4-2500 § 103 Nr. 2, Rdnr. 5; BSG, SozR 4-2500 § 101 Nr. 2, Rdnr. 12; BSGE 104, 116 = SozR 4-2500 § 101 Nr. 7, Rdnr. 26; BSGE 104, 128 = SozR 4-2500 § 95 Nr. 15, Rdnr. 29; zuletzt BSG, Urt. v. 20. 3. 2013 – B 6 KA 19/12 R –, Rdnr. 22, zur Ver-

Eingesandt von RiBSG a. D. Prof. Dr. iur. Thomas Clemens, Kassel, Deutschland; bearbeitet von Rechtsanwalt Claus Jürgen Heine, Fachanwalt für Medizinrecht, Grünwälderstraße 1–7, 79098 Freiburg, Deutschland

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