Berichte, Kommentare, Glossen und Despektierliches für ... · Crossen an der Bober-Einmündung in...

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Preußische Monatsbriefe 1 Berichte, Kommentare, Glossen und Despektierliches für aufgeklärte, mündige Schichten Wort des Monats Mit Russland habe er gute Freundschaft und Harmonie zu halten jederzeit gesucht. Er empfehle diese auch dem Kron- prinzen, da in einem Krieg mit Russland sehr viel zu riskieren, aber nichts von ihm zu gewin- nen wäre… Rat von Friedrich Wilhelm I. an seinen Nachfolger Friedrich II. Inhalt Seite 2: Rapport zur Lage: Cowboy-Diplomatie Seite 3: Erinnerungen an die Heimat: Crossen a. d. Oder Seite 5: Klabunds bewegende Ode an Crossen Seite 6: Patrioten-Passagen Seite 7: Preußen anekdotisch und witzig Seite..8: Preußische Daten – Beinahe-Duell Bismarcks Seite 11: Beilage: Tagebuch eines Weltkrieg-Musketiers (Folge XVI) Seite 22: Impressum Zuschriften Archiv Bestellung Abbestellung Vorweg… …zunächst zwei Bitten: Haben Sie Anregungen, Wünsche, Kritiken oder gar Lobe für die Preußischen Monatsbriefe, dann teilen Sie uns diese doch bitte mit. Wir stellen uns gern auf Sie ein. Und: Die Ihnen per Mail zugesandten KOSTENLOSEN Monatsbriefe lassen sich im Internet aufrufen: www.Preussische-Monatsbriefe.de Bitte geben Sie diese Adresse an wache Geister weiter. Sie und wir danken es Ihnen. ▼▲▼ Frisch, froh, fröhlich, frei und fromm brachte Johann Gottfried Seume Anno Domini 1804 die Zeile „Wo man singet, wird kein Mensch beraubt“ für sein Gedicht „Die Gesänge“ zu Papier. Gottlob konnte er nicht ahnen, daß sie 211 Jahre nach dem Trocknen der Tinte nicht mehr galt. Das er- lebte ausgerechnet ein trautes Damenkränzchen im edlen Dahrendorf an der Schlei , das nach dem deutsch-dänischen Krieg als Teil des Herzog- tums Schleswigs zu Preußen kam. Die sangesfreudigen Damen pflegen bei ihren regelmäßigen Stelldicheins das, was die anglo-amerikanischen deutschen Medien und sich kaum noch in deutscher Sprache artikulie- rende Brüll- und Hüpfdohlen deutscher Zunge angeödet links liegen las- sen: deutsche Volkslieder anheimelnden Klanges und ansprechender Texte. Eine Ausnahme bildet der ewig blonde Liebhaber von schwarz- braunen Haselnüssen. Er genießt sein Monopol. Schlimmes wird dem Kränzchen von der Institution mit dem eingängigen Familiennamen „Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mecha- nische Vervielfältigungsrechte“ vorgeworfen, von der man nur den Kose- namen GEMA kennt. In intensiver Ausspähaktion brachte sie heraus, daß die Damen singen, ohne an die Eintreib-Institution zu löhnen. Die Straf- Rechnung folgte auf dem Fuße. Keine der Sängerinnen fiel in Ohnmacht, weil sich ein Sturm der Solidarität mit ihnen erhob, dem sich Wolfgang Börnsen der ehemalige langjährige kulturpolitische Sprecher der CDU- Fraktion des Bundestages anschloss. Er sprach von einer „kulturellen Sozialleistung“, wie „es in der Gesellschaft sonst niemand tue“.-Die GE- MA zog die Rechnung zurück, das Kränzchen singt weiter alte Volkslieder. Wer aber noch? Die Schriftleitung No. 45 / Juni 2015

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    Berichte, Kommentare, Glossen und Despektierliches für aufgeklärte, mündige Schichten

    Wort des Monats Mit Russland habe er gute Freundschaft und Harmonie zu halten jederzeit gesucht. Er empfehle diese auch dem Kron-prinzen, da in einem Krieg mit Russland sehr viel zu riskieren, aber nichts von ihm zu gewin-nen wäre…

    Rat von Friedrich Wilhelm I. an seinen Nachfolger Friedrich II.

    Inhalt Seite 2: Rapport zur Lage: Cowboy-Diplomatie Seite 3: Erinnerungen an die Heimat: Crossen a. d. Oder Seite 5: Klabunds bewegende Ode an Crossen Seite 6: Patrioten-Passagen Seite 7: Preußen anekdotisch und witzig Seite..8: Preußische Daten –Beinahe-Duell Bismarcks Seite 11: Beilage: Tagebuch eines Weltkrieg-Musketiers (Folge XVI) Seite 22: Impressum

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    Vorweg… …zunächst zwei Bitten: Haben Sie Anregungen, Wünsche, Kritiken oder gar Lobe für die Preußischen Monatsbriefe, dann teilen Sie uns diese doch bitte mit. Wir stellen uns gern auf Sie ein. Und: Die Ihnen per Mail zugesandten KOSTENLOSEN Monatsbriefe lassen sich im Internet aufrufen:

    www.Preussische-Monatsbriefe.de Bitte geben Sie diese Adresse an wache Geister weiter. Sie und wir danken es Ihnen.

    ▼▲▼ Frisch, froh, fröhlich, frei und fromm brachte Johann Gottfried Seume Anno Domini 1804 die Zeile „Wo man singet, wird kein Mensch beraubt“ für sein Gedicht „Die Gesänge“ zu Papier. Gottlob konnte er nicht ahnen, daß sie 211 Jahre nach dem Trocknen der Tinte nicht mehr galt. Das er-lebte ausgerechnet ein trautes Damenkränzchen im edlen Dahrendorf an der Schlei , das nach dem deutsch-dänischen Krieg als Teil des Herzog-tums Schleswigs zu Preußen kam. Die sangesfreudigen Damen pflegen bei ihren regelmäßigen Stelldicheins das, was die anglo-amerikanischen deutschen Medien und sich kaum noch in deutscher Sprache artikulie-rende Brüll- und Hüpfdohlen deutscher Zunge angeödet links liegen las-sen: deutsche Volkslieder anheimelnden Klanges und ansprechender Texte. Eine Ausnahme bildet der ewig blonde Liebhaber von schwarz-braunen Haselnüssen. Er genießt sein Monopol.

    Schlimmes wird dem Kränzchen von der Institution mit dem eingängigen Familiennamen „Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mecha-nische Vervielfältigungsrechte“ vorgeworfen, von der man nur den Kose-namen GEMA kennt. In intensiver Ausspähaktion brachte sie heraus, daß die Damen singen, ohne an die Eintreib-Institution zu löhnen. Die Straf-Rechnung folgte auf dem Fuße. Keine der Sängerinnen fiel in Ohnmacht, weil sich ein Sturm der Solidarität mit ihnen erhob, dem sich Wolfgang Börnsen der ehemalige langjährige kulturpolitische Sprecher der CDU-Fraktion des Bundestages anschloss. Er sprach von einer „kulturellen Sozialleistung“, wie „es in der Gesellschaft sonst niemand tue“.-Die GE-MA zog die Rechnung zurück, das Kränzchen singt weiter alte Volkslieder. Wer aber noch? Die Schriftleitung

    No. 45 / Juni 2015

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    Von „Diplomatie“ nach Cowboy-Art

    Merkel: Neben einem Verbrecher? Obama: US-Soldaten retteten 1945 die Welt

    Vor genau 200 Jahren tagte der Wiener Kongreß, um Europa neu zu ordnen. Dabei begegneten einander etwa 200 Vertreter von europäischen Staaten, Herrschaften, Körperschaften und Städten. Darunter befanden sich das Königreich Preußen, das Russisches Kaiserreich, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland, das Kaisertum Österreich und die wiederhergestellte französische Monarchie. Keiner der Teilnehmer wäre auch nur auf die Idee gekommen, dabei die ungeschriebenen Gesetze der Diplomatie zu verletzen. Sie bestanden u. a. darin, die Kunst und Praxis des Verhandelns auszuüben, ohne andere bloßzustellen oder in die Enge zu treiben, sowie mit Kompromissbereitschaft die Absichten und die Wünsche jedes Beteiligten mit dem Ziel zu erkennen und zu berücksichtigen, dass alle Beteiligten und Betroffenen einen Nutzen erzielen. Gleiche Prinzipen galten 63 Jahre später auf dem Berliner Kongress, zu dem Reichskanzler Otto von Bismarck die Vertreter der europäischen Großmächte Russland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Italien und sowie vom Osmanischen Reiches eingeladen hatte. Man begegnete einander in Würde, mit Anstand und (wenn auch unterschiedlicher) Klugheit, um eine neue Friedensordnung für Südosteuropa auszuhandeln. Man hatte halt Format.

    Solche Haltungen muten angesichts heutiger Hauklotz-Cowboy-„Diplomatie“ wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht an. National wie international. Da wird aus der Hüfte geschossen, daß es nur so kracht. Verbalinjurien in Parlamenten und zwischen Regierungen sind an der schlechten Tagesordnung, öffentliche Verurteilungen anderer – wer hätte schon mal ehrliche Selbstkritik vernommen! – gehören zum fast täglichen Ritual.

    Jüngst lieferte der 70. Jahrestag des Endes vom Zweiten Weltkrieg unfaßbare Beispiele heutiger „Diplomatie“: Der sich als Herr der Welt dünkende und wie ein solcher agierende US-Präsident erklärte laut Berliner Morgenpost vom 9.Mai 2015 im Röhren-Blick auf die US-Soldaten, die in Europa ihr Leben gelassen haben: ‚Das war die Generation, die ganz wörtlich die Welt gerettet hat.‘“ . Putin dagegen brachte auch „gegenüber den Völkern von Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika“ Dankbarkeit zum Ausdruck dafür, „wie sie zu dem Sieg beigetragen haben“.

    Im Zusammenhang mit einer Kranzniederlegung am Grab des unbekannten Soldaten in Moskau sprach die deutsche Bundeskanzlerin im Stil dieses Herrn und Meisters von einer verbrecherischen Annexion der Krim. Der „Verbrecher“ und Staatspräsident stand neben ihr. Ob sie anschließend mit Washington telefonierte, um auch den Befehlsgeber von mehr als 3 000 verbrecherischen Drohnen-Morde anzuklagen, darf bezweifelt werden. In dieser Richtung funktioniert wohl alte Diplomatie – oder ist es doch nur Feigheit vor dem Feund? Gustav von Trump

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    Erinnerungen an die Heimat – Crossen a. d. Oder

    Kirchen in Crossen: Mit ihrem eisernen Turm erregt die ehemalige Marien- und jetzige St.-Hedwigskirche (links) in der Altstadt große Aufmerksamkeit. Sie erlebte erstaunliche Wandlungen: War sie zunächst ein von den Zünften finanziertes katholisches Gotteshaus, wurde sie unter Branden-burgs Herrschaft nach Luthers Thesenanschlag von Protestanten übernommen. Bischof Wilhelm Pluta weihte sie nach dem Zweiten Weltkrieg katholisch der Heiligen Hedwig von Schlesien. Das rechte Bild zeigt die von Baumeister Karl Friedrich Schinkel im 19. Jahrhundert errichtete neugotische St.-Andreas-Kirche

    Crossen an der Bober-Einmündung in die Oder gehörte als Kreisstadt zum Regierungsbezirk Frankfurt in der Provinz Brandenburg, dem Kernland Preußens. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam sie auf Beschluss der Siegermächte unter polnische Verwaltung. Die deutschen Einwohner flohen oder wurden vertrieben. Seitdem nennt sie sich Krosno Odrzańskie in der Woiwodschaft Lebus.

    Obwohl sie vor 70 Jahren bei den Kämpfen an der Oder schwere Zerstörungen hinnehmen musste, blieben Zeugnisse deutscher Baukultur erhalten. Darunter die oben genannten Kirchen und einige ansehnliche Bürgerhäuser und Prachtvillen einstiger Unternehmer. Die Stadt mit ihren knapp 19 000 Einwohnern (1900: ca. 8 000, 1939: etwa 10 800) unternimmt Anstrengungen, die historische Alt-stadt zu restaurieren, muss aber beklagen, dass dafür ausreichend Geld fehlt.

    Ein Blick in die bis zum Jahr 1005 zurückreichende Geschichte – Crossen erhielt von Herzog Heinrich dem Bärtigen um 1200 deutsches Stadtrecht verliehen – macht deutlich, dass sie nicht immer rosig verlief. Gewaltige Hochwasser in den Jahren 1306, 1311 und 1317 sowie Brände Anno 1481, 1631 und 1641 führten zu schweren Schäden. 1886 wütete ein Wirbelsturm über der Stadt, dem der Turm der Marienkirche zum Opfer fiel. Daraufhin erhielt sie den erwähnten eisernen Turm.

    Was die Natur nicht schaffte, erreichten kriegerische Auseinandersetzungen jeglicher Art. So belager-te Herzog Johann II. von Sagan 1477 die Stadt und zerstörte sie. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Cros-sen von den Schweden in Brand gesetzt und einschließlich Schloss und Marienkirche vernichtet. 1945 verlor Crossen mit 499 geborstenen Häusern ungefähr zwei Drittel jeglicher Bausubstanz. Beschä-mend ist, dass der sowjetische Soldatenfriedhof mit 50 Massengräbern zum 70. Jahrestag des Kriegs-endes mit keiner Aufmerksamkeit bedacht wurde. Die ihnen ihr Dasein dort verdanken, ließen das kleine Areal erinnerungs-, pfleg- und blumenlos links liegen. Polnische Russenphobie wirkt über Grä-ber hinweg.

    Zu Crossens berühmten Töchtern und Söhnen gehören Baumeister Georg Wenzeslaus von Knobels-dorff (1699–1753), die von Goethe ausgebildete Schauspielerin Christiane Becker-Neumann (1778–1797), der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Hans Egidi (1890–1970) und der Dichter und Kabarettist Alfred Henschke, bekannt unter dem Künstlernamen Klabund (1890–1928).

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    Crossen (Krosno Odrzańskie) gedenkt des großen Sohnes der Stadt, der seinen Künstler-

    Namen aus Silben der Wörter Klabautermann und Vagabund zu Klabund zusammenstellte

    Erstaunte und dankbare Freude löst beim Besuch Cros-sens die Begegnung mit Klabund aus. Das heißt, mit seinem Denkmal in der Posener (Poznanska) Straße. Dort sitzt und schreibt er bescheiden und unauffällig wie in seinem Leben an seiner „Ode an Crossen“, mit der wir diesen Beitrag beschließen werden. Alfred Hen-schke alias Klabund wurde am 4. November 1890 in eine ehrbare Apotheker-Familie hineingeboren, sein Vater gleichen Namens war Stadtrat. Der Junior verleb-te seine Kindheit in der kleinen Stadt an Oder und Bober, ging in der großen Stadt Frankfurt an der Oder zur Schule. Dort befreundete er sich mit Gottfried Benn, der in Zellin (seit 1945: Czelin) seine glückliche Kindheit erlebte (siehe Preußischer Monatsbrief vom September 2014).

    Trotz seiner literarischen Erfolge als Lyriker, Erzähler und Bühnenautor – manche seiner oft kritisch-frechen Werke stießen bei der Obrigkeit auf harsche Ablehnung - stand sein Leben unter einem dunklen Stern: Seit dem sechzehnten Lebensjahr litt er unter einer tückischen Lungenkrankheit, die ihn am 14. August 1928 in Davos endgültig besiegte. Seine sterblichen Überreste wurden nach Cros-sen überführt und dort zur letzten (endlichen) Ruhe gebettet. Die Totenrede hielt Gottfried Benn:

    „Bei dieser Feier, die die Stadt Crossen ihrem verstorbenen Sohne weiht, habe ich als des

    Toten ältester Freund und märkischer Landsmann unter den schriftstellernden Kollegen die

    Aufgabe und die Ehre, einige Worte zu sprechen.

    Da habe ich zunächst das Bedürfnis, der Stadt Crossen einen Dank abzustatten. Es ist schön,

    dass sie es ermöglichte, dass der Dichter auf diesem Friedhof ruht. In Norddeutschland, von

    wo er hergekommen ist, in dieser Stadt, die er oft besungen hat, am bewegensten heute für uns

    in jener ‚Ode an Crossen‘, deren Schlussversen er diese jetzige Stunde beschreibt und sieht,

    die Stunde, ‚in der auf seinen kleinen, kindlichkümmerlichen Leib die Erde fällt, die ihn ge-

    bar, an der Grenze Schlesiens und der Mark, wo der Bober in die Oder, wo die Zeit mündet in

    die Ewigkeit‘ – ich sage, ich möchte mir die Freiheit erlauben, der Stadt zu danken, dass sie

    es sich nicht hat nehmen lassen, ihren Sohn, diesen unseren Kameraden, der nur ein Künstler

    war – nur Narr, nur Dichter, wie es im ‚Zarathustra‘ heißt – mit allen Ehren des Lebens und

    der Öffentlichkeit zu sich zurückzuholen.“ Text und Fotos (3): Peter Mugay

    Klabunds Elternhaus in Crossen

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    Klabunds

    Ode an Crossen Oft

    Gedenk ich deiner Kleine Stadt am blauen

    Rauhen Oderstrom, Nebelhaft in Tau und Au gebettet

    An der Grenze Schlesiens und der Mark, Wo der Bober in die Oder,

    Wo die Zeit Mündet in die Ewigkeit -

    Denk ich deiner, wenn ein Mond am Himmel Mir wie dir erglänzt Und mir am Lid die

    Goldne Träne eines Steines hängt. Ach

    Da ich jung war Wie voll Träumens Falterübertaumelt

    Engerlingdurchwühlt War die Erde! Wie erschien

    So Sonnentag wie Regentag Gesegnet

    Und von zweien Göttern Vater Mutter.

    Ward die wilde Welt so mild regiert. Stand am Weg vorm Warenhause ein hölzern

    Hündchen, Bellt es freudig, wenn ich kam, und maulte,

    Dass es mir nicht folgen durft. Große Männer auch in schweren Tressen,

    Hehre Helden, die von Haus zu Haus Das Geheimnis ihrer Sendung trugen,

    Neigten freundlich oft den mähnigen Kopf, Schenkten dem Erschauernden

    Bunte Marken fremder Palmenländer Und mich grüßte hold Liberia,

    Senkte selbst Korea die Standarten. Grell

    Gewaltig Führte Phöbus stets von Urbeginn die Zeiten

    Führte mir die schnobenden die wütig stolzen Sonnenrösser übern Heidehibbel hell hinauf. An den Oderhügeln reifte Wein mit kleinen

    Roten zottigen Trauben Aus den Dörfern

    Scholl Gebell Geboll der Hunde

    Und es meldete ein Dorf dem andern So den Wanderer weiter

    Der durch Sand und Kiefern Immerdar ins ewige Zion zog.

    Hör ich nicht an meines Bodenzimmers Fens-ter

    Fern den Regen klopfen, wie ein guter Freund um Einlass bittet? Ja ich biete

    Regensturm dir stürmisch meine offne Heiße Brust, dass du die wilde

    Lust des Lebens Süß mir kühlst!

    Immer waren Blitz und Donner schon dem Kinde

    Seine liebsten Freunde. Auf dem sorglich durch ein gläsern Dach vor Unbill Regens oder Sonnenstich geschätzten

    Weinumsponnenen Balkon Sitzt in seinem weißen Leinenkittel

    Seinem weißen Haar Gütiger weiser Mann

    Mein Vater Hat die goldne Brille abgelegt, damit er

    Besser so das Crossner Tagblatt lese, Neben ihm die zarte zärtliche, die lächelnde

    Mutter hegt im Schoße einen Korb Und emsig

    Steint sie Zwetschgen oder Kirschen aus. Hoch im Himmel

    Schwirrt ein Häher, Der den Regenbogen dort im Westen

    Wie ein grauer Blitz durchzuckt. Vom Marienkirchturm

    Fällt ein Schwarm von Nachtigallen Mit den Abendglocken

    In die Dämmerung. Dir auch dir

    Wanderer zwischen tausend Städten Herzen

    Seen War auch einmal Heimat

    Wird Heimat wieder sein, wenn Dumpf die Schollen kollern auf den Sarg, der

    Deinen Kleinen kindlich kümmerlichen

    Leib der Erde wiedergibt, die ihn gebar An der Grenze Schlesiens und der Mark, Wo der Bober in die Oder, wo die Zeit

    Mündet in die Ewigkeit

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    Patrioten-Passagen zur Presse HORST KÖHLER

    Wer Bücher, wer Filme, wer Theateraufführungen, wer Karikaturen verbieten will, der ist auf dem falschen Weg. Jeder kann sich in Wort und Schrift gegen das wehren, was ihm nicht passt oder was ihn möglicherweise verletzt. Verbot und Unterdrückung aber zerstören Frei-heit und Humanität. (Aus seiner Rede "Die Freiheit des Wortes - ein Fundament unserer Kultur" am 9. Mai 2008)

    OSWALD SPENGLER

    Der Pressefeldzug entsteht als die Fortsetzung – oder Vorbereitung – des Krieges mit andern Mitteln, und seine Strategie der Vorpostengefechte, Scheinmanöver, Überfälle, Sturmangrif-fe wird während des 19. Jahrhunderts bis zu dem Grade durchgebildet, dass ein Krieg schon verloren sein kann, bevor der erste Schuss fällt – weil die Presse ihn inzwischen gewonnen hat. Heute leben wir so widerstandslos unter der Wirkung dieser geistigen Artillerie, dass kaum jemand den inneren Abstand gewinnt, um sich das Ungeheuerliche dieses Schauspiels klar-zumachen. Der Wille zur Macht in rein demokratischer Verkleidung hat sein Meisterstück damit vollendet, dass dem Freiheitsgefühl der Objekte mit der vollkommensten Knechtung, die es je gegeben hat, sogar noch geschmeichelt wird. Der liberale Bürgersinn ist stolz auf die Abschaffung der Zensur, der letzten Schranke, während der Diktator der Presse – Northclif-fe! – die Sklavenschar seiner Leser unter der Peitsche seiner Leitartikel, Telegramme und Illustrationen hält. Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistesleben der Volksmassen voll-ständig durch die Zeitung verdrängt. Die Bücherwelt mit ihrem Reichtum an Gesichtspunk-ten, die das Denken zur Auswahl und Kritik nötigte, ist nur noch für enge Kreise ein wirkli-cher Besitz. Das Volk liest die eine, „seine“ Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage die Bücher in Vergessenheit bringt, und, wenn eins oder das andre doch einmal in den Ge-sichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine vorweggenommene Kritik ausschaltet.

    Was ist Wahrheit? Für die Menge das, was man ständig liest und hört. Mag ein armer Tropf irgendwo sitzen und Gründe sammeln, um „die Wahrheit“ festzustellen – es bleibt seine Wahrheit. Die andre, die öffentliche des Augenblicks, auf die es in der Tatsachenwelt der Wirkungen und Erfolge allein ankommt, ist heute ein Produkt der Presse. Was sie will, ist wahr. Ihre Befehlshaber erzeugen, verwandeln, vertauschen Wahrheiten. Drei Wochen Pres-searbeit, und alle Welt hat die Wahrheit erkannt. Ihre Gründe sind so lange unwiderleglich, als Geld vorhanden ist, um sie ununterbrochen zu wiederholen. Auch die antike Rhetorik war auf den Eindruck und nicht den Inhalt berechnet – Shakespeare hat in der Leichenrede des Antonius glänzend gezeigt, worauf es ankam – aber sie beschränkte sich auf die Anwesenden und den Augenblick. Die Dynamik der Presse will dauernde Wirkungen. Sie muss die Geister dauernd unter Druck halten. Ihre Gründe sind widerlegt, sobald die größere Geldmacht sich bei den Gegengründen befindet und sie noch häufiger vor aller Ohren und Augen bringt. In demselben Augenblick dreht sich die Magnetnadel der öffentlichen Meinung nach dem stär-keren Pol. Jedermann überzeugt sich sofort von der neuen Wahrheit. Man ist plötzlich aus einem Irrtum erwacht.

    (In „Welthistorische Perspektiven“)

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    Preußen anekdotisch und witzig

    Politische Witze kommen kaum noch auf, historische Anekdoten sind beinahe vergessen. Da-bei können die beiden Genres etwa Menschlich-Allzumenschliches in Gesellschaft und Politik pointiert auf den Punkt bringen. Wir eröffnen heute den Reigen nachdenklich-heiterer Klein-kunst und laden unsere Leser zum Lachen und Schmunzeln wie zum Staunen darüber ein, dass Preußen zwar nicht rheinländisch frohgemut, so doch heiter und possenreißerisch sein konnte. Wer in seiner Schublade Witziges und Anekdotisches aus Preußen entdeckt, schicke es uns bitte zu - es kann auch gern eine Kopie sein. Wir drucken das Fundstück ab.

    Ω In der Schlacht von Zorndorf (1758) stand die Entscheidung auf des Schwertes Spitze. Fried-rich II. war ärgerlich, dass General Seydlitz trotz ausdrücklichen Befehls noch immer nicht mit der Kavallerie eingriff. Er schickte einen Adjutanten, der Seydlitz wortgetreu ausrichtete: „Herr General, der König lässt sagen, falls die Schlacht verlorengeht, stehen Sie mit ihrem Kopf dafür!" Seydlitz übersah das Schlachtfeld und entgegnete: „Sagen Sie dem König, nach der Schlacht stehe ihm mein Kopf zur Verfügung. Bis dahin aber möchte ich ihn zu seinem Vorteil noch selbst verwenden können!" Die Schlacht wurde gewonnen.

    Ω General Wrangel, der wie kein Zweiter berlinerte, geht mit seinem Adjutanten die Straße Unter den Linden entlang. Ein Posten präsentiert vor dem General. Wrangel: „Der hat mir jejrüßt.“ Der Adjutant verbessert ihn: „Nein, mich.“ Verwundert fragt Wrangel zurück: „Wat denn, der hat Ihnen jejrüßt?“ Der Offizier berichtigt erneut: „Nein, Sie.“ Wrangel erleichtert: „Na saje ick doch, der hat mir jejrüßt.“

    Ω Festungsgeneral von Petery gab bei einer Tischunterhaltung ein Familiengeheimnis preis. Man disputierte darüber, ob es nicht besser sei, die Diners in die späten Nachmittagsstunden zu verlegen. Petery: „Im Hause meiner Eltern ging es so vornehm zu, dass wir immer erst am anderen Tage aßen.“

    Ω Lessing unterhielt sich einst mit seinen Freunden in der Baumannshöhle, einem Weinkeller in der Brüderstraße, über die Unsterblichkeit. Ein alter Berliner, der sich auch in dem Wein-keller befand, hörte aufmerksam zu und trat nach dem Gespräch zu den Herren. „Ick jloobe nich an ihr", meinte er. „Woran glauben Sie nicht?" fragte Lessing. „Nu, an de Unsterblichkeit." „Warum denn nicht?" „Ja, sehn Se, wenn ick dran jloobte un se kommt nich, dann ärgerte ick mir. Wenn ick dran jloobe und se kommt, so finde ick weita nischt dabei. Wenn ick aber nich dran jloobe und se kommt, so freue ick mir. Merken Se wat? Drum jloobe ick nich an de Unsterblichkeit."

  • Preußische Monatsbriefe

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    Preußische Daten

    1.Juni 1790 (vor 225 Jahren): Die Tierarzneischule vor dem Oranienburger Tor in Berlin öffnet unter Leitung von Oberstallmeister Karl Graf von Lindenau mit 46 Eleven. Die Gebäude entstanden 1788 nach Plänen von Oberbaudirektor Carl Gotthard Langhans.

    1.Juni 1840 (175): Hundert Jahre nach dem Regierungsantritt Friedrichs II. am 31. Mai 1740 wird für das Reiterstandbild Friedrichs des Großen nach dem Entwurf von Christian Daniel Rauch Unter den Linden (Mitte) der Grundstein gelegt. Am 31. Mai 1851 wird es enthüllt.

    Friedrich der Große Unter den Linden, Goethe im Tiergarten

    1.Juni 1850 (165): Die ersten vier städtischen Volksbibliotheken in Berlin werden für das Publikum geöffnet: im Friedrichs-Werderschen Gymnasium, in der Königsstädtischen Realschule, der Dorotheenstädtischen Realschule und der Luisenstädtischen Realschule.

    1.Juni 1860 (155): Theodor Fontane übernimmt an der Neuen Preußischen Zeitung - nach dem Eiser-nen Kreuz im Titel allgemein Kreuzzeitung genannt - die Redaktion des „englischen Artikels“. Er schil-dert die Redaktion so: „In das Sofakissen war das Eiserne Kreuz eingestickt, während aus dem schwarzen Bilderrahmen ein mit der Dornenkrone geschmückter Christus auf mich niederblickte“

    2.Juni 1605 (410): Im Bericht über einen „großen und schrecklichen Sturmwind“ in Berlin heißt es u. a.: Er „richtete an den „Heusern, Techern, Scheunen und Gerten“ großen Schaden an. Außerdem wurden „7 Scheunen vor Coln uber einen Hauffen geworffen“.

    2.Juni 1880 (135): Am Ostrand des Tiergartens wird das Goethedenkmal von Fritz Schaper enthüllt. Das Ensemble erreicht eine Gesamthöhe von sechs Metern, das Standbild des Dichters auf rundem Sockel ist 2,72 Meter hoch. Ihn umgeben drei allegorische Figurengruppen: für die lyrische Dicht-kunst eine Muse mit Leier und der Figur des Eros; für die dramatische Dichtkunst eine sitzende Frau-engestalt mit Schreibwerkzeug, neben ihr ein Genius; für die Forschung eine lesende weibliche Ge-stalt.

  • Preußische Monatsbriefe

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    3.Juni 1700 (315): Im Königlichen Hetzgarten in der Neuen Friedrichstraße findet aus Anlass der Fei-erlichkeiten zur Hochzeit der Prinzessin Luise Dorothea Sophia mit dem Erbprinzen Friedrich von Hessen-Kassel eine große Bärenhatz statt.

    3.Juni 1710 (305): König Friedrich I. gibt die „Endliche Einrichtung der Königl. Preußischen Societät der Wissenschaften in Berlin“ bekannt. Sie war am 11. Juli 1700 als Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften gegründet worden, als Friedrich noch Kurfürst war.

    3. Juni 1740 (275): Um den durch den katastrophalen Winter 1739/40 eingetretenen Brot- und Fleischmangel und der damit verbundenen Teuerung zu begegnen, werden in Berlin die Königlichen Getreidemagazine geöffnet.

    Beinahe Duellanten: Otto von Bismarck und Rudolf Virchow

    3.Juni 1865 (150): Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck fordert den Abgeordneten der Deutschen Fortschrittspartei und Professor für Pathologie Rudolf Virchow wegen eines stürmi-schen Wortwechsels, der tags zuvor zwischen ihnen im Preußischen Landtag stattgefunden hatte, zum Duell auf. Virchow lehnt die Duellforderung mit dem Hinweis darauf ab, dies sei keine zeitgemä-ße Art der Diskussion.

    4.Juni 1740 (275): Eine durch Missernten verursachte Hungersnot, die in Berlin zu Hungertyphus führte, zwingt König Friedrich II., die Einfuhr von Getreide aus Mecklenburg zu genehmigen. Die Fir-ma Splitgerber & Daum importierte auch polnisches und russisches Getreide.

    4.Juni 1875 (140): Ein vom Preußische Abgeordnetenhaus genehmigter Gesetzentwurf ermächtigt die preußische Regierung, für sechs Millionen Mark die Nordbahn (Berlin - Neubrandenburg - Stralsund) zu kaufen.

    5.Juni 1815 (200): Die „Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache“ wird in Berlin gegründet. Friedrich Ludwig Jahn gehört zu den Gründern.

    5.Juni 1890 (125): Ein Fesselballon wird in Berlin aufgelassen. Selbstregistrierende Instrumente er-möglichen genaue meteorologische Beobachtungen in den oberen Luftschichten.

    6.Juni 1795 (220): Generalarzt Johann Goercke schlägt angesichts der Vergrößerung des Heeres mit einer Denkschrift die Gründung einer Ausbildungsstätte für Militärärzte vor.

    7.Juni 1840 (175): König Friedrich Wilhelm III. stirbt im Kronprinzenpalais Unter den Linden, und Friedrich Wilhelm IV. besteigt den preußischen Königsthron. Die Trauerfeier für Friedrich Wilhelm III. findet am 11. Juni im Berliner Dom statt. Anschließend wird die sterbliche Hülle in das Mausoleum im Park des Schlosses zu Charlottenburg überführt. Dort befinden sich die sterblichen Überreste seiner am 19. Juli 1810 verstorbenen Gattin Luise (von Mecklenburg-Strelitz).

  • Preußische Monatsbriefe

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    12.Juni 1435 (580): Auf einer Synode mit der gesamten Geistlichkeit des Brandenburger Bistums kritisiert der Brandenburger Bischof Stephan Bodeker deutlich den Lebenswandel von Geistlichen und gibt Anordnung zur Abstellung.

    13.Juni 1370 (645): Eine Festlegung vom Rat zu Berlin und Cölln legt fest: 1. nur Bürger der Stadt haben das Recht, Bier zu brauen; 2. im Heiliggeisthospital darf in geringen Mengen Bier gebraut wer-den; 3. fremde Biere dürfen nur mit Genehmigung des Rates ausgeschenkt werden.

    15.Juni 1880 (135): Das neue Empfangsgebäude des Anhalter Bahnhofs, erbaut durch den Architek-ten Franz Heinrich Schwechten, wird seiner Bestimmung übergeben. Im Zweiten Weltkrieg wird der Bahnhof bis auf den Portikus zerstört.

    16.Juni 1805 (210): Musikpädagoge, Komponist, Dirigent, Goethe-Freund und Maurer Karl Friedrich Zelter holt den 13jährigen Meyer Beer (Vorname Meyer, später Giacomo Meyerbeer) in die Singaka-demie.

    17.Juni 1765 (250): Gegründet wird die Königlich Preußische Bank („Königliche Giro- und Leih- Banco“) mit 400 000 Ta-lern. Ziel ist, die kriegsgeschädigte Wirt-schaft Preußens zu beleben.

    18.Juni 1675 (340): Sieg der brandenbur-gisch-preußischen Armee unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm und Generalfeldmarschall Georg von Derffling in der Schlacht bei Fehrbellin über die Schweden unter Generalleutnant Wolmar von Wrangel. Zur Feier des Sie-ges werden am 21. Juni und am 8. Juli Freudenfeste mit großem Feuerwerk veranstaltet.

    24.Juni 1835 (180): Die von Karl Friedrich Schinkel in den Jahren 1834 und 1835 errichtete Moabiter Johanniskirche wird am Tage Johannes des Täufers vom Pre-diger Seidig geweiht. Nur vier Tage später erfolgt die Weihe der Schinkel-Kirche vor dem Rosenthaler Tor, die den Namen St. Elisabeth erhält.

    30.Juni 1740 (275): Im Verlag des Buch-händlers Ambrosius Haude erscheint die erste Nummer der „Berlinischen Nach-

    richten von Staats- und gelehrten Sa-chen“. Das Blatt erhielt später den Na-men „Spenersche Zeitung“. In dieser

    Preußischen Tradition gibt die Preußische Gesellschaft Berlin-Brandenburg ab Juni 1997 die Publi-kation „Preußische Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen“ heraus, die jetzt als monatli-cher Rundbrief erscheint.

    In preußischer Tradition - das Monatsblatt der Preußischen Gesellschaft Berlin-Brandenburg

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    Beilage „100 Jahre Erster Weltkrieg“ (Teil XVI)

    „Ein Soldat muss mit dem Leben nach außen abgeschlossen haben“

    Aus dem einzigartigen Tagebuch eines jungen Musketiers im Ersten Weltkrieg Robert Johnscher ist einer von 70 Millionen junger Männer, die zwischen 1914 und 1918 in Europa, dem Nahen Osten, in Afrika, Ostasien und auf den Weltmeeren unter Waffen standen, einer von etwa 20 Millionen, die den Ersten Welt-krieg verwundet überlebten – etwa zehn Millionen blieben „im Felde“. Er hatte sich in Berlin als 18-jähriger zu Beginn des zweiten Kriegsjahres freiwillig gemeldet. Der junge Mann ging gesund als Musketier in den Krieg für Gott, Kai-ser und Vaterland und beendete ihn mit einer Kopfschuss-Verletzung als Zugführer im Range eines Vizefeldwebels mit Leutnantsbefugnissen. Auskunft über sein Schicksal in den Jahren des Weltbrandes gibt sein erhalten gebliebenes Ta-gebuch. Er führte es vom ersten bis zum letzten Tag seines Soldatenlebens. Wir setzen heute den Abdruck von Passa-gen aus dem Tagebuch von Robert Johnscher fort. (Teil 1 finden Sie in der Märzausgabe 2014 der Preußischen Monatsbriefe – siehe Seite 1 unter Archiv!)

    ۩ 16. September 1917

    Außer den üblichen Appells auch sonstige Beschäftigungen wie z.B. Quartierausbau. Vor den sonsti-gen Beschäftigungen drücke ich mich so gut es geht und benutze die dadurch gewonnene Zeit, Post zu schreiben, Bohnen zu sammeln und für sonstige „Privatvergnügen“. So sandte ich im Laufe dieser Tage an Fritz zwei Pfund Bohnen, an Mutter vier Pfund Bohnen und Nüsse und noch ein Pfund große Bohnen. Post erhalte ich sehr wenig. – Mutter warnt mich immer vor dem vielen Obstgenuss: Wenn sie wüss-te, was wir hier an Pflaumen, Weintrauben, Nüssen, Tomaten, Gurken und wieder Pflaumen verzeh-ren - enorme Mengen, mit deren Vertilgung man gewöhnlich in aller Herrgottsfrühe mit nüchternem Magen beginnt – , dann würde sie wohl erschreckt die Hände zusammenschlagen. Aber es ist dem so, wir essen unheimlich viel Obst. Trotzdem fühle ich mich gottlob wohl: Stuhlgang und Verdauung normal und Appetit enorm – also beste Gesundheit. Allerdings, das gebe ich gern zu: Früher hätte ich derartige Mengen an Obst nicht vertilgen dürfen. Aber heute als Soldat…Ich sehe nur dies: Ein Solda-tenmagen verträgt kolossal viel.

    Robert Johnscher

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    Ein praktisches Beispiel: In 24 Stunden verschmieren wir zu drei Mann einen Zwei-Liter-Topf Pflau-menmus! Pflaumenmus ist leicht herzustellen, und infolge des großen Zuckergehaltes bedürfen wir keines Zuckers. Seit langer Zeit hatten wir heute ein gutes Mittagessen: Ein Pfund Kartoffeln, dazu Kraftbrühe mit Rindfleisch, Tomaten und Zwiebeln. Als Nachtisch – Pflaumenmus! Heia, wie gut doch so eine Kartof-fel schmeckt. Das war endlich mal ein gutes Sonntagsessen, zumal wir es uns selbst zubereitet hat-ten. Mit dem guten Wetter ist es vorbei. – Die Hitze am Tage erreicht nur noch in den Mittagsstunden ihre alte Höhe, sonst ist sie erträglich. Nachts ist es jetzt ungemein kalt. So ist denn der rumänische Herbst plötzlich am 1. September eingezogen. Noch zeigt die Vegetation keinerlei Veränderung, überall ein tiefes Grün, aber lange wird es nicht mehr anhalten. Ende Oktober / Anfang November zieht wohl auch hier die Natur ihr Herbstkleid an. Wie in allen heißen Gegenden so auch hier der krasse Unterschied: heißer Tag – kalte Nacht! Fritz musste sich am 15.September bei 32ern (Meiningen) stellen. Nun sind wir wieder alle drei Brü-der Soldat. Obwohl er krank und schwach geworden ist, zum Soldatenberuf hat man ihn nun doch wieder geholt. Ein Jammer mit diesem nicht enden wollenden Krieg. Natürlich haben nun meine El-tern wieder eine Sorge mehr.

    17. September 1917 Nachts um ½ 12 Uhr wurden wir hochgeholt, wir (d.h. nur 28 Mann) kamen zu den 7ern in Reserve. So zogen wir denn abermals um. Jetzt liegen wir wieder in Erdlöchern, die allerdings ca. vier Meter tief in die Erde hinein getrieben sind. Die restlichen drei Gruppen liegen in Häusern. Wir zogen jedoch nur ca. 300 Meter weiter nach links, befinden uns also immer noch in Stroani. So hat man uns um die restlichen Ruhetage endgültig betrogen.

    Generalfeldmarschall Mackensen (2.v.r.) bei deutschen Truppen

    Wieder einmal spukt das viel gerügte Besichtigungsunwesen bei uns. Generalfeldmarschall Macken-sen wird in den nächsten Tagen Abordnungen der Truppen besichtigen, die an den letzten hiesigen Kämpfen teilgenommen haben. Deshalb finden überall Verschiebungen statt. Ausgerechnet die müssen zur Besichtigung, deren Mannschaften (Leute) das Eiserne Kreuz haben! Na, ich könnte da noch mehr Humbug erzählen.

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    19. September 1917 „Die Bewegungen sind hier zum Stehen gekommen, es wird Winterstellung bezogen!“ so lautet der heutige O.K.M.-Befehl. Damit wird uns auch amtlich, dass es vorläufig von hier nicht mehr weiter geht. Am 17. und 18. September hatten wir heftiges Artilleriefeuer bei Muncelul. Einmal wurden wir be-reits alarmiert. Gottlob blinder Alarm Russki hat links bei den 7ern angegriffen. Truppenansammlun-gen sind in unserem Abschnitt vorgetäuscht worden. Heute wurde ich mit verschiedenen Kameraden endlich zum überzähligen Gefreiten ernannt. Beson-dere Freude empfinde ich nicht, denn seit März 1916 Soldat, seit Juli 1916 im Felde ist es wohl nicht zu früh, wenn ich endlich Gefreiter geworden bin. Na, das ist ein Kapitel für sich. Oberjäger Eggers ist Vizefeldwebel geworden. Verschiedene „Eiserne“ gab’s auch. Na, die übliche Schiebung auch hier deutlich erkennbar. Bisher sind wir jede Nacht von 12 bis 4 Uhr zum Drahtziehen vorn gewesen. Bei dieser nicht unge-fährlichen Arbeit leiden die „Lumpen“ furchtbar. Überhaupt ist Drahtziehen wenig angenehm und vor allem sehr aufregend. Am Tage haben wir Ruhe, nur 50 Drahtverhaupfähle müssen wir machen. Also haben wir im Allgemeinen hier in Reserve mehr Ruhe als in „Ruhe!“ O Ironie! Wie bereits gesagt, liegen wir in Bunkern. Wenn nur die verdammten Flöhe nicht wären. Die lassen einen überhaupt nicht schlafen. Ich fing gestern z.B. über 20 Stück. Alles Erdflöhe! Schreckliche Plage. Der ganze Körper ist zerbissen und zerkratzt. Heute ist wieder eine Urlaubsliste aufgenommen worden, und zwar kommen alle die Leute in Be-tracht, die über ein Jahr ohne Urlaub im Felde sind! Na, 15 Monate ohne Urlaub, 14 Monate im Fel-de, hätte ich ja auch Anspruch auf die Liste zu kommen. Ich bedaure wirklich, dass ich die bereits aufgestellten Listen nicht gezählt habe, auf die ich nicht gekommen bin.

    21. September 1917 In der Nacht vom 20. zum 21.September lösten wir die 7er ab und liegen nun gleich rechts von Muncelul in Stellung. Außer Drahtverhau ist in der Stellung noch nichts gemacht, so dass wir aller-hand zu arbeiten haben. Merkwürdig, dass wir 9er stets in schlecht ausgebaute Stellungen kommen. Auf Höhe 332 hatten wir den Graben fertig ausgehoben, bereits Stollen angefangen und kommen nun weiter nach links. Diese verdammte hin- und her Schieberei! Nun hockt man wieder den ganzen lieben Tag in seinem engen Erdloch. Übrigens ist gestern Ersatz aus Ratzeburg gekommen. Viele bekannte Gesichter sind dabei. Wir sind mit 86 Gewehren in Stellung. Morgen sollen fürs Bataillon nochmals 150 Mann Ersatz kommen. Alles wundert sich, dass wir noch nicht auf Urlaub gewesen sind. S.M. der Kaiser ist am 21.September in Rumänien eingetroffen. Nachdem er in Curtea de Arges einen Kranz am Sarge des rumänischen Königspaares Carol I. niedergelegt hatte, fuhr S.M. noch am Abend an die Front. Seine Majestät erscheint zum ersten Mal auf dem Balkankriegsschauplatz! Da wird’s auch verschie-dene „Eiserne“ geben. Oberlt. Dan das E.K. I. Klasse. Das hätte unser Oberleutnant ehrlich verdient. Aber sonst wird wieder viel „geschoben“. Ich rede nicht gern davon, heißt es dann doch gewöhnlich, man ist neidisch. Aber tolle Schiebung wird dabei gemacht, namentlich werden stets die Burschen-

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    herrlichkeit und sonstige Drückeberger vorgezogen. Das ist ein hässlicher Zug, der wohl im ganzen deutschen Heere zu finden ist. Der Heeresbericht vom 18. und 19.September bestätigt meine Notizen vollauf mit den lakonischen Worten: „Bei der Heeresgruppe v. Mackensen blieben rumänische Angriffe bei Muncelul erfolglos“. Wieder sind zwei Mann auf Urlaub gefahren. Nun sind noch höchstens 12 bis 15 Mann fällig, darun-ter auch ich. Verdammt, das wäre eine Freude!

    Kaiser Wilhelm II. (auf dem Podest 2.v.l.) und Generalfeldmarschall Mackensen

    (oben rechts) besichtigen eroberte Erdölfelder in Rumänien

    22. September 1917 Die Nachrichten aus der Heimat treffen seit 1 ½ Monaten spärlich ein. Drei bis vier Tage bin ich jetzt gewöhnlich ohne Post und komme so um die einzige Freude, auf die man tatsächlich wartet, täglich hofft! Ich gebe gern zu, dass auch ich mit dem Schreiben nachgelassen habe, aber mir fehlt es tat-sächlich oft an Zeit und Gelegenheit. Man darf doch nicht vergessen, dass bei uns der Dienst alles andere rücksichtslos beiseiteschiebt. Vergesse man auch nie, dass die Heimat mehr und mehr fremd wird, Angehörige hat man lange, lan-ge nicht mehr gesehen, man entfremdet sich! Umso lebhafter muss also der schriftliche Gedanken-austausch sein. Worte wie Elternhaus, Tisch, Stuhl, Bett, Gabel und hundert andere Dinge kennt man nur noch der Erinnerung nach, und kommt man einst heim, so wird man diese Dinge erst mit einer gewissen Scheu betrachten und betasten. Heute sind vier Mann auf Urlaub gefahren. Hurra! Meine Hoffnung steigt. Ich rechne mit Monat November. Der zweite Ersatz ist auch angekommen. Stammt zum größten Teil aus Baden und ist meist Jahrgang 98. Was man jetzt zusammenschläft, das ist enorm, das ist schon anormal, das ist ungesund. Durch-schnittlich schlafe ich jetzt Tags von ½ 6 Uhr bis ½ 3 Uhr also rund 9 Stunden, oft noch mehr. – Von Erquickung kann natürlich nicht die Rede sein, im Gegenteil, wacht man auf, dann ist einem zumute, als hätte man eben ein böses Fieber überstanden: schlapp und Schädelweh! Die Verpflegung ist zurzeit schlechter denn je. Den Kaffee und gar erst den Tee kann man von ge-kochtem Wasser nicht unterscheiden. Im Essen fehlt das einfachste Gewürz nämlich: Salz.

    27. September 1917 Unser Dienst ist jetzt nachts: 2 ½ Stunde Posten stehen und 6 Stunden Arbeit! - Heute wird Rudolf Lorenzen eingesegnet. Ich glaube gerade ihm die Worte zurufen zu müssen, in denen es heißt: „Willst

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    Gutes du und Schönes schaffen, musst du dich ernst zusammenraffen und darfst nicht scheuen der Arbeit Schwere, da hilft kein Schwärmen bloß und hoffen, kein Traum von künftiger Entfaltung, nein, ringen musst du mit den Stoffen und stark sie zwingen zur Entfaltung!“ Möge Rudolf diese Worte beherzigen und möge ihm ein glückliches Dasein beschieden sein. Schon den ganzen Tag „stänkert“ unsere Artillerie. Die Antwort bleibt auch nicht aus. So schlug eben eine Granate ca. drei bis vier Meter hinter meinem Loch ein. Staub und Dreck habe ich da geschluckt, das Trommelfell tat weh. Aber – ich habe gottlob weiter keinen Schaden genommen. Aber unser Zorn auf unsere Artillerie steigt, die gar keine Ruhe geben kann! Der Russe ist hier anständig, nur unsere Artillerie muss dauernd schießen!

    28. September 1917 Gestern Abend ½ 8 Uhr zog ich mit fünf Mann auf Feldwache. 24 Stunden auf Feldwache! Als Gefrei-ter muss ich den Wachthabenden markieren. Dazu sind die Gefreiten gerade gut. Die Löcher der Feldwache sind furchtbar eng und niedrig – überhaupt schlecht ausgebaut. Ich sitze am Telephon und kritzele meine Tagebuch-Notizen. Noch vier Stunden, dann kommt die Ablösung.

    Robert Johnscher beklagt, dass viele getötete

    Soldaten nicht bestattet werden – wie diese gefallenen russischen Soldaten

    Gleich fünf Schritte links von uns kommt ein alter russischer Graben hoch. Dieser liegt voll russischer Toten, halb mit Erde zugedeckt, stellenweise ganz bloß, bietet sich hier ein grässliches Bild. Zu dreien, vieren übereinander, hier ein Fuß, dort Kopf und Hand, da ein blutig zerrissener Rumpf, einer in lie-gender, ein anderer in gebückter Stellung. Furchtbar und entsetzlich anzusehen. Bis ins Innere er-schauernd, wende ich mich bestürzt und erschreckt ab, kehre eiligst zu meinen Leuten zurück. Im rechten Nachbargelände - keine zehn Schritte von unseren Löchern entfernt - läuft eine Kette russisch-spanischer Reiter parallel dem Graben. Auch hier und dahinter Tote. Schrecklich anzusehen im Mondenschein – aber doch nicht gar so erschreckend wie in dem Graben. Der Gestank dieser To-ten ist grässlich. Namentlich am Tage, wenn die Sonne auf die armen Kerls scheint, kann man es vor lauter Leichengeruch kaum aushalten. Den ganzen Tag vermag ich nichts zu essen – der Gestank – das blutige Bild – es ekelt mich an. Hier ist die Stelle, wo die Russen so furchtbare Verluste erlitten, als unsere Truppen Muncelul nachhart-näckigem Kampfe nahmen. Zwölf russisch-rumänische Sturmkolonnen standen in der vor uns liegen-den Schlucht. Die Unsrigen überraschten sie dabei und setzten 1 000 Minen dazwischen. Die Wirkung war ungeheuer. Nur wenige von diesen Sturmkolonnen sind mit dem Leben davongekommen. Wei-nend und zerstört kamen sie die Schlucht heraufgestürzt, um sich den Deutschen zu ergeben. – Furchtbar!

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    In der Schlucht soll das Bild noch entsetzlicher. Auch dort liegen entsetzlich verstümmelte Leichen unbestattet und geben ein grässliches Bild jener blutigen Tage bei Muncelul wieder! Zum Teil tragen die Toten auch Gasmasken. Sie sind die Opfer unseres Gasangriffes vom 28./29.September. Unsere Artillerie hatte außer Gas auch mit Blausäure geschossen. Gegen Blausäure schützt keine Gasmaske, daher die vielen Toten mit Gasmasken. Ich kann nur immer wiederholen, das gemeinste – das un-menschlichste ist ein Angriff mit Gas und Flammenwerfern!

    30. September 1917 Am 22.September war Besichtigung bei Focsani durch S.M. Oberlt. Dan hat das E.K.I. Klasse leider nicht erhalten. Jede Nacht haben wir sechs Stunden Arbeitszeit (außer 2 ½ Stunden Postenstehen) und müssen in dieser Zeit pro Mann 3 mal 2 Meter, 30 Zentimeter tief, Erde ausheben, also rund 1,8 cbm. In diesem harten Boden allerhand Arbeit.

    2. Oktober 1917 Hauptmann Schneider hat sich beim Regiment über die schlechte Stimmung im Batl. beschwert, die namentlich auf wenig Urlaub und schlechte Verpflegung zurückzuführen sei. Auch im Hintergelände liegen noch viele Leichen. – Ein furchtbarer Anblick! Das ist das Schicksal „Vermisst“. Wieder ein Beweis, wie wenig unsere sanitären Mittel ausreichen, denn warum werden die armen Kerle nicht begraben? Wozu ist die Sanitätskompanie da? Schlimmer als ein Hund, das ist das Los dieser armen Gefallenen!

    Heiß ersehnt, lang drauf gewartet – Robert Johnschers Urlaubsschein

    Oberjäger Kegelmann und Walter Rössner sind nach Ploesti abkommandiert! (Dreyser Gewehr) Infol-gedessen übernahm ich die Gruppe. Gegen 8 Uhr trafen wir in der Stellung ein. „Gefreiter Johnscher“ – „Hier“ „Sie fahren nach Deutschland“ so sagt mir Feldwebel Damman . „Deutschland, ja, was soll ich denn da?“ – „Urlaub“ lautete die lakonische Antwort, die mich ganz aus dem Häuschen bringt. Hurra – endlich – nach 15 Monaten auf nach Deutschland! Urlaub vom 5. Oktober bis 27. Oktober einschließlich! (14 Tage ohne Fahrt)

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    3. Oktober 1917 Entlausung in Valeni, abends 8 Uhr Geld und Papiere empfangen!

    4. Oktober 1917 5 Uhr los nach Savi 10 Uhr dort ab mit Wagen nach Bolotesti (alte Erinnerungen) Wieder Zivil in Bo-lotesti, mit Motorbahn nach Odobesti gefahren. 50 Pfund Mehl a 10 Pfennig. Hurra! Mit Güterzug ab Odobesti nach Focsani ½ 7 Uhr dort selbst Ankunft. Nettes sauberes Städtchen.

    5. Oktober 1917 Abenteuerliche Fahrt nach Hause. Einige Stationen: Craiova (dort Eier für Tabak eingeschachert), Ploesti, Craiova, Lugos, Steinburg bei Budapest, Liptowar, Oppeln, Oderberg, Berlin Ankunft abends ½ 10 Uhr Schlesischer Bahnhof. 50 Pfund Mehl 5,- M, 2 Kilo Kaffee 11,20 M, 1 Kilo Seife 8,96 M = 25,16 M. Höre plötzlich: Urlaub bis April 1918 gesperrt. – War also höchste Eisenbahn!

    10. November 1917 Erst heute komme ich dazu, wieder einiges in meinem Tagebüchlein zu vermerken, zu schreiben wie es mir seit dem 3. Oktober ergangen ist. Ein voller Monat ist vorüber, und doch vergingen gerade diese Tage, die schönsten meines bisherigen Soldatenlebens, wie im Fluge. Schön war der Urlaub, unbeschreibbar schön. Mir erscheint alles wie ein Traum. Und das Erwachen, als ich wieder an die Front fahren musste, als ich wieder bei der Kompanie an-langte, wieder im Graben stand, Wind und Wetter, Granat- und Gewehrfeuer ausgesetzt war. Da – o da kam eine heiße Sehnsucht über mich: „Könnte ich doch daheim bei meinen lieben Eltern sein!“ Erst jetzt wurde es mir so recht bewusst, wie ungemein krass doch der Unterschied zwischen dem Leben daheim und dem hiesigen Hundeleben ist! Während des Urlaubes und auch noch nicht bei dem Abschied erkannte ich dies klar – aber jetzt! Meine „Sauerbierstimmung“ kann sich wohl jeder leicht vorstellen. „Heimat, o Heimat du des Lebens Wurzelgrund, dies selige an dich gebunden sein. Und locke tausend Wege in die Welt, der hellste lenkt doch in die Heimat ein. Ach, hätten wir es gut im fremden Land und blinkte Gold es viel aus Schrank und Truh, wir wünschten nur den einen Weg zu gehen wär’s auch als Bettler im zerrissenen Schuh“.

    Links: Fronturlauber staunen über die neue Mode in Berlin

    Rechts: Feldgraue müssten auch im Urlaub vom Tod „Männchen“ machen

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    Und doch muss es sein, nicht sentimental werden, nein, hart und fest bleiben, fest ausharren muss ich jetzt – aber es ist so schwer, sehr schwer! So will ich es denn auch weiter versuchen, und reißen alle Stränge, dann muss ich mir nach dem Re-zept unserer „Einjährigen-Zeitung“ eine Schachtel „Humor“ kaufen. So, so ist’s recht, nur nicht klagen, immer Humor, mutig aushalten und auf ein glückliches Ende fest vertrauen. Über die einzelnen Urlaubstage selbst möchte ich mich hier nicht auslassen, viel habe ich erlebt, ken-nen gelernt. Von meinen lieben Eltern mehr als herzlich aufgenommen, überreichlich bewirtet (na-türlich über dem Etat), hat es mir daheim sehr gut gefallen, habe ich mich dort wohl gefühlt und be-sitze auch heute nur noch den einzigen Wunsch, recht bald für immer gesund daheim weilen und mit meinen lieben Eltern noch recht glückliche Jahre verleben zu dürfen. Nur der Gedanke, es könnte anders kommen, vergällte mir öfter die Freude – aber Kopf hoch und das Beste hoffen! Auch von allen Bekannten wurde ich sehr nett aufgenommen. Für später ist es schließlich ganz interessant, einiges über die Berliner Verhältnisse zu erzählen. Ich bediene mich am besten eines Briefes, in dem mein lieber Vater ganz treffend folgendes schreibt:

    Die Heimat hungerte und hoffte, daß ihre Frontsoldaten (wie der rechts abgebildete) üppig was zum Essen mitbringen werden. Doch die Feldgrauen darbten auch. Fette Beute machten andere… „Wir sind froh, dass Du uns etwas schickst, damit wir im Winter etwas Vorrat haben, da es jedenfalls mit Gemüseversorgung sehr schlecht ausfallen wird, denn so gut die Beschlagnahme und die Ratio-nierung sich auf dem Papier macht, so schlecht wird sie in der Tat ausgeführt. Die Ehrlichkeit geht

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    dabei in die Brüche. Fleisch bekommen wir 250 Gramm wöchentlich, Butter, welche meistens ranzig ist, 30 Gramm die Woche, 1 Ei alle 14 Tage. Fett überhaupt nicht, Wurst ½ Pfund alle 14 Tage, Mehl gar nicht, da das Brot sonst nicht reichen würde, und Milch bekommen wir überhaupt nicht, außer es gibt uns aus Gefälligkeit und nur verstohlen einmal der Milchhändler ½ Quart ab. Kaffee aus Rüben oder etwas Gerste, keine Graupen, kein Reis, kein Gries – Weißbrot gibt’s schon längst nicht mehr – ebenso wenig Kuchen, Brot schmeckt dumpfig. – höchstens also: Kartoffeln, Marmelade, gelbe Rü-ben, etwas Weiß- oder Rotkohl – aber zu welchem Preise! Kurz – wir müssen hungern und darben, dass man sich nicht mehr des Lebens freuen kann, weil man andererseits wieder sehen muss, wie Leute, die genug Geld haben, noch manches „hintenrum“ erhal-ten, was zur besseren Lebensweise gehört. Die Stimmung im Volke (nicht in den oberen Klassen!) ist daher schwer gereizt und für die Regierung nicht sehr günstig, während das größte Bedauern mit unseren lieben Feldgrauen auch durchbricht, welche sich ebenso durch Not und Gefahr ihr Dasein vergällen müssen. Aber einmal muss diese wahnsinnige Raserei doch ein Ende nehmen, und wir dürfen darum die Hoffnung nicht sinken lassen, dass wir unsere Lieben doch noch im Frieden sehen werden, um ein lebenswertes Dasein zu suchen. Du wirst auch dann die Annehmlichkeiten eines Haushaltes, sei er noch so bescheiden, wieder schät-zen lernen und manches gern entbehren, was früher so nötig zum Leben schien. Wir werden hoffent-lich wieder einfacher zu leben nicht als minderwertige unanständige Lebensart betrachten, wie vor dem Kriege. Dennoch gibt es hier immer noch genug Menschen (namentlich im Westen Berlins), wel-che eine Nagelbürste und ein Polierholz für Fußnägel noch nötiger finden als ein kräftiges Butterbrot, weil sie die Not nicht kennen lernten.“ Auch einiges aus dem Brief von meinem Leidensgenossen Nauke. Er schreibt mir u.a.: „Nun werde ich Dir mal ein bisschen die Verhältnisse in Berlin schildern. Wenn man denkt, sich ein bisschen unterhal-ten zu können und man geht irgendwohin, bums, kann man sicher sein, wenn man sich verspätet, per Beene nach Hause zu loofen. Ich musste zweimal von Neukölln nach Steglitz zu Fuß walzen. Auch sonst kaum was los. Überall wo man hinschaut, stößt man auf Kriegsanleihe-Reklame. Die Ohren werden dauernd mit der Frage bestürmt: „Wann geht der Krieg zu Ende?“ Geht man in Zivil, folgen einem alle Augen, als wenn sie sagen wollten: Warum ist der nicht Soldat? Na, ich kann dir sagen, eine Aufmachung zum Besch...“

    24. Oktober 1917 6 Uhr früh fuhr ich vom Görlitzer Bahnhof ab. Meine Eltern und Frl. Marga Lorenzen gaben wir das Abschiedsgeleit. Lasst mich über den Abschied schweigen. Viel könnte ich auch über die Fahrt berich-ten, über die schönen Länder und Städte, aber es müssen Stichwörter genügen Berlin, Görlitz, Bres-lau, Oderberg, Liptowar, Temesvar, Pitesteti, Bukarest und schließlich am 28.Oktober 1917um ½ 5 Uhr früh an in Focsani.

    Der Bahnhof von Focsani – Postkarte von Robert Johnscher

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    Herrliche landschaftliche Gegenden habe ich durchfahren, am „Eisernen Tor“ unbeschreiblich schön und eindrucksvoll. Gerade in der Walachei (kleine Walachei) reiht sich ein prächtiges Bild an das an-dere. Die herbstliche Jahreszeit hat hier die schönsten und angenehmsten Farben gezeitigt. Die herr-lichen Laubwälder, die sich unterhalb der Alpinen-Region der Transsilvanischen Alpen an die Berg-halden und weiter unten an die Abhänge des Hügellandes anschmiegen, stehen in leuchtender Pracht unter den dunklen Tannen- und Fichtenwäldern. Ist doch gerade der rumänische Laubwald bemerkenswert durch die Mannigfaltigkeit der Baumgattungen. Und in dem Dickicht dorniger Sträu-cher und armseligen Knieholzes, das Schaf- und Ziegenherden am Fuße des Hügellandes eine Weide bietet, schimmern die herrlichen Früchte des Sanddorns neben den roten Hagebutten und den tief-schwarzen Fruchtständen des Ligusters. Der Pflug hat den fetten Boden aufgerissen – ein dunkler grauer Ton drängt sich so in dieselbe Landschaft ein. Die Karpatenflüsse, die sich in den Bergen durch Felsenschluchten und Felsentrümmer brausend im weiten Bett einen Weg suchen, fließen nun in der Ebene langsam und sittsam dahin, und ihr niederer Wasserstand lässt große Lössbänke und Geröll-schichten zu Tage treten. Grünumsäumte Bauernsiedlungen sonnen sich im milden Herbststrahl. Auf der staubbedeckten Landstraße führen die Bauern in ihrer kleidsamen Tracht auf Ochsen- und Pfer-degespannen in malerischem Zug die Ernte nach der Stadt. Doch halt, ich wollte ja hierüber keine Worte verlieren. – Also in Focsani angekommen, hätten wir um 8 Uhr gleich nach Odobesti weiterfahren können, doch zogen wir es vor, uns erst Focsani näher anzusehen, uns an „Schmalzkuchen“ zu laben usw. kurz noch einen vergnügten Sonntag zu machen. Ich kaufte noch 5 Kilogramm Kaffee (a 5,60 M) ein und schickte selbigen in der extra von daheim mitgebrachten Kiste heim. Focsani ist ein nettes – teilweise ganz sauberes Städtchen. Um ½ 4 Uhr fuhren wir endlich mit einem Güterzug nach Odobesti, Höhe 1001 (= Magnara-Odobesti) kam bald in Sicht, wir waren angelangt zu unserem größten Missvergnügen. Unsere Stimmung unbe-schreiblich schlecht. Heute vor acht Tagen noch daheim und jetzt… In der Versprengten-Sammelstelle fanden wir Quartier und Verpflegung. Am Abend gingen wir ins Kino. Die lustigen Stücke und der nachher zu Gemüte geführte gute Wein heiterten uns gottlob wie-der auf. – Wir tauschten Urlaubserinnerungen aus und glaubten uns fast daheim. – „Tanze – tanze, du grüner Tor“.

    29. Oktober 1917 Wir fuhren mit einem hochbeladenen „Mehlauto“ bis nach Sarvi. Nachmittags machten wir uns nach Stroani auf, mussten aber in Veleni Halt machen, weil uns die Dunkelheit überrascht hatte. Rasch ein gutes Abendbrot – das wir Dank der elterlichen Fürsorge bei uns hatten – und dann aber geschlafen. Heute vor 8 – vor 14 Tagen – o ja!

    30. Oktober 1917 In aller Frühe langten wir in unserem alten wohlbekannten Stroani an, empfingen Gewehr, Gasmaske und Patronen und stiefelten zwei Stunden später nach Iresti weiter, wo wir am Abend todmüde an-langten. Ein anständiger Marsch über Berg und Tal – 30 km – na ich danke. „Tanze, tanze, du armer Tor.” Am nächsten Morgen des 31. Oktober gingen wir mit der Küche in Stellung – unser Ziel war erreicht!

    3. November 1917 Plötzlich wurde unser Regiment in Stroani abgelöst und musste den schwierigen Gebirgsmarsch nach Iresti antreten. Unser Batl. kam hier in Stellung und sollte stürmen! Schon während der Rückfahrt erfuhren wir diese wenig angenehme Nachricht. – „Höhe stürmen“ - - schlechte Aussichten. Der Sturm war bereits mehrere Male angesetzt gewesen, aber wieder verschoben worden. Dann wurde er schließlich ganz aufgegeben, da der Plan durch Überläufer unsererseits verraten worden war! So

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    kamen meine Kameraden gottlob um den Sturm. Unser Oberleutnant soll sich allerdings darüber geärgert haben. Na, da kann man denken was man will – ich danke jedenfalls.

    6. November 1917 Wir hatten Kirchgang und empfingen die Heilige Kommunion. Wollsachen, d.h. Unterjacke, Knie- und Pulswärmer, Handschuhe, Strümpfe und Kopfschoner hat es gegeben. Infolge Kerenski’s Sturz schwirren hier die tollsten „Latrinen“-Friedensgerüchte herum. – Abwarten!

    Alexander Fjodorowitsch Kerenski 1917 vor russischen Frontsoldaten. Er war

    zeitweise Chef der Übergangsregierung zwischen Februar- und Oktoberrevolution im Jahr 1917 in Russland. Sein Sturz löste Gerüchte über einen bevorstehenden Frieden aus. Er starb 1970 in New York. Die dortige russisch-orthodoxe Kirche

    verweigerte ihm ein christliches Begräbnis, da sie ihn dafür verantwortlich machte, dass sich in Russland der Kommunismus etablierte. Der Leichnam Kerenskis wurde daraufhin nach London überführt, wo er auf dem Friedhof Putney Vale Cemetery

    beerdigt wurde.

    10. November 1917 Ich wurde in die Küchenkommission gewählt. Somit habe ich sämtliche Beschwerden über Verpfle-gung entgegen zu nehmen und weiterzuleiten. Na, hinter die Kulissen lassen sich die „Küchenhengs-te“ doch nicht sehen. Abends ging es in die hiesige Stellung, die wir bereits im September innehatten. Der Graben ist inzwi-schen fertig geworden, nur an den Unterständen muss noch gearbeitet werden. So hockt denn die halbe Kompanie teilweise in noch recht bösen Löchern, Kälte und Wetter preisgegeben. Na, hoffent-lich hat der ganze Schwindel bald ein Ende. In letzten Tagen hat sich das Essen etwas gebessert. Aber es ist alles zu wenig, namentlich Brot ist arg knapp. Ich helfe mir mit Mutters vorzüglicher Maggi-Suppenwürfel aus.

    16. November 1917 Ich hocke bereits seit gestern Abend auf Feldwache als Wachthabender. Na, diese kalten Beine und dazu der Schnupfen. Trotzdem bin ich wohlauf und denke heimwärts. – Halt lieber Junge, du willst schon wieder klagen? Gibt’s nicht! Dienst wie üblich, sogar exerziert haben wir. Der reinste Hohn, drei Kilometer hinter der Front! Stroani liegt täglich unter „Strichfeuer“. Am 7. November beklagten wir zwei Tote, zwei Schwer- und einen Leichtverwundeten. – Ruhequartier! „Tanze, tanze, du armer Tor”.

    (Wird fortgesetzt)

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    Impressum:

    CHEFREFDAKTEUR (V.I.S.D.P.): PETER MUGAY; ( 0173 7089448 ); [email protected];

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