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Preußische Monatsbriefe 1 Berichte, Kommentare, Glossen und Despektierliches für aufgeklärte, mündige Schichten Wort des Monats Also soll’s auch zugehen, wenn man will Einigkeit machen, da muss einer dem andern nachgeben und nachlassen; sonst, wenn ein jeglicher will Recht haben und keiner dem anderen weichen und fein zusammenrü- cken, da wird nicht mehr Einigkeit. Martin Luther in seinen Tischreden Inhalt Seite 2: Rapport zur Lage vor 25 Jahren – Einigungsvertrag Seite 5: Schillers Zwilling Seite 6 : Witziges Preußen Seite 7: Patrioten-Passagen: Varnhagen von Ense Seite 8: Preußische Daten: u. a. Wrangel wird Ehrenbürger Seite 11: Beilage: Tagebuch eines Weltkrieg-Musketiers (Folge XIX) Seite 23: Impressum Zuschriften Archiv Bestellung Abbestellung Vorweg… …zunächst zwei Bitten: Haben Sie Anregungen, Wünsche, Kritiken oder gar Lobe für die Preußischen Monatsbriefe, dann teilen Sie uns diese doch bitte mit. Wir stellen uns gern auf Sie ein. Und: Die Ihnen per Mail zugesandten KOSTENLOSEN Monatsbriefe lassen sich im Internet aufrufen: www.Preussische-Monatsbriefe.de Bitte geben Sie diese Adresse an wache Geister weiter. Sie und wir danken es Ihnen. ▼▲▼ Nun ist Sancho Pansa, wie ihn manche nannten, seinem Don Quichotte in die Ewigkeit gefolgt. Er habe täglich an ihn gedacht, vertraute er kurz vor seinem Ende einem Journalisten an. „Ich träume sogar von ihm. Ich bin im Gespräch mit ihm geblieben“ Eine treuere Seele als Egon Bahr konnte sich Willy Brandt sicher nicht wünschen. Treu über den Tod hinaus. Beide politischen Karrieren waren eng miteinander verknüpft. Egon Bahr war ein Schlitzohr von Gnaden. Er hielt dem Westen die Stan- ge, wie seine zehnjährige Tätigkeit als Chefkommentator und Leiter des Bonner Büros vom US-Sender RIAS ausweist, und blieb mit seinem geleb- ten Slogan „Wandel durch Annäherung“ dem Osten gegenüber offen. Über den RIAS dirigierte er – verriet er Jahrzehnte später - am 17. Juni 1953 in die Streiks von Ostberlin und dem Rest der DDR hinein, an Brandts Kniefall in Warschau hat er ideellen Anteil, am Grundlagenver- trag zwischen der BRD und der DDR ebenso. Einen politischen Knalleffekt bot er Anno 1996, als er am Beispiel Willy Brandts faktisch das Bestehen einer Kanzlerakte bestätigte. Brandt, so schrieb er, sei empört gewesen, dass man von ihm verlangte, „einen solchen Unterwerfungsbrief” zu unterschreiben. Er musste sich belehren lassen, dass vor ihm schon Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger diese Briefe unterschrieben hätten. „Also habe ich auch unterschrieben”, habe Willy Brandt ihm gesagt und sei nie wieder auf das Thema zurückgekommen. Nach dem Morgernstern-Motto „Nicht sein kann, was nicht sein darf“ wird seine Aussage zur Souveränität der Bun- deskanzler und damit der Bundesrepublik seitdem - berlinisch gespro- chen „einfach jar nich ignoriert“. Die Schriftleitung No. 48 / September 2015

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Preußische Monatsbriefe

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Berichte, Kommentare, Glossen und Despektierliches für aufgeklärte, mündige Schichten

Wort des Monats Also soll’s auch zugehen, wenn man will Einigkeit

machen, da muss einer dem andern nachgeben

und nachlassen; sonst, wenn ein jeglicher will

Recht haben und keiner dem anderen weichen

und fein zusammenrü-cken, da wird nicht mehr

Einigkeit.

Martin Luther

in seinen Tischreden

Inhalt Seite 2: Rapport zur Lage vor 25 Jahren – Einigungsvertrag Seite 5: Schillers Zwilling Seite 6 : Witziges Preußen Seite 7: Patrioten-Passagen: Varnhagen von Ense Seite 8: Preußische Daten: u. a. Wrangel wird Ehrenbürger Seite 11: Beilage: Tagebuch eines Weltkrieg-Musketiers (Folge XIX) Seite 23: Impressum

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…zunächst zwei Bitten: Haben Sie Anregungen, Wünsche, Kritiken oder gar Lobe für die Preußischen Monatsbriefe, dann teilen Sie uns diese doch bitte mit. Wir stellen uns gern auf Sie ein. Und: Die Ihnen per Mail zugesandten KOSTENLOSEN Monatsbriefe lassen sich im Internet aufrufen:

www.Preussische-Monatsbriefe.de Bitte geben Sie diese Adresse an wache Geister weiter. Sie und wir danken es Ihnen.

▼▲▼ Nun ist Sancho Pansa, wie ihn manche nannten, seinem Don Quichotte in die Ewigkeit gefolgt. Er habe täglich an ihn gedacht, vertraute er kurz vor seinem Ende einem Journalisten an. „Ich träume sogar von ihm. Ich bin im Gespräch mit ihm geblieben“ Eine treuere Seele als Egon Bahr konnte sich Willy Brandt sicher nicht wünschen. Treu über den Tod hinaus. Beide politischen Karrieren waren eng miteinander verknüpft.

Egon Bahr war ein Schlitzohr von Gnaden. Er hielt dem Westen die Stan-ge, wie seine zehnjährige Tätigkeit als Chefkommentator und Leiter des Bonner Büros vom US-Sender RIAS ausweist, und blieb mit seinem geleb-ten Slogan „Wandel durch Annäherung“ dem Osten gegenüber offen. Über den RIAS dirigierte er – verriet er Jahrzehnte später - am 17. Juni 1953 in die Streiks von Ostberlin und dem Rest der DDR hinein, an Brandts Kniefall in Warschau hat er ideellen Anteil, am Grundlagenver-trag zwischen der BRD und der DDR ebenso.

Einen politischen Knalleffekt bot er Anno 1996, als er am Beispiel Willy Brandts faktisch das Bestehen einer Kanzlerakte bestätigte. Brandt, so schrieb er, sei empört gewesen, dass man von ihm verlangte, „einen solchen Unterwerfungsbrief” zu unterschreiben. Er musste sich belehren lassen, dass vor ihm schon Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger diese Briefe unterschrieben hätten. „Also habe ich auch unterschrieben”, habe Willy Brandt ihm gesagt und sei nie wieder auf das Thema zurückgekommen. Nach dem Morgernstern-Motto „Nicht sein kann, was nicht sein darf“ wird seine Aussage zur Souveränität der Bun-deskanzler und damit der Bundesrepublik seitdem - berlinisch gespro-chen „einfach jar nich ignoriert“. Die Schriftleitung

No. 48 / September 2015

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Rapport zur Lage vor 25 Jahren

DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, Ehrenmitglied der Preußischen Gesellschaft, achtet auf die korrekte Unterzeichnung des Einigungsvertrages durch die Chefunterhändler Wolfgang Schäuble (West/links) und Günther Krause (Ost/rechts). Bundeskanzler Kohl hatte an der Zeremo-nie im Berliner Kronprinzenpalais nicht teilnehmen wollen, weil er Bonn als Unterzeichnungsort bevorzugte, womit er sich aber nicht durchsetzen konnte.

„Ja, aber…“ zum Einigungsvertrag Parlamentarier stimmten in Berlin und Bonn mit Zweidrittelmehrheit zu

Er stand unter keinem glücklichen Stern, der 20. September vor 25 Jahren. Der Tag, an dem die frei gewählten Volkskammerabgeordneten in Berlin den Einigungsvertrag beraten und beschließen woll-ten. Am Abend zuvor hatte Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl mitgeteilt bekommen, dass der Palast der Republik – Tagungsort des Parlaments – sofort geräumt werden müsse. In dem Gebäude hatten sich keine schussbereiten Terroristen verschanzt, und es tickte auch keine Zeitbom-be. Zur lebensgefährlichen Gefahr wurde der längst bekannte Asbestbefall des Bauwerkes hochstili-siert. Den die Lungenfachärztin Dr. Sabine-Pohl als gering eingeschätzt hatte. Er war vielleicht nicht höher als der im Westberliner Internationalen Congress Centrum (ICC). In jenen Jahren hatten die meisten Neubauten Asbest intus. Doch der Palast der Republik war den politischen Gegnern ein glü-hender Dorn im Auge. Er musste weg und kam auch weg. Das hochgepeitsche Drama um den Volks-kammer-Sitz bot dafür das willkommene PR-Spektakel.

Über Nacht mussten neue Räumlichkeiten gesucht werden. Man fand sie ausgerechnet in einem monströsen Massivbau, der einer Zwingburg ähnelte und in dem bis vor kurzem das 1990 abgesetzte Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands unter Erich Honecker das Landesge-schick bestimmte und noch früher die mit Hitler verbundene Reichsbank ihre Geschäfte abwickelte. Hitler hatte gemeinsam mit Goebbels, Göring, Frick und Schacht 1934 an der Grundsteinlegung des Gebäudes teilgenommen.

Aus ihrem hochmodernen Saal in düstere Räume eines Bauwerkes mit noch düsterer Vergangenheit vertrieben, begannen die frei gewählten Volkskammerabgeordneten am 20. September 1990 um 11. 45 Uhr ihre 36. Tagung, die bis 21.04 Uhr dauerte. Im Mittelpunkt stand, wie erwähnt, die Beratung

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und Beschlussfassung vom „Gesetz zum Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsver-trag – vom 31. August 1990 (Verfassungsgesetz).“

Am gleichen Tag kamen in Bonn die Bundestagsabgeordneten zur Beratung und Beschlussfassung des Gesetzes zum Einigungsvertrag zusammen. Ohne Zustimmung der beiden deutschen Parlamente mit jeweils Zweidrittelmehrheit wäre der Einigungsvertrag nicht in Kraft getreten, und die Wieder-vereinigung hätte verschoben werden müssen.

Das tausendseitige Vertragswerk mit 45 Artikeln, einem Protokoll und drei Anlagen sollte alle not-wendig werdenden Veränderungen im Grundgesetz, im Recht der Öffentlichen Verwaltung und im öffentlichen Vermögen etc. regeln. Wie allein schon die Diskussion in der Volkskammer belegte und erst recht später die Praxis deutlich machte, weist der in heftigster Eile und mit glühenden Federn geschriebene Einheitsvertrag mancherlei Lücken und unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten auf. So erklärte Parlamentspräsidentin Bergmann-Pohl (CDU) als Berichterstatterin des Ausschusses Deutsche Einheit, dass der Ausschuss für nicht berücksichtige Positionen weiteren Handlungsbedarf sehe, „vor allem im Bereich der Landwirtschaft, des Gesundheitswesens, der Medienpolitik, der Län-derfinanzierung und Kommunalgesetzgebung, der Wohnungspolitik und auch in der Handhabung des Rehabilitierungsgesetzes…die zur Unsicherheit führen können.“ Das klang manchen Abgeordneten wie eine halbe Kapitulationserklärung: Mehr konnten wir leider nicht.

Einige Auszüge aus der Aussprache der Volkskammerabge-ordneten an jenem 20. September 1990:

DDR-Chefunterhändler beim Einigungsvertrag Günther Krause (CDU) hob hervor: „Mit dem zur Ratifizierung vorlie-genden Einigungsvertrag, einschließlich der Ergänzungen und der Anlagen, werden wir es erreichen, in einer geord-neten Form Deutschland beitreten zu können.“ Edelbert Richter (SPD) kam auf die Zeithetze zu sprechen. Als er und weitere Abgeordnete sich in der Vorwoche „zum ersten Mal gründlich“ mit dem Vertrag befasst haben, mussten sie feststellen, dass von 13 zu behandelnden Punkten nur ein einziger erfüllt worden ist. „Die Frage ist: Sind unsere Anlie-gen wirklich am Widerstand des Verhandlungspartner ge-scheitert oder sind sie gar nicht entschieden genug zur Gel-tung gebracht worden…Ich meine, man muss es noch zu-spitzen. Die Volkskammer als ganze ist bei diesem Eini-

gungsvertrag in vielen Punkten übergangen worden… Gerade Gesetze, die den Übergang in die deut-sche Einheit vernünftig regulieren sollten, sind in den Einigungsvertrag gar nicht oder nicht ausrei-chend aufgenommen worden…Mit diesen Punkten wird Ihnen allen, meine Damen und Herren, durch den Einigungsvertrag bestätigt, dass sie ganz umsonst gearbeitet haben.“

Im weiteren Verlauf der Aussprache erklärte Dr. Gregor Gysi (PDS), es lasse sich eine einheitliche deutsche Identität einfach nicht finden. „Die ist differenziert, sie wird es bleiben.“ Er stelle fest, dass die neue Regierung und die Mehrheit dieses Parlaments für einen Unterwerferanschluss allein nach den Vorstellungen Kohls stünden. „In der Wirtschaft ist das Konzept klar. Die Betriebe werden über-wiegend zugunsten westdeutschen Kapitals privatisiert, und zwar so billig wie möglich. Eine Ent-schuldung der Betriebe oder wenigstens eine Stundung, die die Wettbewerbs-Chancen der Betriebe erhöhen würde, ist nicht vorgesehen.“ Vieles solle so werden wie in der Bundesrepublik, nur die Gehälter und Renten sollen auf lange Zeit niedriger bleiben. „Es bleibt dabei, dass mit dem Vertrag

Günther Krause, beglockt von Sabine Bergmann-Pohl

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eine Anzahl gesetzlicher Bestimmungen beschlossen werden soll, die das Parlament überhaupt nicht kennt.“

Weitere Stimmen:

Dr. Jürgen Schmieder (FDP): „Die fünf neuen Bundesländer brauchen niedrigere Steuersätze als im übrigen Bundesgebiet.“ - „Wir wollen kein Klima der Denunziation und der Rache“, sagte Jürgen Schwarz (DSU), „wir wollen aber keine neuerlichen Chancen für politische, ökonomische oder ideo-logische Erpressung.“ Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne) kritisierte: „Aber dieser Vertrag hat in sei-ner endgütigen Fassung so wesentliche Mängel, dass er in vielem den Bürgerinnen und Bürgern, de-nen ich Rechenschaft schuldig bin, schadet. Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne): „Dieses uns angesonnene Verfahren, das das parlamentarische Verhandeln jedes Sinnes beraubt, verletzt die Würde des Parlaments und seiner Abgeordneten ebenso wie es geeignet ist, die Öffentlichkeit des Landes irrezuführen.“

Es folgte ein kurzer Dialog: Dr. Regine Hildebrandt (SPD): „Meine ganz große Bitte ist, dass wir jetzt noch als Parlament es ermöglichen, dass wir eine Rentendynamisierung auch für die Mindestrenten als eine unserer letzten Taten tatsächlich durchsetzen und dass wir auch die Möglichkeiten finden, sie über den 3. Oktober hinüberzunehmen.“ Antwort von Günther Krause (CDU): „Das Konzept, um die schrittweise Angleichung der Rentenversorgungssysteme zu garantieren, sieht letztlich vor, dass in den nächsten fünf Jahren etwa durch erheblich höhere Steigerungsraten in der Noch-DDR die Ren-tenangleichung erreicht werden kann. Hier gibt es auch Äußerungen von Bundesminister Blüm zu dieser Angelegenheit.“

Abstimmungen in Berlin und Bonn über den Einigungsvertrag

Die Volkskammer erreichte mit 299 Ja-Stimmen von 380 Voten die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit, so dass der Einigungsvertrag als angenommen galt. Dagegen sprachen sich 80 Abgeordne-te aus, und ein Abgeordneter enthielt sich der Stimme.

Zu den Nein-Sagern gehörten u. a. die im Westen hofierten so genannten Bürgerrechtler Marianne Birthler, spätere Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde und Merkel-Vertraute (die am 22. August 1990 auch gegen die Einheit gestimmt hatte), Günter Nooke (ebenfalls Nein zur Einheit), Afrika-Beauftragter der Bundeskanzlerin, und Vera Wollenberger, die sich zum einem Ja zur Einheit nicht entschließen konnte. Pikant ist, dass Professor Dr. Jens Reich (alle Bündnis 90/Grüne) dem Einigungs-vertrag sein Ja-Wort verweigerte und am 22. August auch den Beitritt zur Bundesrepublik ablehnte, sich aber 1994 von einer unabhängigen Initiative als Bundespräsident-Kandidat vorschlagen ließ. Der Volkskammerabgeordnete und Ex-Pastor Joachim Gauck (Bündnis 90/Grüne) nahm an der histori-schen Tagung nicht teil. Geschlossen gaben die Fraktionen von CDU/DA und SPD (bei zwei Enthaltun-gen) ihr Ja-Wort; geschlossen sagten die Fraktion von PDS und Bündnis90/Grüne (bis auf eine Enthal-tung) nein.

Bei der Abstimmung im Bundestag votierten 440 Abgeordnete für den Einigungsvertrag. Die 47 Ge-genstimmen stammen aus der Fraktion Bündnis90/Die Grünen und von 13 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion. Drei Abgeordnete enthielten sich. "Das Gesetz ist damit angenommen", verkün-det Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Unter den Gegenstimmen befand sich die von Manfred Carstens von der CDU/CSU ("Der alleinige Grund für meine Ablehnung ist die im Einigungsvertrag vereinbarte Abtreibungsregelung.") Die Grünen kritisierten unter anderem die fehlende Mitwirkung des Volkes am Einigungsprozess.

Peter Mugay, Mitglied der frei gewählten Volkskammer

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Der Schiller im Schillerpark von Berlin-Wedding…

…ist ein bronzener Zwillingsbruder des weitaus be-kannteren marmornen Schiller vor dem Schinkelschen Konzerthaus auf dem Gendarmenmarkt. Reinhold Be-gas schuf das Denkmal, das am 10. November 1871 zum 112. Geburtstag des Dichters enthüllt wurde. Zu Füßen des Dichters gruppierte Begas (auch Schöpfer des Neptunbrunnens) Allegorien von Lyrik, Dramatik, Historie und Philosophie. Der Schiller-Abguss ist im Kriegsjahr 1941 aufgestellt worden. Nach dem Volks-park Friedrichshain ist der Schillerpark der zweitälteste dieser Art in der Stadt. Die Schmierereien geben Kun-de von zunehmender Unkultur in Berlin.

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Preußen in Witz und Anekdoten

Zärtlich empfängt die liebevolle Ehefrau ihren aus der Kneipe kommenden angeheiterten Gatten

Bismarck anekdotisch Als die Gemeinde Schönhausen dem Fürsten ein Erbbegräbnis auf dem neuen Friedhof anbot, lehnte er freundlich ab: „Die Stelle hat ohne Zweifel ihre Vorzüge, sie wäre mir aber zu windig.“

X Wäre der böhmische Krieg misslungen, hätte ich als Soldat den Tod gesucht, weil ich überzeugt gewesen, dass mich sonst die alten Weiber in Berlin mit nassen Handtüchern totgeschlagen hät-ten.

X Was Statuen anbelangt, muss ich sagen, dass ich für diese Art von Dank nicht zugänglich bin. Ich wäre in der größten Verlegenheit, wenn ich beispielsweise in Köln wäre, mit welchem Gesicht ich an meiner Statue vorbeigehen sollte.

Berliner Kneipensprüche Bist du am Trinken, bleib ruhig dabei –

die Frau zankt um zehn so gut wie um zwei. X

Für Schnaps und Bier und Happen-Pappen, ist beim Empfang gleich zu berappen. Für alles andere ist dagegen, das bare Geld gleich hinzulegen.

X Seid gemütlich, liebe Gäste, tut als wäret ihr bei mir zu Haus;

laßt‘s euch schmecken auf das Allerbeste, zanken zwee, fliejen beede raus. X

Lasst uns noch een’n valöten – Morjen jeh’n wa vielleicht schon flöten!

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Patrioten-Passagen

KARL AUGUST VARNHAGEN VON ENSE

Von andern Seiten her wurde die öffentliche Stim-mung täglich nicht minder aufgereizt und beschäf-tigt. Die Beamtenwillkür, der Übermut aller Hoch-stehenden, die adlige Hoffart im Offizierstande, das in Staat und Kirche stets wachsende Übergewicht der Frömmler gaben täglich die schreiendsten Zeugnisse der verhassten und verderblichen Rich-tung, in welcher die ganze Regierung sich bewegte.

Die Minister folgten blind nicht nur den Geboten, sondern schon den Winken und Zuflüsterungen, die ihnen von oben kamen, oder zu kommen schienen, dafür in andern Fällen auch wieder umso mehr der eignen Laune, wenn Sachen und Menschen unbeschützt der Macht des Amtes unterworfen waren.

Die Anstellungen und das Vorrücken im Amte geschahen fast nur nach persönlicher Gunst, wobei man den Schein gewisser Formen doch sorgsam zu erhalten suchte, während die wahrhaft berechtigten Ansprüche, wenn sie nicht auch nebenher die Gunst erwarben, ge-kränkt zurückstehen mussten.

Besonders die Übergriffe und Belästigungen, welche die Polizei sich erlaubte, nahmen gren-zenlos überhand. Aus den elendesten Anlässen, aus geheimen Verdächtigungen, aus Miss-verstand und aus bloßer Dummheit wurden Fremde und sogar Einheimische beaufsichtigt, beunruhigt, bedroht und nach Belieben ausgewiesen aus der Hauptstadt, aus dem Lande.

Wer es einmal gewagt hatte, den Behörden gegenüber seine Selbständigkeit behaupten zu wollen, der musste fortan in tausend Packereien die unversöhnliche Rache der Regierungs-macht empfinden.

Willkürlich wurden Drucksachen mit Beschlag belegt, oft bloß um den Verfasser oder Verle-ger zu kränken; Zeitungen wurden verboten aus den oft erbärmlichsten Ursachen, die man sich anzugeben schämte; die Literatur seufzte unter dem Drucke der willkürlichsten Zensur und der abgeschmacktesten Zensoren, und behielt nur dadurch einige Freiheit, dass die ho-hen und niedern Beamten, die sich mit Überwachung der Presse beschäftigten, mit ihrem beschränkten Beamtenverstande dieses weite Feld nie gehörig durchschauen konnten.

Der Minister von Bodelschwingh, als Minister des lnnern auch mit der Polizei beauftragt, waltete in diesem Gebiete ganz eigenmächtig, aber auch seine Helfer spielten hier abwech-selnd die Knechte und die Gewalthaber.

(Tagebuchnotiz aus dem Revolutionsjahr 1848)

Redaktionelle Anmerkung: Parallelen zur heutigen Lage sind rein zufällig!

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Preußische Daten

1.September 1800 (vor 215 Jahren): Ein königliches „Reglement betreffend die Stiftung eines Fonds zur Unterstützung der Wittwen und Waysen verstorbener Mitglieder des Königl. Orchesters“ wird veröffentlicht und erfreut Bedürftige aus diesem Kreis.

1.September 1885 (130): In Berlin erscheint die erste Nummer der von Eugen Richter gegründeten linksliberalen „Freisinnigen Zeitung“. Sie wurde deutschlandweit verbreitet. Anfangs vertrat sie die Interessen der Deutschen Freisinnigen Partei. Nach deren Spaltung wurde sie zum Hauptorgan der Freisinnigen Volkspartei. Finanzielle Probleme entstanden, weil sich Anzeigen nur schwer verkaufen ließen. 1918 verschwand sie vom Markt.

Ruinenlandschaft mit Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Sommer 1945

1.September 1895 (120): Am Vorabend des Sedantages wird die 1891 bis 1895 als spätromanische Zentralanlage in Form eines lateinischen Kreuzes erbaute Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Auguste-Viktoria-Platz (Breitscheidplatz) in Berlin eingeweiht. Generalsuperintendent Faber vollzieht die Weihe, Superintendent Lange hält die Liturgie und Oberpfarrer Müller die Festpredigt. Das von Baurat Schwechten errichtete Gotteshaus wird in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 bei einem Bombenangriff von 764 britischen Mosquitos auf Berlin zerstört. Endkämpfe in Berlin vollen-deten das zerstörerische Werk.

2.September 1850 (165): Erstmals beginnen in Berlin Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung nach dem Dreiklassenwahlrecht. Es verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz, nach dem allen Wahl-berechtigten die gleiche Anzahl von Stimmen zusteht. Es teilt die Bürger in drei Abteilungen (Klassen) ein, deren Stimmengewicht nach Steuerleistung abgestuft ist.

2.September 1850 (165): Der nach Plänen von Peter Joseph Lenné gebaute Landwehrkanal wird für den Schiffsverkehr freigegeben. Er entsteht angesichts zunehmenden Schiffsverkehrs ab Juli 1845 entlang der Köllnischen Feldmark.

3.September 1410 (605): Raubritter Dietrich von Quitzow stiehlt das vor den Toren Berlins und Cöllns weidende Vieh und nimmt 16 Berliner in Gefangenschaft.

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6.September 1750 (265): Der nach Skizzen von Friedrich dem Großen durch Johann Boumann d. Ä. am Berliner Lustgarten im barocken Stil errichtete so genannte Neue Dom wird in Anwesenheit des Königs eingeweiht. In den Gewölben birgt der nüchterne Bau die Särge fast aller Markgrafen, Kur-fürsten und Könige des Hohenzollernhauses

8.September 1800 (215): Die Kaufmannsgilden richten innerhalb Berlins einen Fußbotendienst für Briefe ein. Die Zustellung eines Briefes kostete den Absender sechs, den Empfänger drei Pfennige. 13 Boten beförderten die Post zum Hauptbüro in der Klosterstraße und von dort weiter.

9.September 1880 (135): Auf einer 40 Hektar großen Fläche wird an der heutigen Herbert-Baum- Straße in Berlin-Weißensee der dritte Friedhof der Berliner Jüdischen Gemeinde eingeweiht. Der unter Denkmalschutz stehende flächengrößte erhaltene jüdische Friedhof Europas weist fast 116.000 Grabstellen auf. Nazis schänden ihn nicht. Britische und US-Bomber beschädigen zwischen 1943 und 1945 ca. 4000 Gräber und zerstören weitgehend die Neue Feierhalle sowie die Friedhofsgärtnerei.

10.September 1885 (130): Die Stadtverordnetenversammlung von Berlin genehmigt die Errichtung eines Städtischen Hospitals für 500 altersschwache Männer sowie eine Siechenanstalt für 250 un-heilbar Kranke an der Prenzlauer Allee.

13. September 1740 (275): Unter dem Namen „Aux trois Globes“ erfolgt auf Geheiß von Friedrich dem Großen in Berlin die Gründung der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“. Tochterlogen entstehen u. a. in Meiningen, Frankfurt/Oder, Breslau, Dresden und Neuchátel. Im Jah-re 1744 nimmt die Loge den Namen „Große Königliche Mutterloge zu den drei Weltkugeln“ an. Be-reits als Kronprinz war Friedrich im August 1738 in Braunschweig in den Freimaurerbund aufgenom-men worden.

Der Gendarmenmarkt mit dem ehemaligen Nationaltheater, in dem Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“ ihre Berliner Premiere feierte. Der von den Hohenzollern geprägte schönste Platz Ber-lins gefiel früher auch mit Grün im Revier 14. September 1790 (225): Im Nationaltheater auf dem Gendarmenmarkt findet die Berliner Erstauf-führung von Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“ statt.

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15.September 1855 (160): Der Firma Siemens & Halske und dem Ingenieur Carl Frischen wird ein preußisches Patent auf „Einrichtung eines Morseschen Schreibtelegraphen“ erteilt.

16.September 1800 (215): Eine „Verordnung, wie künftig bey Vollziehung von Todesurteilen in den hiesigen Residenzien verfahren werden soll“, wird erlassen. Danach soll die Exekution „in den langen Tagen früh um sechs Uhr, in den kürzern aber, um 7 oder 8 Uhr vorgenommen werden“. Der Delin-quent wird - auf einem Strohballen sitzend – mit einem Leiterwagen zum Richtplatz gefahren. Unter-sagt wird „das Verhökern des wegen seiner Zauberwirkung begehrten Mörderblutes an die Zuschau-er“.

16. bis 20. September 1830 (185): Die so genannte Schneiderrevolution setzt Berlin in Aufruhr und Unruhe. Nachdem ein Schneidergeselle die Julirevolution in Frankreich hochleben läßt, werden er und seine Handwerkerkollegen verhaftet. Darauf findet eine große Demonstration von mehreren Tausend u. a. auf dem Berliner Fischmarkt statt. Sie fordern sofortige Freilassung. Ursachen des Auf-ruhrs bestehen in der Verunsicherung gegenüber den neuartigen, aus England importierten Maschi-nen, die Arbeitsplätze zu gefährden drohen. Erst der Einsatz der gesamten Garnison (14.000 Mann) kann die Schneiderrevolution beenden.

20.September 1440 (575): Nach dem Tode seines Vaters Friedrich I. wird Friedrich II. Eisenzahn Kur-fürst von Brandenburg. Er verlegt seine Residenz von Tangermünde an die Spree, unterwirft sich die Stadt und baut auf dem Cöllnischen Werder sein Schloss.

21.September 1810 (205): Ohne Gehalt wird Friedrich Heinrich von der Hagen als außerordentlicher Professor der deutschen Sprache und Literatur von der Berliner Universität angestellt. Er führt das Altdeutsche in den Kreis der Universitätsstudien ein.

23.September 1435 (580): Balthasar von Schliewen, Heermeister des Johanniterordens, verkauft den Tempelhof mit allem Zubehör, d.h. die Dörfer Richardsdorf (Neukölln), Tempelhof, Marienfelde und Mariendorf, für 2 439 Schock und 40 Groschen böhmischen Geldes. An Berlin und Cölln.

24.September 1850 (165): Die Ehrenbürgerwürde von Berlin wird dem Kommandierenden General des III. Armeekorps (Mark Brandenburg, Sitz in Berlin) Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel zuteil.

24.September 1880 (135): Der Berliner Kommunallehrerverein (ge-gründet 1849) und der Berliner Bezirksverband des Deutschen Lehrervereins von 1871 schließen sich zum „Berliner Lehrerverein“ zusammen. Ihm gehören im ersten Geschäftsjahr 500 Mitglieder an.

25.September 1665 (350): Luise Henriette von Nassau-Oranien, erste Gemahlin vom Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, stiftet das Wai-senhaus zu Oranienburg.

25.September 1840 (175): Die „Gutenberg-Stiftung“ wird anlässlich der 4. Säkularfeier zur Erfindung der Buchdruckerkunst mit der Aufgabe gegründet, bedürftigen Buchdruckern und Schriftgießern mit 20 Jahren Berufsausübung eine Unterstützung zu geben. Aus Anlass des 400. Jahrestages der Erfin-dung der Buchdruckerkunst findet in Berlin ein zweitägiges Fest mit vielen Teilnehmern aus literari-schen und künstlerischen Kreisen statt.

26. September 1900 (115): Oscar Tietz, Gründer der Hertie-Waren- und Kaufhaus-Kette, eröffnet sein erstes Berliner Warenhaus in der Leipziger Straße 46-49.

Wrangel - Menzel-Porträt

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Beilage „100 Jahre Erster Weltkrieg“ (Teil XIX)

„Ein Soldat muss mit dem Leben nach außen abgeschlossen haben“

Aus dem einzigartigen Tagebuch eines jungen Musketiers im Ersten Weltkrieg Robert Johnscher ist einer von 70 Millionen junger Männer, die zwischen 1914 und 1918 in Europa, dem Nahen Osten, in Afrika, Ostasien und auf den Weltmeeren unter Waffen standen, einer von etwa 20 Millionen, die den Ersten Welt-krieg verwundet überlebten – etwa zehn Millionen blieben „im Felde“. Er hatte sich in Berlin als 18-jähriger zu Beginn des zweiten Kriegsjahres freiwillig gemeldet. Der junge Mann ging gesund als Musketier in den Krieg für Gott, Kai-ser und Vaterland und beendete ihn mit einer Kopfschuss-Verletzung als Zugführer im Range eines Vizefeldwebels mit Leutnantsbefugnissen. Auskunft über sein Schicksal in den Jahren des Weltbrandes gibt sein erhalten gebliebenes Ta-gebuch. Er führte es vom ersten bis zum letzten Tag seines Soldatenlebens. Wir setzen heute den Abdruck von Passa-gen aus dem Tagebuch von Robert Johnscher fort. (Teil 1 finden Sie in der Märzausgabe 2014 der Preußischen Monatsbriefe – siehe Seite 1 unter Archiv!)

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9.Juli 1918 Motto: Die Anlage, „das Andere“ zu sagen, hat auch einen objektiven Wert, nicht nur deshalb, weil es nichts, gibt dem nicht Kritik gut täte, und weil jede Sache gewinnt, wenn man sie von verschiedenen Seiten anschaut. „Das Andere“ zu sagen, das bedeutet nicht immer die Verneinung von etwas Positi-ven, Starkem, Schöpferischem, sondern ebenso oft die Ablehnung des Verworrenen, Schwachen, Unproduktiven. Schon lange habe ich nichts mehr geschrieben. Viel hätte ich schreiben können, viel über unser Leben in Libau erzählen können. Aber abends war ich von dem vielen Dienst so abge-spannt, dass ich keine Lust hatte, Erinnerungen an diese Zeit festzuhalten.

9. bis 28.Juni 1918 (Nachtrag)

19tägiger Urlaub daheim. Eine herrliche Zeit war es. Meinen Bruder Ernst habe ich endlich auch ge-sehen und gesprochen. Bin daheim gut aufgenommen, verwöhnt und gepäppelt worden. In Treptow bei Familie Lorenzen sehr schöne Stunden verlebt - ich denke nur an die drollige Hamsterfahrt am 26.und 27. 6. mit Marga nach Wendisch-Linda, Hohenkunsdorf und Stolzenhain. Kurz: Schön, unbe-schreiblich.

Robert Johnscher

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Schön war gerade dieser Urlaub. Ich könnte riesig viel davon erzählen – vielleicht komme ich noch dazu. Aber zunächst muss ich mich hiermit begnügen.

Postkartengrüße von Robert Johnscher aus der Ostsee-Hafenstadt Libau (lettisch: Liepāja), die 1915 von deutschen Truppen besetzt worden war. Links die 1758 geweihte evangelische Dreifaltig-keitskathedrale, rechts die beliebte Badeanstalt Über 8 Tage bin ich nun wieder in Deutsch Eylau. Bin zum Vizefeldwebel der Reserve befördert und zum Reserveoffiziersanwärter ernannt worden. Ich bilde Rekruten aus. Wir fünf Vizefeldwebel haben uns so langsam wieder eingefunden und trei-ben allerhand Allotria. Am vergangenen Freitag sollten wir ins Feld. Wurde jedoch widerrufen. Das Batl. möchte uns Aspiranten zur Ausbildung der Rekruten hier behalten. Also wieder eine Galgenfrist, die gewiss nicht sehr lange dauern wird. Trotz allem fühle ich mich nicht wohl hier. Seit meinem Ur-laub will es mir aber auch gar nicht mehr in diesem Nest gefallen. Und doch sollte ich froh sein, noch hier zu sitzen. – Draußen wird’s bald wieder loskrachen. Im Osten sieht es auch nicht gerade beruhi-gend aus. Die Ermordung unseres Gesandten, des Grafen Mirbach in Moskau, trägt nicht zur Lösung der russischen Wirren bei. Wie wird alles noch werden? Soll denn die Entscheidung dieses Jahr noch nicht erzwungen werden können? Ich war immer noch der festen Überzeugung. Zum Teufel, am besten man denkt überhaupt an gar nichts mehr, am besten man lässt die Karre laufen, wie sie läuft. Dies und das stupide Leben in Deutsch Eylau bringt mich fast um meinen bisher so gesunden Humor. Gewiss, ich will mich nicht unterkriegen lassen. Ich habe alles Mögliche versucht. um mich zu zerstreuen. So versuchte ich, was mir bisher so zuwider war, Damenanschluss. Aber kaum lernte ich den Betrieb näher kennen, da hat-te ich verdammt die Nase gleich am dritten Tag voll. Nein, das ist nichts für mich. Ich habe mich schon auf Urlaub ausführlich ausgesprochen, wie toll die Weiber heute sind. Nee, meine Herren, da streike ich ganz entschieden. Ich fühle es, ich werde noch schwere Kämpfe in meinem Leben zu be-stehen haben. Aber besser so, als diese wüste Rumflirterei mit den Mädels. Ja, man verstehe mich nicht falsch. Verkehr mit jungen Damen kann nie schaden, aber so wie es hier getrieben wird, ist ein-fach toll. Übrigens ist es ja überall so. Unsere Jugend verkommt! – Theater und Musik kennt man in Deutsch Eylau nicht, alles höchst lang-weilig von meinem Standpunkt aus. Dauernd kann man auch nicht in der Kaserne hocken. Ich gehe also meist zu „Hägner“, lese meine Zeitung und verschwinde wieder. Höchst interessant, gelt?

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Aber hol’s die Pest, unterkriegen lasse ich mich nicht. Ich will vorwärts, mag’s biegen oder brechen. Und dazu gehört vor allem gesunder Humor. Und den mir zu erhalten, muss ich trachten, trotz des so stupiden deutschen „Elends-Leben“. Zu allem Übel kommt eine sehr schlechte Verpflegung. Na ja, unter der leiden wir Städter alle. Man kann ja jeden Abend gut essen. Aber täglich 5,- Mark ausge-ben, geht auf die Dauer nicht. So, nun habe ich mich wieder mal ausgesprochen, nun ist’s besser.

Abendstimmung am Geserichsee im westpreußischen Deutsch Eylau, für die der sensible Robert Johnscher besonders empfänglich war. Nach dem Ersten Weltkrieg bestimmte der Versailler Ver-trag, dass in Gebieten Westpreußens eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zum Deut-schen Reich oder zu Polen stattzufinden habe. Die Abstimmung fand am 11. Juli 1920 statt, in Deutsch Eylau entschieden sich 95,3 Prozent der Stimmberechtigten für Deutschland. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schlug das Potsdamer Abkommen auch Deutsch Eylau den Polen zu.

12.Juli 1918 Am 10.7. abends habe ich regelrecht abgebaut. Ich war vorher mit der Kompanie zum Baden. Seit 2 ½ Jahren kein Schwimmbad mehr genommen, habe ich mir bei der jetzt mehr als schlecht gewordenen Verpflegung wohl zu viel zugetraut. Ich bekam jedenfalls während des Gewehrappells einen heftigen Schwindelanfall und rasendes Herzklopfen. Gegen Abend erholte ich mich. Ich ging sogar ins Zentral-Hotel zum Essen. Und das tat not. Über Nacht bekam ich ein Zahngeschwür und Fieber. Eine dicke Backe erschwert mir das Essen. Ich meldete mich krank und erhielt zwei Tage Bettruhe und Herzbehandlung. Ich habe in einer Tour mit nur wenigen Unterbrechungen fast 36 Stunden hintereinander geschlafen. Ich fühle mich so matt und elend, dass mir sogar diese Schreiberei schwer fällt. Hauptschuld hat einzig und allein die „gute“ (!) Ernährung. Die Temperatur ist zurzeit so drückend heiß, dass täglich Leute „abbauen“.

14.Juli 1918 Gestern habe ich wieder Dienst mitgemacht und bin soweit wieder wohlauf. Immerhin, um ganz zu den alten Kräften zu kommen, müsste man ordentlich essen. Und das ist eben der springende Punkt. Der heutige Sonntag verlief wieder recht öde. Gestern Abend brachte ich wieder einen Transport zum Bahnhof. 24 Mann! Aus allen Garnisonen werden jetzt die „k.v.“ Leute zusammengelegt und irgendwo zu Sammeltransporten zusammengestellt. Die Kaserne ist durchweg leer. Die Rekruten (1900) sind noch nicht soweit. Alle übrigen, die täglich vom Lazarett oder dergleichen kommen und k.v. sind, die halten sich nicht mehr lange. Unsere 2. Ersatz-Kompanie beträgt zurzeit 10 Mann, 5 Vizefeldwebel und 2 Unteroffiziere. Allerhand. Für morgen ist ein Sammeltransport angemeldet wor-den.

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So geht es hier aus und ein. Ich wollte erst ein Stimmungsbild eines Transportes machen, doch denke ich an die unwillkürlich mitreißende Musik, an den Galgenhumor der Ausrückenden, an die noch rasch herbei geeilten Angehörigen, an die rührenden Abschiedsszenen einzelner, kurz an den Kon-trast, der schon aus diesen Worten hervor geht, so verliere ich die Lust dazu. Wie oft habe ich nun solche Transporte rausgehen sehen, selbst begleitet, und doch immer geht mir der kolossale Kontrast nahe.

17.Juli 1918 Deutsch Eylau ist augenblicklich der Treffpunkt mehrerer Sammeltransporte. Meist werden uns diese Leute aus Allenstein, Osterode usw. gesandt, kurz alles Angehörige des 20.A.K. Für diese Leute, die in ein bis zwei Tagen ins Feld gehen – dauert auch manchmal länger – wird der gleiche Dienst wie für die Kompanie angesetzt. Und dieser ist gerade nicht kurzstielig. Schon gestern Abend bei der Be-fehlsausgabe war unter den Transportleuten große Unruhe zu merken, und heute früh war die Be-scherung da. 7.45 Uhr war antreten. Aber bis auf höchstens 15 Mann und 7 Unteroffizieren war der Transport verschwunden – in die Stadt gegangen. Mit anderen Worten der Transport verweigert den Dienst – also regelrechte Meuterei! Dagegen war zunächst nichts zu tun. Leutnant Kühne, stellvertre-tender Kompanieführer, handelte ganz richtig, er rückte ohne weitere Worte zu verlieren, zum Exer-zierplatz ab.

Deutsch-Eylau-Postkarte aus Robert Johnschers Tagebuch

Gegen 10 Uhr zurück, wurden wir Aspiranten plötzlich auf die Schreibstube befohlen, mit geladenen Pistolen versehen und beauftragt, sofort sämtliche Ausgänge der Kaserne zu besetzen und jeden aus der Stadt kommenden Soldaten (Transport) festzunehmen. Zur Unterstützung bekam jeder einen Posten mit geladenem Gewehr. Unangenehme Aufgabe! Gegen 12 Uhr hatten wir alle Transportleute festgenommen und eingesperrt. Vor jeder Tür ein Pos-ten und auf jedem Korridor außerdem ein Vizefeldwebel. Ich hatte im ganzen 11 Mann festgenom-men. Ein regelrechter Wachdienst wurde eingeführt, und über Nacht hat neben einem Vize sogar noch ein Offizier die Aufsicht. Die ganze Gesellschaft wird der Meuterei beschuldigt. Sogar ein Sergeant ist darunter. Na, was das noch geben wird.

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18. Juli 1918

Von früh 6 Uhr bis mittags 1 Uhr hatte ich Wache. Wenig angenehme Aufgabe, seine eigenen Kame-raden zu bewachen. Aber Dienst ist Dienst. Gegen 11 Uhr begann endlich das Ermittlungsverfahren. Gerichtsoffizier ist der Bataillonsadjutant, Herr Leutnant Müller. Jeder einzelne wird verhört. Die Anklageschrift lautet etwa wie folgt: „Über den am 17.7. der Meuterei beschuldigten Musk. … ist der Haftbefehl erlassen worden!“ Gez. Major Bocksch , Kom. u. Gerichtsherr. Teilweise war es mir sehr interessant, den Verlauf eines Ermittlungsverfahrens kennenzulernen, ha-ben wir doch seinerzeit in Libau theoretisch genug davon erfahren. Nur sehr wenige erhoben Rechts-beschwerde gegen den erlassenen Haftbefehl. Auffallend übereinstimmend waren die einzelnen Aussagen in den Punkten: I. Ich habe mich nicht verabredet. II. Ich war der Meinung ich hätte es nicht nötig, Dienst zu machen, wenn ich eingekleidet bin. III. Ich glaubte, wir hätten nur am Nachmittag Dienst gehabt. Die ganze Vernehmung dauerte bis abends 11 Uhr. Am tollsten sind ja die 147er (Hin-denburg-Regiment).- Bei der Vernehmung waren im Zimmer anwesend: der Gerichtsoffizier, 2 Schreiber, 1 Vize (mit gela-dener Pistole). Die Vernommenen wurden getrennt von den anderen untergebracht. Morgen geht nun der Transport ab. Na, meine Herren, den möchte ich nicht begleiten. Diese Brüder bekommen alles fertig.

Robert Johnscher (links) und Kameraden. Im Kriegsjahr 1918 entfernten sich nicht wenige Feld-graue illegal von der Truppe – sie hatten genug vom Krieg

30.Juli 1918 (Nachtrag für die Zeit vom 19.7.bis 27.7.) Am späten Abend des 18. 7. wurde mir der Befehl übermittelt, den Transport nach Torgau zu beglei-ten. Donnerwetter, erst passte mir die Geschichte gar nicht. Als ich sie mir aber mit Ruhe überlegte, da tauchte der Name Berlin auf, und mit einem Schlage war ich froh, winkte mir doch die Heimat. Um 6 Uhr früh des 19. 7. war Abmarsch. Das Begleitkommando bestand aus 2 Offizieren, 2 Vizefeldwe-bel, 2 Unteroffiziere, 8 Mann und 1 Hornist. Der Major hielt eine kurze Ansprache und bestrafte sämtliche der Meuterei Beschuldigten zunächst mit 3 Tagen Mittelarrest und gab zu erkennen, dass

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bei anständigem Benehmen während des Transportes das Verfahren unter Umständen niederge-schlagen würde. In einzelnen Abteilungen rückten die Übeltäter zum Bahnhof. Ich machte den An-fang mit den I. Jägern. Der Rest des Transportes, der den Dienst zu versehen hatten, folgte mit Musik. In 2 Wagen wurden die Leute untergebracht. 7.30 Uhr ging es über Marienburg, Dirschau nach Konitz wo wir gegen 3 Uhr nachmittags eintrafen und verpflegt wurden. In Marienburg hatten wir noch einen 3. Wagen hinzubekommen, so dass wir unsere Leute äußerst bequem unterbringen konnten. Gollinger und ich hausten allein in einem Abteil II. Klasse. In Konitz wurden wir zum 1. Mal verpflegt (Graupen und Kaffee) und einem großen Sammeltransport angehängt, und so ging die Fahrt weiter. In Schneidemühl, wo wir um 7.07 Uhr eintrafen, erwartete uns bereits Unteroffizier Kaiser mit dem Musketier Müller, der heute früh noch rechtzeitig aufgegriffen worden ist. Bei jedem Halt mussten auf der Bahnsteigseite zwei, auf der anderen ein Posten heraus, dazu ein Feldwebel. Die Fahrt ging ganz gut vonstatten, die Leute benahmen sich soweit anständig. Gutes Zureden half oft. In der Nacht mussten unsere Posten natürlich auch bereit stehen. Während mein Kamerad fest schlief, döste ich nur und war bei jedem Halt draußen.

1918 stieg der Kriegsmüdigkeit auch an der Front. Nicht alle Feldgrauen

stiegen wieder in den Zug, manche sprangen während der Fahrt ab und verschwanden Um 2 Uhr früh passierten wir Landsberg an der Warthe, gegen 4 Uhr Küstrin. Immer näher ging es Berlin zu. Um 8 Uhr früh des 20.7. wurden wir in Fredersdorf bei Strausberg verpflegt. (Bohnensuppe und Kaffee) Hier stellten wir beim Abzählen fest, dass 6 Mann fehlten. Ich machte nach vielem Rum-fragen folgende Meldung: „Kurz vor Küstrin-Neustadt, hielt der Zug gegen 4 Uhr morgens auf freier Strecke einige Minuten und fuhr dann langsam weiter, dies nutzten die Musketiere. 1. Dietrich, 2. Krüger, 3. Schauenberg, 4. Hauschildt, 5. Miloch und 6. Müller, derselbe der gestern nachtransportie-ret wurde. Sie warfen während der Fahrt ihr Gepäck ab und sprangen selbst hinterher. Der Hilfs-schaffner Schindler und Schaffner Kurz hatten den Vorgang beobachtet, die Leute angerufen aber nur zotige Antworten erhalten! Telegraphisch und telefonisch wurden die entsprechenden Schritte sofort unternommen. Diese Banditen hatten gewiss auch heute Nacht die letzten 2 Wagen abge-hängt. Denn auf einmal fuhr der Zug los, und unsere 2 letzten Wagen blieben stehen. Während Gollinger auf den Zug sprang, lief ich rasch vor, konnte aber merkwürdigerweise nirgends einen Be-amten entdecken. Telephonisch ließen wir dann den Zug auf der nächsten Blockstation anhalten. Das war ein ganz dummer Bubenstreich. Was hätte da nicht alles passieren können. Der abgefahrene Teil des Zuges hatte keine Schlusszeichen, und der stehen gebliebene stand auf einer Strecke, die viel-leicht frei gemeldet war für irgendeinen heranbrausenden Zug. Wer die Übeltäter waren, konnten wir leider nicht feststellen. Na, das konnte ja noch recht heiter werden!

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Ich verdoppelte nun zunächst die Wache. Während der Fahrt musste auf jeder Seite ein Posten raus-sehen. Übrigens hatte Dietrich über seinen Platz geschrieben: „Hier waren Bolschewiki drin!“ So langten wir in Berlin an. Ich hatte schon alle Mittel und Wege erwogen, wie ich Mutter am besten benachrichtigen könnte. Aber der Zug fuhr ohne Aufenthalt über Prenzlauer-, Landsberger Allee , Moabit usw. durch Berlin! Schade! Und doch gut! Denn wir hätten sonst gewiss mehrere verloren! Stark erschöpft und müde legte ich mich etwas hin. Ich war eben eingeschlummert, als mich ein Schuss empor schreckte. Ich stürzte mit Gollinger ans Fenster. Unser Leutnant, (Leutnant der L.I. Ös-terreicher) hatte nach einem soeben Entsprungenen geschossen. Aber in wenigen Sekunden war der über alle Berge. (Musketier Ziesewitz) Es ist doch wirklich toll, die Bande springt einfach vom fahren-den Zug. Mittags 1 Uhr in Rathenow, trafen wir um 6 Uhr in Gardelegen (Altmark) ein, wo wir mit Nudeln und Kaffee verpflegt wurden. Lehrte erreichten wir um ¾ 10 Uhr abends. Mir war zu Ohren gekommen, dass die Unteroffiziere sich mit der Absicht rumtrugen, ebenfalls zu entwischen. Ich ordnete daher für diese Nacht besonders scharfe Bewachungen an. Fritz und ich stiegen bei jedem Halt selbst aus und blieben zunächst bei langsamer Fahrt hinten auf dem Trittbrett stehen. Erst wenn der Zug wie-der in voller Fahrt war, kletterten wir an den Trittleisten entlang in unser Abteil.

Zwischenstopp in Gardelegen – allerdings ohne Begrüßung

durch einen Zeppelin Mit unserer Nachtruhe war es somit natürlich aus. Aber die Pflicht geht vor. Am 21.7.18 trafen wir um 7 Uhr morgens in Minden ein, wo wir mit Nudeln, Brot und Wurst versorgt wurden. Obwohl ich genau wusste, dass Oberjäger Romanski (Jäger I) und Gefreiter Sandmann (I.R. 147) auskneifen woll-ten und ich sie daher persönlich scharf bewachte, derart, dass sie mich – wie ich selbst hörte – öfters zum Teufel wünschten, fehlten beide bei der Abfahrt. Ich selbst konnte diese Kadetten eine ¼ Stunde lang nicht bewachen, da sie vom Leutnant fortgesandt wurden, und so kam es, dass mir diese zwei leider durch die Lappen gingen. Und dieser Oberjäger sagte beim Abmarsch noch: „Na, von meinen Jägern rückt keiner aus!“ – Pfui über solche Gesinnung. Die schlimmsten Hetzer waren eben die Unteroffiziere. Gerade diese waren es, die von Abteil zu Ab-teil gingen und die Leute aufstachelten. Was mussten wir als Feldwebel da nicht alles einstecken. Aber es war immer am besten im Guten. Daher taten wir eben, als ob wir nichts hörten. Aber ich

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machte öfter den Transportführer auf die schlechte Gesinnung dieser Unteroffiziere aufmerksam, zweimal derart, dass ich für immer bei diesem Herrn ausgespielt hatte. Aber das war mir doch egal. Erst kommt die Pflicht! Tatsächlich haben die Unteroffiziere zu Gollinger beim Abschied geäußert, wenn ich mit nach vorn käme, dann würde ich nicht heil davonkommen. Und das wollen preußische aktive Unteroffiziere sein? Pfui!! Hamm passierten wir um 10 Uhr und wurden um ½ 3 Uhr in Opladen verpflegt (Nudeln). Am Vormit-tag hatten sich Musketier Hegemann (147er) und Jäger Troschinski durch einen Sprung vom fahren-den Zug entfernt. Hinter den Jägern schoss ein Posten hinterher, ohne jedoch zu treffen. Somit hat-ten wir bereits 1 Unteroffizier und 10 Mann verloren. Das Bewachungskommando trifft keine Schuld, denn während der Fahrt konnten wir nicht dauernd aufpassen. Lange werden sich diese Herren (die letzten 5 ließen übrigens Gepäck zurück) ihrer Freiheit nicht erfreuen. Die meisten sollen ja geäußert haben, mit dem D-Zug nachfahren zu wollen! Aber trotz-dem, solch schmähliche Fahnenflucht ist und bleibt zu verachten. Obendrein geht der Transport gar nicht zur Front, sondern nur in ein Rekruten-Depot. Kurz nach 5 Uhr ging es über den Rhein nach Cöln. Ich bin nun schon so oft über diesen deutschen Strom gefahren. Immer wieder überwältigt einen der Anblick dieser Wogen. Um ½ 10 Uhr erreichten wir die alte deutsche Kaiserstadt Aachen. Unvergesslich schön liegen Cöln und Aachen. Sinnend lasse ich diese Städte vorüber ziehen und denke ihrer Bedeutung und Geschichte. Vor Aachen verlor ich während der Fahrt meine Mütze, die ich bereits als zahmer Musketier getragen hatte. Ärgerte mich natürlich mächtig, aber das kommt davon, wenn man so diensteifrig ist. Ich wollte nämlich 2 Leute vom Wagenverdeck runterholen. Um 11 Uhr fuhren wir bei Herbesthal über die Grenze und trafen um 2 Uhr morgens in Lüttich ein. 4 Uhr morgens erreichten wir unser Ziel: Tangern. Hier gab’s viel zu tun. Listen über Listen wurden aufgestellt. Zum Überfluss mussten wir die Leute noch nach dem ca. 10 km entfernten Othee brin-gen, wo wir sie um 12 Uhr mittags endlich bei der 10. Kompanie des Scharfschützen MG Regt. los wurden. Da haben wir doch aufgeatmet. Im Ganzen hatten wir 13 Mann Verluste! 11 Mann entflohen, und 2 Mann haben sich unterwegs krank gemeldet. Na, das war noch gut gegangen. Wundern tat mich nur, wie anständig die Leute auf dem Marsche waren. Anscheinend spürten sie schon das Rekruten-Depot! Nach Tangern zurückgekehrt, hatten wir noch allerhand Laufereien wegen Verpflegung, Quartier, Rückfahrscheine usw. Nach längerem Bitten und Betteln erreichten wir bei unserem Leutnant, uns Feldwebels doch einen Extrafahrschein über Berlin auszustellen. Leicht war es nicht, hatte doch das Batl. befohlen, dass wir das Begleitkommando zurückzuführen hatten. Aber nun machte sich unser Diensteifer bezahlt, in-dem uns der Leutnant so entgegen kam. Durch einen glücklichen Zufall erwischten wir sogar D-Zugberechtigung. Wir waren so müde - hatten wir doch über 48 Stunden nicht geschlafen -,dass wir bereits irre redeten und nicht mehr recht wussten, was eigentlich los war. Umso mehr begrüßten wir das tadellose Quartier welches wir im Hotel „Nonvean de monde“ angewiesen bekamen. Erst wurde mal gut zu Abend gegessen, dann ging's zum Bahnhof, wo wir nach den Zügen fragten. – Um 9 Uhr abends lagen wir todmüde in der Falle. Fritz ist sogar beim Ausziehen eingeschlafen. Unsere Leute fuhren mit dem Personenzug am 23.7. früh 9 Uhr ab Tangern. Wir fuhren um 11 Uhr mit der Tram-way nach Lüttich und um 5.29 von hier weiter nach Berlin. - Ich könnte so manches über Lüttich erzählen (Lebensmittel, Bevölkerung, Bauten usw.), doch hält mich dies zu lange auf.

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24., 25. und 26.7.1918 Ja, das war doch das Schönste, unverhofft 3 Tage daheim weilen zu dürfen! Und wie schön waren diese 3 Tage! Nichte Hilde war auch da. Mir hat die kleine Krabbe viel Spaß gemacht. Von Lorenzens traf ich leider nur Herrn Lorenzen, Max und Rudolf. – Die übrigen Herrschaften kamen erst am 27.7. von Tannenheim zurück. Ich war die 3 Tage ohne Verpflegungskarten, da ich doch keinen Urlaub hatte. Mutter hatte es somit nicht leicht, mich satt zu kriegen. Aber was tut Mutter nicht alles. Und ich muss es gestehen, Mutter hat ihr Bestes getan und mich tatsächlich satt gefuttert. Mit dem Geld war ich auch abgebrannt. Da haben Vater und Mutter wieder dankenswerter Weise nachgeholfen. Ich muss ja ehrlich sagen, das wurmt mich am meisten, dass man den Eltern so auf dem Geldbeutel liegt. Hoffentlich kommen bald andere Zeiten.

27.Juli 1918 Wohlbehalten traf ich wieder in Deutsch Eylau ein. Viel zu früh! Man ist immer zu anständig. Hier hat sich inzwischen unser Schicksal auch entschieden. S. Exzellenz, der komm. General hat mächtigen Krach geschlagen, dass wir Aspiranten noch hier wären. – Nächste Woche geht’s also ins Feld. Wäre dieser General nicht gekommen, so wären wir wohl noch eine ganze Zeit hier geblieben, denn das Batl. hat uns erst neulich als Stütze des Batl. bezeichnet. Na, ja damit war ja zu rechnen. Will ich ehrlich sein, so muss ich ja sagen, dass ich diesmal doch recht ungern rausgehe. Nach alldem, was man erlebt und neuerdings gehört und gesehen hat, ist das Hundeleben im Westen wenig einla-dend. Gleich nach dem Urlaub wäre ich noch gern hinaus, aber jetzt steckt mir schon das Garnisonle-ben in den Knochen. Leider ist unsere Offensive an der Marne missglückt. So ein paar Schufte haben sie 36 Stunden vor-her verraten, und daher ist der Schlag von vornherein missglückt gewesen. Aber wir müssen es schaf-fen. Gebe Gott das dies bald ist. In Kiew ist unser Generalfeldmarschall v. Eichhorn mit seinem Adjutanten einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen! Zu solchen Mitteln müssen unsere Feinde greifen!

Amtliche Mitteilung

Kiew, 30. Juli 1918:

Gegen Feldmarschall v. Eichhorn und seinen persön-

lichen Adjutanten Hauptmann v. Dreßler wurde 2 Uhr

nachmittags auf dem Wege vom Kasino zur Wohnung

in deren unmittelbarer Nähe durch einen in einer

Droschke an sie heranfahrenden Mann ein Bomben-

attentat verübt. Attentäter und Kutscher sind verhaf-

tet.

Die bisherigen Feststellungen deuten auf Urheber-

schaft der Sozialrevolutionären Partei in Moskau,

hinter der erfahrungsgemäß die Entente steht.

Kiew, 30. Juli 1918:

Feldmarschall v. Eichhorn ist heute Abend 10 Uhr

seinen Verletzungen erlegen, kurz vor ihm desglei-

chen Hauptmann v. Dreßler.

Feldmarschall v. Eichhorn (links) und sein Adjutant v. Dreßler

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31.Juli 1918 Das 4. Kriegsjahr ist zu Ende! Mehr als je muss jetzt unsere Losung lauten: „Durchhalten bis zum Sieg“. Die Aufrufe des Kaisers und Königs von Bayern sind Bedenkenswert. Möge uns das 5. Kriegs-jahr den Sieg und damit den Frieden bringen.

5. August 1918

Es glückte mir, 3 Tage Urlaub zu erhalten, und zwar für den 3., 4. und 5. 8. Ich habe mich wie immer ausgezeichnet unterhalten, und Mutter füttert mich tadellos. Gestern, Sonntag, war ich mit Frau Lorenzen, Leutnant Stinner, Marga, Max, Rudolf und Frl. Irene (Ldbg.) im Berliner Theater. Wir sahen „Blitz – blaues Blut“. – Nein, so habe ich lange nicht mehr gelacht! Viel Gehalt steckt in dem Stück ja nicht, aber es war zum Kranklachen. Heute Abend gondele ich wieder nach Deutsch Eylau. Diese Woche geht’s nun wohl raus. Na ich hof-fe ja noch, einen Abstecher nach hier zu machen. Noch eine Spitzbüberei hätte ich zu berichten: Ich habe mittels eines selbstausgestellten Urlaubs-scheines statt für 3 gleich für 8 Tage Lebensmittelmarken empfangen. „Not macht erfinderisch“.

9.August 1918 Deutsch Eylau. In der Nacht vom 7. zum 8. 8. brannten 2 Schuppen des hiesigen Proviantamtes ab. Im Dauerlauf eilte ich zur Brandstätte. Was für ein Flammenmeer! Und eine Hitze! Wasser, Wasser – ja, woher nehmen? Wo bleibt die Feuerwehr? „Wo wollen Sie hin, Feldwebel?“ - „Ich suche Wasser, Herr Major“. – „Ach was, kommen Sie mit zur Lokomobile, die muss gerettet werden“. Wieder geht’s zurück. „Kerls, lasst doch die Maschine ste-hen, der Schuppen brennt an“, so brüllt ein Artilleriehauptmann dazwischen. So geht’s hin und her. Die ganze Garnison ist alarmiert, alles hilft. Artillerie und Infanterie, Offiziere packen selbst mit zu. Alles was mir in den Weg läuft, gleichgültig welche Waffengattung, halte ich an und schicke sie Trup-penweise zu jenem Schuppen. Dank des rastlosen Eingreifens jedes Einzelnen konnte das Feuer ein-geschränkt werden, konnten 2 schon vom Feuer erfasste Schuppen gerettet werden. Gegen 1 Uhr konnte man aufatmen. Dieses Feuer werde ich so leicht nicht vergessen. Die Ursache ist natürlich unbekannt, man vermutet aber stark Brandstiftung! Noch 2 Tage später glimmte das Feuer und musste die Garnison Feuerwa-che stehen.

10.August 1918 Deutsch Eylau. Heute früh wurden wir eingekleidet. Um 12 Uhr war Bataillonsappell. Groß war unse-re Freude als bekannt wurde, dass unser Transport, der für sonntagmittags 1.45 Uhr fest stand, erst am Dienstag früh geht. Na, die letzten Tage wollen wir dann noch in der Heimat genießen.

12.August 1918 Deutsch Eylau. Heute ist nun endgültig der letzte Abend in der Garnison. Morgen früh rücken wir 4 Aspiranten mit den Fahnenjunkern zusammen ins Feld. Wir sind 25 Mann – Auf die Ursache und im Allgemeinen doch recht üble Behandlung, die wir Aspiranten hier in Deutsch Eylau kennen gelernt haben, kann ich leider zurzeit nicht eingehen. Unser aktives Regiment, Inf.-Regt. 59, dem wir angehören, liegt zurzeit zwischen Braisne und Fismes (nordwestlich Reims) in Stellung. Leutnant Schüler ist tot, Leutnant Reichert, Höfelmeier, Filler schwer verwundet, Panitsch vermisst, Ernst Schulze leicht verwundet. Sind also wenig erfreuliche Nachrichten.

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Unser ehemaliger Regimentskommandeur Stange ist an den Folgen einer Gasvergiftung gestorben.

Zeitungsanzeige vom Tod des ehemaligen

Regimentskommandeurs von Robert Johnscher

13. August 1918 Kurz nach 8 Uhr setzten wir 25 Mann uns unter den Klängen unserer Kapelle in Bewegung. 9.05 Uhr fuhren wir ab. Lebe wohl, Deutsch Eylau. – War im Allgemeinen doch ganz nett: (Soeben erreicht uns die Kunde, dass unser lieber Kamerad v. Kiederowski als Ordonanzoffizier im Westen gefallen ist. Leutnant Schmoller ist nervenkrank geworden. So schrumpft das Häuflein von uns 13 Aspiranten langsam zusammen. In Thorn wurden wir umrangiert und fuhren nach Konitz, wo wir um 1.35 Uhr eintrafen. Während der 3 Stunden Aufenthalt wurden wir verpflegt und unser Wagen an einen Eilgü-terzug angehängt. Ich gab noch ein Telegramm auf: Bereit halten, Mittwochvormittag. Hoffte ich doch morgen daheim vorsprechen zu können. Gegen 8 Uhr fuhren wir in Schneidemühl ein. Da wir noch ca. 2 ½ Stunden Zeit hatten, so machten wir uns alle auf und besuchten in Schneidemühl ein Konzertkaffee am Markt. War sehr nett, hatten wir doch längere Zeit kein Konzert mehr gehört. Um 11 Uhr gondelten wir weiter. Wir hatten es soweit ganz bequem in unserem Abteil. Während der Nacht schlief Petter in der Hängematte, Engelbach (der alter Krieger) auf dem Boden, Gollinge und ich lagen auf der Bank. Kurz vor Fredersdorf wachte ich auf und war in tausend Ängsten, dass wir dort verpflegt würden, denn dann wäre es mit Berlin „Essig“ gewesen! Aber hurra, der Zug fuhr wei-ter. Rasch trommelte ich meine Kameraden wach. Alles rüstet fieberhaft zum „Berliner Abstecher“. Gegen ½ 10 Uhr hielt unser Zug in Lichtenberg. 10.54 Uhr sollten wir in Moabit eintreffen. Kurz ent-schlossen stiefelte ich bereits hier mit Fritz los. Untergeschnallt, in der linken Hand einen Apfel, in der rechten eine Zigarette, so ging’s in aller Ruhe los. 12 Güterzüge und 2 Personenzüge mussten wir passieren. Schließlich landeten wir vor einer Laubenkolonie, die mit einem hohen Drahtzaun umge-ben war. Was half’s? Rüber! - Am meisten musste ich über die Zivilisten lachen, die zu mir sagten: „Da hinten ist der Ausgang, Herr Leutnant!“ Die Leute wussten also Bescheid! Rasch noch überge-schnallt, eine neue Affenflöte in den Schnabel, der Straßenanzug war fertig. 5 Minuten später fuhren wir bereits mit der 77 nach Berlin. An der Frankfurter Allee verabschiedeten wir uns. Ich telephonier-te noch nach Haus und fuhr dann mit der „Städtischen“ zum Görlitzer Bahnhof, wo ich mir mittels eines selbst ausgestellten und unterzeichneten Urlaubsscheines für 14 Tage Lebensmittelkarten be-sorgte. So macht einen der Krieg zum Spitzbuben! Aber Not bricht Eisen.

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Um 11 Uhr traf ich daheim ein. Groß war natürlich die Freude. Nur zu rasch vergingen die wenigen Stunden. 1 ½ Stunden mit Fahrt weilte ich mit Vater und Hilde bei Lorenzen, wo allerdings nur Marga und Rudolf anwesend waren. Bei Frl. Wagner hatte ich auch noch vorgesprochen.

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Kurz nach 5 Uhr brach ich in Begleitung meiner lieben Eltern und Nichte Hilde wieder auf. Um ½ 7 Uhr wollte ich mich mit Gollinge am Eingang des Bahnhofs Putlitzstraße treffen. Wie gewöhnlich bummelte die 19er so stark, so dass ich erst mit 25 Minuten Verspätung eintraf. – In Treptow stan-den Marga und Rudolf am Fenster und winkten mir einen letzten Gruß zu. Während der Straßenbahnfahrt ließen ganz plötzlich meine Nerven nach. So eine aufgeregte Stim-mung hatte ich lange nicht mehr. Der Gedanke, nun wieder hinaus ins Elend zu müssen, packte mich auf einmal ganz heftig. Nur mit Mühe konnte ich dieser Stimmung Herr werden. Am Bahnhof ange-langt, sah ich gerade Gollinge über die Geleise laufen. Ein starker Pfiff aus meiner Pfeife, und er er-kannte mich. Wir stürmten förmlich die Treppen hinunter. Und dann ging’s im Sturmschritt über die Geleise. Ja, wo steht der Zug? – Fritz meinte, er wäre schon weg. Verdammt, das wäre unangenehm. Wir hasteten von einem Zuge zum anderen. Da kam ein langer Güterzug angefaucht. Wir rauf, das war eins. Aber ach herrje, der Zug fuhr ja nach Hamburg! Also in voller Fahrt wieder runter. Ver-dammt, das war wirklich nicht so einfach. Ich sprang erst unter der Brücke runter, denn oben stan-den meine Eltern und winkten mir Abschiedsgrüße zu. Also im „Marsch, Marsch“ wieder zurück und zwar diesmal zur Abwechslung nach der Verpflegungsstation. Da stand denn auch unser Zug. O heia, ich war aber außer Atem von dieser Lauferei! Zu dumm, wären wir gleich hierher, dann hätten wir uns das alles sparen können. Am meisten ärgerte ich mich ja nun über den hastigen Abschied. Meine Eltern hätten bequem noch bis zum Zuge mitkommen können, standen hier doch bereits mehrere Angehörige. Na, nun ist’s

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schon vorbei. ¼ Stunde später rollte der Zug an. Ob meine Eltern noch auf der Brücke standen, oder ob sie mich verloren hatten? Ich stand links, Gollinge rechts auf dem Trittbrett. Aber leider vergeb-lich. Na, sie hatten sicher geglaubt, wir wären mit dem Güterzug davon. Jetzt bekam ich auch wieder meine alte Ruhe, meinen alten Humor. War doch schön, dass ich meine Lieben noch einmal gesehen habe. Nun ging’s weiter gen Westen. Ja, wann werden wir uns wohl wiedersehen am grünen Strand der Spree?

(Wird fortgesetzt

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