BERICHT ZUR STUDIE … · Berufe ausüben zu können. ... findet sich in Polen, Großbritannien...

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BERICHT ZUR STUDIE EINKOMMENSGERECHTIGKEIT IN DEUTSCHLAND EIN FORSCHUNGSPROJEKT DER UNIVERSITÄTEN KONSTANZ UND BIELEFELD MAI 2010 Universität Konstanz Prof. Dr. Thomas Hinz Katrin Auspurg Anja Joos Judith Schwarz Postfach: D40 78457 Konstanz Tel. 07531/883300 Universität Bielefeld Prof. Dr. Stefan Liebig Carsten Sauer Meike May Postfach: 10 01 31 33501 Bielefeld Tel. 0521/1064634

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BERICHTZUR STUDIE

EINKOMMENSGERECHTIGKEIT IN DEUTSCHLAND

EIN FORSCHUNGSPROJEKT DER UNIVERSITÄTEN KONSTANZ UND BIELEFELD

MAI 2010

U n i v e r s i t ä t K o n s t a n z

P r o f . D r. T h o m a s H i n zK a t r i n A u s p u r g

A n j a J o o sJ u d i t h S c h w a r z

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U n i v e r s i t ä t B i e l e f e l d

P r o f . D r. S t e f a n L i e b i g C a r s t e n S a u e r

M e i k e M a y

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EinleitungIn den öffentlichen Debatten der letzten Jahre über Min-destlohn und Managergehälter ging es immer auch um die Frage, was ein gerechtes Einkommen und eine ge-rechte Belohnung für die am Arbeitsplatz erbrachten Leistungen ist. Die Vorstellungen darüber, was gerecht ist, sind von Person zu Person sehr unterschiedlich. Manche meinen, man müsse Managergehälter begren-zen, weil ein Einkommen, das den Lohn eines einfachen Arbeiters um ein Vielfaches übersteigt, ungerecht ist. Andere wiederum sind gegen jegliche Einkommens-obergrenzen und begründen dies damit, dass derjenige der viel leistet, auch viel verdienen sollte. Ähnlich gehen die Meinungen beim Thema Mindestlohn auseinander. Auch hier werden Standpunkte mit Verweis auf die so-ziale Gerechtigkeit untermauert. Etwa dann, wenn ge-fordert wird, dass ein Vollzeit Erwerbstätiger ohne zu-sätzliche Sozialtranfers von seinem Lohn leben und sei-ne Familie versorgen können sollte. Ganz unabhängig davon, was Politiker, Medienvertreter und Experten als Maßstab für ein gerechtes Einkommen anlegen, ist es ein Ziel der nachfolgend vorgestellten Studie „Einkom-mensgerechtigkeit in Deutschland“ herauszufinden, welche Vorstellungen von Einkommensgerechtigkeit in der Bevölkerung bestehen. Es geht um die Frage, wer wie viel verdienen sollte und woran sich ein gerechtes Einkommen bemisst. In der Studie wird das Bruttoein-kommen, also das Erwerbseinkommen vor Steuern und Sozialabgaben, betrachtet. Damit steht die Gegenleis-tung des Arbeitgebers für die Arbeitsleistungen des Ar-beitnehmers im Mittelpunkt.

Wie Erwerbstätige ihr eigenes Einkommen bewerten, ist nicht nur für die sozial- und wirtschaftswissenschaftli-che Grundlagenforschung interessant, sondern es wer-den damit ebenso ganz praktische Fragen angesprochen. Man weiß inzwischen beispielsweise, dass die eigene Leistungs- und Einsatzbereitschaft am Arbeitsplatz un-mittelbar von dem Gefühl bestimmt ist, ob man sich gerecht entlohnt fühlt. Ungerechtigkeit in der Entloh-nung führt zu Leistungszurückhaltung, erhöhten Fehl-zeiten oder gar erhöhten Diebstahlquoten im Betrieb. Außerdem zeigen bisherige Untersuchungen, dass an-haltende Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz nicht nur zu psychischen, sondern auch zu physischen Krankheits-symptomen führt – etwa zur Zunahme an Herz- und Kreislauferkrankungen. Dies sind allesamt Folgen erleb-ter Ungerechtigkeit, die nicht nur für Betriebe, sondern

ebenso für das Gemeinwesen (z.B. durch erhöhte Kosten im Gesundheitssystem) nachteilig sind.

Welches Einkommen für eine erwerbstätige Person als gerecht angesehen wird, hängt von einer Vielzahl von Merkmalen ab. Neben der Leistung am Arbeitsplatz können die Qualifikation, das Alter, die familiäre Situa-tion, die wirtschaftliche Lage des Unternehmens oder der ausgeübte Beruf eine Rolle spielen. Je nach subjekti-ver Einschätzung soll die Leistung das alles entschei-dende Merkmal darstellen oder es sind etwa die Ausbil-dung und die familiäre Situation besonders wichtig. Genau diese individuellen Unterschiede bei der Bewer-tung nimmt die vorliegende Studie zum Anlass, um ein in der Umfrageforschung relativ neues Verfahren anzu-wenden und die Vorstellungen zur Einkommensgerech-tigkeit genauer als bisher abzufragen. Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse vorgestellt.

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Einkommensungleichheiten in Deutschland – Tatsächliches Ausmaß und ihre Bewertung

In einer Marktwirtschaft ist der Bruttolohn, den jemand für seine Arbeit erhalten kann, zunächst einmal abhän-gig von dem Angebot und der Nachfrage auf dem Ar-beitsmarkt. Wer über Fähigkeiten und Fertigkeiten ver-fügt, die nur wenige andere haben und die zudem von Arbeitgebern dringend benötigt werden, der kann ein höheres Einkommen erzielen. Umgekehrt erhalten die-jenigen, die über Qualifikationen verfügen, die sie mit vielen anderen teilen und für die ein geringer Bedarf seitens der Arbeitgeber besteht, eher niedrigere Löhne. In einer sozialen Marktwirtschaft gilt, dass die individu-elle Einkommenshöhe nicht ausschließlich von den An-gebots- und Nachfragebedingungen abhängig ist, weil etwa Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsame Tarif-verträge aushandeln oder weil einzelne Berufsgruppen besonders hohe Einkommen durchsetzen können. Zug-leich existieren bestimmte Regelungen dafür, welche Voraussetzungen jemand erfüllen muss, um bestimmte Berufe ausüben zu können. Die Funktionsweise des Ar-beitsmarkts und die ihn regulierenden Institutionen begründen also eine Ungleichheit der erzielten Ein-kommen. Vergleicht man die bestehende Einkommens-ungleichheit in Deutschland mit anderen Industrielän-dern, so wird deutlich, dass die Einkommensungleich-

heit in Deutschland sehr unterschiedlich ausfällt, je nachdem, welche Art von Einkommen man betrachtet. Zieht man das am Arbeitsmarkt erzielte Bruttoeinkom-men (Markteinkommen) heran und vergleicht das Aus-maß an Ungleichheit, wie es in den Sozial- und Wirt-schaftswissenschaften mit Hilfe des sogenannten Gini-Koeffizienten gemessen wird – je größer der Wert ist, um so ungleicher sind die Einkommen –, so weist Deutschland im Jahr 2000 eine vergleichsweise hohe Ungleichheit auf. Das Ausmaß an Ungleichheit ist etwa so groß wie in den USA und Australien. Deutschland teilt sich mit diesen Ländern den vierten Rangplatz (Abb. 1). Größere Ungleichheit der Markteinkommen findet sich in Polen, Großbritannien und Israel, niedri-gere dagegen in Schweden, den Niederlanden oder der Schweiz. Vergleicht man jedoch die Ungleichheit der Nettoerwerbseinkommen, also nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben und nach dem Erhalt von Transfer-leistungen wie Kindergeld, Wohngeld etc., so befindet sich Deutschland im Mittelfeld der betrachteten Länder: die Einkommensungleichheit nach Umverteilung ist deutlich geringer als in den USA, Israel, Großbritannien oder Australien, sie erreicht etwa das Niveau der Schweiz, ist aber höher als in Schweden oder den Nie-derlanden. Insgesamt wird deutlich, dass die staatlichen Eingriffe in die marktbasierte Verteilung von Einkom-men in Deutschland zu einer deutlichen Verringerung von Einkommensungleichheit führen.

Abb. 1 : Ungleichhei t im Einkommen von Erwerbstä t igen in OECD Ländern

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Quelle: Brandolini, A. und T. M. Smeeding, 2009: Income inequality in richer and OECD countries. S. 71-100 in: Salverda, W., B. Nolan und T. M. Smeeding (Hrsg.), The Oxford Handbook of Economic Inequality. Oxford: Oxford University Press.

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Abb. 2 : Entwicklung der Einkommensungleichhei ten in Frankreich , Deutschland, Japan und Luxemburg , 1985-2005

verfügbares Einkommen (Netto) Markteinkommen (Brutto)

I.1. THE DISTRIBUTION OF HOUSEHOLD INCOME IN OECD COUNTRIES: WHAT ARE ITS MAIN FEATURES?

GROWING UNEQUAL? – ISBN 978-92-64-044180-0 – © OECD 2008 33

Figure 1.4. Inequality trends for market and disposable incomeGini coefficients, indexed to the value in the first available year

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Source: OECD income distribution questionnaire.

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Australia Canada Denmark

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France Greece Italy

I.1. THE DISTRIBUTION OF HOUSEHOLD INCOME IN OECD COUNTRIES: WHAT ARE ITS MAIN FEATURES?

GROWING UNEQUAL? – ISBN 978-92-64-044180-0 – © OECD 2008 33

Figure 1.4. Inequality trends for market and disposable incomeGini coefficients, indexed to the value in the first available year

!"#"http://dx.doi.org/10.1787/420678772078Note: Dots in each country-panel refer to the available observations. Lines are obtained as linear interpolationsbetween these observations. Gini coefficients for market- and disposable-income are based on people ranked basedon each of the two income concepts.

Source: OECD income distribution questionnaire.

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Gini-Koeffizient basierend auf die Verteilung von Markt- und verfügbaren Einkommen, Index (1985)Quelle: OECD 2008: 33.

Im zeitlichen Verlauf erkennt man allerdings eine deut-liche Tendenz zur Zunahme der Einkommensungleich-heit in Deutschland (Abb. 2). Auffällig ist hier, dass die Ungleichheit der Brutto- und Nettoeinkommen im Zeit-verlauf zunimmt. In anderen OECD Ländern wie Japan und Luxemburg verbleibt die Ungleichheit der Netto-einkommen trotz zunehmender Ungleichheit des Markteinkommens weitgehend stabil, in Frankreich nimmt sie in diesem Zeitraum ab. Deutschland liegt bei der Ungleichheit der Nettoerwerbseinkommen nach einer aktuellen Untersuchung unterhalb des Durch-schnitts von 30 Industrienationen, weist aber seit Mitte der 1990er Jahre die stärkste Zunahme an Einkommens-ungleichheit auf.1 Somit sind vier Punkte festzuhalten:

1. Deutschland weist eine vergleichsweise hohe Un-gleichheit der Markteinkommen auf (Abb. 1).

2. Durch staatliche Eingriffe wird diese Ungleichheit deutlich verringert, so dass Deutschland internatio-

nal ein unterdurchschnittliches Ungleichheitsniveau aufweist (Abb. 1).

3. Seit Mitte der 1990er Jahre ist eine deutliche Zu-nahme der Ungleichheit bei den Markt- und ebenso bei den verfügbaren Nettoeinkommen zu verzeich-nen, die im internationalen Vergleich besonders ausgeprägt ist (Abb. 2).

4. Im Vergleich zu anderen Ländern wird die Zunah-me der Ungleichheit der Markteinkommen seit Mit-te der 1990er Jahre in Deutschland kaum korrigiert, so dass parallel zur Ungleichheit der Bruttoein-kommen die Ungleichheit der Nettoeinkommen zunimmt (Abb. 2).

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1 OECD (Organisation for Economic Co-Operation and Development), 2008: Growing Unequal. Income Distribution and Poverty in OECD countries. Paris: OECD Publications.

Die Studie „Einkommensgerech-tigkeit in Deutschland“

In der Studie „Einkommensgerechtigkeit in Deutsch-land“ wurden im Jahr 2009 etwa 1.600 Personen befragt, die zu diesem Zeitpunkt ihren Wohnsitz in Deutschland hatten und über 18 Jahre alt waren. Die Teilnehmer wurden mittels postalischer Befragung, Online-Befra-gung oder in persönlichen Interviews um ihre Einschät-zungen gebeten. Allen Mitwirkenden sei an dieser Stelle herzlich gedankt – allein ihre Bereitschaft zur Teilnahme ermöglicht es, die nachfolgenden Ergebnisse zu berich-ten.

Das zentrale Anliegen der Studie ist es, genaueren Auf-schluss darüber zu erhalten, wie sich die Menschen eine gerechte Einkommensverteilung vorstellen. Dazu wurde zunächst anhand von zwei Fragen ermittelt, wie die bestehende Ungleichheit in Deutschland bewertet wird. Alle Teilnehmer der Studie wurden um ihre allgemeine

Einschätzung von sozialer Ungleichheit in Deutschland und um ihre Meinung zur zukünftigen Entwicklung der Ungleichheit gebeten. Fast 90 Prozent der Befragten empfinden die soziale Ungleichheit in Deutschland als zu groß oder viel zu groß (Abb. 3). Bei Menschen, die seit ihrer Geburt überwiegend in den neuen Bundeslän-dern gelebt haben, liegt dieser Anteil sogar bei 95 Pro-zent. Nur knapp acht Prozent aller Befragten betrachten die soziale Ungleichheit als gerade richtig oder sogar zu klein.

Hinsichtlich der Entwicklung in den nächsten zehn Jah-ren geht die überwältigende Mehrheit von einer Zu-nahme der sozialen Ungleichheit aus (Abb. 4).2 Diese Einschätzung deckt sich mit den Ergebnissen aus ande-ren sozialwissenschaftlichen Studien,3 in denen die Menschen ebenfalls angegeben haben, dass sie die Ein-kommensunterschiede als zu groß empfinden. Im Zeit-verlauf sinkt die Akzeptanz des aktuellen Ausmaßes sozialer Ungleichheit seit den 1980er Jahren.

Abb. 3 : Bewertung der sozia len Ungleichhei t in Deutschland

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Quelle: Eigene Berechnungen; 1.590 Befragte

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2 Bei dieser Frage sind keine nennenswerten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland festzustellen.3 Noll, H.-H. und B. Christoph, 2004: Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit. Zum Wandel von Einstellungen in West- und Ostdeutschland. S. 97-125 in: Schmitt-Beck, R., M. Wasmer und A. Koch (Hrsg.), Sozialer und politischer Wandel in Deutschland. Analysen mit ALLBUS-Daten aus zwei Jahrzehn-ten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Wir können demnach festhalten, dass der tatsächliche Anstieg der Ungleichheit des Brutto- und Nettoein-kommens von der Mehrzahl der Befragten in der vorlie-genden Studie kritisch bewertet wird. Weiterhin besteht die Erwartung, dass die Ungleichheit in den kommen-den Jahren weiter steigen wird. Doch deckt sich diese allgemeine Einschätzung mit dem Urteil über das eigene Einkommen? Bewerten die Menschen in Deutschland die am eigenen Einkommen spürbare Ungleichheit in gleicher Weise oder gar noch kritischer und nehmen sie insbesondere ihr eigenes Erwerbseinkommen als (un-)gerecht wahr?

Als wie gerecht beurteilen die Be-fragten ihr eigenes Einkommen?

Wie eingangs erläutert, ist neben generellen Gerechtig-keitseinschätzungen das persönliche Ungerechtigkeits-empfinden von wissenschaftlichem wie praktischem Interesse. Erlebte Ungerechtigkeit wirkt sich nach der aktuellen Forschung nachteilig auf die Gesundheit, die Arbeitsleistung und die Zufriedenheit aus. In der Studie „Einkommensgerechtigkeit in Deutschland“ wurden daher alle Erwerbstätigen gefragt, wie gerecht sie ihr eigenes Bruttoeinkommen (Markteinkommen) einschät-zen. Etwa ein Drittel der Erwerbstätigen beurteilen ihr Einkommen als gerecht, etwa zwei Drittel als ungerech-terweise zu niedrig und nur eine sehr kleine Minderheit empfindet ihr Einkommen als ungerechterweise zu hoch (Abb. 5). Diese Gerechtigkeitsurteile sind sehr stark ab-hängig von der Höhe des Bruttoeinkommens. Der Anteil an Erwerbstätigen, welche ihr Einkommen als ungerecht bewerten, sinkt mit zunehmendem Bruttoeinkommen. So betrachten 80 Prozent der befragten Erwerbstätigen mit einem Bruttoeinkommen unter 2.000 Euro ihr Ein-kommen als ungerecht, hingegen etwa 50 Prozent der Befragten, die ein Bruttoeinkommen über 3.000 Euro

Abb. 4 : Erwarte te sozia le Ungleichhei t in den nächsten zehn Jahren

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Quelle: Eigene Berechnungen; 1.634 Befragte

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erzielen (Abb. 6). Unterschiede gibt es in ähnlicher Wei-se zwischen unterschiedlichen Erwerbstätigengruppen. Insbesondere Arbeiter (71,5 Prozent) und Selbstständige (68,5 Prozent) empfinden ihr Einkommen als ungerech-

terweise zu niedrig. Beamte beurteilen hingegen ihr Einkommen zu einem größeren Teil als gerecht (Abb. 7).

Abb. 5 : Gerecht igkei t des e igenen Einkommens

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Quelle: Eigene Berechnungen; 730 Befragte

Abb. 6 : Gerecht igkei t des e igenen Einkommens nach Brut toeinkommen der Befragten

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Quelle: Eigene Berechnungen; 608 Befragte

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Abb. 7 : Gerecht igkei t des e igenen Einkommens nach beruf l icher Ste l lung der Befragten

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Quelle: Eigene Berechnungen; 721 Befragte

Bemerkenswert ist, dass sich die Einschätzung zwischen erwerbstätigen Frauen und Männern kaum unterschei-det (Abb. 8). Dazu muss man sich vor Augen führen, dass Frauen in Deutschland mit einem niedrigeren Brut-toeinkommen als vergleichbar ausgebildete und erfah-rene Männer rechnen müssen. Diese Entlohnungslücke zwischen Männern und Frauen ist im internationalen Vergleich in Deutschland sehr groß. Vor dem Hinter-grund dieser Benachteiligung wäre eigentlich zu erwar-ten, dass Frauen ihr Bruttoeinkommen als ungerechter bewerten als Männer. Trotz des geringeren Bruttoein-kommens lässt sich aber kein größeres Ungerechtig-keitsempfinden bei Frauen nachweisen. Erklären kann man diesen Befund damit, dass Menschen die Gerech-tigkeit des eigenen Einkommens am Gehalt von Perso-nen oder Gruppen bemessen, die ähnliche Merkmale aufweisen wie sie selbst. Dementsprechend vergleichen sich Frauen vor allem mit anderen Frauen und Männer mit anderen Männern.

Auf der Grundlage der Daten können auch Aussagen darüber getroffen werden, welches Ausmaß an Ein-kommensungleichheit in Deutschland existieren würde,

wenn jeder das Einkommen erhielte, das er selbst für sich als gerecht ansieht. Die befragten Erwerbstätigen waren in der Studie aufgefordert, dieses nach ihrer Mei-nung gerechte Markteinkommen für ihre Tätigkeit (in Euro) zu nennen. Falls in diesem Sinne jeder sein ge-rechtes Einkommen erhalten könnte, würde sich das Ausmaß an Einkommensungleichheit verringern. Be-misst man die Ungleichheit der Markteinkommen nach dem bereits verwendeten Gini-Koeffizienten, so würde sie um elf Prozent zurückgehen. Eingeordnet in die in Abbildung 1 dargestellte Reihung der einzelnen Länder nach Ungleichheit der Markteinkommen hieße dies, dass Deutschland in dieser „gerechten Welt“ das gleiche Ausmaß an Einkommensungleichheit aufweisen würde wie Kanada. Auch in einer derart „gerechten Welt“ exis-tieren demnach Einkommensungleichheiten – nicht je-der sollte das gleiche bekommen –, aber die Unterschie-de wären geringer ausgeprägt, als sie es aktuell sind. Wenn nicht jeder das gleiche Markteinkommen erzielen soll, woran bemisst sich dann in der Einschätzung der Befragten ein als gerecht empfundener Lohn?

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Woran bemisst sich ein gerechter Lohn?

Ein gewisses Maß an Ungleichheit wird in Deutschland grundsätzlich als angemessen betrachtet. Wie sich in bisherigen, internationalen Studien zeigt, sollte es vor allem die individuelle Leistung sein, die sich in der Hö-he des Einkommens niederschlägt. Regelmäßig spre-chen sich zwischen 85 und 95 Prozent der Teilnehmer an Umfragen dafür aus, dass derjenige, der mehr leistet, auch mehr Einkommen erhalten sollte. Es ist also die Leistung, mit der Unterschiede in der Entlohnung ge-rechtfertigt werden. Damit verbindet sich oftmals zu-gleich die Vorstellung, dass nur dann, wenn es ausrei-chend hohe Belohnungen für die erbrachten Leistungen gibt, die Leute bereit sind, sich bei der Arbeit anzustren-gen.

Aber nicht nur die Leistung wird als wichtiger Faktor für die Entlohnung eingeschätzt, sondern es werden

ebenso andere Merkmale der Personen oder ihrer Le-bensumstände als wichtig empfunden. So sind manche der Meinung, dass das individuelle Einkommen hoch genug sein sollte, um den alltäglichen Bedarf für sich und die Familie decken zu können. Aber inwieweit sind solche, über die Leistung hinausgehende Gesichtspunk-te tatsächlich für die Einkommensgerechtigkeit wichtig?

Den Befragten der vorliegenden Studie wurden eine Reihe anderer möglicher Kriterien für die Höhe eines gerechten Bruttoeinkommens vorgelegt. Jedes dieser Kriterien sollte nach seiner Wichtigkeit bewertet wer-den. Wenig überraschend ist, dass die persönliche Leis-tung am Arbeitsplatz der wichtigste Aspekt ist (Abb. 9). Zugleich sprechen sich die Befragten dafür aus, dass die Berufserfahrung, die Ausbildung und die Art des aus-geübten Berufs bei der Festsetzung des Lohnes eine Rol-le spielen sollen.

Abb. 8 : Gerecht igkei t des e igenen Einkommens nach Geschlecht der Befragten

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Quelle: Eigene Berechnungen; 728 Befragte

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Abb. 9 : Kr i ter ien für die Fes tse tzung e ines gerechten Brut toeinkommens nach Geschlecht der Befragten (di rektes Befragungsverfahren)

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überhauptkeine sehrgroße Bedeutung Bedeutung

Quelle: Eigene Berechnungen; Mittelwerte; 1.490 Befragte

Darüber hinaus sollten sich aus Sicht der Befragten die Dauer der Betriebszugehörigkeit und die wirtschaftliche Lage des Unternehmens im jeweiligen Einkommen nie-derschlagen. Je länger eine Person in einem Unterneh-men beschäftigt ist, desto höher ist ihr Anspruch auf eine Gegenleistung in Form höheren Einkommens.4 Der zweite Gesichtspunkt, die wirtschaftliche Lage des Un-ternehmens, spiegelt die Bereitschaft von Beschäftigten wider, auch Faktoren zu berücksichtigen, die unabhän-gig von der individuellen Leistung einer Person sind bzw. die Gesamtsituation eines Unternehmens betreffen. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sehen demnach gerechte Löhne anders aus als in wirtschaftlich guten Zeiten.

Individuelle Merkmale, die nicht direkt mit Leistung in Verbindung gebracht werden müssen – Gesundheitszu-stand, Alter, Anzahl der Kinder, Geschlecht – spielen eher eine untergeordnete Rolle für ein gerechtes Ein-kommen. Insbesondere das Geschlecht wird von den Befragten als unwichtig erachtet.

Durch die Berücksichtigung einzelner Kriterien für die Höhe der Entlohnung können unterschiedliche Gruppen in einer Gesellschaft mehr oder weniger Einkommen erhalten. Belohnungen für ihre Ausbildung erzielen et-wa diejenigen, die tatsächlich über eine hohe Qualifika-tion verfügen. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Be-fragten solche Merkmale höher bewerten, von denen sie selbst profitieren. Interessanterweise unterscheidet sich die Wichtigkeit einzelner Kriterien in ihrer Reihenfolge kaum zwischen Männern und Frauen. Mit einer Aus-nahme: Für Männer ist das Kriterium Geschlecht wich-tiger für die Lohnhöhe als für Frauen. Weiter ist zu be-obachten, dass mit steigendem Alter der Befragten die Merkmale Berufserfahrung und Gesundheitszustand an Bedeutung gewinnen. Beides sind Merkmale, von deren Berücksichtigung vor allem ältere Arbeitnehmer profi-tieren. In das Bild, das vor allem der eigenen Person zugute kommende Merkmale befürwortet werden, passt zudem, dass die Anzahl der Kinder von jüngeren Be-fragten, insbesondere solchen aus der Gruppe der

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4 Dieses Senioritätsprinzip spielt besonders dann eine Rolle, wenn Beschäftigte entlassen werden sollen, wie eine neuere Studie von Struck, Krause und Pfeifer zeigen konnte (vgl. Struck, O., A. Krause und C. Pfeifer, 2008: Entlassungen: Gerechtigkeitsempfindungen und Folgewirkungen. Theoretische Kon-zepte und empirische Ergebnisse. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 60: 102-122).

35- bis 44-Jährigen, als wichtiger erachtet wird als von den übrigen. Die 35- bis 44-Jährigen haben besonders oft Kinder, die noch im Haushalt leben und daher durch das familiäre Markteinkommen mitversorgt werden müssen.

In der Studie „Einkommensgerechtigkeit in Deutsch-land“ wurden zwei Wege beschritten, um mehr über die Kriterien zu erfahren, die für die Höhe eines gerechten Lohnes bedeutsam sind. Bei der herkömmlichen Me-thode – deren Ergebnisse gerade vorgestellt wurden – wird direkt nach der Wichtigkeit einzelner Kriterien gefragt. Dieses Vorgehen ist jedoch sehr künstlich, da sich die Befragten keine konkreten Personen vorstellen können, sondern die Merkmale getrennt von „Merk-malsträgern“ (Menschen) beurteilen sollen. Dies wird durch das neue Befragungsverfahren (in der Fachspra-che „Faktorieller Survey“ oder „Vignettenstudie“ ge-nannt) dadurch überwunden, dass den Befragten ver-schiedene Personen vorgestellt werden, die sich in ein-kommensrelevanten Merkmalen unterscheiden. Bei-spielsweise wird der Fall eines 50-jährigen Mannes mit Berufsabschluss, der für seine Tätigkeit als Lokführer ein monatliches Bruttoeinkommen von 2.500 Euro er-hält, geschildert. Die Befragten sollen eine Reihe solcher

Beispielfälle im Hinblick auf die Gerechtigkeit des Ein-kommens bewerten. Dadurch lässt sich dann mit Hilfe von statistischen Verfahren abschätzen, welche Bedeu-tung jedem einzelnen der Merkmale (Alter, Geschlecht, Ausbildung, Beruf etc.) zugewiesen wird.

Stellt man nun die Ergebnisse der herkömmlichen Me-thode den Ergebnissen der neuen Methode gegenüber, zeigen sich einige Verschiebungen in der relativen Wich-tigkeit der einzelnen Kriterien (Abb. 10). So ist in der direkten Abfrage die persönliche Leistung das wichtigs-te Kriterium (Abb. 9), in dem indirekten Verfahren mit Beispielpersonen ist es aber der ausgeübte Beruf. Vor allem wer in einem angesehenen Beruf arbeitet, sollte also mehr verdienen. Überraschend ist aber besonders die deutlich größere Bedeutung des Merkmals Ge-schlecht und der Anzahl der Kinder in der indirekten Abfrage. Während das Geschlecht bei der direkten Ab-frage keine Bedeutung haben sollte, spielt es bei dem indirekten Verfahren sehr wohl eine Rolle – und zwar in dem Sinne, dass Männern mehr Einkommen zugestan-den wird als Frauen mit ansonsten gleichen Merkmalen (Ausbildung, Alter etc.).

Abb. 10 : Kr i ter ien für die Fes tse tzung e ines gerechten Brut toeinkommens ( indirektes Befra-gungsverfahren)

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Quelle: Eigene Berechnungen; 545 Befragte

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Neben dem Geschlecht als leistungsunabhängigem Merkmal findet auch die Anzahl der Kinder eine stärke-re Berücksichtigung in der indirekten Abfrage. Dies deu-tet auf ein Verständnis von Einkommensgerechtigkeit hin, das auch den Bedarf eines Menschen – hier der zu-sätzliche Versorgungsaufwand für Kinder – bei der Fest-legung der Lohnhöhe mit einbezieht. Gleichzeitig wer-den die Merkmale Betriebszugehörigkeit und wirt-schaftliche Lage des Unternehmens als deutlich weniger wichtig eingeschätzt. Insgesamt weisen diese Verschie-bungen darauf hin, dass leistungs- und bedarfsbezoge-nen Merkmalen eine wichtigere Rolle bei der indirekten Bewertung von Einkommensgerechtigkeit zukommt als es durch das herkömmliche Verfahren festgestellt wur-de.

An diesem Ergebnis lässt sich der Nutzen des neuen Befragungsverfahrens abschätzen. Fragen wir direkt nach der Relevanz einzelner Merkmale, so wird bei-spielsweise das Geschlecht als unwichtig eingeschätzt. Ob eine bestimmte Tätigkeit von einem Mann oder einer Frau verrichtet wird, soll keinen Einfluss auf die Höhe des Bruttolohns haben. Doch die bestehenden Lohnun-terschiede zwischen Männern und Frauen laufen dieser Ansicht zuwider. Anders gefragt: Wenn in einer Gesell-schaft weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass das Geschlecht keine Bedeutung für die Entlohnung haben soll, warum beobachten wir trotzdem – auch im interna-tionalen Vergleich – deutliche Einkommensunterschie-de? Ganz offenbar ist die alltägliche Praxis – sowohl auf Seiten der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer – von einem anderen Muster bestimmt. Genau dies wird in unseren Ergebnissen sichtbar und wäre eine mögliche Erklärung dafür, warum sich geschlechtsspezifische Lohnunterschiede immer noch halten können: Die tat-sächlichen Lohnungleichheiten zwischen Frauen und Männern existieren auch deshalb, weil es aus der Sicht vieler Beteiligten immer noch „gerecht“ ist, Männer bes-ser zu bezahlen als Frauen.

Wird die Lohnungleichheit in Deutschland als gerecht wahrge-

nommen?In Deutschland nimmt die Lohnungleichheit wie oben beschrieben im Zeitverlauf zu. Im Mittel verdienen Ärz-te 6.000 Euro brutto im Monat, Hilfsarbeiter dagegen etwas über 1.800 Euro. Sind diese Einkommen in den Augen der Teilnehmer der Studie „Einkommensgerech-tigkeit in Deutschland“ gerecht oder sind sie ungerech-terweise zu hoch oder zu niedrig? Es ist bereits deutlich geworden, dass insbesondere der ausgeübte Beruf für das Urteil der Einkommenshöhe ausschlaggebend ist. Mit statistischen Verfahren kann auf Basis der Urteile der Befragten errechnet werden, wie hoch das gerechte Markteinkommen (Bruttoeinkommen) nach Meinung der Befragten für bestimmte Berufe sein sollte.

Stellt man die Lohnstruktur „gerechter Bruttoeinkom-men“ den tatsächlichen Bruttoeinkommen für die ge-nannten Berufe in Deutschland gegenüber, so ergibt sich folgendes Bild (Abb. 11): Die schwarze Linie kennzeich-net die tatsächlich in Deutschland bestehenden durch-schnittlichen Einkommen und die rote Linie die Höhe eines gerechten Lohnes für die einzelnen Berufe auf Basis der Bewertungen der Befragten. Im Ergebnis lie-gen die tatsächlichen Einkommen (schwarze Linie) und die gerechten Einkommen (rote Linie) recht nahe beiei-nander. Allerdings ist die Kurve der gerechten Einkom-men weniger steil als die Lohnstruktur in der Wirklich-keit. Dies bedeutet, dass die Menschen in Deutschland zwar eine ungleiche Verteilung der Markteinkommen als gerecht ansehen, dass sie aber gleichzeitig Eingriffe in diese Marktverteilung als geboten betrachten. Be-schäftigte in Berufen mit tatsächlichen mittleren und niedrigeren Bruttoeinkommen sollten aus Sicht der Be-fragten mehr, Beschäftigte in Berufen mit hohen Ein-kommen dagegen weniger verdienen. Wiederum wird deutlich, dass Gerechtigkeit nicht Gleichheit – im Sinne gleicher Einkommen –, sondern Ungleichheit mit weni-ger extremen Einkommen bedeutet.

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Abb. 11 : Gerechte und ta tsächl iche Einkommensungleichhei t in Deutschland

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Quelle: Eigene Berechnungen; Mikrozensus 2006 für Deutschland

FazitDie Einkommensstruktur in Deutschland ist durch ein Ausmaß an Ungleichheit gekennzeichnet, das von den meisten Menschen als zu groß wahrgenommen wird. Gleichzeitig empfinden 2009 rund zwei Drittel der Er-werbstätigen ihr Einkommen als ungerechterweise zu niedrig, wobei das Gerechtigkeitsempfinden von der eigenen sozialen Lage abhängig ist. Menschen mit ei-nem hohen Einkommen und Beamte und Angestellte empfinden ihr Einkommen als vergleichsweise gerecht.

Anhand zweier Befragungsmethoden wurden die Teil-nehmer der Studie „Einkommensgerechtigkeit in Deutschland“ nach ihrer Einschätzung gefragt, welche Gesichtspunkte bei der Festsetzung eines gerechten Lohnes entscheidend sind. Insgesamt stimmen die Be-fragten überein, dass der ausgeübte Beruf, die persönli-che Leistung am Arbeitsplatz und die Berufserfahrung die größte Bedeutung für das Markteinkommen haben sollten. Demgegenüber wird Merkmalen wie dem Alter,

der Dauer der Betriebszugehörigkeit oder dem Gesund-heitszustand nur eine geringe Bedeutung zugemessen.

Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass Ein-kommensungleichheiten zwischen Berufen als gerecht angesehen werden. Gleichwohl wird das Ausmaß an Ungleichheit begrenzt: Einkommen an den beiden Rän-dern der Einkommensverteilung (von Niedrig- und Topverdienern) werden als ungerecht zu niedrig bzw. zu hoch wahrgenommen.

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