Anne Jüssen: Zum Beispiel Lieselotte

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ANNE JÜSSEN: ZUM BEISPIEL LIESELOTTE (ZUR ERINNERUNGEN AN ELISABETH RIEPING) Zum Beispiel Lieselotte. Wo sie stand, da stand sie mit dem Rücken gegen die Wand und kämpfte ununterbrochen. Da flogen die Fetzen und da fielen die Brocken. Wo sie war, da war sie der Mittelpunkt, der Angelpunkt der Welt, der Dreh- und Wendepunkt, die Achse der Erde, niemand kam ungeschoren an ihr vorbei. Sie griff an, was sich zeigte, sie griff ein wie Magensäure, man kam nicht an ihr vorbei, man maßte es lernen, sie zu verdauen, sie war schwierig, wo sie war, da war sie, um beachtet zu werden, und zwar sie, nicht ihre Frisur oder ihre neuen Schuhe, sondern sie in ihrer chaotischen Ganzheit, in totaler Anwesenheit, in zerrissenen Jeans und zerschlissenen Schuhen, egal. Als wir einzogen, war sie diejenige, die zwei Stunden später “wohnte”, mit Schaukelstuhl, Bambusregal, Persianerteppich, frisch restaurierter Jugendstilkammode, rundem Tisch, Polsterstühlen und Schaumstoffmatratzenklappbett, alles war perfekt, von ihrer Mutter geliefert, nur die Gardinen, da wollte sie nicht so konventionell sein, da hatte sie keine Alternative, da suchte sie noch einen Kompromiss, das war ja auch zunächst nicht so wichtig, die Gar- dinen waren erst mal Nebensache, das machte doch nichts, sollten doch die Leute aus den Büro von gegenüber glotzen, wenn sie morgens aufstand, sie war nicht prüde, und eine schlechte Figur hatte sie auch nicht. Wenn sie Besuch hatte, spannte sie mit Heftzwecken eine Bettdecke vor das Fenster, wenn es wirklich nicht mehr anders ging. In ihrem Zimmer türmten sich offene Schubladen, abendliche Zufallsbettlektüre, abgestreifte Kleider, Strümpfe, Jeans, Schuhe, der Tisch stand voller halb geleerter Tassen mit abgestandenem Kaffee, angebrochenen Joghurtbechern, aufgeschlagenen Kladden mit unbedingt wichtigen Notizen, dicken Chemielehrbüchern, es ging ein bisschen durcheinander, ihr Studium und ihr Privatleben, in ihren Notizen, Robert, das “radikale Reptil” neben komplizierten Kohlenstoffverbindungen, und die Büroangestellten von gegen- über standen am Fenster und glotzen, sie hatten gerade Frühstückspause, und Lieselotte hatte immer noch keine Gardinen, sie konnte sich nicht entschließen, die üblichen weißen Synthetikgardinen – nein danke! Außerdem hatte sie im Moment sowieso keine Zeit dafür, nächste Woche vielleicht oder so… das wollte sie sich noch mal überlegen, bis dahin hatte sie noch ein wenig Zeit, sie wollte ein wenig zeichnen, zur Entspannung, sie stand so unter Stress, was sollte sie denn bloß machen, ach ja, gegenüber wurde eine Kneipe renoviert, “Henriette Schnappschuß eröffnet hier in Kürze” stand da zu lesen, ja, darauf, das reizte sie, darauf wollte sie reagieren, so etwas wollte sie auch machen, die sollten eine Antwort von ihr bekommen, also besorgte sie sich einen großen Karton und schrieb in großer bunter Schrift: “Auch wir sind sehr erfreut, dass Henriette Schnappschuß hier demnächst eröffnet” und hängte den Karton ins Fenster, im ersten Stockwerk, man konnte den Karton gut lesen von draußen, als sie zwei Tage später erfuhr, dass “Henniette Schnappschuß” ein Animierlokal sei, entfernte sie diesen Karton und schrieb auf die Rückseite: “Nachdem wir erfahren haben, um welche Art von Lokal es sich bei ‘Henriette Schnappschuß’ handelt, begrüßen wir dieses selbstverständlich nicht mehr.” Als dieser Spruch eine Woche im Fenster hing, kam der erste Brief vorn Hausmeister. Inzwischen laqen alle ihre Kleider vor ihrem Bett

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ANNE JÜSSEN: ZUM BEISPIEL LIESELOTTE (ZUR ERINNERUNGEN AN ELISABETH RIEPING)

Zum Beispiel Lieselotte.Wo sie stand, da stand sie mit dem Rücken gegen die Wand und kämpfte ununterbrochen. Da flogen die Fetzen und da fielen die Brocken. Wo sie war, da war sie der Mittelpunkt, der Angelpunkt der Welt, der Dreh- und Wendepunkt, die Achse der Erde, niemand kam ungeschoren an ihr vorbei. Sie griff an, was sich zeigte, sie griff ein wie Magensäure, man kam nicht an ihr vorbei, man maßte es lernen, sie zu verdauen, sie war schwierig, wo sie war, da war sie, um beachtet zu werden, und zwar sie, nicht ihre Frisur oder ihre neuen Schuhe, sondern sie in ihrer chaotischen Ganzheit, in totaler Anwesenheit, in zerrissenen Jeans und zerschlissenen Schuhen, egal. Als wir einzogen, war sie diejenige, die zwei Stunden später “wohnte”, mit Schaukelstuhl, Bambusregal, Persianerteppich, frisch restaurierter Jugendstilkammode, rundem Tisch, Polsterstühlen und Schaumstoffmatratzenklappbett, alles war perfekt, von ihrer Mutter geliefert, nur die Gardinen, da wollte sie nicht so konventionell sein, da hatte sie keine Alternative, da suchte sie noch einen Kompromiss, das war ja auch zunächst nicht so wichtig, die Gar-dinen waren erst mal Nebensache, das machte doch nichts, sollten doch die Leute aus den Büro von gegenüber glotzen, wenn sie morgens aufstand, sie war nicht prüde, und eine schlechte Figur hatte sie auch nicht. Wenn sie Besuch hatte, spannte sie mit Heftzwecken eine Bettdecke vor das Fenster, wenn es wirklich nicht mehr anders ging.In ihrem Zimmer türmten sich offene Schubladen, abendliche Zufallsbettlektüre, abgestreifte Kleider, Strümpfe, Jeans, Schuhe, der Tisch stand voller halb geleerter Tassen mit abgestandenem Kaffee, angebrochenen Joghurtbechern, aufgeschlagenen Kladden mit unbedingt wichtigen Notizen, dicken Chemielehrbüchern, es ging ein bisschen durcheinander, ihr Studium und ihr Privatleben, in ihren Notizen, Robert, das “radikale Reptil” neben komplizierten Kohlenstoffverbindungen, und die Büroangestellten von gegenüber standen am Fenster und glotzen, sie hatten gerade Frühstückspause, und Lieselotte hatte immer noch keine Gardinen, sie konnte sich nicht entschließen, die üblichen weißen Synthetikgardinen – nein danke!Außerdem hatte sie im Moment sowieso keine Zeit dafür, nächste Woche vielleicht oder so… das wollte sie sich noch mal überlegen, bis dahin hatte sie noch ein wenig Zeit, sie wollte ein wenig zeichnen, zur Entspannung, sie stand so unter Stress, was sollte sie denn bloß machen, ach ja, gegenüber wurde eine Kneipe renoviert, “Henriette Schnappschuß eröffnet hier in Kürze” stand da zu lesen, ja, darauf, das reizte sie, darauf wollte sie reagieren, so etwas wollte sie auch machen, die sollten eine Antwort von ihr bekommen, also besorgte sie sich einen großen Karton und schrieb in großer bunter Schrift: “Auch wir sind sehr erfreut, dass Henriette Schnappschuß hier demnächst eröffnet” und hängte den Karton ins Fenster, im ersten Stockwerk, man konnte den Karton gut lesen von draußen, als sie zwei Tage später erfuhr, dass “Henniette Schnappschuß” ein Animierlokal sei, entfernte sie diesen Karton und schrieb auf die Rückseite: “Nachdem wir erfahren haben, um welche Art von Lokal es sich bei ‘Henriette Schnappschuß’ handelt, begrüßen wir dieses selbstverständlich nicht mehr.” Als dieser Spruch eine Woche im Fenster hing, kam der erste Brief vorn Hausmeister. Inzwischen laqen alle ihre Kleider vor ihrem Bett auf ihrem Persianerteppich, alle Schubladen waren aufgerissen, alle Bücher lagen pittoresk um ihr Bett versteut, Ellen hatte den größten Teil des schmutzigen Geschirrs in die Küche zurückgeholt, um den normalen Ablauf unseres Haushalts zu gewährleisten, ihre Fensterbank stand voller Farbtöpfe, Pasten und Pinsel, sie hatte wieder mit ihr alten Leidenschaft, der Wandmalerei begonnen, etwas verunglückt, dieser Versuch, jedenfalls mussten wir die Türe zu ihrem Zimmer geschlossen halten.

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Der Hausmeister ermahnte sie höflich, sich doch den übrigen Hausbewohnern anzupassen und Gardinen anzubringen. Lieselotte reagierte etwas unwillig, aber sie hatte keine Zeit, sich jetzt, ausgerechnet jetzt, mit solchen Nebensächlichkeiten aufzuhalten. Nach zwei Wochen kam der nächste Brief, etwas bestimmter, sie solle doch Gardinen aufhängen. Lieselotte wusste immer noch nicht, sie hatte sich immer noch nicht zu einem Kompromiss durchringen können. Also nahm sie kurz entschlossen Pinsel und helle Farbe, damit ihr Zimmer nicht ganz verdunkelte und malte die Fensterscheiben mit einem dichten Muster zu, von draußen erinnerten die Kleckse an einen Kindergarten, der Hausmeister wusste nicht, ob er lachen sollte oder sollte er erbost reagieren, jedenfalls er war nicht einverstanden. Allmählich begann Lieselotte die Sache ernster zu nehmen und beunruhigte sich.Abends kam sie mit drei Rollen weißem Krepppapier und klebte diese mit Klebstreifen vor die mühselig sauber geschrubbten Fenster. So, jetzt konnte man kein Fenster mehr öffnen, aber den Zweck, den Gardinen haben, den erfüllte das Krepppapier genauso gut.Das war dann doch der Gipfel, und der Hausmeister platzte vor Wut, die wollten sich wohl lustig machen, das konnte er sich jetzt nicht mehr bieten lassen, und er drohte kurz entschlossen mit Kündigung. Jetzt war aber allerseits das Maß voll, jetzt waren auch Antonia und Ellen betroffen, was jetzt, jetzt gab’s einfach auch kein Verständnis mehr, auf keiner Seite mehr, da war Lieselotte gezwungen, sah sie sowieso auch ein, von Anfang an, sie war ja auch nie dagegen, nur diese entsetzlichen üblichen Gardinen, es gab wohl doch keinen Weg daran vorbei, ihre Mutter kam, brachte einen Musterkatalog mit Gardinenstoffen mit, und Lieselotte brauchte nur noch auszuwählen, brauchte sich nur für eine Farbe zu entscheiden, ihre Mutter würde die Handwerker schicken, und dann war alles geklärt. Und Lieselotte war ja auch einver-standen, sah sie ja auch ein, nur, es gefiel ihr eben doch nicht, und dann rief sie nach ein paar Tagen ihre Mutter an und meinte, sie wolle lieber doch nicht, sie würde solche Gardinen nicht ertragen, die Mutter schüttelte den Kopf, statt der teuren Deko-Stoffe, die so gut zur Einrichtung gepasst hätten, wenn das Zimmer aufgeräumt war, kaufte Lieselotte lieber einen billigen hellen Kreppstoff im Sonderangebot, schlug die Beine übereinander, krempelte die Kante des Stoffes um und nähte mit einem sehr langen Faden und sehr großen Stichen eine Naht, zog eine Kordel durch die Naht und hängte den Stoff an der Kordel vor die Glasscheibe, und das waren die Gardinen, die den provisorischen Frieden mit dem Hausmeister wiederherstellten, auf jeden Fall, jetzt knurrte er nur noch aus der Ferne.

Mit Dank an Anne Jüssen für die Genehmigung der Wiedergabe.Auch erschienen in: Anne Jüssen: Aller Anfang bin ich. Prosa. Köln: Braun 1979. ISBN: 3-88097-135-8