Anstatt vor Krisen zu warnen, sind die Ratingagenturen in ... · Enron und WorldCom in den Jahren...

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Stefanie Hiß | Sebastian Nagel Nomos Ratingagenturen zwischen Krise und Regulierung

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Stefanie Hiß | Sebastian Nagel

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Ratingagenturen zwischen Krise und Regulierung

ISBN 978-3-8329-6903-5

Anstatt vor Krisen zu warnen, sind die Ratingagenturen in den letzten Jahren selbst in die Krise geraten und sehen sich mit immer neuen Regulierungsvorschlägen konfrontiert. Der Band beleuchtet die Rolle der Agenturen, erläutert ihr Versagen in der Krise und diskutiert die Regu-lierungsversuche und den damit einhergehenden Wandel der Agenturen aus einer wirtschafts-soziologischen Perspektive.

Zu den Autoren: Prof. Dr. Stefanie Hiß, geb. 1974, studierte Volkswirtschaftslehre und Politikwis-senschaft in Heidelberg und Frankfurt am Main und promovierte in Soziologie an der Universität Bamberg. Seit 2009 ist sie Juniorprofessorin für Wirtschaftssoziologie/Soziologie der Finanzmärkte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Schumpeter-Fellow der Volkswagenstiftung. Sebastian Nagel, geb. 1986, studierte Gesellschaftstheorie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Jena, Bayreuth und Newark, Delaware (USA). Seit 2011 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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2.Auflage

Ratingagenturen zwischen Krise und Regulierung

Nomos

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1. Auflage 2012© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2012. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Über-setzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Bildnachweis Titel: istockphoto.com

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5

Abbildungsverzeichnis 15

Einleitung1 17

Rating und Ratingagenturen – Eine erste Annäherung2 26

Was versteht man unter Rating und was sind Ratingagenturen?2.1 28Kredit und Rating2.1.1 28Große und kleine Ratingagenturen2.1.2 31Bankinternes Rating und Ratingalternativen2.1.3 36Ratingergebnisse – Was kommt beim Rating heraus?2.1.4 37Geschäftsmodelle – Wer bezahlt die Ratingagenturen?2.1.5 38Solicited versus unsolicited Rating – Wer beauftragt einRating?

2.1.640

Objekte des Ratings – Wer oder was wird bewertet?2.1.7 41Adressaten von Rating – Wem nutzt ein Rating?2.1.8 42Ratingmethoden – Wie bewerten Ratingagenturen?2.1.9 42Ratingkosten – Wie teuer ist ein Rating?2.1.10 46Ratinganalysten und Rating Advisor – Wer führt ein Ratingdurch und wer bereitet die Unternehmen darauf vor?

2.1.1147

Regulierung von Ratingagenturen – Direkt und indirekt2.1.12 48Exkurs – Das Rating von Nachhaltigkeit2.1.13 50

Der nachhaltige Finanzmarkt – Ein allgemeinerÜberblick

2.1.13.151

Was versteht man unter SRI-Rating und was sindSRI-Ratingagenturen?

2.1.13.254

Objekte des SRI-Ratings – Wer oder was wirdbewertet?

2.1.13.355

Ratingmethode und -ergebnisse – Wie bewertenSRI-Ratingagenturen?

2.1.13.457

Geschäftsmodelle – Wer bezahlt die SRI-Ratingagenturen?

2.1.13.562

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Regulierung – Wer kontrolliert die SRI-Ratingagenturen?

2.1.13.663

Ausblick – Integration von SRI-Rating in dasKreditrating?

2.1.13.765

Wozu braucht man Ratingagenturen? Zur Rolle und Funktion vonIntermediären auf liberalisierten Finanzmärkten

2.266

Wie sind Ratingagenturen entstanden? Eine kurze Geschichte2.3 73Die Anfänge vor über einhundert Jahren2.3.1 74Die Phase nach der Weltwirtschaftskrise2.3.2 75Nach Bretton Woods: Manifestierung durch Regulierung2.3.3 76Von der Jahrtausendwende bis heute: Skandale, Krisen undRegulierungsversuche

2.3.479

Rating aus wissenschaftlicher Perspektive2.4 81

Der Ratingprozess3 86

Ratingarten3.1 86

Beauftragte Unternehmensratings3.2 88Vorbereitungsphase3.2.1 90Analyse- und Bewertungsphase3.2.2 91Exkurs: Rating als Black Box3.2.3 95Kommunikationsphase3.2.4 96Wiederholungsphase3.2.5 97

Nicht-beauftragte Unternehmensratings3.3 99

Mittelstands-Ratings3.4 100

Bankinterne Ratings3.5 102Basel II3.5.1 103Abhängigkeit und Interessenkonflikte3.5.2 105Zeithorizont und Informationsbasis3.5.3 107Massenproduktion3.5.4 108Scoring3.5.5 110Veröffentlichung und Adressaten3.5.6 111

Ratingkriterien3.6 113Quantitative Kriterien3.6.1 114Qualitative Kriterien3.6.2 116

Ratingurteile und deren Bedeutung3.7 119Ratingsymbole3.7.1 120

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Aussagekraft der Ratingurteile3.7.2 121Vergleichbarkeit3.7.2.1 122Konjunkturunabhängigkeit3.7.2.2 123Ausfallwahrscheinlichkeiten3.7.2.3 124

Haftung für Ratingurteile3.7.3 126

Funktionen eines Ratings3.8 127Finanzierungsfunktion3.8.1 128Informationsfunktion3.8.2 129Disziplinierungsfunktion3.8.3 131

Adressaten von Ratingergebnissen3.9 131Primäre Adressaten3.9.1 132Sekundäre Adressaten3.9.2 134

Rating von strukturierten Finanzprodukten3.10 135

Von der Krise zur Regulierung: Institutioneller Wandel in derRatingbranche

4140

Institutionen in den Sozialwissenschaften4.1 145Soziologischer Neoinstitutionalismus4.1.1 149

Historische Ausgangspunkte4.1.1.1 149Organisationale Felder4.1.1.2 151Institutionen4.1.1.3 152

Institutioneller Wandel4.1.2 153Arten institutionellen Wandels4.1.2.1 153Das Sechs-Stufen-Modell: Erklärung exogenausgelösten Wandels

4.1.2.2155

Subprime-Krise als Ratingkrise4.2 164Wachstum des Subprime-Hypothekenmarktes4.2.1 165Die Rolle von Scoring und Kreditauskunfteien4.2.2 167Die Rolle von Rating und Ratingagenturen4.2.3 170

Interessenkonflikte als Krisenursache4.3 174Interessenkonflikte – Ein begrifflich junges Phänomen4.3.1 175Das Wesen der Interessenkonflikte bei Intermediären4.3.2 176Systematisierung von Interessenkonflikten4.3.3 181Interessenkonflikte bei strukturierten Finanzprodukten4.3.4 182

Interessenkonflikt durch Beratung4.3.4.1 183

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Interessenkonflikt durch das Bezahlmodellissuer-pay

4.3.4.2184

Warum die oligopolistischeMarktstruktur Interessenkonflikteverschlimmert

4.3.4.2.1

185Warum Reputation nicht hilft4.3.4.2.2 188Warum wohlwollende Ratings imInteresse aller sind

4.3.4.2.3190

Warum das subscriber-pay-Bezahlmodell auch kein Allheilmittelist

4.3.4.2.4

191

Theorisierung – Akteure und Vorschläge in derRegulierungsdebatte

4.4196

Internationale/globale Akteure und deren Vorschläge4.4.1 198Internationale Organisation derWertpapieraufsichtsbehörden

4.4.1.1199

Enron-Skandal und Erstellung einesKodexes

4.4.1.1.1199

Subprime-Krise und dieÜberarbeitung des Kodexes

4.4.1.1.2201

Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- undSchwellenländer

4.4.1.2205

Financial Stability Board4.4.1.3 207Basler Ausschuss für Bankenaufsicht4.4.1.4 208Committee on the Global Financial System4.4.1.5 210Internationale Organisation für Normierung4.4.1.6 211

Nationale/regionale Akteure und deren Vorschläge4.4.2 212USA4.4.2.1 212Europäische Union – ESME und CESR4.4.2.2 217Europäische Union – EU-Kommission und de-Larosière-Gruppe

4.4.2.3225

Deutschland4.4.2.4 229Alternativen zur Regulierung4.4.3 231

Von der Theorie zur Praxis – Resultate der Regulierungsdebatte4.5 235Veränderungen des IOSCO-Kodexes4.5.1 238Die neue Basel-Verordnung: Basel III4.5.2 239Veränderungen in den USA4.5.3 240Neue Ratingregulierung und Veränderungen in derRatingaufsicht in der EU

4.5.4243

Zusammenfassung: Wandel der Institutionen4.5.5 245

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Am Ziel vorbei – Unintendierte Nebenfolgen der Regulierung4.6 248Mehr Wettbewerb4.6.1 250Mehr Transparenz4.6.2 253Abkehr vom Expertentum4.6.3 257

Die aktuelle Krise – Länderratings4.7 265Länderratings in der Kritik4.7.1 265Eine europäische Ratingagentur – Die Lösung?4.7.2 268

Schlussbemerkungen5 272

Literatur 285

Glossar 315

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Einleitung

Im Sommer 2011 befanden sich die Ratingagenturen auf dem bisherigen Höhe-punkt der ihnen zugestandenen medialen Aufmerksamkeit. Durch die Abwertungder Kreditwürdigkeit von Ländern wie Griechenland oder Portugal diesseits unddie Herabstufung der Bonität der USA jenseits des Atlantiks schafften sie es beinahtäglich in die Schlagzeilen der Nachrichten. Nie zuvor wurde mehr und ausführli-cher über Ratingagenturen berichtet, nie zuvor wurden sie schärfer kritisiert undnie zuvor überschlugen sich die Vorschläge zu ihrer Regulierung schneller als inden vergangenen Wochen. Sind die Warhol’schen ‚15 minutes of fame‘, die Stan-dard & Poor’s unmittelbar nach der von ihr durchgeführten Abwertung der USAvon AAA auf AA+ Anfang August vorgehalten wurden, ein Symbol für den be-vorstehenden Niedergang der Ratingagenturen? Ist die dauerhafte Medienpräsenzder Agenturen nicht ein weiteres Indiz dafür, dass sie sich tief in der Krise befinden?In einer Krise, die sie selbst mit verantworten.

Seit der Asienkrise im Jahr 1997 machen die Ratingagenturen immer wiederdurch negative Schlagzeilen von sich reden. Damals wurde ihnen vorgeworfen, siehätten die Entwicklungen in Asien nicht rechtzeitig vorhergesehen, die Krise durchihre schnellen und deutlichen Abwertungen der Länder dieser Region dann aberverstärkt. Ähnlich lautete der Vorwurf im Zuge der Unternehmensskandale umEnron und WorldCom in den Jahren 2001 und 2002, bei denen sie Bilanzfälschun-gen nicht erkannt hatten und den Pleitekandidaten noch wenige Tage vor derenZusammenbruch höchste Kreditwürdigkeit attestierten. Die Subprime-Krise 2007markiert den unrühmlichen Höhepunkt der Verfehlungen der Agenturen, als sie –verstrickt in Interessenkonflikte – strukturierte Finanzprodukte wesentlich zu op-timistisch bewerteten. Die nachfolgend notwendig gewordene breite und abrupteAbwertung der Finanzprodukte schickte mit dem US-amerikanischen Immobili-enmarkt gleich die gesamte Weltwirtschaft auf Talfahrt. Zuletzt haben sich dieAgenturen vor allem für ihr Länderrating im Zuge der Euro-Krise mit Kritik aus-einandersetzen müssen. Auch hier lautete die Anschuldigung, krisenverschärfendzu wirken und Krisenlösungen zu blockieren.

Betrachtet man die Geschichte dieser Krisen, die von Ratingagenturen mit ver-ursacht, verschärft oder wenigstens nicht rechtzeitig bemerkt worden sind, blicktman gleichzeitig auf mittlerweile 15 Jahre Ratingkrise zurück – 15 Jahre, die auchdurch eine intensive öffentliche Diskussion über die Funktion und die Arbeit, und– wie verstärkt nach den Krisen um Enron und WorldCom geschehen – durch einerege Debatte über Reform und Regulierung der Agenturen geprägt sind. Seit 15

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Jahren, so könnte man zuspitzen, bewegen sich Ratingagenturen zwischen Kriseund Regulierung, wobei jede Krise neue Regulierungen nach sich zieht, und jedeRegulierung mit einem Wandel der Agenturen einhergeht.

In diesem Krisen-Regulierungs-Kreislauf kann man als interessierter Beobach-ter leicht den Überblick verlieren.1 Zum einen umgibt Ratingagenturen und ihreRatings in gewisser Weise eine Aura des Unergründlichen, die zum Teil dem perse intransparenten Ratingprozess der Agenturen geschuldet ist, in dem Ratingur-teile in einer Black Box getroffen werden und der für Außenstehende nicht nach-vollziehbar ist. Zum anderen ist gerade seit den Unternehmensskandalen um Enronund WorldCom eine Flut von Regulierungsvorschlägen losgetreten worden, diekaum mehr überschaubar ist.

Nicht alle diese Vorschläge wurden auch tatsächlich in die Tat umgesetzt oderhaben, in der einen oder anderen Weise, Verbindlichkeit erlangt. Dennoch ist auchhier das Maß an Veränderungen gewaltig, allein wenn man die Gesetze, Verord-nungen und Ausführungsbestimmungen zu Ratingagenturen betrachtet, die in denUSA und Europa in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht wurden. Jededieser Regulierungen zieht Veränderungen der Ratingagenturen nach sich, sei esin ihren Strukturen, ihren Abläufen, oder ihrer Arbeitsweise. Unweigerlich sind dieAgenturen damit seit einigen Jahren einem Wandel ausgesetzt, der vor dem Hin-tergrund der sich überschlagenden Krisen-Regulierungs-Reaktionen schnell ausdem Blick gerät. Es ist dieser institutionelle Wandel von Rating und Ratingagen-turen, der im Mittelpunkt unserer Betrachtungen steht.

Doch bevor wir mit unseren Analysen zum Wandel beginnen, begeben wir unszunächst in die Welt des Theaters, ein von der Finanzwelt nur scheinbar weit ent-fernter Ort, ist doch die Wall Street in Manhattan vermutlich nicht ganz ohne Grundeine Seitenstraße des Broadway. Mit diesem kleinen Ausflug in ein nicht-wissen-schaftliches, aber deswegen nicht weniger erhellendes Genre, wollen wir die Be-deutung und Dramatik deutlich machen, die mit Ratingagenturen assoziiert werden.Unsere kleinen Parabeln, in denen wir die Ratingagenturen mit Dürrenmatts Ko-mödie Romulus der Große und Frischs Drama Biedermann und die Brandstifter inVerbindung bringen, erlauben eine ungewöhnliche Annäherung an den Gegen-stand.

Romulus der Große ist im gleichnamigen Stück von Friedrich Dürrenmatt derKaiser des Römischen Reiches. Er wird der vorerst letzte sein, denn das Stück

1 Die Leserinnen und Leser bitten wir um Verständnis, dass wir aus Gründen der Lesefreund-lichkeit nicht durchgehend die männliche und die weibliche Form verwenden. Wie in derdeutschen Sprache üblich, kommt zumeist das generische Maskulinum zur Anwendung. Frau-en sind damit ebenso gemeint.

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schließt mit dem Ende des Imperiums im Jahr 476.2 Die Germanen um deren An-führer Odoaker sind auf dem Vormarsch, sie stürmen auf Rom zu. Doch was machtRomulus? Er kümmert sich fast ausschließlich um seine Hühner, die er in seinemRegierungssitz züchtet. Keine Spur von einer Mobilisierung der Truppen, keinAufruf zum Widerstand, kein Anzeichen eines Sich-Entgegenstellens gegen dieGermanen; sehenden Auges lässt er sein Kaiserreich zugrunde gehen. Doch warumlässt er das zu? In einem Gespräch mit seiner Frau Julia wird seine Motivationoffenkundig. Er hält das Weltreich Rom für verkommen: Der Staat, so Romulus,„ist ein Weltreich geworden und damit eine Einrichtung, die öffentlich Mord,Plünderung, Unterdrückung und Brandschatzung auf Kosten der anderen Völkerbetrieb, bis ich gekommen bin.“ Er sei allein deshalb Kaiser geworden und dahereine Hochzeit mit der Tochter des damaligen Kaisers eingegangen, weil das dieeinzige Möglichkeit war, „das Imperium liquidieren zu können“.

Julia: Du hast mich also nur geheiratet, um das römische Imperium zu zerstören.Romulus: Aus keinem anderen Grunde.Julia: Von allem Anfang an hast du an nichts als an Roms Untergang gedacht.Romulus: An nichts anderes.Julia: Du hast die Rettung des Imperiums bewußt sabotiert.Romulus: Bewußt.Julia: Du hast den Zyniker gespielt und den ewig verfressenen Hanswurst, nur um unsin den Rücken zu fallen.Romulus: Du kannst es auch so formulieren.

So schwer es einem zu glauben fällt, könnte es nicht sein, dass Ratingagenturenauf dem Finanzmarkt derzeit genau diesen Plan verfolgen? Man stelle sich vor, dieFührungsriegen von Standard & Poor’s und Moody’s, der beiden größten Rating-agenturen, stellen sich im Jahr 2029, genau einhundert Jahre nach der bislanggrößten Weltwirtschaftskrise, vor die Presse. Dann verkünden sie im Angesichteiner erneut hereinbrechenden Finanz- und Wirtschaftskrise unvorhersehbarenAusmaßes die folgenden Worte: „Wir haben von Anfang an nichts anderes gewolltals das Ende des Kapitalismus. Zu viele Menschen mussten unter diesem Systemleiden, das wollten wir nicht länger hinnehmen.“ Haben die Ratingagenturen be-wusst Krisen herbeigeführt, die helfen sollen, den Kapitalismus zu überwinden?Zumindest scheint eine (Teil-)Schuld der Ratingagenturen an der aktuellen Kriseweitgehend unumstritten. Ob das Motiv jedoch dasselbe war wie das von Romulus,bleibt eine Spekulation.

Selbst unter der Annahme, dass die Ratingagenturen die Hauptschuld an derFinanz- und Wirtschaftskrise trügen, die seit dem Jahr 2007 über die Welt herein-

2 Die hier zitierte Fassung folgt der Werkausgabe in der Endfassung des Stückes von 1980.Sämtliche wörtlichen Übernahmen finden sich bei Dürrenmatt (1985: 77). Die erste Fassungwurde 1956 in Basel uraufgeführt.

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gebrochen ist, bliebe eine Erklärung der Krise unvollständig, wenn sie allein aufein mögliches Motiv der Führungskräfte innerhalb der Ratingagenturen abstellte.Es müsste noch eine Erklärung dafür gefunden werden, warum die Ratingagenturenüberhaupt in der Lage sind (in vielleicht 18 Jahren) den Kapitalismus abzuwickelnoder zumindest, weshalb sie in der Lage sind, eine Krise des derzeitigen Ausmaßeszu produzieren. Aber auch unabhängig davon, ob die Schuld für die Krise alleinden Ratingagenturen zugeschrieben werden kann, lohnt sich ein Blick auf dieGründe für die Macht der Agenturen. Romulus konnte das Römische Imperiumauch nur zugrunde gehen lassen, weil er der Kaiser von Rom war. Regieren etwaStandard & Poor’s und Moody’s als Doppel-Kaiser die (Finanz-)Welt? Verbringenauch sie ihre Zeit damit, am herrschaftlichen Sitz des Imperiums an der Wall StreetHühner zu züchten? Vielleicht.

Eine Möglichkeit, zu einer solchen Machtfülle zu gelangen, ergibt sich, wennman sich als Brandstifter bei Biedermännern einnistet. So könnte zumindest dieGeschichte gedeutet werden, die Max Frisch mit dem Stück Biedermann und dieBrandstifter erzählt.3 Gottlieb Biedermann wohnt zusammen mit seiner Frau Ba-bette und dem Dienstmädchen Anna in einem Haus, in dessen Umgebung es inletzter Zeit immer wieder Brandstiftungen gegeben hatte, die immer nach demsel-ben Muster abliefen: Hausierer werden ins Haus, auf den Dachboden, zum Über-nachten gelassen und am nächsten Morgen steht das Haus in Flammen. Eines Tagessteht nun auch bei Biedermann, der um diese Ereignisse weiß und diese verab-scheut, ein Hausierer vor der Tür; Biedermann ist fest entschlossen, ihn nicht insein Haus zu lassen. Mit Komplimenten an Biedermann gelingt es dem Obdach-losen Schmitz schließlich, etwas zu Essen und einen Platz auf dem Dachboden zubekommen. Biedermann erzählt seiner Frau Babette zunächst nichts davon. Dochnachdem sie die Geräusche auf dem Dachboden vernommen hat, stellt Babetteihren Mann nach einer brandlosen Nacht am nächsten Morgen zur Rede und fragt,woher er denn wisse, dass das kein Brandstifter sei? Biedermann antwortet darauf:„Ich hab ihn ja selbst gefragt“. Ein zweiter Hausierer, ein Freund von Schmitz,kommt zunächst unbemerkt ins Haus und sie scheinen vor den Augen von Bieder-mann entsprechende Vorbereitungen zu treffen, so rollen sie zum Beispiel Fässermit der Aufschrift „Benzin“ durch das Haus. In einem Gespräch mit seiner Fraulässt Biedermann erkennen, welchen Grund er hat, die beiden oben auf dem Dach-boden zu lassen:

„Wenn ich sie anzeige, die beiden Gesellen, dann weiß ich, daß ich sie zu meinenFeinden mache. Was hast du [Babette] davon! Ein Streichholz genügt, und unser Haussteht in Flammen. … Wenn ich hinaufgehe und sie einlade … [s]ind wir eben Freunde.“

3 Die Uraufführung des Stückes von Max Frisch (1996) fand 1958 in Zürich statt. Die beidenfolgenden wörtlichen Übernahmen sind in der Reihenfolge des Auftretens den Seiten 20 und 41entnommen.

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Biedermann will daraufhin beide zu einem festlichen Abendessen einladen, aller-dings ist Schmitz gerade Holzwolle holen. Der zweite Hausierer erwidert auf Bie-dermanns Nachfrage, er baue eine Zündkapsel, Zündschnur liegt auch bereits aufdem Dachboden ausgebreitet. Auch nachdem sie beim Abendessen von Brändenin ihren alten Arbeits- und Wohnstätten sprechen, davon, dass sie im Gefängniswaren, von ihrer Taktik beim Brändelegen und letztlich sogar zugeben, dass sieBrandstifter sind, versucht Biedermann jeglichen Eindruck zu vermeiden, dass ersie nicht mehr willkommen hieße. Als Zeichen des Vertrauens gibt er ihnen zuguter Letzt noch Streichhölzer. Mit Sirenen und Detonationen endet das Stück.

Die Idee Biedermanns, sich die Brandstifter zu Freunden zu machen, damit manselbst verschont bleibt, hat nicht funktioniert. Nun ist dies eine Kritik am Handelnder Menschen, die in einem totalitären System leben, die sich die Machthaber, diesie für grausam erachten, nicht zu ihren Feinden machen wollen, um keine Schwie-rigkeiten zu bekommen. Unabhängig von dieser impliziten Aufforderung, sichauch einem totalitären Regime nicht anzubiedern, kann Biedermann und die Brand-stifter auch einen Hinweis auf das Zustandekommen der Macht von Ratingagen-turen liefern. Ratingagenturen bewerten eben nicht nur Unternehmen und Wert-papiere, sondern auch Länder, wie die Einwohner Griechenlands, Irlands, Portugalsund Spaniens im Frühjahr und Sommer 2011 leidvoll erfahren mussten. Nun sindes aber vor allem staatliche Organe, die in der Lage wären, eine Regulierung desFinanzmarktes und damit auch der Ratingagenturen in Kraft zu setzen. Es ist derzeitweder die erste Krise, an deren Zustandekommen Ratingagenturen beteiligt gewe-sen sind, noch sind die Probleme mit der Qualität der Ratings in den letzten Mo-naten zum ersten Mal in Erscheinung getreten. Haben sich etwa die Ratingagen-turen als Brandstifter auf dem Dachboden der Länder eingenistet, die aber trotzaller Gefahren und Warnungen nichts dagegen unternommen haben, weil sieSchlimmes befürchten, wie zum Beispiel eine Abwertung ihrer Kreditwürdigkeitmit all den zu beobachtenden Folgen? Haben die Länder die Ratingagenturen zuihren Freunden machen wollen und deswegen keine (strenge) Regulierung ange-strebt? Wenn dem so ist, dann hat es nicht funktioniert, denn das Haus einigereuropäischer Länder, insbesondere das Griechenlands, brennt bereits lichterloh undder Wind droht das Feuer auf die umliegenden Häuser (in ‚Euro-Land‘) zu über-tragen.

In der nicht-literarischen Wirklichkeit sind die Ratingagenturen natürlich weitdavon entfernt, absichtlich den Kapitalismus zugrunde zu richten oder die Ökono-mien ganzer Länder in Schutt und Asche zu legen. Unbestreitbar können sie dieSchuldenkrise von Ländern jedoch verschärfen, wenn sie ihnen, wie im Fall Grie-chenlands, den Zugang zu den Kapitalmärkten versperren. Hier zeigt sich der großeEinfluss der Ratingagenturen auf den Finanzmärkten. Allerdings kommt dieseMacht nicht von ungefähr. Die Agenturen haben Macht und Einfluss nicht an sich

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gerissen, sondern sie profitieren von Jahrzehnten, in denen sie einerseits selbst sogut wie nicht reguliert wurden, in denen ihre Ratingurteile andererseits durch dieEinbindung in Regulierung einen immer größeren Stellenwert erhalten haben. Indieser Hinsicht sind es tatsächlich die Staaten selbst, die die Agenturen stark ge-macht haben und nun unter deren Entscheidungen leiden.

Der Zeitpunkt, an dem die Biedermänner den Brandstiftern die Tür vor der Nasezuschlagen, könnte indes bald gekommen sein. Nach mehreren Jahren zwischenKrise und Regulierung steuern die Agenturen einer neuen Phase entgegen, in denendas goldene Zeitalter fehlender Regulierung unwiederbringlich der Vergangenheitangehören könnte. Die Möglichkeit, als unabhängige, objektive Experten aufzu-treten, die aus der fehlenden Regulierung resultierte, haben die Agenturen durchihre Mitverantwortung an den Krisen und dem damit einhergehenden Missbrauchihres Expertenstatus ein für alle Mal verwirkt. Die gesetzliche Regulierung, die dieSelbstregulierung der Agenturen zu einem Ende bringt, führt auch zu einer Ablö-sung des unabhängigen Expertentums der Agenturen durch Standardisierung undVerfahrenskontrolle. Im Zuge dieses institutionellen Wandels ändert sich auch derCharakter der Ratingagenturen.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir den institutionellen Wandel der Rating-agenturen zwischen Krise und Regulierung nachzeichnen. Unsere Studie unter-gliedert sich in zwei große Teile: In der ersten Hälfte des Buches (Kapitel 2 und 3)geben wir einen allgemeinen Überblick über Rating und Ratingagenturen. Diesebeiden Kapitel, in denen wir uns zunächst vorsichtig an unseren Untersuchungs-gegenstand annähern, um dann die Besonderheiten von Rating und Ratingagentu-ren zu beschreiben, dienen dazu, die Grundlagen zu legen, auf denen unsere Ar-gumentation in der zweiten Buchhälfte aufbaut. Kapitel 2 und 3 sind beide de-skriptiv und erläuternd und vermitteln auch denjenigen Leserinnen und Lesern ei-nen Eindruck von Rating und Ratingagenturen, die sich bisher noch nicht mit derMaterie auseinandergesetzt haben. In der zweiten Hälfte der Studie kommen wirdann auf unsere eigentliche Fragestellung zu sprechen: Die Erklärung des institu-tionellen Wandels der Ratingagenturen zwischen Krise und Regulierung. Hierbeirekonstruieren wir nicht nur den Krisen-Regulierungs-Kreislauf in seinen ver-schiedenen Facetten, sondern beleuchten auch die die Agenturen betreffenden ge-setzlichen Veränderungen sowie die damit einhergehenden Probleme.

Im Einzelnen gehen wir folgendermaßen vor: In Kapitel 2, in dem wir uns demUntersuchungsgegenstand annähern, zeigen wir in einem ersten Überblick überRating und Ratingagenturen auf, welche Agenturen es gibt, welche Leistungen sieanbieten und welche Aussage ein Ratingurteil hat (Kapitel 2.1). Dabei gehen wirauch darauf ein, welche Rolle und Funktion Ratingagenturen als Intermediäre aufdem Finanzmarkt einnehmen (Kapitel 2.2). Zur besseren Einordnung der derzeiti-gen Situation bietet ein kurzer Rückblick auf die einhundertjährige, wechselvolle

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Geschichte der Ratingagenturen Orientierung (Kapitel 2.3). Ein ebenfalls knapperBlick auf die unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugänge in der Ökonomie, derPolitikwissenschaft und der Soziologie zum Thema Rating und Ratingagenturenfächert das Spektrum möglicher theoretischer Perspektiven auf (Kapitel 2.4). Zieldieses Kapitels ist es, dem bisher mit Ratingagenturen wenig vertrauten Leser einenersten, fundierten, aber dennoch allgemeinen Überblick über die Agenturen zu ge-ben.

Der zweite Teil der Studie (Kapitel 3) liefert einen detaillierten Einblick in denkonkreten Ratingprozess, mit dem wir unter anderem die in Kapitel 2.1 vorgestell-ten Themen weiter vertiefen. Ausgehend von den verschiedenen Ratingarten zeigenwir zunächst idealtypisch wichtige Phasen des Ratingverlaufs bei einem beauf-tragten Unternehmensrating auf. Neben dem beauftragten Rating gibt es noch dasnicht-beauftragte – unsolicited – Rating, das ebenfalls Erwähnung findet. Das Ra-ting von auf den Mittelstand orientierten Ratingagenturen variiert kaum vom Ra-ting der drei großen Agenturen, ist jedoch ein eigener Teilmarkt mit spezifischenAnbietern. Ein zweiter Schwerpunkt unserer Ausführungen in diesem Teil liegt aufdem internen Bankenrating. Vor allem durch die Vorgaben von Basel II hat dasinterne Bankenrating an neuer Relevanz gewonnen. Nach der Vorstellung dieserverschiedenen Ratingtypen analysieren wir weitere Bereiche eines typischen Ra-tingprozesses, zum Beispiel die zentralen quantitativen wie qualitativen Rating-kriterien, die Darstellung und Aussagekraft der Ratingurteile, die Funktionen einesRatings aus Sicht der bewerteten Unternehmen und die Adressaten eines Rating-urteils.

Im dritten Teil unserer Studie (Kapitel 4) kommen wir zur eigentlichen Frage-stellung dieses Buches, dem wir den Titel Ratingagenturen zwischen Krise undRegulierung gegeben haben. Wir fragen nach dem durch Ratingkrisen verursachtenund durch Regulierung ausgestalteten Wandel von Rating und Ratingagenturen.Ratingagenturen sind aus einer Vielzahl von Krisen in den ersten 90 Jahren ihresBestehens eher gestärkt als geschwächt hervorgegangen. Erst die Krisen der letzten15 Jahre haben dazu geführt, dass die Machtposition der Agenturen durch Regu-lierung geschwächt wurde. Zwischen Krise und Regulierung besteht damit ein kla-rer Zusammenhang, der auf die Ratingagenturen zurückwirkt. Dabei entwickelnwir zwei Argumentationslinien:

Die erste Argumentationslinie folgt mit dem Stufenmodell von Greenwood,Suddaby und Hinings (2002) einer soziologisch-theoretischen Perspektive. Deninstitutionellen Wandel, der die Agenturen erfasst hat, interpretieren wir in diesemSinne als eine Abfolge von Phasen, bei der auf Krisen Reform- und Regulierungs-vorschläge folgen, von denen sich einige in Form verbindlicher Regelungen durch-setzen und damit Veränderungen determinieren. Wir argumentieren, dass auf denexogenen Schock einer Krise und die damit einhergehende Krisenbetroffenheit

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eine Phase der sogenannten Theorisierung folgen muss, damit es letztlich zu Wan-del kommt. Theorisierung meint dabei die Generalisierung abstrakter Lösungswe-ge, die den Möglichkeitsraum potentiellen Wandels aufspannen. An der Theori-sierung zur Lösung des Ratingproblems wirkten und wirken eine Vielzahl von Ak-teuren und Organisationen durch die Unterbreitung von Reformvorschlägen mit,die wir in Kapitel 4.4 nachzeichnen. Auch wenn sich nur einige Reformvorschlägedurchsetzen, würde ohne diesen breit gefächerten Diskurs kein Wandel angestoßenwerden.

In einer zweiten Argumentationslinie betrachten wir die Inhalte der in Kraftgetretenen Regulierung und referieren über ihre Problemlösungsfähigkeit und ihrPotential, zukünftige Krisen zu verhindern. Durch die einseitige Fokussierung derReformbemühungen auf die Vermeidung oder Eindämmung der Interessenkon-flikte der Agenturen durch ein Mehr an Transparenz und Wettbewerb geraten un-seres Erachtens die Nebenfolgen einer solchen Regulierung zu sehr aus dem Blick.Wir gehen davon aus, dass die unintendierten Nebenfolgen der Regulierung zurQuelle neuer Krisen erwachsen. Interessenkonflikte eines Intermediärs sind nichteinfach und schon gar nicht durch eine einfache Reform aus der Welt zu schaffen.Ratingagenturen, die als Intermediäre stets zwischen verschiedenen Positionenstehen, sind maßgeblich durch Interessenkonflikte charakterisiert, sodass die Ein-dämmung des einen Konflikts zur Intensivierung eines anderen oder zu nachteili-gen Konsequenzen in benachbarten Gebieten führen kann. Eine solche nachteiligeKonsequenz zeigt sich auch in der Zurückdrängung des Expertentums der Agen-turen, die wir ausführlich betrachten.

Im Detail dürfen die Leserinnen und Leser dieser Studie in diesem Kapitel zu-nächst die theoretischen Grundlagen von Institutionen und institutionellem Wandelerwarten, mit denen wir die kriseninduzierten Veränderungen des Ratings rekon-struieren wollen. Neben allgemeinen Einführungen zum Begriff und zum Konzeptder Institutionen in den Sozialwissenschaften stellen wir verschiedene Arten insti-tutionellen Wandels vor, von denen wir uns im weiteren Verlauf dieser Studie aufdas Sechs-Stufen-Modell von Greenwood, Suddaby und Hinings (2002) konzen-trieren, das uns auch als Leitfaden für die weitere Untersuchung dient (Kapitel 4.1).Anschließend beleuchten wir ausführlich die Rolle der Ratingagenturen in derSubprime-Krise (Kapitel 4.2). Da Interessenkonflikte als krisenmitverantwortlichdiagnostiziert wurden, widmen wir ihnen einen eigenen Abschnitt (Kapitel 4.3). Ineinem weiteren Kapitel zeichnen wir die Lösungsvorschläge einer Theorisierungnach, die von relevanten Organisationen mit dem Ziel einer Reform der Rating-agenturen unterbreitet worden sind (Kapitel 4.4). Danach betrachten wir mit demAusgang der Regulierungsdebatte die Frage, was sich letztlich durchgesetzt, dasheißt welche Lösungsvarianten in den USA und der Europäischen Union sozialeResonanz erhalten haben (Kapitel 4.5). Anschließend betrachten wir die uninten-

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dierten Nebenfolgen, die sich aus der umgesetzten Regulierung ergeben (Kapitel4.6). Am Ende des Kapitels wenden wir uns aus aktuellem Anlass der Diskussionum das Länderrating zu (Kapitel 4.7).

Insgesamt wollen wir mit dieser Studie einen Eindruck davon vermitteln, wiedas Hin und Her zwischen Krise und Regulierung der vergangenen Jahre die Ra-tingagenturen in ihrem Charakter verändert hat. Da die Krisen weitreichend unddie sich anschließenden Regulierungen umfassend waren, konstatieren wir einensubstantiellen institutionellen Wandel, der Ratingagenturen in ihrem Kern verän-dert. Das goldene, unregulierte Zeitalter der ersten 90 Jahre ihres Bestehens gehörtdamit ein für alle Mal der Vergangenheit an. Da sich eine Regulierung von Inter-mediären wie Ratingagenturen als außerordentlich komplexe Angelegenheit er-weist, ist auch in Zukunft eine Fortsetzung des beobachteten Krisen-Regulierungs-Kreislaufs zu erwarten.

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