„Wohnen ist mehr als nur eine Wohnung...

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„Wohnen ist mehr als nur eine Wohnung haben“ Fachtag zum Abschluss des Projektes „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen" am 19. Februar 2019, Berlin Dokumentation

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„Wohnen ist mehr als nur eine Wohnung haben“ Fachtag zum Abschluss des Projektes „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen"

am 19. Februar 2019, Berlin

Dokumentation

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Impressum

HerausgeberDer Paritätische Gesamtverband Oranienburger Str. 13-14 10178 Berlin Tel.: 030 24636-0 Fax: 030 24636-110 [email protected] www.paritaet.org

Inhaltlich Verantwortlicher gemäß Presserecht: Ulrich Schneider

Redaktion:Ulrike Bauer, KelkheimLisa Schmidt, Der Paritätische Gesamtverband, Berlin

Gestaltung:Christine Maier, Der Paritätische Gesamtverband

Bilder:Titel: typogretel – photocase.com, alle anderen © Der Paritätische Gesamtverband

1. Auflage, Juli 2019

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Inhalt

Programm ........................................................................................................................................................................... 4

1. Einleitung .................................................................................................................................................................... 6

2. Begrüßung .................................................................................................................................................................. 7

2. Grußwort ..................................................................................................................................................................... 9

4. Ergebnisse des Projekts „Inklusion psychisch kranker Menschen” .................................................................. 12Grundlagen des Projekts ............................................................................................................................................................... 12Die Modellregionen ........................................................................................................................................................................ 13Übergreifende Ziele des Projekts ............................................................................................................................................... 13Kernpunkte der Befragungen ...................................................................................................................................................... 14Publikationen im Rahmen des Projekts ................................................................................................................................... 17Ausblick ............................................................................................................................................................................................... 17Sozialwissenschaftlicher Blick auf das Projekt ....................................................................................................................... 18

5. Vertreterinnen und Vertreter aus den vier Modellregionen stellten beim Fachtag Projekterfahrungen und Ergebnisse vor. .............................................................................................. 32Modellregion Berlin ......................................................................................................................................................................... 32Modellregion Main-Kinzig-Kreis ................................................................................................................................................. 34Modellregion Münster .................................................................................................................................................................... 35Modellregion Zittau ........................................................................................................................................................................ 36

6. Wohnung, Kiez und mehr ......................................................................................................................................... 37

7. Die Wohnsituation psychisch kranker Menschen – wissenschaftliche Evidenz und künftige Herausforderungen .......................................................................... 46

8. Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung – Wie können Menschen mit psychischen Erkrankungen inklusiv wohnen? ............................................................ 64

9. Wohnungswirtschaft und soziale Träger als Partner?! ....................................................................................... 69

10. Diskussionsrunde: Inklusives Wohnen gemeinsam gestalten .......................................................................... 70

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Programm

Ablauf

Moderation: Ralph Erdenberger, Journalist, WDR

10:00 Uhr Ankommen

10:15 Uhr Begrüßung   Joachim Hagelskamp, Bereichsleiter Gesundheit, Teilhabe und Dienstleistungen,

Der Paritätische Gesamtverband

10:30 Uhr Grußwort   Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung

10:45 Uhr Ergebnisse des Projekts „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen“   Lisa Schmidt, Projektleitung „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen“,

Der Paritätische Gesamtverband   Patrick Bieler, Humboldt-Universität zu Berlin

11:30 Uhr Statements aus den Modellregionen   Vertreter*innen der Modellregionen

12:00 Uhr Mittagspause

13:00 Uhr Wohnung, Kiez und mehr   Svenja Bunt, promovierte Philosophin, klinische Sozialarbeiterin und engagierte Betroffene

13:45 Uhr Die Wohnsituation psychisch kranker Menschen – wissenschaftliche Evidenz und künftige Herausforderungen

  Prof. Dr. Hans Joachim Salize, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

14:30 Uhr Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung   Kay Herklotz, stellvertretender Vorsitzender, Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V.

15:00 Uhr Wohnungswirtschaft und soziale Träger als Partner?!   Dr. Kai H. Warnecke, Präsident, Haus & Grund Deutschland – Zentralverband der Deutschen

Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e.V.

15:30 Uhr Kaffeepause

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15:45 Uhr Diskussionsrunde: Inklusives Wohnen gemeinsam gestalten   Prof. Dr. Hans Joachim Salize, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim   Corinna Rüffer (MdB), Sprecherin für Behindertenpolitik und Bürgerangelegenheiten,

Bündnis90/Die Grünen      Doreen Petri, Geschäftsführerin, Neue Wohnraumhilfe gGmbH, Darmstadt      Joachim Hagelskamp, Bereichsleiter Gesundheit, Teilhabe und Dienstleistungen,

Der Paritätische Gesamtverband   Dr. Kai H. Warnecke, Präsident, Haus & Grund Deutschland –

Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e.V.

17:00 Uhr Ausblick   Lisa Schmidt, Projektleitung „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen“,

Der Paritätische Gesamtverband

17:15 Uhr Ende der Veranstaltung

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1. Einleitung

eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen möglichst selbstbestimmt leben können.

Das Modellprojekt erstreckte sich über einen Zeitraum von insgesamt fünf Jahren. Dieser endet am 30. Sep-tember 2019. Ermöglicht wurde das Pilotprojekt durch die finanzielle Förderung der Aktion Mensch Stiftung.

Bei einer Fachtagung am 19. Februar 2019 stellte der Paritätische Gesamtverband gemeinsam mit seinen Modellregionen die Ergebnisse und Erfahrungen des Projekts vor. In dieser Dokumentation finden Sie Zu-sammenfassungen der Vorträge und Diskussionen so-wie Präsentationen von Tagungsbeiträgen.

Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben es auf dem angespannten Wohnungsmarkt extrem schwer, eine eigene Wohnung zu finden. Psychische Erkrankungen wecken bei Vermieterinnen und Vermie-tern häufig die Sorge vor möglichen Komplikationen. Dabei sind Menschen mit psychischen Beeinträchti-gungen in der Regel völlig unauffällige Mieterinnen und Mieter. Aufgrund ihrer Erkrankung können sie jedoch häufig nicht im üblichen Rahmen berufstätig sein oder verlieren ihre Stelle. Die Folge ist, dass sie oft von einer Erwerbsminderungsrente oder Grundsiche-rungsleistungen leben müssen. Mieten, die nicht leist-bar sind oder über der Angemessenheitsgrenze liegen, können sie daher nicht zahlen. Der Mangel an preis-werten Wohnungen trifft diesen Personenkreis dem-zufolge besonders hart. Menschen mit psychischen Er-krankungen sind in hohem Maß von Benachteiligung und Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt betroffen.

Mit seinem Pilotprojekt „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen“ hat der Paritätische Gesamtver-band sich im Jahr 2014 auf den Weg gemacht, Impulse zur Inklusion von Menschen mit psychischen Beein-trächtigungen im Bereich Wohnen zu geben. Das Pro-jekt soll dazu beitragen, dass psychisch kranke Men-schen besser mit Wohnraum versorgt werden können. Auch die Bedeutung inklusiver Nachbarschaften wur-de beleuchtet. Denn ein stabiles Wohnumfeld ist meist

Veranstaltungsort: Hotel Rossi, Lehrter Straße 66,10557 Berlin

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2. Begrüßung

Joachim Hagelskamp, Bereichsleiter Gesundheit, Teilhabe und Dienstleistungen

beim Paritätischen Gesamtverband

Im Juni 2013 hat der Paritätische Gesamtverband den Antrag für die Förderung des bundesweiten Modell-projekts bei der Aktion Mensch Stiftung auf den Weg gebracht. Wir wollen mit dem Projekt wegweisende Impulse zur Inklusion psychisch kranker Menschen ge-ben – so hieß es in der Kurzbeschreibung. Dazu soll-ten Paritätische Landesverbände, dem Verband ange-schlossene Selbsthilfeorganisationen, überregionale Fachverbände, einzelne Menschen und weitere Exper-ten aus der Wohnungswirtschaft einbezogen werden. Damals, das muss man sagen, war der Wohnungsmarkt noch einigermaßen entspannt.

Als das Projekt dann im November 2014 angestoßen werden konnte und wir mit Sabine Bösing und Astrid Ziechner zwei Menschen gefunden hatten, die das neue Vorhaben mit viel Engagement angingen, zeigten sich erste Gewitterwolken über dem Wohnungsmarkt. Zum ersten Mal machten Kommunen die beginnende Wohnungsnot zum Thema. Heute muss man von einer Flut sprechen, die sich daraus entwickelt hat. Aus vielen Städten und Gemeinden in Deutschland gibt es Prob-lemanzeigen, die eine deutliche Sprache sprechen. Das zeigt: Der Paritätische hatte zur richtigen Zeit den richtigen Riecher. Nämlich, die Wohnungsnot als eines der kommenden Probleme zu erkennen und dass da-mit für Menschen mit psychischen Erkrankungen be-sondere Schwierigkeiten verbunden sind. Ich will aber nicht verhehlen, dass – als wir mit dem Projekt losleg-ten – auch andere Gruppen bereits signalisierten, dass sie Schwierigkeiten hatten, Wohnungen zu finden: zum

Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund oder all-gemein Menschen mit Behinderung.

Unsere Aufgabe war es dann, vier Modellregionen für das Projekt zu finden. Es wurden Berlin, Münster, Zit-tau und Gelnhausen im Main-Kinzig-Kreis. An diese Modellregionen geht mein herzlicher Dank und Res-pekt, dass sie die ganze Zeit über dabeigeblieben sind. Denn die Problemlagen in diesen Modellregionen sind recht unterschiedlich. Sie und die Projekte und die Menschen, die mitgemacht haben, die wir befra-gen konnten, haben uns viele Impulse gegeben. Diese haben auch Eingang in die Broschüren gefunden, die der Paritätische im Rahmen des Projekts entwickelt hat. Und die Menschen haben gelernt, auf Augenhöhe zu kommunizieren. Für mich war vor allem beeindru-ckend, dass sich die Wohnungswirtschaft mit an den Tisch gesetzt hat. Sie hat zugehört, sie hat ihre Bereit-schaft erklärt mitzuarbeiten und hat sogar Empfeh-lungen erarbeitet, die in ihre Strukturen hineinwirken sollen.

Auch die Politik und die Verwaltung haben zugehört, die ganze Zeit im Beirat aktiv mitgearbeitet und er-kannt, welche Rolle Wohlfahrtsverbände und insbe-sondere die Dienste und Einrichtungen im Paritäti-schen als soziale Organisationen spielen. Sie haben erkannt, welche Probleme soziale Träger als Vermieter haben. Und man hat in der Gesetzgebung auch darauf reagiert. Die Rolle von sozialen Organisationen als Mie-terinnen wurde gestärkt.

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Der Paritätische hat durch das Projekt Wohnungsnot als gemeinsames, ressortübergreifendes Thema erkannt.

Und wir konnten eine vielfältige Vernetzung erreichen: von Bundes-, Landes- und örtlicher Ebene, von betrof-fenen Menschen und ihren Angehörigen, Leistungser-bringern, Sozialwirtschaft, Politik, Wohnungswirtschaft und verschiedensten Expertinnen und Experten.

Ein Beispiel für die Vernetzung ist die Zusammenarbeit mit einem Projekt der Lebenshilfe, bei dem es insbe-sondere um Menschen mit kognitiven Einschränkun-gen geht, und um die Frage, wie diese Menschen eine Wohnung bekommen können. Im Rahmen dieses Pro-jekts, das auch von der Aktion Mensch gefördert wur-de, wurde ein Werkzeugkoffer entwickelt. Durch den Austausch haben wir viel voneinander gelernt.

Mit der Abschlusstagung und deren Dokumentation ist das Projekt aber noch nicht beendet. Wir schließen zwar den öffentlichen Teil sozusagen ab. Aber es gibt

noch eine Evaluation vom Dachverband Gemeinde-psychiatrie, die mit unseren Erkenntnissen zusammen-geführt werden muss. Ich hoffe, dass wir im September soweit sind, einen Abschlussbericht vorzulegen. Bis dahin ist es noch ein ganzes Stück Arbeit für Projekt-referentin Lisa Schmidt, die die Nachfolge von Frau Bösing angetreten hat, und für Herrn Patrick Bieler von der Humboldt-Universität in Berlin, der das Projekt als Doktorand begleitet hat.

Mein herzlicher Dank gilt insbesondere der Aktion Mensch Stiftung und hier zwei Menschen, die ich ei-gens erwähnen möchte: dem Leiter der Aktion Mensch Stiftung, Friedhelm Pfeiffer, und Norbert Bruchhausen, dem Leiter der Förderung Wohnen, Mobilität und Bar-rierefreiheit der Aktion Mensch. Sie beide haben ge-rade in der Anfangszeit aber auch zwischendurch mit ihrer Beharrlichkeit und ihren Nachfragen sehr dazu beigetragen, dass wir mit unserem Projekt auf einen guten Weg gekommen sind und wertvolle Ergebnisse erzielen konnten.

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2. Grußwort

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung

Ich bin aus vielerlei Gründen gerne hierhergekommen. Ich will sie jetzt nicht alle nennen, aber ich will sie viel-leicht ein bisschen aufteilen in drei Bereiche. Das eine hat etwas mit meiner Biografie zu tun, das Zweite hat etwas mit dem zu tun, wofür ich professionell stehe. Und das Dritte ist die Frage der politischen Verantwor-tung, auf die ich dann als Beauftragter der Bundesre-gierung eingehen möchte.

Ich fange mal mit dem Biografischen an. Ich bin heu-te nach rund 20 Jahren wieder bei einer Veranstaltung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Die allererste Begegnung, die ich mit dem Paritätischen in meiner beruflichen Karriere hatte, war 1999 in Brandenburg, Damals war ich für die Heimaufsicht zuständig in Bran-denburg. Und natürlich hatten wir mit der Reform des Heimrechts und mit dem Thema Menschen mit psychi-schen Beeinträchtigungen eine Menge Gemeinsam-keiten. In der Zwischenzeit habe ich ein Integrations-amt geleitet in Brandenburg, habe mich also mit dem Thema Teilhabe am Arbeitsleben beschäftigt. Und das Thema Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychischen und seelischen Behinderungen hat mich in meiner beruflichen Karriere nicht losgelassen. Ich war unter anderem zuständig für die forensische Psy-chiatrie. Der Beauftragte der Bundesregierung ist jetzt also nicht jemand, der sehr aus dem politischen Raum kommt. In der Regel waren alle Beauftragten der Bun-desregierung Mitglieder des Deutschen Bundestages. Verena Bentele, meine Vorgängerin, war das zum ers-ten Mal nicht; selbst von Behinderung betroffene Frau,

Sportlerin, kam nicht aus dem Bundestag. Ich bin auch jemand, der sehr schlecht sieht, der nicht so sportlich ist, aber der auch nicht aus dem Bundestag kommt, der im Grunde so eine Verwaltungskarriere hinter sich ge-bracht hat. Und zum Thema „Was ist mein Job?“. Mein Job ist es, als Beauftragter dafür zu sorgen, dass der Bund, und das ist nicht nur die Bundesregierung, seiner Verpflichtung gerecht wird, für gleichwertige Lebens-bedingungen zu sorgen. Er ist nicht der einzige, der die Verpflichtung hat, die Zivilgesellschaft ist da meiner Meinung nach auch gefordert. Darum wird es heute auch gehen.

Ich will jetzt zur professionellen und zur politischen Komponente übergehen.

Sehr geehrte Damen und Herren, wenn Sie im Urlaub gefragt werden, wo Sie wohnen, dann gibt es wahr-scheinlich hier im Raum große Unterschiede geogra-phischer Art. Aber Sie werden wahrscheinlich etwas assoziieren, etwas wahrnehmen, was viel mehr ist als nur die Räume, in denen sie leben. Deswegen finde ich das Motto dieser Tagung „Wohnen ist mehr als nur eine Wohnung haben“ vollkommen richtig. Es trifft tat-sächlich den Nagel auf den Kopf. Wenn ich, der in der Region Heidelberg/Mannheim groß geworden ist, mir überlege: Was assoziiere ich denn, wenn ich sage: Ich wohne in Heidelberg? Dann assoziiere ich natürlich die Wohnung, in der ich lebe, aber wahrscheinlich gar nicht so sehr. Sondern ich assoziiere mehr den Sozialraum, die sozialen Beziehungen, die man hat, die Landschaft,

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die Freunde. Wohnen ist in der Tat mehr als nur eine Wohnung zu haben. Beim Wohnen geht es tatsächlich um viel, viel mehr. Es geht auch um das soziale Umfeld. Und deshalb finde ich es so wichtig, dass Sie sich bei diesem Projekt mit diesem Thema auseinandergesetzt haben.

Mir fällt hier in Berlin Heinrich Zille ein, der gesagt hat: „Eine Wohnung kann einen Menschen genauso gut tö-ten, wie eine Axt.“ Gemeint ist damit, dass es wirklich darum geht, wie Wohnungen ausgerichtet sind und wie soziale Interaktion stattfindet.

Ich glaube, dass das Wohnen auch eingebettet werden muss in ein politisches, gesellschaftliches Miteinander. Ich will das vielleicht ein bisschen begründen mit dem Motto, das ich für meine Amtszeit gewählt habe. Jeder Beauftragter der Bundesregierung hat ein Motto, das ihn begleitet und das auch ein bisschen was sagt über die Denke, die er zum Thema Inklusion hat. Das Motto für meine Amtszeit lautet: Demokratie braucht Inklu-sion. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass ich fest davon überzeugt bin, dass Demokratie und Inklusion zwei Seiten derselben Medaille sind. Und dass ich mir eine gute Demokratie nur vorstellen kann, wenn sie in-klusiv denkt und wenn sie inklusiv handelt.

Mir ist wichtig beim Thema Inklusion, dass wir unseren Fokus erweitern – nicht nur auf die unterschiedlichen Menschen mit Behinderungen, die es in Deutschland gibt. Wir haben ganz oft das Thema in den letzten Jah-ren sehr, sehr stark fokussiert auf das Thema Bildung. Das ist zweifellos ein wichtiges Thema. Aber ich freue mich ganz besonders, dass Sie heute das Thema Woh-nen haben – das ist mindestens ein genauso wichtiges Thema. Und dass das Projekt seinen Fokus erweitert auf Menschen mit psychischen Behinderungen. Weil die ganz oft in der Diskussion – nicht nur, wenn es um die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes geht, aber auch da – ich will nicht sagen vergessen, aber nicht in gleichem Maße beachtet werden wie Menschen mit anderen Behinderungen.

Und, wenn es ums Wohnen geht, ist es mir auch wich-tig, dass wir, oder dass Sie über die Barrieren sprechen, die Wohnen behindern. Und das sind eben nicht nur die baulichen Barrieren, die wir oftmals assoziieren. Vielleicht kennen Sie meinen Satz: „Nur barrierefrei-er Wohnungsbau verdient den Namen sozialer Woh-nungsbau.“ Es sind auch andere Barrieren, die beispiels-weise für Menschen mit psychischen Erkrankungen, mit psychischen Behinderungen eben nicht unbedingt räumlicher Natur sein müssen, aber auch sein können.

Meine Damen und Herren, es ist Aufgabe des Staates, nicht nur Recht zu setzen – und ich beziehe mich da auf Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, die ja gerade das selbstbestimmte Leben in der Gemein-schaft den Menschen mit Behinderungen zuspricht. Sondern es ist vor allem Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass gesetzte Rechte auch gelebt werden kön-nen, dass man sich darauf berufen kann, dass man von diesen Rechten erstmal weiß und dass man sie notfalls auch durchsetzen kann. Und ich möchte die These wa-gen, dass es vielleicht gar nicht so sehr auf die Wohn-form ankommt, in der man lebt als Mensch mit psy-chischer Erkrankung. Sondern es geht wahrscheinlich bei der Qualität des Wohnens im Wesentlichen um den Grad der Selbstbestimmung beim Wohnen. Deswegen finde ich es auch wichtig, dass wir nicht nur über das ambulante betreute Wohnen reden, sondern – man sagt das noch mit alten Worten – über den stationären Bereich. Auch da sehe ich noch deutlich Luft, gerade auch im Bereich von Menschen mit psychischer Er-krankung, was Selbstbestimmung und Selbstverwirkli-chung betrifft. Und ich glaube, das muss man in dieser Diskussion auch bedenken. Insofern wünsche Ihnen eine erfolgreiche Fachtagung.

Es handelt sich um eine leicht gekürzte Version der Origi-nalrede

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Moderiert wurde die Fachtagung vom Journalisten Ralph Erdenberger vom Westdeutschen Rundfunk. Er stellte im Anschluss an das Grußwort von Jürgen Dusel einige Fragen zum Thema Wohnen und Inklu-sion psychisch kranker Menschen.

Ralph Erdenberger: Sie haben im letzten Sommer eine Initiative gestartet, die da heißt „Sozialraum inklusiv“. Und auch da geht es um die Gestaltung von Sozial-raum, um Bauen und Wohnen, und darum, die Bedeu-tung von Städten und Gemeinden zu betonen. Welche Rolle spielen denn Menschen mit psychischer Beein-trächtigung in dieser Initiative?

Jürgen Dusel: Das ist in der Tat ein Thema, weil ganz oft die Wohnungswirtschaft aber auch die Bauherrn und Bauherrinnen, also die Menschen, die für den Bau zuständig sind, weil sie das Geld geben, eher an Men-schen mit körperlichen Einschränkungen denken und dann meinen, dass ein Gebäude barrierefrei ist, wenn es eine Rampe hat. Ich persönlich gehöre zu den Men-schen, die super Treppen laufen können, aber die stark sehbehindert sind und deshalb etwas anderes brau-chen.

Natürlich spielt das Thema psychische Behinderungen noch nicht die Rolle, die es spielen müsste aus meiner Sicht. Das hat aber auch damit zu tun, dass sozusagen das Wissen über psychische Erkrankungen in der Zivil-gesellschaft eher negativ konnotiert ist. Ich glaube, auch da müssen wir deutlich weiterkommen. Sie diskutieren ja heute auch darüber, dass das soziale Umfeld mit Vor-urteilen dem Thema psychische Erkrankung gegenüber-tritt. Und ich glaube, deswegen ist es so wichtig, Inklu-sion als Prozess zu begreifen.

Erdenberger: Ich selbst erlebe immer wieder, dass wenn man darüber redet, dass man Angehöriger ist oder vielleicht auch selbst eine psychische Erkrankung

hat – zumindest in einem geschützten Umfeld – dass das zumindest erstmal Ohren öffnet und Mut macht. Sie in Ihrer Funktion, haben Sie sich denn für die nächs-te Zeit etwas Konkretes vorgenommen für Menschen mit psychischen Erkrankungen?

Dusel: Ja natürlich. Und das habe ich unter anderem auch deswegen gemacht, weil uns der Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2015 bei der Staatenprüfung Deutschlands mas-siv etwas ins Hausaufgabenheft geschrieben hat. Ich durfte Teil der Deutschen Delegation sein im Jahr 2015 in Genf. Da war die einzige Anmerkung zu dem Thema Zwangsunterbringungen und Zwangsmedikation. Da wurde wirklich massiv der Finger in die Wunde gelegt. Da hieß es nicht nur, der Ausschuss ist besorgt, sondern der Ausschuss ist tief besorgt.

Erdenberger: Das heißt konkret, sie werden etwas ge-gen Zwang machen und für mehr Selbstbestimmung? Sie haben eben zum Beispiel das Thema stationäre Un-terbringung angesprochen.

Dusel: Das wird einer meiner Schwerpunkte in meiner Amtszeit sein. Das ist mir gerade auch im Umsetzungs-prozess des BTHG ein wichtiger Punkt, da könnte man eine ganze Fachtagung machen zum Thema 5 aus 9 oder 3 aus 9. Das ist mir ein wichtiger Punkt, weil es eben Menschen gibt, die einen Anspruch auf Eingliede-rungshilfe haben, auch wenn sie vielleicht nur in zwei Bereichen eine Behinderung oder eine wesentliche Ein-schränkung haben. Auch darauf werde ich in meiner Funktion wert legen.

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4. Ergebnisse des Projekts „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen”

Lisa Schmidt, Projektleitung „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen“

Grundlagen des Projekts

Das Projekt startete im Herbst 2014 und endet im Herbst dieses Jahres. Es wird aus Mitteln der Aktion Mensch Stif-tung sowie aus Eigenmitteln des Paritätischen Gesamt-verbands finanziert. Angelegt wurde das Projekt so, dass es prozessorientiert und ergebnisoffen gestaltet werden konnte. Im Förderantrag wurde festgehalten, dass das Projekt wegweisende Impulse zur Inklusion psychisch kranker Menschen im Bereich Wohnen geben möchte. Die Konzentration auf die Zielgruppe und den Schwer-punkt Wohnen wurde gewählt, da sich zu dieser Zeit die Debatte und die Bemühungen um das Thema Inklusion wesentlich mit anderen Gruppen von Menschen mit Be-hinderung im Bereich Wohnen befassten.

Vor allem der Start des Projekts fiel in eine Phase, in der die Diskussion um Wohnraum noch nicht so hoch bri-sant in der Öffentlichkeit und der Politik geführt wur-de. Heute führen wir eine hochpolitische Debatte über Wohnraumakquise, Wohnraumerhalt, Verdrängung aus Kiezen und Quartieren sowie auch über den Zugriff auf Bauflächen und über den Zugang zum Wohnungs-markt. Die Projektzeit fiel also in eine Zeit, in der das Thema Wohnen allgemein an Fahrt aufnahm. Das Pro-jekt konnte sich an dieser Debatte aktiv beteiligen und Akzente sowie Impulse setzen. Das Spannende am Pro-jekt ist, dass dieser kleine Ausschnitt, mit dem wir uns beschäftigt haben, Rückschlüsse auf das große Ganze zulässt und auf die Frage, wie wir eigentlich in der heu-tigen Zeit zusammenleben möchten.

Das Projekt lebt durch seinen Aufbau. Da ist einmal das Projektteam im Gesamtverband: die Projektleitung und eine Assistenzkraft. Zudem wurde das Projekt durch Fachkollegen und -kolleginnen im Paritätischen Ge-samtverband unterstützt. Die Projektstelle sollte eine Vermittlerrolle einnehmen sowie auch eine Koordina-tionsrolle zwischen den Beteiligten

Die Modellregionen wurden in Abstimmung mit den Paritätischen Landesverbänden angesprochen. Be-rücksichtigt wurde dabei eine gute Mischung zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Wichtig war zu-dem, dass sowohl westdeutsche als auch ostdeutsche Gebiete im Projekt vertreten sind. Berücksichtigung fanden auch die Art der Wohnraumversorgung und die Angebotsvielfalt der Träger.

Die Projektteams in den Regionen setzten sich aus Re-ferenten und Referentinnen der Landesverbände zu-sammen, den Nutzerinnen und Nutzern und den jewei-ligen Trägern. Durch die Teilnahme an Workshops und Arbeitstreffen auf Bundesebene war die Möglichkeit zur Vernetzung sowie zum Erfahrungsaustausch ge-geben. Zudem gab es Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Beteiligung an der Steuerung des Projekts.

Das Projekt wurde über die gesamte Laufzeit von einem Beirat als beratendes Gremium begleitet. Ergebnisse wurden bewertet und Empfehlungen ausgesprochen.

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Es wurde angestrebt, die Projektergebnisse in die jewei-ligen Aktionsfelder zu übertragen. Der Beirat setzte sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern aus Minis-terien, aus der Wohnungswirtschaft, von Selbstbetroffe-nenverbänden, Sozialverbänden und Projektbeteiligten.

Die Evaluation wurde vom Dachverband Gemeinde-psychiatrie übernommen. Die Ergebnisse der Befra-gungen trugen maßgeblich zum Erkenntnisgewinn des Projekts bei. Dabei stand das Team der Evaluation im engen Austausch mit allen Beteiligten.

Die Modellregionen

Vier Modellregionen wurden für das Projekt ausgewählt: Berlin, Zittau, Münster und der Main-Kinzig-Kreis.

• Berlin: Aufgrund der Vielfalt der Problemlagen in Berlin, abhängig vom Bezirk, wurden hier vier Träger für das Projektteam angesprochen, um die Situation in der Bundeshauptstadt umfassend berücksichti-gen zu können: das Unionhilfswerk, die Weißenseer Integrations Betriebe, die Pinel gGmbH und Pers-pektive Zehlendorf. Unterstützung fand das Team durch den Paritätischen Landesverband Berlin.

• Zittau: Projektpartner in der Region Zittau ist der Psychosoziale Trägerverein Sachsen. Unterstützt wurde das Team durch den Paritätischen in Sachsen.

• Münster: Hier wurde das Projektteam durch den ehe-maligen Förderkreis Sozialpsychiatrie, den heutigen Verein für soziale Teilhabe und Psychische Gesund-heit e.V. (FSP) gebildet. Der Paritätische Landesver-band Nordrhein-Westfalen unterstützte das Projekt.

• Main-Kinzig-Kreis: In der Modellregion Main-Kin-zig ist das Behinderten Werk Main Kinzig e.V. Ko-operationspartner des Projekts, unterstützt durch den Paritätischen Landesverband Hessen.

In allen vier Regionen wurden Betroffenenvertrete*in-nen und/oder Expertinnen und Experten in eigener Sache in die Teams eingebunden. Jede Modellregion entwickelte für die Projektlaufzeit eigene Ziele.

Übergreifende Ziele des Projekts

Übergreifende Ziele des Projekts waren

• die Identifizierung von Barrieren und Ressourcen im Hinblick auf die Wohnraumerhaltung und -ge-winnung,

• darauf aufbauend die Entwicklung von Lösungsan-sätzen und Handlungskonzepten,

• die Förderung von Kooperationen und Netzwerken zur Schaffung von inklusivem Wohnraum für Men-schen mit psychischen Beeinträchtigungen. Dazu zählt auch die Vernetzung von Akteuren und Orga-nisationen in den Bereichen Wohnungswirtschaft, Sozialwirtschaft, Politik, Verwaltung – und zwar auf Bundes- und auf Landesebene.

• Die Sensibilisierung für die Problemlagen bei psy-chischen Beeinträchtigungen stellte ein weiteres Ziel dar.

• Ebenso wichtig war die Beteiligung von Expertin-nen und Experten im gesamten Projektverlauf.

Um Barrieren und Ressourcen zu identifizieren, wurden in Zusammenarbeit mit dem Dachverband Gemein-depsychiatrie Befragungen durchgeführt. Die Ergeb-nisse sollten auf Bundes- und Landesebene den Weg für Handlungsoptionen aufzeigen. Zunächst wurden Betroffene von psychischen Beeinträchtigungen über ihre Wohnsituation befragt. Hierzu bediente man sich qualitativer Methoden und führte mit Fokusgruppen Interviews in den Modellregionen durch.

Eine zweite Befragung widmete sich der Perspektive der Träger der psychiatrischen Versorgung. Hierzu wur-den Fragebögen entwickelt. In einer dritten Erhebung wurde die Sicht der Wohnungswirtschaft erhoben.

Die Ergebnisberichte der Befragungen sind zu finden auf der Internetseite des Projekts www.der-paritaeti-sche.de/schwerpunkte/wohnen.

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Kernpunkte der Befragungen

Ergebnisse der Betroffenenbefragung

An den Fokusgruppen nahmen insgesamt 26 Disku-tierende teil. Die Teilnehmenden verfügten über eine Wohnung, davon wurden fast alle von einem Träger der Gemeindepsychiatrie ambulant betreut oder nahmen Angebote der Tagesstätte wahr. Ein Teil der Befragten lebte in vom Träger angemieteten Wohnungen. Nahe-zu alle Befragten waren Empfängerinnen und Empfän-ger von Hartz-IV-Leistungen.

Die Ergebnisse der Befragung der Betroffenen wurden anhand von vier Themenfeldern dargestellt.

Themenfeld Finanzielle Ressourcen

Als größte Problematik für die Befragten stellten sich die Abhängigkeit von Sozialleistungen und der damit einhergehende hohe bürokratische Aufwand heraus. Dies wirkt sich negativ auf die Wohnsituation aus. Die Abhängigkeit von Sozialleistungen ist der wichtigste Grund für Diskriminierung und Ablehnung auf dem Wohnungsmarkt. Häufig genannte Probleme sind der Wohnraummangel im bezahlbaren Wohnsegment so-wie die Konkurrenzsituation bei der Wohnungssuche, die für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen schwer zu bewältigen ist.

Die Abhängigkeit von Transferleistungen schränkt die Wahlfreiheit des Wohnortes ein und führt bei einigen Befragten dazu, dass sich Betroffene mit Wohnum-feldern zufriedengeben müssen, die sich negativ auf ihre Gesundheit auswirken.

Themenfeld Diskriminierung bei der Wohnungs-suche

Die finanzielle Situation trägt zur Diskriminierung bei der Wohnungssuche bei, außerdem sehen sich die Betroffenen Vorurteilen auf Seiten der Vermieter*in-nen ausgesetzt. Die Kombination beider Faktoren stellt eine besonders ungünstige Ausgangslage für die Woh-nungssuche dar.

Themenfeld Unterstützungsleistungen durch die Träger

Die Leistungen der Träger werden von den Befragten durchweg positiv bewertet. Die Unterstützungsleistun-gen federn viele skizzierte Probleme ab, denen Betrof-fene sich ausgesetzt fühlen.

Die Rolle der Träger gestaltet sich dabei nicht immer einfach; zum einen kann die Unterstützung durch Trä-ger bei potenziell Vermietenden teilweise zum Hemm-schuh für eine Wohnraumanmietung werden, zum anderen sehen sich Träger in einer schwierigen Lage angesichts der rechtlichen Einordnung der Mietverträ-ge nach Gewerbemietrecht.

Themenfeld Inklusion in der Nachbarschaft

Einerseits wird nachbarschaftlichen Kontakten eine po-sitive Bedeutung beigemessen. Andererseits kann es auch zu Konflikten im Zusammenleben kommen, die als sehr belastend beschrieben werden. Den sozialen Trägern wird bei der Lösung der Konflikte eine wesent-liche Rolle beigemessen.

Deutlich wird, dass es größtenteils an entsprechen-den sozialen und kulturellen Angeboten und nied-rigschwelligen Kontaktmöglichkeiten in erreichbarer Nähe fehlt und insbesondere der Öffentliche Personen-nahverkehr unzureichend ausgebaut ist.

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Trägerbefragung

Die Befragung hat gezeigt, dass die im Projekt enga-gierten Träger ein breites Spektrum an Wohnmöglich-keiten für Menschen mit psychischen Erkrankungen haben. Darüber hinaus bieten sie zahlreiche sozial-räumliche Unterstützungsleistungen an. Stolpersteine erschweren jedoch eine inklusive Versorgung, die an den Wünschen der Betroffenen orientiert ist. Nach wie vor bestehen Vorurteile gegenüber psychisch erkrank-ten Menschen in der Gesellschaft, was zu einer ableh-nenden Haltung vieler Vermieterinnen und Vermie-ter sowie Nachbarinnen und Nachbarn führe, wurde beklagt. Diesen Umstand sowie den Wohnungsmangel und die versäulten Strukturen der sozialen Sicherung in Deutschland betrachtet die Mehrzahl der Befragten als Barrieren.

In der Wohnraumbeschaffung ist die Mehrzahl der be-fragten Träger aktiv. Sie sind in Kontakt mit Ämtern, Wohnungsbaugesellschaften und potenziellen Ver-mieterinnen und Vermietern. Die Träger mieten Im-mobilien an und leisten logistische Unterstützung für die Nutzerinnen und Nutzer bei der Suche nach ge-eignetem Wohnraum. Eigenen Wohnungsbau betreibt knapp die Hälfte der befragten Träger.

Bei Maßnahmen zum Quartiersmanagement, zur Stadt-entwicklung oder zur Entwicklung von Partnerschaften mit kommunalen Verwaltungen und der Wohnungs-wirtschaft haben sich zum Zeitpunkt der Befragung nur wenige Träger engagiert. Ein Grund ist, dass dafür die Ressourcen fehlen.

Perspektive der Wohnungswirtschaft

Die Befragten aus der Wohnungswirtschaft formulier-ten als Anforderungen an potenzielle Mieterinnen und Mieter folgende Aspekte: finanzielle Sicherheit, sozia-le Integrationsfähigkeit in die Hausgemeinschaft und Rücksichtnahme auf Nachbarinnen und Nachbarn so-wie auf Eigentum. Sie wünschen sich feste Ansprech-partner*innen bei Problemen mit Mieter*innen, die auf mögliche psychische Beeinträchtigungen zurück-zuführen sind. Berichtet wurde von positiven wie auch negativen Erfahrungen bei der Vermietung an Men-schen mit psychischen Erkrankungen. Die Unterstüt-zung durch soziale Träger wird im Allgemeinen sehr positiv bewertet, eine stärkere Zusammenarbeit wird gewünscht.

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Handlungsempfehlungen

Aus den Befragungen sowie den Erfahrungen aus dem Projekt wurden Handlungsempfehlungen abgeleitet, die auch zum Teil in das Wohnungspolitische Papier des Paritätischen Gesamtverbands eingeflossen sind. Sie werden auch im Abschlussbericht des Projekts zu finden sein. Die Expertise aus dem Projekt floss auch in die Menschenrechtskampagne des Verbandes im Jahr 2018 ein. Zahlreiche Veranstaltungen und Publikatio-nen widmeten sich dem Recht auf Wohnen.

Schaffung von adäquatem und bezahlbarem Wohnraum

Besonders Kommunen haben bei der Bodenpolitik und der öffentlichen Wohnungsbewirtschaftung er-heblichen Einfluss und sollten sich deshalb verstärkt um bezahlbaren Wohnraum für die Zielgruppe bemü-hen. Es wird mehr bezahlbarer Wohnraum sowohl bei Bestands- sowie Neubauwohnungen vor allem für Ein- und Zwei-Personen-Haushalte benötigt. Der Bund soll-te weiterhin sozialen Wohnungsbau staatlich fördern und damit die Länder und Kommunen in ihren Aufga-ben sinnvoll unterstützen und entlasten.

Soziale Träger fungieren durch die Übernahme von Mietverhältnissen für ihre Klientinnen und Klienten als wichtige Akteure in der kommunalen Daseinsvorsorge und sollten entsprechend von Bund, Ländern und Kom-munen sowie den Akteuren der Wohnungswirtschaft unterstützt werden. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Erhaltung und Schaffung von Wohnraum. Dies er-fordert auch, dass eine sichere Rechtsposition in Bezug auf die Wohnraumerhaltung geschaffen werden muss.

In diesem Zusammenhang hat der Paritätische von der Politik die Überprüfung und Veränderung des Gewerbemietrechts gefordert. Mit dem Mietrechts-anpassungsgesetz vom 1.1.2019 wurde diese Prob-lemstellung zugunsten sozialer Träger gesetzlich ge-regelt. Mietverhältnisse, die zu einem sozialen Zweck eingegangen werden, um Wohnraum an Personen zum Wohnen zu überlassen, wurden unter besonde-ren Kündigungsschutz gestellt. Bisher waren solche

Mietverhältnisse ohne Grund kündbar. Dies stellt einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar.

Gleichberechtigten Zugang zu Wohnraum schaffen

Strukturelle Barrieren sollten abgebaut werden, bei-spielsweise durch eine realistische Anpassung der Kos-ten der Unterkunft und die Vereinfachung bürokrati-schen Aufwands im Zuge einer Anmietung (z.B. Verzicht auf einen Schufa Nachweis). Eine weitere Anregung war, dass Mitgliedsbeiträge in Mietvereinen für Leistungs-empfänger*innen übernommen werden sollten.

Mitarbeiter*innen von Behörden sollten besser über potenziell gesundheitsreduzierende Faktoren in Wohn-situationen aufgeklärt werden. Dazu gehören schlech-te Lichtverhältnisse, Störungen durch Lautstärke oder auch Mängel an der Wohnung. Auf Veränderungswün-sche der Betroffenen sollte angemessen regiert werden.

Zusammenarbeit öffnet Türen

Wohnen ist ein Querschnittsthema. Das Projekt hat ge-zeigt, dass sich Kooperation und Netzwerkbildung mit den beteiligten Akteuren lohnen. Während der Projekt-laufzeit konnten sich immer wieder Träger im Beirat vorstellen, die gute Anknüpfungspunkte mit der Woh-nungswirtschaft gefunden haben. Auch in den Modell-regionen wird von guten Erfahrungen beim Knüpfen von Netzwerken berichtet.

Um die Zusammenarbeit zu realisieren, sollte die Koor-dinations- und Kooperationsarbeit der sozialen Träger finanziell gefördert werden.

Wohnen ist mehr als nur eine Wohnung haben

Lebenswerten Wohnraum zu finden, geht über die An-mietung der Wohnung hinaus. Vielmehr braucht es die Einbindung in Nachbarschaften und in das Gemein-wesen, welches die richtige Mischung aus Nähe und Distanz, Kontaktmöglichkeiten und Rückzug ermög-licht. Das war im Projekt immer wieder Thema: „Ohne

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Wohnung ist alles nichts. Eine Wohnung allein ist schon mal gut, aber eben auch nicht alles“, hieß es. Betroffene haben in den Befragungen geäußert, dass die Unter-stützung von Betreuer*innen motivierend sein kann beim Ankommen im Quartier, im Viertel oder Kiez. Angebote wie ein Kiez-Café oder Nachbarschaftstreff werden gerne angenommen und bieten gesundheits-fördernde Elemente.

Im Sinne einer ganzheitlichen Wohnungs- und Stadt-entwicklungspolitik sollten die gesundheitsfördern-den Entwicklungen bedacht werden und positive Ent-wicklung in Stadtteilen gestärkt werden.

Sozialraumorientierte Gemeinwesenarbeit rückt ver-stärkt in den Aufgabenbereich der sozialen Träger und sollte deshalb entsprechend gefördert und finanziell vergütet werden. Gemeindespsychiatrische Träger sind nämlich eine notwendige Ergänzung aufgrund ihrer Expertise im Umgang mit Barrieren und Herausforde-rungen, die für Menschen mit psychischen Beeinträch-tigungen im Alltag bestehen können.

Auch relevant ist die infrastrukturelle Anbindung von Wohngebieten, um medizinische Versorgung, Lebens-mittelversorgung sowie Angebote von sozialer und kultureller Teilhabe sicherzustellen. Besonders wichtig ist hierbei ein funktionierender Öffentlicher Personen-nahverkehr. Dieser sollte kostengünstig oder auch kos-tenfrei für einkommensschwache Haushalte angebo-ten werden.

Die Erkenntnisse, Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Projekt konnten in vielfältigen Aktivitäten verbreitet werden, zum Beispiel:

• in Expertengesprächen mit Politik und Vertreter*in-nen der Wohnungswirtschaft

• in Workshops mit den Modellregionen

• auf Fachtagen in den Modellregionen

• bei Runden Tischen und Vernetzungstreffen

• bei Fachgesprächen auf Landes- und Bundesebene

• in zahlreichen Berichten in Fachzeitschriften.

Publikationen im Rahmen des Projekts

In der Projektlaufzeit wurde ein Praxisleitfaden ent-wickelt, der soziale Träger, die als Mieterin und Mieter sowie Vermieterin und Vermieter auftreten, über ihre rechtliche Situation in dieser Doppelfunktion infor-miert. Er soll auch dazu beitragen, sie in ihrer Rolle zu stärken.

Die im Projekt entstandene Broschüre „Suchen Woh-nung – bieten Erfahrung“ richtet sich an Verantwort-liche der Wohnungswirtschaft sowie Vermieter und Vermieterinnen. Die Broschüre wurde mit dem Projekt-team Berlin entwickelt. Sie informiert über psychische Erkrankungen und ihre Begleiterscheinungen. Sie soll zudem die Partnerschaft zwischen sozialen Trägern und der Wohnungswirtschaft stärken. Nachdem die erste Auflage der Broschüre schnell vergriffen war, konnte eine zweite Auflage in Kooperation mit Haus & Grund herausgegeben werden.

Alle Ergebnisse des Projektes sind auf der Schwerpunkt-seite des Paritätischen Gesamtverbandes zu finden: www.der-paritaetische.de/schwerpunkte/wohnen

Ausblick

Wie geht es nun weiter, wenn das Projekt jetzt zu Ende geht? Wir werden noch einen Abschlussbericht erstel-len, in den die Ergebnisse und Erfahrungen einfließen. Außerdem werden die Erkenntnisse aus dem Projekt in die zielgruppenübergreifende Bearbeitung des The-mas im Paritätischen Gesamtverband einfließen. Hier werden über das Jahr hinweg einige Veranstaltungen stattfinden, unter anderem unter dem Motto „Soziale Organisationen als Partner der Wohnungswirtschaft“. Es gibt zudem ein weiteres thematisch anknüpfendes Projekt, das im Paritätischen Gesamtverband angesie-delt ist. Es beschäftigt sich mit der Teilhabeforschung unter dem Motto „Inklusion wirksam gestalten!“. Hier werden Interviews mit Betroffenen durchgeführt, die in einen jährlichen Teilhabebericht münden sollen. Das sind nur ein paar Anknüpfungspunkte im Anschluss an das Projekt. Und ich bin sicher, es gibt noch mehr Mög-lichkeiten, die Ergebnisse des Projektes zu verbreiten.

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Patrick BielerHumboldt Universität Berlin

Sozialwissenschaftlicher Blick auf das ProjektWohnen ist mehr als eine Wohnung haben. Der Titel der heutigen Veranstaltung ist nicht zufällig gewählt worden. Sondern das war einer der Sätze, die immer wieder im Projekt aufgetaucht sind. Es geht dabei nicht nur um den Zugang zu einer Wohnung, sondern ins-besondere geht es um die Frage nach der Qualität menschlichen Zusammenlebens. Das ist eine grund-legend anthropologische Fragestellung. Diese Qualität umfasst zwei Dimensionen. Einmal geht es um Fragen konkreter Wohnungsausstattung und auch der archi-tektonischen Gestaltung von Häusern und Wohnun-gen. Das ist etwas, das man noch relativ einfach be-werkstelligen kann. Im Projekt ist da beispielsweise so etwas aufgetaucht wie die Relevanz von Badewannen und Balkonen sowie Schallschutz, der eingebaut wer-den kann, um Lärm zu reduzieren. Schwieriger wird es allerdings bei der Gestaltung von Nachbarschaften und Quartieren. Das ist nämlich auch ein zentraler As-pekt des Wohnens.

Ich betone das deswegen, weil wir es mit einem trans-disziplinären Querschnittsthema zu tun haben. Wer weiß alles über die Gestaltung von Nachbarschaften und Quartieren etwas? Das sind im Prinzip alle Projekt-akteure. Das sind Menschen mit Unterstützungsbedarf, die sozialen Träger, die Wohnungswirtschaft, die Ver-treterinnen und Vertreter der Sozialpolitik genauso wie der Verwaltung. Dann geht es allerdings auch in den

Bereich der Stadtplanung und Architektur. Das liegt so zwischen Wissenschaft und angewandt Tätigen. Dann haben wir natürlich wissenschaftliche Auseinander-setzungen mit diesen Fragestellungen. Das sind zum einen die Sozialwissenschaften, die Anthropologie, die Soziologie, Humangeographie, die Psychiatrie ge-nauso wie Public Health. Und damit sind sicher noch nicht alle Wissenschaften erwähnt. Und weitere wichti-ge Akteure, die auch etwas darüber wissen und häufig übersehen werden, sind keine institutionellen Akteure, sie sind aber auch nicht unbedingt von psychischen Problemen betroffen, sie spielen aber eine Rolle im menschlichen Zusammenleben. Wir haben schon über die Rolle von Nachbarinnen und Nachbarn gehört. Im Projekt haben die auch immer wieder eine zentrale Rolle eingenommen. Darauf möchte ich gerne später zurückkommen.

Im möchte zunächst gerne noch auf ein paar Aspekte eingehen, die im Projekt sozialwissenschaftlich inte-ressant sind. Zum einen ist das überhaupt die ganze Allianzbildung, also der Aufbau von Kooperationen und Netzwerken. Dass beispielsweise die Wohnungs-wirtschaft hierherkommt und auch noch mitarbeitet, ist nicht selbstverständlich. Das ist etwas, das erstmal erarbeitet werden musste, und in dem eine große Chance steckt. Ich glaube, das ist sozialwissenschaftlich sehr interessant. Darin stecken zwei Punkte: Zum einen

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eine Verständigung darüber, was kann man zusammen gestalten, und wo liegen Grenzen der Gestaltung. Das wurde im Projekt andiskutiert, da könnte man, glaube ich, noch weiter diskutieren.

Was darüber hinaus interessant ist, ist dass das Ge-sundheitsfeld, das erstmal nicht unbedingt politisch ist, politisiert wird. Es ging nicht nur um Fragen der Ge-sundheitsversorgung im Projekt, sondern um die allge-meine Frage der Wohnungsnot und die Adressierung solcher Fragen, also im Prinzip um gesellschaftliche Fragen, die hier gestellt worden sind.

Dann haben wir viel über die Rolle von Nachbarschaf-ten gesprochen. Nachbarschaft ist ein heikles Thema, weil es häufig eine Gegenüberstellung von zwei mög-lichen Modellen von Nachbarschaften gibt. Einmal die Idee von Nachbarschaft als starker inklusiver Gemein-schaft oder der Abwesenheit einer solchen Gemein-schaft, also Nachbarschaften eher als Orte, an denen Menschen isoliert sind und Anonymität herrscht. In meiner Dissertation und auch im Projekt wurde aller-dings sichtbar, dass es dazwischen viele unterschied-liche Formen flüchtiger und weniger flüchtiger Begeg-nungen im öffentlichen Raum gibt, die eine große Rolle spielen, insbesondere für Menschen mit psychischen Erkrankungen, aber ich glaube auch für Menschen ohne psychische Erkrankungen. Diese Formen nach-barschaftlicher Begegnungen sind häufig allerdings in wissenschaftlichen Diskussionen unterthematisiert. Letzten Endes geht es um Nachbarschaften und da-rum, diese auch jenseits institutioneller Logiken und Akteure denken zu können. Was bedeutet das konkret?

Wir brauchen mehr Wissen darüber, wie öffentliche Räume genau genutzt werden und welche unter-schiedlichen Facetten da eigentlich relevant sind. Da weiß man einiges, aber noch nicht genug. Und gleich-zeitig muss untersucht werden, was sind eigentlich die Wirkungen für das psychosoziale Wohlbefinden.

Im Projekt ging es auch viel um Fragen von Wissen und Partizipation. Was ich interessant fand, war, dass es hier keine Privilegierung irgendeiner Wissensform vorge-herrscht hat. Es gab unterschiedliche Befragungen sehr unterschiedlicher Akteursgruppen, ohne zu sagen: Eine Perspektive davon ist die Richtige. Das ist bemer-kenswert. Häufig gibt es eine dominante Wissensform, die sich durchsetzt. Oft ist das die Wissenschaft. Dass dies im Projekt nicht passiert ist, finde ich relevant. Was folgt daraus?

Ich glaube, es braucht nochmal eine Schärfung, davon, welche spezifische Expertise welche Akteure haben, zu welchen Fragen sie etwas sagen können und wie man das systematischer festhalten und in Diskussionen einbringen kann. Und die nächste Frage: Wann wird eigentlich welches Wissen für was relevant und benö-tigt? Das ist eine Frage, die selten gestellt wird, häufig auch in partizipativen Verfahren nicht. Ich glaube, das ist eine Frage, die immer gestellt werden sollte.

Eine Chance, die aus der Bildung von Kooperationen entsteht, ist, dass dadurch Quartiersgestaltung voran-getrieben werden kann. Es sollte dabei nicht darum gehen, eine Umwelt zu gestalten, die selbstverständ-lich die intendierte Wirkung entfaltet. So funktioniert Stadtplanung meist nicht. Umwelten legen verschie-dene Formen der Nutzung nahe und verändern sich kontinuierlich. Das sollte in solchen Prozessen genauer beleuchtet werden. Solche Fragen von Quartiersge-staltung oder Stadtplanungen sollten nicht als abge-schlossene Projekte verstanden werden, sondern als prozesshaft und partizipativ unter Einbeziehung der Akteure, die ich ganz zu Anfang bei dem interdiszipli-nären Querschnittsthema genannt habe.

Ich möchte mich bei allen Projektbeteiligten bedan-ken, dass ich während der Projektlaufzeit am Projekt teilhaben und forschen durfte.

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„Wohnen ist mehr als nur eine Wohnung haben“

Fachtag zum Abschluss des Projektes „Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen“

19. Februar 2019, Berlin

Lisa Schmidt, Paritätischer Gesamtverband Patrick Bieler, Humboldt-Universität Berlin

20.02.2019

Gliederung

1. Aufbau und Struktur 2. Ziele und Vorhaben 3. Ergebnisse der Befragungen 4. Handlungsempfehlungen 5. Verbreitung der Ergebnisse 6. Sozialwissenschaftliche Perspektivierung 7. Ausblick

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Projektsteckbrief

Laufzeit 1. November 2014 - 31. Oktober 2019 Finanzierung Aktion Mensch Stiftung und Eigenmittel des GV Schlüsselwörter Wohnraumerhaltung/-gewinnung – Inklusion – Partizipation – Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Vorgehensweise prozessorientiert und ergebnisoffen

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Aufbau

Projektbeirat

Modell-regionen

Projektteam Gesamt-verband

Evaluation Dachverband

Gemeinde-psychiatrie

e.V.

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Modellregionen

Berlin Projektteam bestehend aus Unionhilfswerk, WIB- Weißensee, Pinel gGmbH, Perspektive Zehlendorf e.V.

Region Zittau Psychosozialer Trägerverein Sachsen e.V.

Münster Für Soziale Teilhabe und psychische Gesundheit e.V.

Main-Kinzig-Kreis Behinderten-Werk Main-Kinzig e.V.

20.02.2019 Lisa Schmidt

Ziele

• Identifizierung der Barrieren und Ressourcen im Hinblick auf Wohnraumerhaltung und -gewinnung

• Entwicklung von Lösungsansätzen und Handlungskonzepten für die Wohnraumgewinnung und Wohnraumerhaltung auf lokaler Ebene (Modellregionen) und auf Bundesebene

• Förderung von Kooperationen und Netzwerken zur Schaffung von inklusiven Wohnraum für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen

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Ziele

• Vernetzung von Akteuren und Organisationen in den Bereichen Wohnungswirtschaft, Sozialwirtschaft, Politik und Verwaltung auf Bundes- und Landesebene

• Sensibilisierung für die Problemlagen bei psychischen

Beeinträchtigungen • Beteiligung von Expertinnen und Experten in eigener

Sache am gesamten Projektverlauf

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Befragungen

Wohnen und Teilhabe: Erfahrungen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen (Bieler/Bösing, 2017)

Wohnen für Menschen mit psychischen Erkrankungen aus Sicht der Träger der psychiatrischen Versorgung (Heuchemer, 2017) Befragung der Akteure der Wohnungswirtschaft (Heuchemer, 2017)

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I: Betroffenenperspektive

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Finanzielle Ressourcen

Diskriminierung bei

Wohnungssuche

Unterstützung durch Träger

Inklusion in der Nachbarschaft

Wahl-freiheit Büro-

kratie

Wohn-umfeld

Ansprech- partner

Konflikte

Vor-urteile

Finanzielle Situation

Sozial-leistungen

Infra-struktur

Leistungen

Kontakte

II: Trägerperspektive

• Breites Angebot an Wohnmöglichkeiten für Menschen mit psychischen Erkrankungen, sozialräumliche Unterstützungsleistungen

• Aktivitäten in Wohnraumbeschaffung

• Vernetzung mit beteiligten Akteuren

• Fehlende Ressourcen: Quartiersmanagement, Stadtentwicklung, Entwicklung von Partnerschaften

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III: Perspektive Wohnungswirtschaft

• Anforderungen an potenzielle Mieterinnen und Mieter

• Erfahrungen bei der Vermietung von Wohnraum an soziale Träger

• Unterstützung durch soziale Träger

• Kriterien für Zusammenarbeit

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Handlungsempfehlungen I

Schaffung von adäquatem und bezahlbarem Wohnraum • Kommunen: verstärkte Bemühungen um bezahlbaren

Wohnraum für die Zielgruppe

• Förderung bezahlbarer Wohnungen im kleinen Haushaltssegment

• Unterstützung der sozialen Träger durch Kommunen und Wohnungswirtschaft

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Handlungsempfehlungen II

Gleichberechtigten Zugang zu Wohnraum schaffen • Abbau struktureller Barrieren durch Vermieterinnen,

Vermieter und Behörden • Aufklärung über potenziell gesundheitsreduzierende

Faktoren in Wohnsituationen

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Handlungsempfehlungen III

Zusammenarbeit öffnet Türen • Kooperation von Wohnungswirtschaft, sozialen

Trägern, Wohlfahrtsverbänden und kommunalen Akteuren

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Handlungsempfehlungen IV

Wohnen ist mehr als nur eine Wohnung haben

• Mehr Angebote für Kontaktmöglichkeiten im unmittelbaren Wohnumfeld

• Stärkere Förderung sozialraumorientierter Gemeinwesenarbeit und der Vernetzung

• Sicherstellung infrastruktureller Anbindung von Wohngebieten

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Verbreitung der Ergebnisse

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Fachgespräche auf Landes-

und Bundesebene

Publikationen

Runde Tische Vernetzungs-

treffen

Fachtage in Modellregionen

Experten- gespräche

Workshops mit den

Modellregionen

… …

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Weitere Projektergebnisse Paritätisches Positionspapier: Bauen – Wohnen – Leben für eine soziale Wohnungspolitik

Praxisleitfaden „Soziale Träger in den Rollen als Mieter und Vermieter“ Rechtliche Grundlagen, Pflichten, Handlungsoptionen Broschüre "Suchen Wohnung - bieten Erfahrung - Soziale Träger als Mieter und Partner“

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Menschenrechts- Kampagne

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Das Projekt im Netz

Schwerpunktseite der Verbandshomepage https://www.der-paritaetische.de/schwerpunkte/wohnen/

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Gesellschaftliche Relevanz?

Qualität menschlichen Zusammenlebens Wohnungsausstattung / Wohnhäuser Gestaltung von Nachbarschaften & Quartieren (Fabian et al., 2017; Söderström, 2017)

Transdisziplinäres Querschnittsthema – Projektakteure – Stadtplanung & Architektur – Sozialwissenschaften, Psychiatrie, Public Health – Nicht-institutionelle Akteure / „ungewöhnliche Milieus“

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Sozialwissenschaftliche Relevanz?

Allianzbildungen – Kooperationen & Netzwerkbildung als Chance Reflexion: Gestaltungsmöglichkeiten & Grenzen? Politisierung des Gesundheitsfeldes?

Nachbarschaften – Versus Dichotomie Anonymität/Gemeinschaft – Jenseits institutioneller Logiken und Akteure

Nutzung öffentlicher Räume & Wirkungen für psychosoziales Wohlbefinden untersuchen!

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Sozialwissenschaftliche Relevanz?

Wissen & Partizipation – Versus prinzipielle Privilegierung von Wissensformen

Spezifische Expertise der Akteure? Wann wird welches Wissen benötigt?

Quartiersgestaltung / Stadtplanung – Versus deterministisches Verständnis Umwelt Psyche – Lebenswelten in kontinuierlichem Wandel Planen als unabgeschlossener, partizipativer Prozess!

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Ausblick

• Veröffentlichung Abschlussbericht

• Ergebnisse und Erfahrungen fließen in die zielgruppenübergreifende Bearbeitung des Themas im Gesamtverband ein

• Paritätische Veranstaltungsreihe „Soziale Organisationen als Partner der Wohnungswirtschaft“

• Paritätisches Projekt: „Teilhabeforschung: Inklusion wirksam gestalten!“

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Lisa Schmidt: [email protected] Patrick Bieler: [email protected]

Bildnachweise: hypogretel-photocase

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5. Vertreterinnen und Vertreter aus den vier Modell-regionen stellten beim Fachtag Projekterfahrungen und Ergebnisse vor.

Im Rahmen des Projekts wurde in jeder Region zunächst eine Bedarfsanalyse durchgeführt. Zudem wurde er-hoben, welche Barrieren und Ressourcen es im Bereich der Wohnraumerhaltung und Wohnraumbeschaffung für psychisch kranke Menschen gibt. Die Ergebnisse dienten als Grundlage, um Lösungsansätze und individuelle Handlungskonzepte für die jeweilige Region zu erarbeiten. Dabei wurde die Expertise des Projektbeirats und des Projektteams vor Ort genutzt. Im Zuge des Projekts wurden auch Fachdiskussionen mit den zuständigen Minis-terien auf Bundes- und Länderebene und mit den Spitzenverbänden der Wohnungswirtschaft initiiert, um die Modellprojekte vor Ort in der Umsetzung ihrer Handlungskonzepte zu unterstützen.

Modellregion Berlin

In Berlin sind die Probleme im Bereich Wohnen psychisch kranker Menschen in den Bezirken sehr unterschiedlich. Um diese differenzierte Situation möglichst umfassend berücksichtigen zu können, wurden in Berlin insgesamt vier Träger der ambulanten psychiatrischen Versorgung eingeladen, sich an dem Modellprojekt zu beteiligen. Dies sind:

Perspektive Zehlendorf e.V. Pinel gGmbHDie gemeinnützige GmbH ist ein Unternehmen der Stiftung Pinel und gehört in Berlin zu den größten Trägern der ambulanten psychiatrischen Pflichtver-sorgung in fünf Stadtbezirken. Dort bietet die Pinel gGmbH Betreutes Wohnen, Beschäftigungsmöglich-keiten und Tagesstruktur (Kontakt- und Begegnungs-stätten) an.

Pinel gGmbH Hauptgeschäftsstelle Joachimstaler Straße 14 10719 Berlin Telefon: 030 484829-0 www.pinel-online.de

Ralph Erdenberger im Gespräch mit den Vertreterinnen und Vertretern aus den Modellregionen

Der gemeinnützige Träger offeriert ein breit gefächer-tes Angebot für psychisch kranke Menschen im Rah-men der Berliner psychiatrischen Pflichtversorgung für den Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Unter anderem ge-hören dazu unterschiedliche Wohnformen, eine Be-schäftigungstagesstätte, Zuverdienst-Möglichkeiten und Soziotherapie.

Perspektive Zehlendorf e.V.: Lissabonallee 6 14129 Berlin Telefon: 030 80589365 E-Mail: [email protected] www.perspektive-zehlendorf.de

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Sabine Jeschke, Fachbereichsleiterin beim Unionhilfswerk, berichtete von Erfahrungen der Projektpartner in Berlin.

UnionhilfswerkUnter dem Motto „Wir gestalten individuelle Lebens-qualität“ engagiert sich das Unionhilfswerk seit 1946 für Menschen, die auf Betreuung und Unterstützung angewiesen sind. In zahlreichen Diensten, Projekten und Einrichtungen bietet der große Träger vielfältige soziale Dienstleistungen an. Zum Unionhilfswerk ge-hören Kindertagesstätten, Einrichtungen für Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinde-rung, ambulante und stationäre Pflege sowie Hilfen für wohnungslose Menschen.

UNIONHILFSWERK Sozialeinrichtungen gemeinnützige GmbH Richard-Sorge-Straße 21 A 10249 Berlin Telefon: 030 42265-886 E-Mail: [email protected] www.unionhilfswerk.de

WIB – Weißenseer Integrationsbetriebe GmbH

Der WIB-Verbund fördert die soziale Integration be-hinderter und sozial benachteiligter Menschen durch Beratung und Betreuung, Beschäftigung und Arbeit im Verbund von Projekten und Firmen. Dazu gehören Betreutes Wohnen für psychisch kranke und sucht-kranke Menschen, eine Beschäftigungstagesstätte für psychisch kranke und suchtkranke Menschen, Kontakt- und Beratungsstelle sowie Integrationsfachdienste.

WIB – Weißenseer Integrationsbetriebe GmbH Geschäftsstelle Tassostraße17 13086 Berlin Telefon: 030 479911-0 E-Mail: [email protected] www.wib-verbund.de

Die Mietpreise in Berlin steigen rasant, die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist für weniger zahlungskräftige Menschen katastrophal. Das wirkt sich auch massiv auf die Arbeit der vier am Projekt beteiligten Träger aus, die sich für Menschen mit psychischen Erkrankungen engagieren. Zusätzlich zu ihren Betreuungsleistungen übernehmen sie häufig die Rolle von Vermieterinnen und Vermietern, indem sie Wohnraum von Haus- und Wohnungsbesitzer*innen anmieten und diesen dann an ihre Klientinnen und Klienten untervermieten. Die sozialen Träger leiden jedoch zunehmend darunter, dass auch sie Probleme haben, bezahlbaren Wohn-raum zu finden oder Grundstücke, auf denen sie selbst bauen können.

Die Doppelrolle als Mieterinnen und Mieter sowie Ver-mieter*innen sehen die Träger zudem kritisch. Zugleich sehen sie aber auch Möglichkeiten, zur Entstigmatisie-rung von Menschen mit psychischen Erkrankungen beizutragen – insbesondere, wenn sie den Sozialraum aktiv mitgestalten und zur Inklusion beitragen können.

Den vier Trägern war es im Rahmen des Projekts beson-ders wichtig, den Blick auf die Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu len-ken. „Wir wollen nicht über, sondern mit unseren Klien-ten reden“, betonte Sabine Jeschke. Dabei war die prak-tische Betrachtungs- und Herangehensweise wichtig. Von der Zielgruppe wurde ganz klar gesagt: Am besten ist der eigenen Wohnraum mit eigenem Mietvertrag.

Für die Träger ist es zudem wichtig, sich zum Thema Wohnen stärker zu vernetzen. Sie wünschen sich mehr individuelle aber auch wohnungspolitische Förderung. Zudem müssten die im Projekt erarbeiteten Forderun-gen verstärkt in die politische Diskussion auf Bundes- wie Landesebene eingebracht werden.

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Modellregion Main-Kinzig-Kreis

Behinderten-Werk Main-Kinzig e.V. Das 1974 gegründete Behinderten-Werk Main-Kinzig e.V. (BWMK) ist ein breit aufgestelltes Sozialunterneh-men, das an mehr als 45 Standorten im Main-Kinzig-Kreis vertreten ist. Es trägt mit vielen unterschied-lichen Einrichtungen und Diensten dazu bei, dass Menschen mit körperlichen, geistigen und psychi-schen Beeinträchtigungen am Leben in der Gesell-schaft teilhaben können. Zum Angebotsspektrum ge-hören unter anderem unterschiedliche Wohnformen,

Heike Ronsiek-Schwebel, Betriebsleiterin des Wohnverbunds Main-Kinzig

Der Main-Kinzig-Kreis liegt im sogenannten Speckgür-tel von Frankfurt am Main. Entsprechend angespannt ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt. Für das BWMK bedeutet das: Es fällt dem Träger zunehmend schwer, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen vom stationären in den ambulanten Bereich überzuleiten, weil es an bezahlbarem Wohnraum mangelt. Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben nahezu keine Chance, eigenständig eine Wohnung anzumieten. Heike Ronsiek-Schwebel berichtete, das BWMK komme immer öfter in die Situation, als Vermieter zu fungieren, mit all den Pflichten und Risiken, die sich daraus ergäben. „Je mehr Wohnraum wir anbieten, desto mehr Kosten haben wir: unter anderem durch Mietausfall oder notwendige Sanierungen.“ Es werde zudem viel Zeit und Kraft für die Vermietung und Kooperation mit Wohnungs- und Haus-eigentümern benötigt.

Das BWMK beteiligte sich am Projekt aus mehreren Be-weggründen: Unter anderem, um die Doppelrolle als Vermieter und Leistungserbringer zu thematisieren. Hier spielen auch Fragen der Refinanzierung von Kosten eine Rolle: Etwa Kosten der sozialraumorientierten Gemein-wesenarbeit sowie Kosten, die mit der Verwaltung eige-ner Immobilien beziehungsweise der Funktion als Zwi-schenmieter verbunden sind.

Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Einbindung der Nutzerinnen und Nutzer ins Projekt. „Wir wollten wissen, wo aus ihrer Sicht Probleme bestehen.“ Die seien in städ-tischen Gebieten zum Teil andere als im ländlich gepräg-ten, strukturschwachen Raum des Main-Kinzig-Kreises,

wo nur ein- bis zweimal am Tag ein Bus fahre. Wichtig war, dass die von psychischen Erkrankungen betroffenen Menschen aus eigener Erfahrung und für sich sprechen. Daher war auch die Einbindung der Nutzerinnen und Nutzer nicht nur auf die Befragung beschränkt, sondern auch bei einem Fachtag selbstverständlich. So konnten diese im Rahmen des Projekts feststellen: Ich bin betei-ligt. Ich habe etwas zu sagen. Ich werde gehört und ich kann im besten Falle auch etwas bewirken. Eine wichtige Aussage von Betroffenen war: „Wir finden es zwar gut, dass ihr als Träger uns Wohnraum besorgt, aber besser fänden wir es, wenn wir selbst Mieter sein könnten.“

Wichtig ist dem BWMK zugleich auch die Sensibilisierung für die besonderen Bedürfnisse und Probleme psychisch erkrankter Menschen in der Gesellschaft. Dazu brauche es auch eine intensivere Kommunikation mit verschie-densten kommunalen Akteuren: in der Politik und Woh-nungswirtschaft, mit dem Kreis, dem Kommunalen Cen-ter für Arbeit und anderen Aktiven in der sozialen Arbeit. Neben der Kommunikation habe während der Projektzeit auch die Kooperation mit vielen dieser Akteure verbes-sert werden können, berichtete Heike Ronsiek-Schwebel.

Sie zog bei der Abschlusstagung folgendes Resümee: Un-sere Gesellschaft ist nicht inklusiv aufgestellt. Wir müssen als soziale Träger Impulse für gesellschaftliche Entwick-lungen geben. Wichtig ist auch, auf die Städteplanung Einfluss zu nehmen. Notwendig sind neue Wohnkon-zepte. Die sozialen Träger und die Menschen mit psychi-schen Beeinträchtigungen müssen in die Gestaltung von Wohn- und Lebenswelten einbezogen werden.

Bildung, berufliche Qualifizierung, Integrationsbetrie-be sowie Sport- und Freizeitaktivitäten.

Behindertenwerk Main-Kinzig- e. V.Heike Ronsiek-SchwebelVor der Kaserne 6 63571 GelnhausenTelefon: 06184 90470-2000 E-Mail: [email protected]

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Modellregion Münster

Für Soziale Teilhabe und Psychische Gesundheit e.V., FSP

Der FSP – ehemals Förderkreis Sozialpsychiatrie e.V. Münster – ist neben den psychiatrischen Kliniken der größte regionale Anbieter in der psychosozialen Ver-sorgung in Münster. Er bietet Unterstützung in den unterschiedlichsten Problemlagen von Menschen mit psychischer Erkrankung. Dazu gehören Beratung und pflegerische Hilfen, Wohnen, Arbeiten, Tagesgestal-tung und Rehabilitation.

FSP – Für Soziale Teilhabe und Psychische Gesundheit e.V. Münster Geschäftsstelle Dahlweg 112 48153 Münster Telefon: 02 51 986289-10 E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Helmut Mair, Vorsitzender

Professor Dr. Helmut Mair berichtete, dass der Woh-nungsmarkt aufgrund der Bevölkerungsentwicklung verschlossen sei für Menschen mit psychischen Erkran-kungen, die in Münster leben wollen und nicht auf dem Land.

Häufig sei daher eine Wohnung eines sozialen Trägers der einzige Weg, überhaupt eine Wohnung zu bekom-men. Denn soziale Träger würden von den Wohnungs-baugesellschaften bevorzugt. Sie trügen als Hauptmie-ter das finanzielle Risiko und seien auch verlässliche Krisenmanager. Einen Kostenersatz gebe es dafür aber nicht.

Die Befragung im Rahmen des Projekts ergab, dass die jungen Menschen, die eine Wohnung haben, in der Regel damit zufrieden sind. „Meist steht die Tatsache überhaupt eine Wohnung zu haben über der Qualität der Wohnung.“, ergänzte Helmut Mair.

Ein Teil der Befragten hätten jedoch Angst vor einer weiteren Verschlechterung ihrer Wohnsituation, vor Wohnungsverlust und Wohnungslosigkeit. Das gelte insbesondere für die Bewohnerinnen und Bewohner der Pension Plus, einer Unterkunft, die ursprünglich in einem ehemaligen Hotel untergebracht war: Sie bietet zwölf wohnungslosen Menschen mit psychischer Er-krankung ein Dach über dem Kopf. Die Betreuung wird ambulant erbracht und ist eine Kombination von be-treutem Wohnen, psychiatrischer Pflege und hauswirt-schaftlichen Hilfen. Für die Nachtstunden ist ein Bereit-schaftsdienst eingerichtet. Während des Aufenthalts, der auf drei Jahre begrenzt ist, sollen die Bewohner*in-

nen motiviert und in die Lage versetzt werden, weiter-gehende Hilfen in Anspruch zu nehmen.

Ein zentrales Ergebnis einer vom FSP initiierten Tagung war: Alle Träger in Münster sind konfrontiert mit Woh-nungsproblemen, mit aufwändiger Wohnungssuche, drohenden Wohnungsverlusten, mangelhaften und überteuerten Wohnungen etc.

Und die Träger sozialer Arbeit konkurrieren miteinander um Wohnungen, Häuser und Bauplätze. Helmut Mair: „Wir haben ein gemeinsames Problem: Jeder muss gu-cken, wie er dem anderen einen Schritt voraus ist.“

Es sei inzwischen allgemein anerkannt, dass der freie Wohnungsmarkt für die Gruppe der psychisch kranken Menschen keine Lösung bringe – selbst dann, wenn sehr viel mehr gebaut werden würde. Es bestehe aber die Hoffnung, dass es eine Chance auf eine gemeinsa-me Aktion der sozialen Träger gebe, um eine Quotie-rung in Neubaugebieten zugunsten psychisch kranker Menschen zu erreichen. Unter den Trägern herrsche zudem Einvernehmen, dass sie für ihre Funktion als Zwischenmieter Wege des finanziellen Ausgleichs fin-den müssen. Kosten für Verwaltung, Mietausfälle, In-standhaltung etc. müssten geltend gemacht werden können.

Der FSP hoffe darauf, dass – unter anderem angestoßen durch das Projekt und die Fachtagung – diese Punkte in die weiteren Debatten um Wohnungspolitik einfließen.

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Modellregion Zittau

Psychosozialer Trägerverein Sachsen e.V.

Der Psychosoziale Trägerverein Sachsen e.V. (PTV Sach-sen) engagiert sich seit 1990 in Sachsen, um die Teil-habemöglichkeiten psychisch und somatisch kranker und pflegebedürftiger, alter, behinderter und sozial benachteiligter Menschen zu verbessern. Er betreibt in Zittau eine Psychosoziale Kontakt- und Beratungs-stelle, bietet Ambulant betreutes Wohnen und eine Außenwohngruppe an und betreut Klientinnen und Klienten in Gastfamilien.

Kay Herklotz, Vorstand

Mit vielen leerstehenden Wohnungen und durch-schnittlichen Mieten unter fünf Euro pro Quadratmeter stellt sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt in Zittau völlig anders dar, als in den übrigen drei Projektregio-nen. Kay Herklotz berichtete, dass die Bevölkerung zu-sehends altere, viele junge Menschen wegzögen und selbst im städtischen Bereich viele soziale Angebote zurückgefahren würden. Lebten bis 2011 noch 26.000 Menschen in Zittau, so seien es jetzt nur noch 23.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Bewohnerinnen und Bewohner im Landkreis klagten zudem über eine unzureichende Infrastruktur beim Öffentlichen Perso-nennahverkehr und die damit einhergehende fehlen-de Mobilität. Mobile Beratungen durch soziale Träger könnten solche Defizite allenfalls etwas ausgleichen.

Der Psychosoziale Trägerverein Sachsen habe sich hauptsächlich am Projekt beteiligt, „weil wir wissen wollen, was fehlt, auch wenn es genug Wohnraum gibt“, so Kay Herklotz. Die Frage sei: Welche Chancen und Barrieren für Menschen mit psychischen Erkran-kungen gibt es im ländlichen Bereich angesichts von Bevölkerungsrückgang, dem Wegfall von Infrastruktur, dem Wegzug von Angehörigen und der drohenden Vereinsamung?

Fast alle Klientinnen und Klienten des PTV Sachsen wohnen im eigenen Wohnraum, zum Teil mit Unter-stützung durch Betreuer*innen beziehungsweise Mit-arbeitende des Ambulant Betreuten Wohnens. Die Wohnungen sind meist am Rande der Stadt und unsa-niert, zum Teil sehr eng. Der Wohnstandard ist oft sehr

Psychosozialer Trägerverein SachsenKay HerklotzFetscherstraße 32/3401307 DresdenTelefon: 0351 - 31 46 99 80 E-Mail: [email protected]

niedrig, zum Teil gibt es sogar noch Ofenheizung. Ein Hauptproblem sei gewesen, dass es für die Menschen mit psychischen Erkrankungen nur wenige Möglich-keiten gab, sich am sozialen Leben zu beteiligen. „Da-ran haben wir gearbeitet“, betonte Kay Herklotz. So wurden zum Beispiel offene Treffpunkte geschaffen. Auch eine bessere Vernetzung der Akteure im Bereich soziale Träger, Kommune und Wohnungswirtschaft sei erreicht worden.

Im Rahmen des Projekts gab es unter anderem einen Fachtag, in dessen Gestaltung viele Partner eingebun-den wurden. Zum Beispiel: Sozialamt, Bürgermeister, kulturelle und soziale Einrichtungen, Selbsthilfeinitiati-ven. Aus diesem Fachtag heraus habe sich ein runder Tisch gegründet. An ihm tauschen sich Vertreterinnen und Vertreter von sozialen Trägern, der Wohnungswirt-schaft und der Kommune regelmäßig mit Menschen aus, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Ziel ist, Lösungsansätze für Probleme und Handlungs-konzepte zu entwickeln. Es geht um Möglichkeiten zur Verbesserung der Infrastruktur und die Sensibilisie-rung der Mitarbeitenden der Wohnungswirtschaft für die Situation psychisch erkrankter Menschen. Zudem konnten Studierende der Hochschule Görlitz für eine Facharbeit hinsichtlich des Themas Quartiersentwick-lung eingebunden werden.

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6. Wohnung, Kiez und mehr

Svenja Bunt ist promovierte Philosophin, engagier-te Betroffene und arbeitet als Sozialarbeiterin in der Wohnbetreuung für einen psychosozialen Träger in Berlin. Sie schreibt einen Blog und ist als Referentin und Dozentin aktiv. Zusammen mit Sybille Prins hat sie einen Ratgeber von Psychiatrie-Erfahrenen für Psych-iatrie-Erfahrene geschrieben mit dem Titel „Ein gutes Leben und andere Probleme“.

Svenja BuntE-Mail: [email protected]

www.verrueckte-buecher.de

In ihrem Vortrag schildert sie – basierend auf eigenen Erfahrungen – die Bedeutung einer eigenen Wohnung, eines „richtigen Zuhauses“ und eines guten sozialen Eingebunden-Seins für Menschen mit psychischen Er-krankungen. Damit verbindet sie Handlungsoptionen für Betroffene, Angehörige, Nachbarschaften, soziale Träger und Politik.

Wohnung, Kiez und mehr

Abschlusstagung 19.02.2018 Paritätischer Gesamtverband

Svenja Bunt

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Ein richtiges Zuhause

• Gerne nach Hause kommen. • Gerne Gäste einladen und für sie kochen. • Sich zuhause wohlfühlen. • Es schön finden zuhause. • Gerne für sein Zuhause sorgen. • Geld, Zeit und Arbeit für sein Zuhause

aufwenden.

Ein Zuhause – was heißt das?

Klinisch bedeutsam

• Sich sehr entspannt fühlen zuhause. • Ängste fallen ab von einem zuhause. • Gefühl von Sicherheit. • Gefühl von Geborgenheit bei Krankheit. • Verankerung und Verwurzelung.

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Wohnungen von psychisch beeinträchtigten Menschen

Zuhause im Kiez

• Wissen wo ich mit wenig Geld gute Ware kaufen kann.

• Hausarzt in der Nähe. • Bekanntschaften mit Nachbarn, freundliche

kleine Kontakte. • Spazierwege, Sportmöglichkeiten. • Kirchen, Gruppenangebote, Freizeitangebote • Sich auskennen, lange dort leben.

Benachteiligung

• Finanzkraft ist die Hauptressource, um eine Wohnung anmieten zu können.

• Ohne ein Erwerbseinkommen ist es nahezu unmöglich, auf dem freien Wohnungsmarkt in Berlin eine Wohnung anzumieten.

• Klare Benachteiligung für den Großteil der Betroffenen.

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Fehlende Ressourcen für ein richtiges Zuhause

• Zu wenig Geld, um im Möbelladen einkaufen zu gehen.

• Oft Brüche und Verluste, so dass auch nicht viele persönliche Gegenstände geblieben sind.

• Man kennt niemanden, der einem hilft beim Transport mit einem Auto.

• Informationen und Erfahrungen fehlen zu Wohnungseinrichtung.

Krisen und mangelnde Unterstützung

• Auffälliges Verhalten in Krisen kann zum Wohnungsverlust führen.

• Vernachlässigung der Wohnung oder unverantwortliches Verhalten können zum Wohnungsverlust führen.

• Vor allem eine Gefahr, wenn die Betroffenen weder privat noch professionell gut unterstützt werden.

Barrieren im Kiez

• Selbststigmatisierung • Wenig Schnittstellen und Gesprächsthemen

mit „normalen“ Menschen. • Soziale Ängste, man traut sich nicht, ist

ungeübt im Kontakt. • Man ist anders und wird von anderen auch so

wahrgenommen. • Andere Menschen sind nicht offen für neue

Kontakte.

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Ein weiter Weg…

2007 Berlin Sozialer Nullpunkt

Grundproblem der meisten schwerwiegend psychisch erkrankten Menschen: Armut, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, gefühlte Perspektivlosigkeit und kein richtiges Zuhause.

Wohnung, Kiez und mehr - mein eigener Weg

Ein weiter Weg…

2019 Berlin Sicheres Fahrwasser

Positive Entwicklungen: Sichere berufliche Zukunft, weiterer Studienabschluss, eigenes Einkommen, gutes soziales Netz und ein richtiges Zuhause

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Ein entscheidender Richtungswechsel

• Jahreswechsel 2009/10 • Sich besser um die Wohnung kümmern, sie

möglichst schön einrichten, möglichst gut gestalten, dafür meine Ressourcen aufwenden.

• Sport im Fitnessstudio. • Schreiben an einem Buchmanuskript. • Bewusster mein Budget planen.

Unser Ratgeber

Binnen weniger Monate

• Ein viel schöneres Zuhause. • Mehr Selbstbewusstsein. • Ich suchte mehr Kontakt mit anderen

Menschen. • Eine provisorische berufliche Identität. • Kleine Ausflüge und regelmäßiger Sport. • Ich fühlte mich deutlich besser, eine deutlich

bessere Lebensqualität.

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Die Grundlage

• Ein richtiges Zuhause. • Gut für mich sorgen. • Gute Freundschaften und Möglichkeiten zum

Austausch

Meilensteine der nächsten Jahre • 2011 Beginn der EX-IN-Ausbildung • 2012 Halbe Stelle im Bed&Breakfast und

Betreuung • 2012 erste Veröffentlichungen • 2013 Umzug in eine sanierte Nachbarwohnung • 2014 Beginn des berufsbegleitenden

Masterstudiums Klinische Sozialarbeit • 2016 Erster richtiger Sommerurlaub • 2017 Abschluss MA Klinische Sozialarbeit • 2018 Buchveröffentlichung

Was kann wer tun?

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Psychosoziale Helfer

• Erfahrungen ermöglichen: Wie kann Wohnen noch aussehen?

• Zu Geduld und einem langen Atem ermutigen. • An der Beziehungsfähigkeit arbeiten, damit

die Menschen herzlich mit anderen in Kontakt sein können und so Unterstützung erfahren.

Betroffene

• Ist meine Wohnung ein wichtiger Ort für mich?

• Bündeln der Ressourcen, um es sich schön zu machen.

• Aktiv werden, sich einbringen, einen kleinen Beitrag leisten.

• Gut mit den Menschen umgehen, mit denen man in Kontakt kommt.

Freunde und Angehörige

• Entwicklungen und Veränderungen erlauben. • Nicht zu viel helfen, abgegrenzt bleiben, nicht

die Verantwortung für das Leben des Betroffenen übernehmen.

• Sich selbst vom Betroffenen helfen lassen. • Gerne mit dem Betroffenen zusammen sein.

Wenn das nicht so ist, Feedback geben.

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Politiker

• Die schwierige Lebenssituation der Betroffenen mitdenken bei den verschiedenen Themen und Aufgaben.

• Auf einen Wohnungsmarkt hinzuwirken, der finanzschwache Menschen nicht völlig ausschließt.

• Quartiersarbeit dauerhaft finanzieren.

Nachbarn

• Den Menschen nicht nach einer Krise für immer verurteilen.

• Beschwerden über andauernde Probleme sind aber legitim.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

[email protected] www.verrueckte-buecher.de

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7. Die Wohnsituation psychisch kranker Menschen – wissenschaftliche Evidenz und künftige Herausforderungen

„Die gegenwärtige berufs- und arbeitsrehabilitative Praxis in der psychiatrischen Versorgung stellt nicht die Voraussetzungen dafür her, dass sich chronisch psychisch Kranke auf dem ,freien’ Wohnungsmarkt be-haupten können“, so Salize.

Kontakt: Prof.(apl) Dr. Hans-Joachim Salize Leiter Arbeitsgruppe Versorgungsforschung Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5 68159 Mannheim Telefon: 0621 170364-01 E-Mail: [email protected]

Prof. (apl.) Dr. Hans-Joachim Salize Zentralinstitut für Seelische Gesundheit 

Hans-Joachim Salize analysierte in seinem Beitrag die Entwicklung der Wohnformen für Menschen mit psy-chischen Erkrankungen  und stellte die mit dem Bun-desteilhabegesetz verbundenen Herausforderungen dar – nicht nur für das Wohnen, sondern vor allem auch für die Teilhabe am Arbeitsleben. Denn erwerbstätig zu sein und ein eigenes Einkommen zu haben sei eine wichtige Voraussetzung für Betroffene, um selbstbe-stimmt und selbstfinanziert wohnen zu können.

Derzeit sei eine systematische Ausgliederung chro-nisch psychisch kranker Menschen aus dem Erwerbs-leben, sprich „Frühberentung“, noch traurige Realität.

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Quantität - wieviel wird angeboten ? wie hoch ist der Bedarf ?

Qualität - ist das Angebot bedarfsdeckend ? erfüllt es fachliche Standards ?

Effektivität - bewirkt es, was es bewirken soll ?

Die Wohnsituation

psychisch kranker Menschen – wissenschaftliche Evidenz und künftige

Herausforderungen

Hans Joachim Salize

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

DPWV-Projekt “Inklusion psychisch kranker Menschen im Bereich Wohnen” Abschlussveranstaltung , Berlin, 19. Februar 2019

Forschungsaufkommen Betreutes Wohnen (Auswahl)

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Forschungsthemen im Bereich Wohnen

• De-Institutionalisierung, Enthospitalisierung • Lebensqualität • Effektivität • Kosten • Home-Treatment • Familienpflege

• Bedarf ? • Bedarfsdeckung ? • Spezielle Aspekte (Wohnumgebung etc.) ?

Forschungsaufkommen Betreutes Wohnen (Auswahl)

freierWohnungsmarkt

Wohnangebote für psychisch kranke Menschen

Kombi-Angebote

(RPK usw.)

Betreutes Wohnen (Heim)

Betreutes Wohnen

(ambulant)

Betreutes Wohnen in

Familien für Betagte

Spezial-angebote für

junge Menschen

Betreutes Wohnen in Familien

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26.709 27.483

81.904

0

90000

2000 2005 2010

Personen im Betreuten Wohnen für Menschen mit einer seelischen Behinderung nach § 79 SGB XII

Quelle: GMK-Bericht oberste Landesgesundheitsbehörden-Psychiatrie 2012

36.718

47.803 48.682

0

55000

2000 2005 2010

Vollstationäre Heimplätze für Menschen mit einer seelischen Behinderung nach §§ 53,54 SGB XII bzw. §§ 39, 40 u. 68 BSHG

Quelle: GMK-Bericht oberste Landesgesundheitsbehörden-Psychiatrie 2012

99.354

84.048

117.596114.180

98.621

104.157

60.972

108.904

63.80756.22354.43353.061

77.368

54.088 56.392

0

20.000

40.000

60.000

80.000

100.000

120.000

140.000

19721975

19781981

19841987

19901993

19961999

20022005

20082011

20142017

Westdeutschland Gesamt (incl. neue Länder)

Bettenzahl

Bettenabbau in der stationären Psychiatrie

Datenquelle: Statistisches Bundesamt

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Versorgungsepidemiologische Perspektive

stationärpsychiatrische Fälle 2010 Psychosen 132.017 Affektive Stör. 254.999

33,7 %

Betreutes Wohnen 2010 130.586 Plätze

26.709

36.718

27.483

47.803

81.904

48.682

0

90000

2000 2005 2010

Quelle: GMK-Bericht oberste Landesgesundheitsbehörden-Psychiatrie 2012

Plätze betreutes Wohnen - Psychiatrische Betten

Psych. Krankenhausbetten ca. 52.000 - 54.000

Enthospitalisierung oder Re-Institutionalisierung ?

Betreutes Wohnen für psychisch Kranke

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Herausforderung BTHG

• Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) • Partizipation und Teilhabe stärken • Steuerung verbessern, Kosten dämpfen • Wahlrecht für Leistungen schaffen (Wohnen, Arbeit usw.) • verbindliches Teilhabeplanverfahren • Personenzentrierung stärken • Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe lösen • Vermögens- u. Einkommenssituation Betroffener verbessern • Alternativen zur Werkstatt für Behinderte schaffen • Mitwirkung in WfbM verbessern

Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG)

Granada Groningen London Lund Mannheim Zürich

andere

betr. Wohnen

außerstationär & rehab.

Medikation

Krankenhaus

36.978

16.168

21.020

7.087

12.128

2.958

Quelle: Salize et al. 2009, Schizophrenia Bulletin

Jährliche Pro-Kopf-Kosten Schizophrenie (DIALOG-Studie)

Herausforderung BTHG

• Welche Auswirkungen wird das neue Wahlrecht für psychosoziale Leistungen (Wohnen, Arbeit, Betreuung) auf die Träger und damit auf die Angebote haben ?

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RPK Standorte in Deutschland

ca. 50 Einrichtungen ca. 1.700 Plätze ca. 1.300 Fälle/Jahr

Wechselwirkung mit Arbeit

„…Eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt gelingt durchweg gar nicht und die sozialen Kontakte nach außerhalb der Einrichtungen sind vor allem für die stationären Bewohner sehr gering ausgeprägt.“

Stationäre Psychiatrie: Verlegungen in Rehaeinrichtungen

(§ 21 Datensatz, VIPP-Projekt ca. 500.000 Fälle)

2012

2010

1,5 %

1,0 %

1,1 %

2011

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übergeordnetes Ziel des hochdifferenzierten Systems der beruflichen und Arbeitsrehabilitation psychisch Kranker: Wiedereingliederung ins Erwerbsleben - eine Grundvoraussetzung für Betroffene, selbstbestimmt und selbstfinanziert zu wohnen

Teilhabe am Arbeitsleben,

Wiedereingliederung

Arbeits-trainings

plätze

Integration in Arbeit und Beschäftigung

Werkstatt für behinderte

Menschen

RPK

Berufs-förderungs-

werk Berufs-

trainings- zentren

Integrations- firmen

Zuverdienst- betriebe Tagesstätten

Integrations- dienste

Förder-lehrgänge

In der Realität erfolgt jedoch die systematische Ausgliederung chronisch psychisch Kranker aus dem Erwerbsleben („Frühberentung“) Beispiel: berufsrehabilitative Praxis der Rentenversicherung

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0

50.000

100.000

150.000

200.000

250.000

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Datenquelle: Deutsche Rentenversicherung

alle Krankheitsbilder

psychische Störungen

0

50.000

100.000

150.000

200.000

250.000

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Datenquelle: Deutsche Rentenversicherung

0

25.000

50.000

75.000

100.000

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Datenquelle: Deutsche Rentenversicherung

Psychische Störungen

Erkrankungen Skelett/Muskulatur

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Psychische Störungen + 44,7 %

Skelett / Muskeln / Bindegewebe - 55,3 %

Herz- / Kreislauferkrankungen - 39,8 %

Stoffwechsel / Verdauung - 36,2 %

Neubildungen - 22,5 %

Atmungsorgane - 20,5 %

Neurologische / Sinnesorgane - 7,8 %

Haut - 44,3 % sonstige Störungen - 22,2 %

alle Erkrankungen - 16.8 %

Rentenzugänge wg. verminderter Erwerbsfähigkeit Zuwachsraten 2000 - 2012

Datenquelle: Deutsche Rentenversicherung, eigene Berechnung

0

25.000

50.000

75.000

100.000

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Datenquelle: Deutsche Rentenversicherung

Psychische Störungen

Herz-/Kreislauferkrankungen

Rentenzugänge verminderte Erwerbsfähigkeit

wegen psychischer Störungen – Anteil aller Zugänge

19,6 % 35,9 %

20122000

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2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

0

20

40

60

80

Berufsreha vs. Frühberentung

Skelett-, Muskel-, Bindegewebserkrankungen (% gesamt)

Datenquelle: Deutsche Rentenversicherung

Frühberentung

Berufsreha

+29,8

+29,9

Berufliche Reha-Maßnahmen

der Rentenversicherung

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

0

20

40

60

80

Datenquelle: Deutsche Rentenversicherung

-18,5

-28,9

Frühberentung

Berufsreha

Berufsreha vs. Frühberentung

Psychische Störungen (% gesamt)

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• bei fast allen körperlichen Erkrankungen erfolgen deutlich mehr berufsrehabilitative Maßnahmen als Frühberentungen

• bei psychischen Erkrankungen ist es umgekehrt: Frühberentungen sind viel häufiger als berufsrehabilitative Maßnahmen

• Dies deutet auf eine strukturelle Benachteiligung psychisch Kranker hin, im Sinne einer systematischen Ausgliederung psychisch Kranker aus dem Erwerbsleben

• d.h. die Reha-Praxis unterstützt das Gegenteil dessen, was sie eigentlich will: Wiedereingliederung

Die gegenwärtige berufs- und arbeitsrehabilitative Praxis in der psychiatrischen Versorgung stellt nicht die Voraussetzungen dafür her, dass sich chronisch psychisch Kranke auf dem „freien“ Wohnungsmarkt behaupten können.

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0

200.000

400.000

600.000

800.000

1.000.000

1.200.000

1.400.000

1992

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Aussiedler, Asylsuchende, Flüchtlinge

Wohnungslose (ohne Aussiedler, Flüchtlinge, Asylsuchende)

Datenquelle: BAG Wohnungslosenhilfe 2019

Wohnungslose in Deutschland

„freier“ Wohnungsmarkt

Wie stark ist der Problemdruck auf die Risikoklientel, die unter psychischen Störungen leidet, aber nicht im komplementär-rehabilitativen System versorgt wird ?

78,7 %68,7 %

München MannheimQuelle: Fichter et al. 1995, Salize et al. 2000

Psychische Störungen bei Wohnungslosen

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2,69 2,36 2,38 2,47 2,57 2,55

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Krankenversicherte Arbeitslosengeld II- und Sozial-geldempfänger mit psychiatrischer Diagnose (in Mio.)

Datenquelle: Statista 2013, IAB-Forschungsbericht 12/2013, eigene Berechnung

56,9 55,5

8,9

27,7

14,7

18,8

6,9

13,9

6,9

2,9 42

2 1

0

60%

F1 Abhängigkeit

F4 Angst-/Belastungsstörung

F6 Persönlichkeitsstörung

F3 Affektive Störungen

F2 Schizophrenie

F7 Intelligenzmind.

F5 Verhaltensauffälligk.

sonstiges

WohnungsloseRisiko Wohnraumverlust

Psychiatrische Prävalenz

• Räumungsbeklagte • Mietschuldner • Messies • usw.

2014: bundesweit ca. 172.000 Haushalte bei 50 % Abwendung des Wohnungsverlusts bei 19 % Zwangsräumung bei 31 % „kalter“ Wohnungsverlust

Risikogruppe: von Wohnungsverlust Bedrohte

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• soziale Notlagen verschlimmern sich bei unbehandelten psychischen Störungen und umgekehrt

• bei vielen Risikopersonen in prekären sozialen Lagen sind psychische Probleme festzustellen

• die psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung dieser Risikopersonen ist defizitär

• es fehlt an geeigneten Hilfeangeboten

• die psychiatrische Behandlungsprävalenz – und damit die psychische und mittelfristig auch die soziale Lage – der Betroffenen kann mittels spezifischer Maßnahmen verbessert werden

Annahmen

Verbesserung der psychiatrischen Behandlungsprävalenz bei Personen mit Risiko des Wohnraumverlustes - prospektive Präventions- und Interventionsstudie

- Dauer: 2011-2013 - an zwei Standorten: Mannheim und Freiburg

MOTIWOHN - Studie

Freiburg

Mannheim

Verbesserung der psychiatrischen Behandlungsprävalenz bei Personen mit Risiko des Wohnraumverlustes

• Rekrutierung von Risikopersonen (Räumungsklage, Mietschulden plus unbehandelter psychischer Erkrankung) in Ämtern für Wohnraumversorgung, Jobcenter etc.

• Psychiatrische Diagnostik

• Motivierung zur Behandlungsaufnahme

• Kontaktherstellung

• Motivierende Begleitung

• Erfolgskontrolle (Monate 6 u. 12) Behandlungsprävalenz

Besserung Symptomatik Besserung Wohnsituation Lebensqualität

Vorgehen:

MOTIWOHN

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Wohnungs-losenhilfe Soziale Sicherung

Kooperierendes Netzwerk ?

Gemeinde-psychiatrie

Arbeits-verwaltung

Kooperationspartner

Freiburg: Amt für Wohnraumversorgung / -sicherung

SPDi Freiburg

Wohnungslosenhilfe

Jobcenter Freiburg Mannheim: Fachbereich Soziale Sicherung / Sachgebiet Wohnungshilfen u. Flüchtlinge Jobcenter Mannheim Wohnungslosenhilfe Gemeinnützige Wohnungsbaugesell. GBG

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MOTIWOHN Studiendesign

T1 (6 Monate) T2 (12 Monate) T0 (baseline)

Intervention (6-8 Wochen)

- motivational interviewing

Follow-up

- Behandlungsbeginn - Behandlungsadhärenz - Lebensqualität - Empowerment - Bedarfsdeckung - soziale Unterstützung etc.

Überweisung zu psychiatrischer Einrichtung kontinuierliche motivationale Betreuung

Diagnosen bei Studieneinschluss (n=58)

F10 Sucht 15,9 %

F20 Schizophrenie 1,7 %

F30 Affektive Störung, Depression 25,8 %

F40 Angststörung 24,1 %

F60 Persönlichkeitsstörung 17,2 %

nicht diagnostizierbar (mangelnde Compliance) 15,5 %

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Wohnungs-losenhilfe Soziale Sicherung

Kooperierendes Netzwerk ? Bermuda Dreieck !!!!

Gemeinde-psychiatrie

Arbeits-verwaltung

zugeleitet Job Center 77 130 100 % soziale Sicherung 23 gemeinnütziger Wohnungsbau 7 Wohnungslosenhilfe 7 gesetzliche Betreuer 9 andere 7 kein Einschluss (nicht erschienen, bereits in Behandlung, 72 55,4 % keine Einwilligung, mangelnde Sprach- kenntnisse) Studieneinschluss 58 44,6 % 100 % Dropouts 26 44,8 % Completer 32 55,1 % % Completer % Einschluss Outcome stabilisiert ohne Behandlung 8 25,0 % 13,7 % Suchtambulanz/-tagesklinik 8 25,0 % 13,7 % Psychotherapeut/Psychologe 6 18,8 % 10,3 % Psychiater (ambulant) 5 15,6 % 8,6 % Sozialpsychiatrischer Dienst 2 6,3 % 3,4 % Psychiatrische Institutsambulanz 2 6,3 % 3,4 % Psychiatrische Klinik 1 3,1 % 1,7 %

Verweisungen an die Studie Überleitung in psychiatrische Fachdienste nach 6 Monaten

• viel zu geringes sektorenübergreifendes Forschungsaufkommen im Bereich Wohnen für psychisch Kranke

• vernetztes, sektorenübergreifendes Denken ist erforderlich aufgrund des engen Zusammenhangs der Zielfelder Wohnen, Arbeit und Sozialbeziehungen

• Schaffung von Schnittstellen und intersektorialen Angeboten

• Überdenken veralteter Paradigmen (Supported Employment vs. traditionelle Arbeitsreha)

• Prävention psych. Erkrankung u. Wohnraumverlust intensivieren

• Förderung einer integrativen Haltung der Gesellschaft

Fazit

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8. Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung – Wie können Menschen mit psychischen Erkrankungen inklusiv wohnen?

Kay Herklotz Stellvertretender Vorsitzender des

Dachverbands Gemeindepsychiatrie e.V.

Der Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V. vertritt deutschlandweit die Interessen der Träger gemeinde-psychiatrischer Hilfen. Er vertritt die Überzeugung, dass seelische Erkrankungen keine rein medizinische Herausforderung sind, sondern die Lebenswelt der Betroffenen eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob und wie sie diese Krankheit bewältigen beziehungs-

weise mit ihr leben können. In diesem Sinne thema-tisierte Kay Herklotz in seinem Vortrag Probleme von Menschen mit psychischen Erkrankungen bei der Ver-sorgung mit Wohnraum, die Aufgaben und Herausfor-derungen für soziale Träger und Handlungsoptionen für die Gemeindepsychiatrie, wie etwa die Kooperation mit der Wohnungswirtschaft.

Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Wie können Menschen mit psychischen Erkrankungen inklusiv wohnen?

Kay Herklotz Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V.

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Psychosozialer Trägerverein Sachsen e.V.

• gegründet 1990 in Dresden • in mehreren Städten und Landkreisen Sachsens tätig • 200 Mitarbeiter*innen • vorwiegend ambulant tätig • Angebote nach SGB II; V; VIII; IX; XI und XII

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 3

Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V.

• vertritt deutschlandweit die Interessen der Träger gemeindepsychiatrischer Hilfen – 220 Mitglieds-organisationen mit 12.000 Mitarbeitenden.

• setzt sich für eine inklusive und vorrangig ambulante Versorgung von psychisch erkrankten Menschen ein, die die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt und ihnen Teilhabechancen in der Gemeinschaft eröffnet.

• folgt der Überzeugung, dass seelische Erkrankungen keine rein medizinische Herausforderung sind, sondern die Lebenswelt der Betroffenen eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob eine Krankheitsbewältigung gelingt.

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 2

Menschen mit psychischen Erkrankungen auf Wohnungssuche • Wohnungen sind immer öfter knapp und teuer – • oft hohe persönliche, krankheitsbedingte oder

ökonomische Zugangshürden zum Wohnungsmarkt

• Betroffene finden keine geeignete Wohnung • werden wegen steigender Mieten aus angestammten

Vierteln verdrängt und entwurzelt

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 4

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Die Lebensweltorientierung als Kern der Gemeindepsychiatrie • Das Konzept der Lebensweltorientierung (Thiersch 1992) in

der sozialen Arbeit bedeutet, in Abkehr von klassischen – medizinisch geprägten (Anamnese, Diagnose, Therapie) – Hilfeformen, die individuellen sozialen Probleme der Betroffenen in deren Alltag in den Blick zu nehmen sowie den Selbstdeutungen und Problembewältigungsversuchen der Betroffenen mit Respekt und Takt, aber auch mit wohlwollend-kritischer Provokation im Zielhorizont eines „gelingenderen Alltags“ zu begegnen.

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 6

Exklusionsrealitäten

• Barrieren sind oft nicht sichtbar und für außenstehende nur schwer zu verstehen. Dabei stellen Vorurteile und Stigmatisierungen bei den Mitmenschen, Kontakt- und Kommunikationsprobleme mit der Umwelt oder medikamentöse Nebenwirkungen Betroffene vor reale Schwierigkeiten bei der gesellschaftlichen Teilhabe – auch und besonders im Bereich des Wohnens.

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 5

Handeln ethisch erforderlich und fachlich geboten • UN-Behindertenrechtskonvention: Gesellschaftliche

Teilhabe / Inklusion in allen Lebensbereichen, also auch beim Wohnen

• S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“: Vorrangig ambulante Behandlung und Unterstützung im gewohnten Lebensumfeld

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 7

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Soziale Träger im Dilemma?

• Kopplung von Vermietung und Betreuungsverhältnis• Rechtliche und ethische Herausforderung: Was ist, wenn die

Bewohnerin / der Bewohner keine Betreuung mehr in Anspruch nehmen will?

• Gewerbemietrecht für soziale Träger(14.12.18 hat Bundesrat eine Gesetzes-

änderung bestätigt – Wohnraummietrecht)

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 9

Soziale Träger in der Rolle des Vermieters

• Soziale Träger nehmen eine wichtige Funktion ein - sie unterstützen Menschen mit Behinderungen nicht nur im Wohnraum z.B. im Betreuten Wohnen und Wohngemeinschaften, sondern bieten auch eine bedarfsorientierte Betreuungs- und Unterstützungsleistung. Sie richten sich besonders an schwer und chronisch psychisch erkrankte Menschen.

• Im Sinne der UN-BRK und des Inklusionsgedankens ist eine Unterstützung der Betroffenen in einer eigenen Wohnung durch eine ambulante Versorgung und Betreuung im sozialen Umfeld des Menschen zu favorisieren (vgl. BTHG)

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 8

Menschen mit psychischen Erkrankungen auf Wohnungssuche – (K)ein Spezialfall? • Befragung von Betroffenen (Dachverband

Gemeindepsychiatrie e.V. 2016) hat ergeben, dass weniger die psychische Erkrankung als vielmehr die eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten das Problem bei der Wohnungssuche sind.

• Also ein gesellschaftliches Problem im Sinne des Armutsbericht des Paritätischen: „Krankheit macht arm, Armut macht krank?“

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 10

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Lösungsansätze

• Mehr sozialer Wohnungsbau und Projekte unter Beteiligung sozialer Träger

• inklusiven Sozialraum durch – Aufklärung der „Normalbevölkerung“, – Schulungen bei Wohnungsgesellschaften

und Kommunen zu den Bedürfnissen psychisch erkrankter Menschen,

– Schaffung von Begegnungsräumen, – teilhabeorientierte Projekte

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 12

Lösungsansätze

• Kooperation von Gemeindepsychiatrie mit Wohnungswirtschaft

• Sensibilisierung für die Themen von Menschen mit Behinderung

• Pflege und Ausbau eines tragfähigen Netzwerkes • Antistigmaarbeit (z.B. Bierdeckel gegen Vorurteile)

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 11

Viele Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

19.02.2019 Kay Herklotz - Sozialraumorientierte Wohnraumversorgung Seite 13

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9. Wohnungswirtschaft und soziale Träger als Partner?!

Dr. Kai H. Warnecke Präsident von Haus & Grund – Zentralverband der

Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer

Der Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer hat rund 900.000 Mitglieder. Diese sähen sich aber nicht als Teil der deutschen Im-mobilienwirtschaft, betonte Dr. Kai H. Warnecke. „Es sind ganz normale Menschen, die ein Einfamilienhaus besitzen, Reihenhaus-Eigentümer sind oder ein Haus von Großmutter oder Mutter geerbt haben.“

Laut Warnecke gibt es 41 Millionen Haushalte in Deutschland und etwa ebenso viele Wohneinheiten. 80 Prozent davon gehören privaten Einzel-Eigentü-merinnen und Eigentümern. Etwas mehr als die Hälfte davon – 54 Prozent – wiederum seien Wohnungen, die zur Miete angeboten werden. Was viele nicht wüssten: Etwa ein Drittel der Sozialwohnungen in Deutschland würden von privaten Einzeleigentümer*innen ange-boten. Und drei Viertel der Mietwohnungen, die in den vergangenen zwei Jahren gebaut wurden, wurden von privaten Eigentümer*innen gebaut. „Wir bei Haus & Grund sind davon überzeugt, dass dies allesamt An-bieter sind, die sehr positiv auf den Wohnungsmarkt wirken“, betonte Warnecke. Diese Vermieter*innen sei-en in der Regel sehr soziale und bodenständige Men-schen, denen an guten Mietverhältnissen gelegen sei. Ein Viertel zum Beispiel habe noch nie die Miete er-höht.

Haus & Grund finde es wichtig, mit sozialen Trägern zu kooperieren, betonte Kai H. Warnecke. Ein Beispiel da-für ist die gemeinsam mit dem Paritätischen Gesamt-

verband herausgegebene Broschüre „Suchen Wohnung – bieten Erfahrung“. „Wir wissen, dass es wichtig ist, psychisch kranken Menschen zu ermöglichen, in ihrem Wohnumfeld zu bleiben, weil das sie stabilisiert“, sagte Kai H. Warnecke. Selbst wenn es mit psychisch kranken Mieter*innen Probleme gebe, hätten die meisten Ver-mieter*innen kein Interesse an einem Mieterwechsel, sondern wollten andere Wege finden, die Probleme zu lösen. Soziale Träger könnten da oft hilfreich tätig wer-den, betonte der Präsident von Haus & Grund. Wichtig sei es, die Menschen vor Ort zusammen zu bringen.

Haus & Grund werbe bei den Eigentümer*innen immer wieder dafür, soziale Träger oder die Stadt als Mieter zu wählen, sagte Warnecke. Er betonte, es gebe sicher gute Gründe, warum soziale Träger darauf dringen, dass bei Mietverhältnissen das Wohnraummietrecht angewandt wird. Er habe aber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass private Eigentümer*innen jemals das Ge-werbemietrecht für sich und gegen den sozialen Trä-ger ausgenutzt hätten. Er wage nach den Änderungen aufgrund des Mietrechtsanpassungsgesetzes jedoch die These: „Diese Eigentümer werden sich jetzt dreimal überlegen, ob sie das komplexe Wohnraummietrecht auf einen sozialen Träger anwenden wollen.“ Globale Immobilienunternehmen treffe das Gesetz dagegen überhaupt nicht.

Es liegt keine Präsentation vor, da es sich um einen frei gesprochenen Vortrag handelte.

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10. Diskussionsrunde Inklusives Wohnen gemeinsam gestalten

mit  Doreen Petri, Geschäftsführerin, Neue Wohnraumhilfe gGmbH, Darmstadt  Corinna Rüffer (MdB), Sprecherin für Behindertenpolitik und Bürgerangelegenheiten, Bündnis90/Die Grünen  Prof. Dr. Hans Joachim Salize, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim  Claudia Scheytt, Der Paritätische Gesamtverband e.V.  Dr. Kai H. Warnecke, Präsident, Haus & Grund Deutschland – Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs-

und Grundeigentümer e.V.

v. li. n. re.: Prof. Dr. Hans-Joachim Salize, Dr. Kai Warnecke, Moderator Ralph Erdenberger, Doreen Petri, Corinna Rüffer und Claudia Scheytt

Wie können die unterschiedlichen Akteure gemeinsam Inklusives Wohnen gestalten und was braucht es dazu an Rahmenbedingungen und Instrumenten? Darum ging es in der Diskussionsrunde zum Ende der Tagung. Es diskutierten: Professor Dr. Hans-Joachim Salize vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Corinna Rüf-fer, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grü-nen und Sprecherin für Behindertenpolitik und Bürger-angelegenheiten, Doreen Petri, Geschäftsführerin der Neuen Wohnraumhilfe gGmbH in Darmstadt, Dr. Kai H. Warnecke, Präsident von Haus & Grund Deutschland, sowie Claudia Scheytt, Referentin für Behinderten- und Psychiatriepolitik beim Paritätischen Gesamtverband. Deutlich wurde: Wohnen ist ein Querschnittsthema, das eine bessere Kooperation vieler unterschiedlicher Akteure erfordert. Diese Kooperation muss gestaltet und auch finanziell ermöglicht werden.

Claudia Scheytt betonte, wie wichtig die regionale Ebe-ne ist beim Bestreben, für Menschen mit seelischen Be-einträchtigungen Wohnraum zu schaffen beziehungs-weise zu erhalten. Daher sei der Paritätische auch sehr

froh über die Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Wohnungswirtschaft. Diese Kooperation habe beispielsweise zu einer gemeinsamen Broschüre geführt, in der die Doppelrolle Sozialer Träger als Mie-ter und Vermieter beleuchtet wird. Dr. Kai H. Warnecke ergänzte, dass Haus & Grund die Überzeugungsarbeit der freien Träger bei Vermietern zu schätzen wisse, wenn es darum gehe, Wohnraum für psychisch kranke Menschen zur Verfügung zu stellen. Dabei gelte es aber auch, die begrenzten Ressourcen freier Träger nicht aus den Augen zu verlieren, konterte Claudia Scheytt. Das Bundesteilhabegesetz werde zwar oft gelobt, Leis-tungen im Sozialraum würden aber nur unzureichend berücksichtigt. „Wenn im Gesetz steht, Fachkräfte müs-sen in den Sozialraum gehen und sozialraumorien-tiert arbeiten, dann werden wir ziemlich hart arbeiten müssen, dass auch Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Wohnraumbeschaffung und dem Erhalt des Wohn-raums in der Leistungsvergütung oder den Leistungs-komplexen abgebildet werden können“, sagte Scheytt. Sie würden oft nicht als personenzentrierte Leistung gesehen, obwohl sie es letztlich seien. „Es ist eine Kno-

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chenarbeit, einer Verwaltungsperson zu erklären, was man da gemacht hat und dass das im Zusammenhang mit dem Menschen mit psychischer Erkrankung steht.“

Corinna Rüffer von Bündnis 90/Die Grünen pflichte-te ihr bei: „Ich sehe an vielen Stellen des BTHG Nach-besserungsbedarf.“ Das BTHG sei eingebracht worden mit dem Versprechen, die UN-Behindertenrechtskon-vention in weiten Teilen durchzusetzen. „Aber dieses Gesetz springt natürlich an allen möglichen Stellen zu kurz. Zum Beispiel, was die Frage des Wunsch- und Wahlrechts angeht, oder was die Frage der Finanzie-rung von einzelnen Leistungen betrifft.“ Es gebe immer noch häufig Situationen, in denen Menschen gegen ihren Willen in Wohnformen gezwungen würden, die nicht ihren Vorstellungen entsprächen. Dies geschehe beispielsweise, weil das Persönliche Budget, das auch Menschen mit psychischer Behinderung zustehen müsste, nicht vom Leistungsträger finanziert werde. Das strukturelle Problem der finanziellen Unterversor-gung der Kommunen erschwere es, gute Lösungen in der Praxis umzusetzen. Das gelte besonders, wenn die Kommunen verschuldet seien und freiwillige Leistun-gen sowieso nicht zur Debatte stünden.

Ein positives, sehr erfolgreiches Musterbeispiel schil-derte Doreen Petri, Geschäftsführerin der neuen Wohnraumhilfe in Darmstadt, einer gemeinnützigen Organisation, die zirka 350 Wohnungen verwaltet. Die-se Wohnungen werden nur Menschen zur Verfügung gestellt, die einen dringenden Bedarf haben, also von Wohnungslosigkeit bedroht oder gar betroffen sind. Die neue Wohnraumhilfe begleitet als sozialer Träger Mietverhältnisse und vermittelt bei Bedarf an Netz-werkpartner. Das können Träger der Behindertenhilfe sein, aber auch andere Träger, die ambulant betreutes Wohnen anbieten. „Wir versuchen, die Brücke zur Woh-nungswirtschaft zu schlagen, sowohl zu Privatvermie-tern als auch zu Großvermietern wie Wohnungsbauge-sellschaften“, erklärte Petri. Die gemeinnützige GmbH biete auch eine soziale Mieterberatung an. Zentrale Themen sind Mietschulden und Konflikte zwischen Mieterinnen, Mietern und Vermietenden. Wenn bei-spielsweise ein Mietverhältnis gefährdet sei, weil wegen Mietrückständen Mahnungen oder gar Kündigungen ausgesprochen sein, versuche der Träger zusammen

mit der Wohnungswirtschaft, das Mietverhältnis zu sichern. Doreen Petri: „Wir können zum Beispiel Miet-rückstände wieder einbringen, weil wir gegebenenfalls erkennen, dass bei einem Empfänger von Transferleis-tungen vielleicht Folgeanträge nicht gestellt wurden und deshalb keine Leistungen erfolgten. Hier können wir vermitteln und dem Vermieter sagen: In ein paar Wochen kommt die Miete wieder, es hat nur ein Antrag gefehlt. Damit können Räumungsklagen, die letztlich sehr teuer sind, abgewendet werden und das Mietver-hältnis kann gesichert werden.“ Sehr hilfreich sei dabei auch, dass es in Darmstadt eine Wohnraumsicherungs-stelle gibt, wie sie bundesweit nur wenige Kommunen haben.

Dr. Kai H. Warnecke sieht Angebote wie das in Darm-stadt sehr positiv, weil sie im Krisenfall gute Lösungen ermöglichen und Räumungsklagen verhindern kön-nen. „Ein Gerichtsprozess ist extrem nervenaufreibend und teuer. Es ist für beide Seiten viel besser, wenn es gelingt, den Mieter in der Wohnung zu halten.“

Professor Dr. Hans-Joachim Salize vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit betonte, dass er dieses Darm-städter Modell noch nicht kannte, obwohl Mannheim und Darmstadt gar nicht weit voneinander entfernt seien, wenn auch zu unterschiedlichen Bundesländern gehörig. Hier zeige sich, dass das Projekt „Inklusion psy-chisch kranker Menschen bewegen“ und die Tagung wichtige Netzwerkfunktionen leisteten. Generell seien die Versorgungsstrukturen regional sehr heterogen, was nicht zuletzt auf die Fragmentierung des Sozial-systems zurück zu führen sei, sagte Salize. Er verwies zudem auf die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, mehr zum Erhalt psychischer Gesundheit und zur Entstigma-tisierung psychischer Erkrankungen zu tun.

Auf einen weiteren Aspekt, der die Wohnraumversor-gung psychisch kranker Menschen erschwert, wies Corinna Rüffer hin: Es fehle schlichtweg an preiswer-tem Wohnraum, da seit 2002 rund 50 Prozent aller So-zialwohnungen aus der Bindung herausgefallen seien. Die zentrale Frage sei, wie adäquater Wohnraum ge-schaffen werden könne. Es seien dringend Investitio-nen in den sozialen Wohnungsbau nötig. Nicht nur für Menschen mit psychischen Erkrankungen habe sich

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die Lage enorm verschärft. Auch Familien mit durch-schnittlichem Einkommen fänden im städtischen Raum keine bezahlbaren Wohnungen mehr. „Das ist eine der zentralen sozialen Fragen, die wir zu lösen haben in diesem Land“, sagte die Bundestagsabgeordnete. „Wir brauchen zudem eine Gemeinnützigkeit, die dauerhaft ist, damit wir nicht irgendwann wieder in der Situation sind, dass der Wohnraum, den wir mit öffentlichen Gel-dern geschaffen haben, wieder rausfällt."

Auf Kritik aus dem Publikum am Umgang der Job-center mit psychisch erkrankten Menschen reagierte Corinna Rüffer mit der Feststellung, die Jobcenter sei-en teilweise überfordert mit der Betreuung von Men-schen mit psychischer Behinderung. Häufig würden

diese nicht erkannt oder vorliegende Gutachten nicht berücksichtigt. Claudia Scheytt verwies in diesem Zu-sammenhang darauf, dass viele Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf dem Arbeitsmarkt gar nicht im gewohnten Umfang zur Verfügung stehen könnten. Während die Finanzierung vieler Leistungen für er-werbsfähige Menschen über die Reha-Träger recht unkompliziert sei, müssen bei psychisch erkrankten Menschen für viele Unterstützungsleistungen und deren Koordination um die Finanzierung hart gekämpft werden. Ihre Forderung: „Wir müssen alle Menschen im Auge haben, nicht nur die, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.“ Inklusion, so auch Corinna Rüffer, sei kein „Nice-to-have“. Sie bedeute: „Jeder soll mit sei-nen Ressourcen in der Gesellschaft einen Platz finden.“