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1 C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C1 Sprache und ihre Teilsysteme Den Bauplan der menschlichen Sprache begreifen; linguistische Fachbegriffe zur Beschreibung von Sprache und der verschiedenen sprachlichen Ebenen kennen und richtig verwenden (bvc) Sprache ist ein komplexes System. Das weitgehend implizite sprachliche Wissen eines Menschen umfasst Kenntnisse auf verschiedenen sprachlichen Ebenen: Phonologie und Phonetik, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik und Graphematik. Die Unterscheidung dieser sprachlichen Ebenen, die Teilgebiete der Sprachwissenschaft darstellen, ermöglicht eine detaillierte Beschreibung der Form, Bedeutung und Verwendung von sprachlichen Einheiten, also z.B. von Lauten, Wörtern, Sätzen und Diskursen/Texten. Die einzelnen Teildisziplinen der Linguistik befassen sich mit folgenden Ebenen der Sprache: Die Phonologie und Phonetik (Lautlehre) beschäftigen sich mit der lautlichen Struktur der gesprochenen Sprache, d.h. mit Betonungsmustern und den Lauten und Lautfolgen in Silben und Wörtern sowie mit der Bildung und Wahrnehmung von Lauten. Die kleinste Einheit der gesprochenen Sprache mit bedeutungsunterscheidender Funktion ist das Phonem. So erhalten die Wörter von Minimalpaaren wie Maus Laus, an ab, laufen raufen oder Tür Tor durch Veränderung nur eines einzelnen Phonems eine unterschiedliche Bedeutung. Zur Verschriftung von Phonemen dient das Internationale Phonetische Alphabet (IPA, z.B. Käse in Lautschrift: [ˈkɛːzə]). Die Morphologie (Formenlehre) untersucht die Gestalt und Bildung von Wörtern aus einzelnen Wortbausteinen und deren Veränderung. Die kleinste bedeutungstragende Einheit in der Morphologie ist das Morphem. Es werden freie Morpheme (z.B. Bild, lauf, blau) und gebundene Morphemen (z.B. -keit, ver-, ent-) unterschieden. Wörter können mithilfe verschiedener Prozesse gebildet werden: Komposition (z.B. Schul-tasche), Derivation (z.B. Lern-er, lern-bar) und Konversion (z.B. essen das Essen). Wörter können durch drei Arten von Flexion (Konjugation z.B. gehen gehst; Deklination z.B. Buch Bücher oder Komparation z.B. schnell schneller) verändert werden. Die Syntax (Satzlehre) beschreibt die Regeln zur Bildung von Satzstrukturen, also die Anordnung von Wörtern und Wortgruppen als (erforderliche oder optionale) Bestandteile eines Satzes. Zentral für den Satzbau im Deutschen ist die sogenannte Satzklammer, die im topologischen Feldermodell die obligatorischen Verbpositionen im Haupt- und Nebensatz darstellt. Das Deutsche ist eine Verbzweitsprache (V2), d.h. das konjugierte (auch: ‚finite’) Verb befindet sich im Hauptsatz in der zweiten Position (z.B. Unser Lehrer gibt uns tolle Bücher). In einem mit einer Konjunktion eingeleiteten Nebensatz hingegen steht das Verb typischerweise in der finalen Position (z.B. Er sagt, dass er uns für die Hausaufgaben belohnt.). Die Semantik (Bedeutungslehre) befasst sich mit der Bedeutung von sprachlichen Zeichen und Zeichenfolgen (Morpheme, Wörter, Wortgruppen, Sätze und Diskurse/Texte). Zur Wortsemantik gehören neben der Bedeutung einzelner Wörter auch die Beziehungen zwischen Wortbedeutungen, z.B. die Homonymie, Synonymie, Antonymie, Ober- /Unterbegriffe, Wortfelder. Die Satzsemantik beschäftigt sich mit der Bedeutung von Sätzen, also z.B. mit Unterschieden zwischen Sätzen wie Tim hat nur eine Fünf im Zeugnisund Nur Tim hat eine Fünf im Zeugnis. Die Pragmatik (Lehre vom Sprachgebrauch) beschreibt die Regeln zur Verwendung und Interpretation sprachlicher Zeichen in konkreten Kommunikationssituationen. Die Interpretation und Verwendung von Sprache in Diskursen und Texten ist abhängig von der Situation (z.B. Ort, Zeit) und den beteiligten Kommunikationspartnern (z.B. gemeinsames

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C1 Sprache und ihre Teilsysteme Den Bauplan der menschlichen Sprache begreifen; linguistische Fachbegriffe zur Beschreibung von Sprache und der verschiedenen sprachlichen Ebenen kennen und richtig verwenden (bvc) Sprache ist ein komplexes System. Das weitgehend implizite sprachliche Wissen eines Menschen umfasst Kenntnisse auf verschiedenen sprachlichen Ebenen: Phonologie und Phonetik, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik und Graphematik. Die Unterscheidung dieser sprachlichen Ebenen, die Teilgebiete der Sprachwissenschaft darstellen, ermöglicht eine detaillierte Beschreibung der Form, Bedeutung und Verwendung von sprachlichen Einheiten, also z.B. von Lauten, Wörtern, Sätzen und Diskursen/Texten. Die einzelnen Teildisziplinen der Linguistik befassen sich mit folgenden Ebenen der Sprache: Die Phonologie und Phonetik (Lautlehre) beschäftigen sich mit der lautlichen Struktur der gesprochenen Sprache, d.h. mit Betonungsmustern und den Lauten und Lautfolgen in Silben und Wörtern sowie mit der Bildung und Wahrnehmung von Lauten. Die kleinste Einheit der gesprochenen Sprache mit bedeutungsunterscheidender Funktion ist das Phonem. So erhalten die Wörter von Minimalpaaren wie Maus – Laus, an – ab, laufen – raufen oder Tür – Tor durch Veränderung nur eines einzelnen Phonems eine unterschiedliche Bedeutung. Zur Verschriftung von Phonemen dient das Internationale Phonetische Alphabet (IPA, z.B. Käse in Lautschrift: [ˈkɛːzə]). Die Morphologie (Formenlehre) untersucht die Gestalt und Bildung von Wörtern aus einzelnen Wortbausteinen und deren Veränderung. Die kleinste bedeutungstragende Einheit in der Morphologie ist das Morphem. Es werden freie Morpheme (z.B. Bild, lauf, blau) und gebundene Morphemen (z.B. -keit, ver-, ent-) unterschieden. Wörter können mithilfe verschiedener Prozesse gebildet werden: Komposition (z.B. Schul-tasche), Derivation (z.B. Lern-er, lern-bar) und Konversion (z.B. essen das Essen). Wörter können durch drei Arten von Flexion (Konjugation z.B. gehen gehst; Deklination z.B. Buch Bücher oder Komparation z.B. schnell schneller) verändert werden. Die Syntax (Satzlehre) beschreibt die Regeln zur Bildung von Satzstrukturen, also die Anordnung von Wörtern und Wortgruppen als (erforderliche oder optionale) Bestandteile eines Satzes. Zentral für den Satzbau im Deutschen ist die sogenannte Satzklammer, die im topologischen Feldermodell die obligatorischen Verbpositionen im Haupt- und Nebensatz darstellt. Das Deutsche ist eine Verbzweitsprache (V2), d.h. das konjugierte (auch: ‚finite’) Verb befindet sich im Hauptsatz in der zweiten Position (z.B. Unser Lehrer gibt uns tolle Bücher). In einem mit einer Konjunktion eingeleiteten Nebensatz hingegen steht das Verb typischerweise in der finalen Position (z.B. Er sagt, dass er uns für die Hausaufgaben belohnt.). Die Semantik (Bedeutungslehre) befasst sich mit der Bedeutung von sprachlichen Zeichen und Zeichenfolgen (Morpheme, Wörter, Wortgruppen, Sätze und Diskurse/Texte). Zur Wortsemantik gehören neben der Bedeutung einzelner Wörter auch die Beziehungen zwischen Wortbedeutungen, z.B. die Homonymie, Synonymie, Antonymie, Ober-/Unterbegriffe, Wortfelder. Die Satzsemantik beschäftigt sich mit der Bedeutung von Sätzen, also z.B. mit Unterschieden zwischen Sätzen wie ‚Tim hat nur eine Fünf im Zeugnis’ und ‚Nur Tim hat eine Fünf im Zeugnis’. Die Pragmatik (Lehre vom Sprachgebrauch) beschreibt die Regeln zur Verwendung und Interpretation sprachlicher Zeichen in konkreten Kommunikationssituationen. Die Interpretation und Verwendung von Sprache in Diskursen und Texten ist abhängig von der Situation (z.B. Ort, Zeit) und den beteiligten Kommunikationspartnern (z.B. gemeinsames

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Vorwissen, Beziehung). Die Interpretation sprachlicher Einheiten in der Verwendung geht oft über die wörtliche Bedeutung hinaus und erschließt sich erst im Kontext, z.B. die Ironie in einem Satz wie ‚Das hast du ja ganz toll gemacht!’ Oder die übertragene Bedeutung von ‚Er haut sich aufs Ohr’. Die Graphematik (Lehre von der Schriftsprache, auch als Graphemik bezeichnet) beinhaltet die Regeln der Schriftsprache wie z.B. das Stammprinzip bei Maus – Mäuse (und nicht etwa Meuse). Die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit ist das Graphem. Ein Graphem kann aus einem, aber auch aus mehreren Buchstaben bestehen, wie z.B. im Deutschen das <sch>. Als Orthografie hingegen wird das normgerechte Schreiben (Rechtschreibung) bezeichnet. Die Zuordnung von sprachlichen Phänomenen zu den einzelnen Ebenen bzw. die Abgrenzungen zwischen diesen ist nicht immer eindeutig möglich. An der Schnittstelle zwischen Morphologie und Syntax ist z.B. die Subjekt-Verb-Kongruenz angesiedelt. Bei der Beschreibung sprachlicher Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern auf den verschiedenen Ebenen müssen zudem die Sprachproduktion und das Sprachverstehen (Rezeption) unterschieden werden. Rezeptive Fähigkeiten sind in der Regel umfangreicher als produktive Fähigkeiten. Im Bereich Wortschatz z.B. versteht ein Sprecher/ eine Sprecherin deutlich mehr Wörter als er bzw. sie aktiv verwendet. Mitunter verwendet ein Sprecher bzw. eine Sprecherin aber auch Wörter und sprachliche Strukturen, deren zielsprachliche Bedeutung ihm bzw. ihr (noch) nicht genau bekannt ist. Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Für den Unterricht mit Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache benötigt eine Lehrkraft fundiertes Wissen über die Besonderheiten der deutschen Sprache auf allen Ebenen. Die sprachlichen Ebenen sind relevant für die Sprachdiagnostik (detaillierte Beschreibung von Kompetenzen und Förderbereichen) und die Sprachförderung (Formulieren von Förderzielen). Mehr zum Thema Bußmann, H. (2008). Lexikon der Sprachwissenschaft. 4. aktualisierte Aufl., Stuttgart: Alfred Kröner Granzow-Emden. M. (2014). Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten. 2. überarb. Aufl.

Tübingen: Narr. Ossner, J., Zinsmeister, H. (Hrsg.) (2014). Sprachwissenschaft für das Lehramt. Paderborn: UTB

Ferdinand Schöningh Truckenbrodt, H. (2014). Das Deutsche. In Krifka et al. (Hrsg.), Das mehrsprachige Klassenzimmer.

Über die Muttersprachen unserer Schüler. Berlin, Heidelberg: Springer VS

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C2 Varietaten einer Sprache Bewusstsein schaffen für die individuell verschiedenen Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler; Sensibilisierung für die sprachlichen Anforderungen des Unterrichts und die Rolle der Lehrkraft als Sprachvorbild (bvc) Unabhängig von Kenntnissen in verschiedenen Sprachen (Erstsprache, Zweit- und Fremdsprachen) verfügen Sprecher auch innerhalb ihrer Muttersprache neben der Standardvarietät über weitere sprachliche Varietäten, die sich in der Aussprache, im Wortschatz und auch in der Grammatik unterscheiden können. Das Repertoire an sprachlichen Stilen und Ressourcen innerhalb einer Sprachgemeinschaft wird vielfach auch als ‚innere Mehrsprachigkeit’ beschrieben. Unter dieser Perspektive kann jeder Mensch als mehrsprachig bezeichnet werden. Als Varietäten werden von der Standard- bzw. Hochsprache abweichende Ausprägungen einer Sprache bezeichnet, die sich nach geografischen, sozialen, situativen oder historischen Merkmalen unterscheiden lassen. Dialekte (in Deutschland z.B. Schwäbisch oder Hessisch) und regional geprägte Umgangssprachen werden in bestimmten Regionen gesprochen. Soziolekte bzw. soziale Varietäten werden von verschiedenen sozialen Gruppen gesprochen, z.B. das sogenannte Kiezdeutsch (vgl. Wiese 2012) als eine Jugendsprache. Auch in Abhängigkeit von einer Kommunikationssituation bzw. einem/r Gesprächspartner/-in können verschiedene Sprech- und Schreibweisen gewählt werden. Während z.B. im Gespräch mit Freunden und Familienmitgliedern vor allem Alltagssprache verwendet wird, wird gegenüber Vorgesetzten oder in einem Geschäftsbrief in der Regel eine formellere, hochsprachliche Ausdrucksweise gewählt. In beruflichen und schulischen Kontexten spielen zudem die sogenannte Bildungssprache und verschiedene Fachsprachen eine wichtige Rolle. Bildungssprache wird in Abgrenzung zur Alltagssprache als eine konzeptionell schriftliche Variante des Deutschen (vgl. die Unterscheidung von medialer und konzeptioneller Mündlichkeit & Schriftlichkeit nach Koch/Oesterreicher 1994) oder auch als akademische Sprache bezeichnet. Eine Fachsprache eines schulischen Unterrichtsfachs, wie z.B. Mathematik, einer Berufsgruppe, wie z.B. der medizinischen Berufe, oder einer wissenschaftlichen Disziplin, wie z.B. der Rechtswissenschaft, ist vor allem durch spezifisches Fachvokabular sowie fachtypische Formulierungen und Textsorten gekennzeichnet.

Varietäten der

deutschen Sprache

Soziolekte

Fachsprachen

Bildungs-sprache/

akademische Sprache

Umgangs-/ Alltagssprache

Dialekte

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Jeder Sprecher und jede Sprecherin einer Sprache verfügt folglich abhängig von seinen/ ihren Erfahrungen und seiner/ihrer Lebenswelt über ein individuelles Sprachwissen und vielseitige sprachliche Ressourcen, die in Abhängigkeit von Gesprächsthemen, Gesprächspartnern/-innen, Kommunikationsorten oder -situationen aktiviert werden können. Der Wechsel zwischen verschiedenen Varietäten (auch als Wechsel des Registers bezeichnet) wird von dem Sprecher bzw. der Sprecherin manchmal bewusst vorgenommen (z.B. für einen Aufsatz oder einen Vortrag), findet aber oft auch intuitiv statt (z.B. fließender Wechsel zwischen Alltags- und Fachsprache im Unterricht, wenn von organisatorischen zu inhaltlichen Themen gewechselt wird). Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung:

Bei der Unterrichtsplanung muss von unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden. Die sprachlichen Anforderungen des Unterrichts und des Fachs müssen im Hinblick auf die Lerngruppe reflektiert werden. Die Sprache der Lehrkraft im Unterricht (Unterrichtssprache) sollte an den alltagssprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler anknüpfen und sie zur Bildungssprache bzw. akademischen Sprache und zur Fachsprache hinführen, um die Schülerinnen und Schüler in ihrer sprachlichen Entwicklung gezielt zu unterstützen. Mehr zum Thema Feilke, H. (2012). Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. Praxis Deutsch, 233,

4-13. Göttert, K. (2012). Alles außer Hochdeutsch. Ein Streifzug durch unsere Dialekte. Berlin: Ullstein. Gogolin, I., Lange, I. (2011). Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In S. Fürstenau, M.

Gomolla (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 107-127.

Wiese, H. (2012). Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C.H.Beck

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C2 Varietaten einer Sprache Bewusstsein schaffen für die individuell verschiedenen Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler; Sensibilisierung für die sprachlichen Anforderungen des Unterrichts und die Rolle der Lehrkraft als Sprachvorbild

(bvc) Aufgaben: 1) Lesen Sie das folgende Beispiel (1) des Frankfurter Dialektsprechers laut. Welche

Abweichungen von der Standardsprache fallen Ihnen im Bereich der Aussprache auf?

Beispiel 1: Ein Frankfurter Dialektsprecher auf einer Bürgerversammlung in Frankfurt-Bornheim: „Un wenn Sie dorsch Bo[r]nhaim mal gehen, abends um fünf, sechs, wenn Se mal ne ruische Minude haben, werrn Sie sehn, dass hier das Nödigsde ist, Pa[r]ckraum zu schaffen. Und Sie werden sehn, dass das besser ist wie jede Blanung … denn das Audo is immer noch das liebste Kind der Bevölkerung. Das wars, was isch zu sagen habe.“

Quelle: Göttert, K.-H. (2012). Alles außer Hochdeutsch. Ein Streifzug durch unsere Dialekte.

Berlin: Ullstein

2) Betrachten Sie die Karte mit den regionalen Unterschieden im Wortschatz am Beispiel

der Bezeichnung für ‚Brötchen’ (Beispiel 2). Welche anderen Begriffe kennen Sie, die regional unterschiedlich sind? Überlegen Sie, welche Bedeutung diese Unterschiede im Wortschatz der Schülerinnen und Schüler für Ihren Unterricht und Unterrichtsmaterialien wie z.B. Schulbücher haben.

Beispiel 2: Regionale Unterschiede in den Bezeichnungen für Brötchen:

Quelle: König, W. (1998). dtv-Atlas Deutsche Sprache. München: Deutscher Taschenbuch

Verlag, 239

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3) Lesen Sie den folgenden Dialog zwischen Jugendlichen (Beispiel 3). Welche sprachlichen Merkmale sind typisch für das ‚Kiezdeutsch’, das diese Mädchen sprechen? Ordnen Sie die gefundenen Merkmale in einer Tabelle (siehe unten) den verschiedenen sprachlichen Ebenen (Aussprache, Grammatik, Wortschatz) zu. Überlegen Sie gemeinsam mögliche Gründe, warum die Jugendlichen in dieser Situation diese Varietät des Deutschen sprechen.

Beispiel 3: Kiezdeutsch als Jugendsprache Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen fünf jugendlichen Mädchen, die in einem Proberaum in Berlin-Kreuzberg zusammen Tanzschritte einüben

Quelle: Wiese, H. (2012). Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C.H.Beck, 11f.

Tabelle: Merkmale des Soziolekts ‚Kiezdeutsch’

Besonderheiten in der Aussprache

Besonderheiten in der Grammatik (Syntax und Morphologie)

Besonderheiten im Wortschatz

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C3 Heterogene Sprachbiografien und Spracherwerbstypen Heterogenität der Erwerbsbedingungen der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache kennen; Spracherwerbstypen systematisch unterscheiden können und deren Bedeutung für Sprachdiagnostik und -förderung kennen (bvc) Mehrsprachige Schülerinnen und Schüler sind keine homogene Gruppe, denn es gibt viele verschiedene Bedingungen, unter denen ein Kind mehrsprachig, d.h. mit zwei oder auch mehr Sprachen, aufwachsen kann. Ob ein Schüler oder eine Schülerin z.B. als Kind zugewanderter Eltern in Deutschland geboren ist und schon früh eine Kita besucht hat oder ob es erst im Schulalter gemeinsam mit den Eltern zugewandert ist, hat Einfluss auf die Entwicklung und den Stand seiner Sprachkompetenzen in der Erst- und Zweitsprache im Schulalter. Die sprachlichen Fähigkeiten in der Erst- und Zweitsprache unterscheiden sich auch in Abhängigkeit von dem Umfang und der Qualität des Sprachangebots, das dem Kind in der jeweiligen Sprache zur Verfügung steht. Mehrsprachige Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich also in ihren individuellen Erwerbsbiografien und darin, ab welchem Alter und wie lange sie bereits das Deutsche erwerben. Diese Unterschiede in der individuellen Erwerbsgelegenheit spiegeln sich naturgemäß im Umfang ihrer Sprachkompetenzen wider. In der Spracherwerbsforschung werden Spracherwerbstypen systematisch unterschieden. Kinder und Jugendliche in Deutschland können die deutsche Sprache erwerben als ...

Muttersprache bzw. Erstsprache (DaM/Deutsch als Muttersprache) von Geburt an (Erstspracherwerb)

eine von zwei Erstsprachen von Geburt an bzw. beginnend im Alter von weniger als 24 Monaten, wenn z.B. Vater und Mutter oder andere Bezugspersonen unterschiedliche Sprachen mit dem Kind sprechen (doppelter/ simultaner Erstspracherwerb)

Zweitsprache (DaZ/Deutsch als Zweitsprache) zeitlich versetzt zum Erstspracherwerb, beginnend nach dem 24. Lebensmonat oder später (Zweitspracherwerb) - früher kindlicher Zweitspracherwerb, beginnend im Alter von 2 bis 4 Jahren - kindlicher Zweitspracherwerb, beginnend im Alter von 4 bis ca. 6 Jahren - später kindlicher Zweitspracherwerb, beginnend ab einem Alter von ca. 6 Jahren bis

zur Pubertät - jugendlicher/erwachsener Zweitspracherwerb, beginnend nach Einsetzen der Pubertät

Der Erst- und Zweitspracherwerb bis zum Schulalter ist ein ungesteuerter, d.h. nicht durch Unterricht angeleiteter Erwerb der Umgebungssprache(n). Ab dem Schuleintritt wird der ungesteuerte Erwerb der Sprache aus der Umgebung durch gesteuerte Lernprozesse im Unterricht ergänzt. Als Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird der Erwerb des Deutschen in einem Land mit nichtdeutscher Umgebungssprache, z.B. im Rahmen des Unterrichts an einem Goethe-Institut im Ausland, bezeichnet. In diesem Fall liegt ein gesteuerter Spracherwerb vor. Warum ist die Unterscheidung dieser Erwerbstypen wichtig? Ein zentrales Ergebnis der Spracherwerbsforschung ist, dass sowohl das Alter bei Erwerbsbeginn als auch die Dauer des Sprachkontakts (gemessen in sog. ‚Kontaktmonaten’ bzw. ‚-jahren’) einen Einfluss auf den Verlauf und den Erfolg des Zweitspracherwerbs haben. Kinder, die mit dem DaZ-Erwerb im Alter zwischen zwei und vier Jahren – also typischerweise mit Eintritt in die Kita – beginnen, durchlaufen die gleichen Meilensteine des Syntaxerwerbs wie einsprachig deutsche Kinder. Dies kann hingegen von Kindern, die ab dem Alter von sechs Jahren – also im Schulalter – mit dem Deutscherwerb beginnen, nicht mehr in gleicher Weise erwartet werden. Es wird davon ausgegangen, dass bei späterem Erwerbsbeginn die angeborenen Spracherwerbsmechanismen nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen.

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Beginnt z.B. ein Kind im Alter von 3;6 Jahren1 in der Kita mit dem Deutscherwerb und hat dann mit 4;6 Jahren 12 Monate Kontakt zum Deutschen, kann sein Sprachstand nicht mit dem eines Kindes im Alter von 6;6 Jahren und zwei Kontaktmonaten verglichen werden. Wird bei der Beurteilung der sprachlichen Fähigkeiten von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache nicht berücksichtigt, seit wann und unter welchen Bedingungen sie die deutsche Sprache erwerben, können Fehleinschätzungen die Folge sein, d.h. den Kindern könnte z.B. eine Sprachentwicklungsstörung oder Beeinträchtigungen beim Lernen unterstellt werden, obwohl sie aufgrund ihrer Erwerbsbiografie lediglich einer intensiven Sprachförderung bedürfen. Um den Spracherwerbstyp bestimmen und die sprachlichen Fähigkeiten vor dem Hintergrund der jeweiligen Erwerbsbiografie beurteilen zu können, sollten deshalb bei mehrsprachigen Kindern mindestens die folgenden sprachbiografischen Angaben erfragt werden:

Alter bei Beginn des systematischen, d.h. regelmäßigen Kontakts mit der Umgebungssprache Deutsch

Dauer des Kontakts zum Deutschen (Monate seit Beginn des regelmäßigen Deutschkontakts)

Umfang und Qualität des sprachlichen Inputs (abhängig z.B. von der Regelmäßigkeit des Kitabesuchs und Besuchsdauer pro Tag, Kontaktpersonen mit Deutsch als Muttersprache in und außerhalb von Kita und Schule ...)

Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Sprachliche Kompetenzen mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler sollten nicht an denen muttersprachlicher Lernerinnen und Lerner gemessen werden, da dies zu einer Defizitperspektive führt. Für die Sprachdiagnostik sollten Verfahren verwendet werden, die die heterogenen Spracherwerbszenarien mehrsprachiger Kinder angemessen berücksichtigen. Die Kontaktdauer und das Alter bei Erwerbsbeginn müssen mit den Verfahren systematisch erfasst und bei der Auswertung anhand separater Normen berücksichtigt werden. Eine gezielte Sprachförderung sollte an dem so ermittelten Sprachstand ansetzen und sich an den bekannten Meilensteinen des Spracherwerbs orientieren.

Mehr zum Thema Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. 2. Aufl.,

Tübingen: Francke. Tracy, R. (2014). Erstspracherwerb. In J. Ossner & H. Zinsmeister (Hrsg.), Sprachwissenschaft für

das Lehramt. Paderborn: UTB Ferdinand Schöningh, 51-86. Schulz, P. & Grimm, A. (2012). Erst- und Zweitspracherwerb. In H. Drügh, S. Komfort-Hein, A. Krass,

C. Meier, G. Rohkowski, R. Seidel & H. Weiß (Hrsg.), Einführung in die Germanistik. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 155-172.

Schulz, P.; Kersten, A. & Kleissendorf, B. (2009). Zwischen Spracherwerbsforschung und Bildungspolitik: Sprachdiagnostik in der frühen Kindheit. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 29 (2), 122-140.

1 In der Spracherwerbsforschung wird das Alter üblicherweise so angegeben: 3;6 J. = 3 Jahre und 6 Monate

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C3 Heterogene Sprachbiografien und Spracherwerbstypen Heterogenität der Erwerbsbedingungen der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache kennen; Spracherwerbstypen systematisch unterscheiden können und deren Bedeutung für Sprachdiagnostik und -förderung kennen (bvc) Aufgaben: 1.) Lesen Sie die untenstehenden Sprachbiografien a. bis e. von verschiedenen Schülerinnen und Schülern. Welchen Spracherwerbstypen lassen sie sich zuordnen? 2.) Ein Schüler produziert in der ersten Klasse einfache Hauptsätze wie (i) ‚Ich spiel auch mit de Freund’, (ii) ‚Luca wohnt bei mein Haus’ und (iii) ‚Wo is meine Stift?’ Nebensätze produziert der Junge noch nicht. Welche Informationen über die Sprachbiografie des Kindes erfragen Sie, um vor diesem Hintergrund seine sprachlichen Fähigkeiten zutreffend einschätzen zu können? 3.) Wie werden Informationen über die Sprachbiografien der Schülerinnen und Schüler in der Schule erfasst und dokumentiert? Tauschen Sie sich darüber aus. Fünf Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Biografien:

a. Ioannis (7 Jahre) ist in Deutschland geboren. Seine Eltern kommen aus Griechenland und sprechen mit ihm nur Griechisch. Als Ioannis mit 3 Jahren in die Kita kam, hat er begonnen Deutsch zu lernen. Samstags hat er zusammen mit anderen Kindern Griechischunterricht. Er besucht nun die erste Klasse einer hessischen Grundschule und freut sich darauf, endlich auch Deutsch schreiben und lesen zu lernen.

b. Julija (8 Jahre) besucht die 3. Klasse. Sie ist zuhause mit zwei Sprachen

aufgewachsen. Die Mutter, die aus Serbien stammt, spricht mit ihr von Geburt an immer Serbisch. Mit dem Vater dagegen, der in Deutschland geboren ist, spricht sie immer Deutsch. In den Ferien fährt die Familie regelmäßig nach Serbien. Julija ist stolz, dass sie beide Sprachen gut spricht.

c. Tarik (15 Jahre) stammt aus Syrien. Er ist mit seinen Eltern vor 2 Jahren nach

Deutschland gekommen. Nachdem er ein Jahr eine Intensivklasse besucht hat, konnte er vor kurzem in die 8. Klasse einer hessischen Gesamtschule wechseln. Er ist zufrieden, dass er dort nun bleiben kann. Der zusätzliche DaZ-Förderunterricht hilft ihm, mit dem Deutscherwerb schnell voranzukommen

d. Janeta (9 Jahre) ist mit ihren Eltern von Rumänien nach Deutschland gezogen, als

sie 5 Jahre alt war. Sie hat seit ihrer Ankunft in Deutschland ganztags einen Kindergarten besucht und zusätzlich an einem hessischen Vorlaufkurs teilgenommen. So hat sie schnell Fortschritte im Deutschen gemacht. Nun besucht sie die 3. Klasse und kann dem Unterricht gut folgen.

e. Louise (13 Jahre) ist neu in der 7. Klasse eines Gymnasiums. Sie ist vor wenigen Wochen mit ihren Eltern von Frankreich nach Deutschland gezogen, weil ihr Vater hier eine neue Stelle angetreten hat. Louise hatte in Frankreich bereits drei Jahre Deutschunterricht in der Schule. Deshalb findet sie in der neuen Klasse schnell Anschluss.

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C4 Erstspracherwerb – Grammatik Die Satzklammer als zentrales Merkmal der deutschen Satzstruktur und Meilensteine des Grammatikerwerbs einsprachiger Kinder kennen; regelgeleitete und nicht regelgeleitete Erwerbsbereiche unterscheiden (bvc) Obwohl Sprache ein komplexes System ist, erwerben Kinder dennoch ohne sichtliche Mühe die Sprache ihrer Eltern. Der Spracherwerb ist robust und verläuft unter normalen Bedingungen erfolgreich. Kinder werden durch angeborene, dem Menschen eigene Sprachlernfähigkeiten in ihrem Spracherwerb unterstützt. Sie leiten mithilfe dieser Voraussetzungen zügig die Regeln und Besonderheiten ihrer Mutter- bzw. Erstsprache aus dem Sprachangebot ihrer Umgebung ab. Ergebnisse der Spracherwerbsforschung zeigen, dass Kinder implizites Wissen über Sprache systematisch erwerben und dabei weitgehend unabhängig von äußeren Rahmenbedingungen (z.B. Erziehungspraktiken, soziale Herkunft) vergleichbare Entwicklungsschritte durchlaufen. Besonders gut untersucht ist der Erwerb der Grammatik, vor allem der Morphologie und Syntax, bei Kindern mit Deutsch als Erstsprache. Die Kernbereiche der Grammatik werden weitgehend regelgeleitet erworben; die Regeln für den Bau von Wörtern und Sätzen werden vom Lernenden eigenständig aus dem Sprachangebot der Umgebung abgeleitet. Ein zentrales Merkmal der deutschen Syntax ist die sogenannte Satzklammer. Dadurch unterscheidet sich der Satzbau im Deutschen von den meisten anderen Sprachen. Die Satzklammer beschreibt die Positionen für finite (d.h. konjugierte) und nicht finite Verben in Haupt- und Nebensätzen und lässt sich in einem topologischen Feldermodell (s. folgende Tabelle) abbilden.

Vorfeld Linke Satzklammer im Hauptsatz: finites Verb, im Nebensatz: Konjunktionen o. Relativpronomen

Mittelfeld rechte Satzklammer im Hauptsatz: nicht-finite Verben und Verbpartikeln im Nebensatz: finites Verb

Nachfeld

Der kleine Luca kauft mit seiner Mutter ein.

Heute will Tarek seinen Freund Joshua besuchen.

Wo ist mein Auto?

Marta hat Mischa ein Buch geschenkt, das ihr sehr gefallen hat.

... weil er gestern Geburtstag hatte.

Wie einsprachig deutsche Kinder die Satzstruktur erwerben und in welchem Alter sie dies tun, ist durch die Spracherwerbsforschung gut untersucht. Etwa im Alter zwischen 18 bis 48 Monaten durchlaufen sie die in der folgenden Tabelle dargestellten Meilensteine (vgl. Tracy 2008): Meilensteine Beispiel I ab ca. 12 Monaten (1;0 J.)

Einwortäußerungen

Ball, weg, laufen, da

II ab 18 bis 24 Monaten (1;6-2;0 J.)

Mehrwortäußerungen mit nicht finiten Verben oder Verbpartikeln am Ende

Tür auf, Auto fahren, Mama auch Tür zumachen,

III ab 24 bis 30 Monaten (2;0-2;6 J.)

Hauptsätze mit finitem Verb in der linken Satzklammer Papa holt Luca ab. Heute kommt Oma. Wo ist der Ball?

IV ab 30 bis 36 Monaten (2;6-3;0 J.)

Nebensätze mit einleitender Konjunktion und finitem Verb in der rechten Satzklammer

..., dass ich Hunger hab.

..., wenn ich groß bin.

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Mit der Produktion von Zweiwortäußerungen, die ein Verb oder eine Verbpartikel enthalten, (Meilenstein II) steigen Kinder in den Erwerb der Satzstrukturen ein. Die Kinder bauen die Satzstruktur im Weiteren sukzessive von rechts nach links auf. Mit Erreichen des Meilensteins III erwerben Kinder auch die Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK), also die formale Übereinstimmung von Subjekt und Verb in Bezug auf Person und Numerus. Kann ein Kind außer Hauptsätzen auch Nebensätze mit dem finiten Verb in der rechten Satzklammer produzieren, hat es den Meilenstein IV erreicht und somit die Grundzüge der deutschen Satzstruktur erworben. Mit dem Erwerb der Satzstruktur eignen sich die Kinder in der Regel auch die zentralen Wortklassen und erste Kasusmarkierungen (zuerst Nominativ, dann Akkusativ, später Dativ) an. Natürlich sind die Sätze von 4-Jährigen noch nicht immer ganz zielsprachlich. Es kommt zum Beispiel mitunter noch zu Auslassungen. Gerade bei von der Regel abweichenden Formen und komplexen Phänomenen kann es im Verlauf des Erwerbsprozesses vorübergehend auch zu Übergeneralisierungen kommen (z.B. bei unregelmäßigen Verben: gegeht statt gegangen, bei der Pluralbildung: Apfeln statt Äpfel). In der weiteren Entwicklung geht es vor allem darum, die ‚Feinheiten’ der Sprache, also z.B. die Präpositionen mit dem zugehörigen Kasus und die Konjunktionen, weiter auszudifferenzieren und die Bildung komplexer Satzstrukturen sowie Satzverknüpfungen zu erwerben. Auch für das Verstehen grammatischer Strukturen konnte die Forschung in einzelnen Bereichen Erwerbsmuster nachweisen. Insbesondere das Verstehen von Fragesätzen wurde gut untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass Kinder schon früh sogenannte Ja-/Nein- bzw. Entscheidungsfragen und erst später W-Fragen verstehen. Das Verstehen von W-Fragen wird in der Reihenfolge Subjektfragen (Wer hat den Ball weggenommen?), Objektfragen (Wen hast du gerufen? Wem hast du den Ball gegeben?) und Adjunktfragen (Womit hast du das Bild gemalt?) erworben. Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Die Spracherwerbsforschung hat für einzelne Erwerbsbereiche übergreifende Entwicklungsmuster nachweisen können, die von allen Kindern in ähnlicher Weise durchlaufen werden. Diese Meilensteine bilden den Entwicklungsverlauf ab. Sie können für die Beurteilung des kindlichen Sprachstandes genutzt werden und bieten dadurch Orientierung bei der Bestimmung von Förderzielen. Das Wissen über den Erstspracherwerb dient als Basis für einen Vergleich mit dem Zweitspracherwerb. Mehr zum Thema Müller, A., Schulz, P., Grimm, A. & Tracy, R. (in Druck) Spracherwerb. In C. Titz, S. Geyer, A.

Ropeter, H. Wagner, S. Weber & M. Hasselhorn (Hrsg.), Entwicklung von Konzepten zur Sprach- und Schriftsprachförderung. BiSS-Basics Band I. Stuttgart: Kohlhammer.

Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. 2. Aufl. Tübingen: Francke.

Tracy, R. (2014). Erstspracherwerb. In Ossner, J., Zinsmeister, H. (Hrsg.), Sprachwissenschaft für das Lehramt. Paderborn: UTB Ferdinand Schöningh, 51-86

Schulz, P. & Grimm, A. (2012). Erst- und Zweitspracherwerb. In H. Drügh, S. Komfort-Hein, A. Krass, C. Meier, G. Rohowski, R. Seidel & H. Weiss (Hrsg.), Einführung in die Germanistik. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 155-172.

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C4 Erstspracherwerb – Grammatik Die Satzklammer als zentrales Merkmal der deutschen Satzstruktur und Meilensteine des Grammatikerwerbs einsprachiger Kinder kennen; regelgeleitete und nicht regelgeleitete Erwerbsbereiche unterscheiden

(bvc) Aufgaben: Ordnen Sie die folgenden Sätze in das topologische Feldermodell ein: a. Mascha will ihre Freundin Elina besuchen. b. Gestern wurde im Fernsehen ein Film über Pinguine gezeigt, der sehr interessant war. c. Mit seinem neuen Fahrrad ist Aram bis zum See gefahren. d. Wann bringst du mir endlich mein Buch zurück? e. Könntest du mir bitte ein Glas Wasser bringen? f. …, dass er mich heute Abend abholen will. g. …, weil sie seiner Meinung war.

Vorfeld Linke Satzklammer

Mittelfeld rechte Satzklammer

Nachfeld

Der Erwerb der deutschen Satzstruktur (Satzklammer und Subjekt-Verb-Kongruenz) lässt sich in Meilensteinen beschreiben. Ordnen Sie die folgenden kindlichen Äußerungen einem der Meilensteine (I bis IV) zu und begründen Sie die Zuordnung. 1) Wo ist der Eimer? 2) Tommi auch Oma fahren 3) Wenn Maja essen will, ... 4) Das ist meine Schaufel. 5) Banane 6) Morgen will ich nicht zum Kindergarten. 7) Jannik trinken 8) ..., weil ich ganz müde bin.

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C5 Erwerb des Deutschen als Zweitsprache – Grammatik Meilensteine und Herausforderungen des Grammatikerwerbs von Kindern mit Deutsch als früher und später kindlicher Zweitsprache kennen; die Bedeutung für Sprachdiagnostik und Sprachförderung ableiten (bvc) Kinder erwerben ihre Muttersprache mithilfe angeborener Spracherwerbsmechanismen und des sprachlichen Inputs aus der Umgebung. Das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren ermöglicht es, dass der Erstspracherwerb in der Regel mühelos und erfolgreich verläuft. Auch der gleichzeitige Erwerb zweier Sprachen von Geburt an (doppelter Erstspracherwerb) profitiert von diesen optimalen Bedingungen des frühen Spracherwerbs: Beide Sprachen entwickeln sich – ein ausreichendes sprachliches Angebot aus der Umgebung vorausgesetzt – so rasch und vollständig wie bei einsprachigen Lernerinnen und Lernern. Kinder, die Deutsch als Zweitsprache (DaZ) zeitlich versetzt zur Erstsprache erwerben, haben dafür – abhängig vom Alter bei Erwerbsbeginn – nicht die gleichen optimalen Voraussetzungen wie Erstsprachlerner, da die angeborenen Spracherwerbsmechanismen nicht zeitlich unbegrenzt zur Verfügung stehen. Ein Erwerbsbeginn im Kitaalter, also etwa mit 2 bis 4 oder maximal 6 Jahren, hat sich als noch sehr günstig erwiesen. Generell lässt sich aus der bisherigen Forschung zum Zweitspracherwerb die Regel ‚Je früher, desto besser’ ableiten. Es gibt Anhaltspunkte für sogenannte Zeitfenster der Entwicklung, die für die verschiedenen Erwerbsbereiche bzw. sprachlichen Ebenen unterschiedlich sind: Die Grammatikregeln einer Zweitsprache werden von jungen Zweitsprachlernerinnen und -lernern noch mühelos erworben, während sie für später beginnende Lernende, also Schulkinder, Jugendliche und vor allem Erwachsene eine zunehmende Herausforderung darstellen. Insbesondere der Erwerb der Verbstellungsregeln und der Subjekt-Verb-Kongruenz bereitet späten Lernern und Lernerinnen des Deutschen häufig sichtlich Mühe. Äußerungen wie ‚Ich habe gesehen große Frau’ oder ‚Wenn mein Kind kommen nach Hause’ sind für den (vor allem ungesteuerten) Zweitspracherwerb Erwachsener typisch. Für den Erwerb des Wortschatzes gibt es hingegen keine zeitlichen Beschränkungen; er kann ein Leben lang erweitert werden. Der Zweitspracherwerb Erwachsener wird seit den 70er Jahren erforscht. Die noch deutlich jüngere Forschungsrichtung zum kindlichen Zweitspracherwerb hat sich bislang vor allem mit dem Erwerb der Grammatik und hier insbesondere mit dem Erwerb der Satzstruktur (Satzklammer und Subjekt-Verb-Kongruenz) beschäftigt. Im Mittelpunkt bisheriger Studien stehen die produktiven Kompetenzen früher Zweitsprachlernerinnen und -lerner, also vor allem jener Kinder, die im Alter von 2;02 bis 4;0 Jahren – z.B. mit Eintritt in eine Kindertagesstätte – erstmals systematisch mit dem Deutschen in Kontakt kamen. Von Kindern dieses Erwerbstyps wissen wir, dass sie die deutsche Grammatik nach den gleichen Meilensteinen erwerben wie einsprachig deutsche Kinder, nur eben später. Nach nur etwa eineinhalb Jahren Kontaktdauer zum Deutschen haben die meisten die Struktur von Haupt- und Nebensätzen und die Subjekt-Verb-Kongruenz erworben. Es kann folglich angenommen werden, dass sie in diesem Alter noch auf angeborene Erwerbsmechanismen zurückgreifen können.

2 In der Spracherwerbsforschung wird das Alter üblicherweise so angegeben: 2;6 J. = 2 Jahre und 6 Monate

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Tabelle: Die Meilensteine des Erwerbs der Satzstruktur: Kinder mit Deutsch als Erstsprache und Deutsch als früher Zweitsprache im Vergleich (vgl. Tracy 2008)

Meilensteine Deutsch als Muttersprache/

Erstsprache Deutsch als frühe Zweitsprache (Erwerbsbeginn mit 2;0 bis 4;0 J.)

Meilenstein I

Einwortäußerungen

ab ca 12 Monaten (1;0 Jahre)

Ball, weg, laufen, da

Meilenstein II

Nicht-finites Verb oder Verbpartikeln in rechter Satzklammer

ab 18 bis 24 Monaten (1;6-2;0 J.) Tür auf, Auto fahren, Mama auch Tür zumachen

ab 3 Kontaktmonaten (2;3-4;3 J.) da Wasser holen

Meilenstein III

Hauptsätze; finites Verb in linker Satzklammer

ab 24 bis 30 Monaten (2;0-2;6 J.) Papa holt Luca ab. Heute kommt Oma. Wo ist der Ball?

ab 6 Kontaktmonaten (2;6-4;6 J.) Jetzt ess ich noch ein Banane.

Meilenstein IV

Nebensätze; finites Verb in rechter Satzklammer

ab 30 bis 36 Monaten (2;6-3;0 J.) ..., wenn ich groß bin ..., dass ich Hunger hab

ab 15 Kontaktmonate (3;3-5;3 J.) ..., wenn du mein Freund bist.

Schon für Kinder, die etwa mit 5 Jahren oder noch später erstmals systematischen Kontakt zum Deutschen haben, kann diese Progression im Syntaxerwerb so nicht mehr angenommen werden. Einige wenige Einzelfallstudien geben bisher Einblick, wie Grundschulkinder und vor allem Jugendliche, die als Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger in das Schulsystem eingegliedert werden, die Zweitsprache Deutsch erwerben. Die Studien zeigen, dass diese Lernenden nicht mehr die gleichen Erwerbsmuster zeigen bzw. gleiche Meilensteine durchlaufen; auch ist häufiger ein Einfluss der Erstsprache bemerkbar. Demzufolge sind sie besonders auf eine systematische Unterstützung ihres Lernprozesses angewiesen. Weitere Forschung zur Untersuchung dieses Erwerbstyps ist angesichts der zunehmenden Zahl von späten DaZ-Lernern und -Lernerinnen dringend notwendig. Alle Zweitsprachlerner stehen zudem, abgesehen von dem Erwerb der Satzstrukturen und der Verbflexion, vor weiteren Herausforderungen auf dem Weg zu einer zielsprachlichen Grammatik; sowohl regelgeleitete Bereiche wie der Kasus als auch weniger bzw. nicht regelgeleitete Bereiche wie das Genus, der Plural oder die unregelmäßigen Verben erfordern Zeit und ein reichhaltiges Sprachangebot. Weitere Erwerbsaufgaben betreffen das zielsprachliche Verstehen von Sätzen, z.B. von W-Fragen, Passivstrukturen und komplexen Sätzen. Angesichts der Vielschichtigkeit der zu erwerbenden Regeln und Strukturen benötigen alle Zweitsprachlerner hierfür viel Zeit und ein vielfältiges, hochwertiges Sprachangebot. Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Kinder mit Deutsch als Zweitsprache benötigen für den Erwerb der Grammatik möglichst frühzeitig ein umfangreiches und hochwertiges Sprachangebot. Das Alter bei Erwerbsbeginn und die Kontaktmonate sind relevant für die adäquate Beurteilung sprachlicher Kompetenzen in der Sprachdiagnostik. Die syntaktischen Meilensteine dienen als Ausgangsbasis für eine adaptive Sprachförderung.

Mehr zum Thema Haberzettl, S. (2006). Verbstellung in der Zweitsprache Deutsch. Forum Logopädie 6/2006, S. 6-11. Schulz, P. & Grimm, A. (2012). Erst- und Zweitspracherwerb. In Drügh, H., Komfort-Hein, S., Krass,

A., Meier, C., Rohowski, G., Seidel, R. & Weiß, H. (Hrsg.), Einführung in die Germanistik. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 155-172.

Schulz, P., Grimm, A., Schwarze, R. & Wojtecka, M (2017). Spracherwerb bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache: Chancen und Herausforderungen. In U. Hartmann, M. Hasselhorn & A. Gold (Hrsg.), Entwicklungsverläufe verstehen – Kinder mit Bildungsrisiken wirksam fördern. Forschungsergebnisse des Frankfurter IDeA-Zentrums. Stuttgart: Kohlhammer, 190-206.

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Thoma, D. & Tracy, (2006). Deutsch als frühe Zweitsprache: zweite Erstsprache? In B. Ahrenholz (Hrsg.), Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg: Fillibach, 58-79.

Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. 2. Aufl., Tübingen: Francke.

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C5 Erwerb des Deutschen als zweite Sprache – Grammatik Meilensteine und Herausforderungen des Grammatikerwerbs von Kindern mit Deutsch als früher und später kindlicher Zweitsprache kennen; die Bedeutung für Sprachdiagnostik und Sprachförderung ableiten (bvc) Aufgaben: 1. Lesen Sie die folgenden Äußerungen des Mädchens Perihan (3;5 Jahre, Erstsprache Persisch), das Deutsch als frühe Zweitsprache in der Kita erwirbt. Seine Äußerungen wurden zu zwei verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen. Zum ersten Aufnahmezeitpunkt (T1) hat Perihan ca. 3 Monate Kontakt zum Deutschen. Die zweite Aufnahme (T2) fand etwa 4 Monate später statt. (Tracy 2008, 145) Ordnen Sie die Äußerungen Perihans mithilfe des Meilensteinmodells den beiden Erhebungszeitpunkten T1 und T2 zu. Begründen Sie Ihre Entscheidung.

- dann hat er geweint

- hier

- er hat wuf wuf gemacht

- guckmal

- Hände waschen

- Kind mags zu Mama schlafen

- so machen

- der papa hat auch geschlaft

- warte

- da ist das Hund mit Katze (Quelle: Tracy 2008, 145)

2. Welche sprachlichen Kompetenzen hat Perihan in den vier Monaten neu erworben? Achten Sie insbesondere auf die Satzstruktur und die Verben. 3. Welche Erwerbsaufgaben im Bereich der Satzstruktur stehen für Perihan in den folgenden Monaten noch an? 4. Wie könnten Sie als Lehrkraft das Kind gezielt in seiner Sprachentwicklung unterstützen?

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C6 Wortschatzerwerb ein- und mehrsprachiger Kinder Besonderheiten des Wortschatzerwerbs ein- und mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler sowie Aufbau und Struktur des mentalen Lexikons kennen

(bvc) Der Wortschatz umfasst Inhaltswörter, d.h. Nomen, Verben und Adjektive, sowie Funktionswörter wie Artikel, Pronomen und Konjunktionen. Das lexikalische Wissen von Schülerinnen und Schülern ist individuell sehr verschieden, da Wörter – abgesehen von zugrundeliegenden Wortbildungsregeln – grundsätzlich item-by-item, also einzeln gelernt werden (anders als Grammatik, die im Wesentlichen über generell geltende Regeln und Prinzipien erworben wird). Der Erwerb einzelner Wörter ist von Lerngelegenheiten, Erfahrungen und Interessen abhängig. Es wird zwischen dem rezeptivem und dem produktiven Wortschatz eines Sprechers bzw. einer Sprecherin unterschieden. Alle Wörter bzw. lexikalische Einheiten werden im sogenannten mentalen Lexikon gespeichert. Der Erwerb eines Wortes ist ein komplexer Prozess: Ein neues Wort wird aus dem Kontext isoliert und als lexikalischer Eintrag im mentalen Lexikon abgespeichert (fast mapping). Dieser erste Eintrag ist oft zunächst unvollständig; er wird erst nach und nach – wenn das Wort erneut gehört und verwendet wird – um Informationen zu Form und Bedeutung ergänzt und so ausdifferenziert. Der Erwerb eines Wortes stellt somit einen längeren Prozess dar. Um Wörter korrekt und schnell abrufen und verarbeiten zu können, müssen die Einträge im mentalen Lexikon möglichst ausdifferenziert sein. Mit jedem lexikalischen Eintrag werden beim Wortschatzerwerb folgende Informationen verknüpft:

Informationen zur Wortform (Aussprache; phonologische Eigenschaften wie die Silbenstruktur; morphologische Eigenschaften wie Zusammensetzung aus Morphemen sowie Veränderbarkeit/Flexion; Eigenschaften wie Wortart und mögliche Positionen im Satz; Orthografie)

Informationen zur Wortbedeutung (auch z.B. fachspezifische Bedeutungen) sowie pragmatische Eigenschaften (z.B. Verwendung und Bedeutung in spezifischen Kontexten)

Für einen schnellen und korrekten Abruf bzw. die rasche Verarbeitung von Wörtern beim Sprechen, Schreiben, Hören und Lesen müssen im mentalen Lexikon nach und nach vielfältige Vernetzungen zwischen den einzelnen lexikalischen Einträgen aufgebaut werden. Diese Beziehungen zwischen Wörtern können sowohl auf Form- als auch auf Inhaltsebene entstehen und verschiedene sprachliche Ebenen betreffen:

phonologische Beziehungen: z.B. gleiche Anlaute (Vogel – Photo – Fenster – vorne, Zug – Zahn – Tsatsiki), gleiche Silbenstruktur (Blume – Dose – Käse), Minimalpaare (Tanne – Kanne), Reime (Berg – Zwerg)

morphologische Beziehungen: z.B. gleiche Wortbausteine (Gartenhaus – Obstgarten) und Wortfamilien aufgrund eines gleichen Wortstammes (lesen – lesbar – Vorleser – Lesung)

graphematische Beziehungen: z.B. gleiche Anfangsgrapheme (Esel – Ente – Elefant)

semantische Beziehungen: z.B. Wortfelder (Fußball – Stadion – spielen – Trikot – gewinnen – schnell), Synonyme (Apfelsine – Orange, laufen – rennen), Homonyme (Bank/Sitzmöbel – Bank/Geldinstitut) und Antonyme (kalt– heiß), Ober- und Unterbegriffe (Obst: Banane, Apfel, Ananas, ...)

lexikalisch-grammatische Beziehungen: z.B. gleiches Genus, gleiche Wortart

Beziehungen aufgrund des häufigen gemeinsamen Vorkommens (Kollokationen) (z.B. Eis essen, einen Witz erzählen, eine Frage stellen)

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Wortschatzerwerb bei Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache Mehrsprachige Schülerinnen und Schüler, auch fortgeschrittene Lerner, verfügen in der Regel über einen unterschiedlichen Wortschatz in der Erst- und Zweitsprache. Da man Wörter hören oder lesen muss, um sie zu erwerben, werden manche Wörter bzw. Wortfelder nur in einer der Sprache erworben, wenn z.B. vorwiegend in dieser über ein Thema gesprochen wird (z.B. Bezeichnungen für Verwandtschaftsbeziehungen oder Speisen in der Herkunftssprache; schulspezifisches Vokabular in der Zweitsprache). Wenn ein Begriff, d.h. das Konzept eines Wortes, bereits aus der Herkunftssprache erworben ist, muss der lexikalische Eintrag ‚nur noch’ um das deutsche Wort mit seinen formalen Merkmalen ergänzt werden. Ist einem Kind mit Deutsch als Zweitsprache beispielsweise ein Igel mit seinem Aussehen, seinen Lebensweisen etc. bereits bekannt und kann es ihn in seiner Erstsprache bereits benennen, muss es ‚nur noch’ das deutsche Wort vermittelt bekommen. Ist es aber bisher keinem Igel begegnet, muss es sowohl das begriffliche Konzept ‚Igel’ mit all den dazugehörigen Informationen erwerben als auch das entsprechende deutsche Wort (mit den formalen Eigenschaften wie Silbenstruktur, Aussprache, Genus, Plural, Orthografie etc.). Allerdings sollten die Bedeutungen von Inhaltswörtern in verschiedenen Sprachen nochmals abgeglichen und auf mögliche (kulturelle) Unterschiede hin überprüft werden (z.B. unterschiedliche Bedeutung des Wortes ‚Familie’ in verschiedenen Sprachen bzw. kulturellen Kontexten). Es gilt auch zu bedenken, dass es nicht für alle Wörter Übersetzungen in anderen Sprachen gibt, wie z.B. für das deutsche Wort ‚Schultüte’. Außerdem entspricht nicht immer ein Wort in einer Sprache genau einem anderen Wort in einer anderen Sprache. Während es im Deutschen z.B. Zahnbürste heißt, wird das gleiche Objekt im Französischen mit drei Wörtern als brosse à dents bezeichnet. Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Das Wissen über den Aufbau und die Struktur des mentalen Lexikons ist Voraussetzung für eine wirkungsvolle Wortschatzförderung, die den Ausbau und die Vernetzung lexikalischer Einträge gezielt unterstützt. Aufgrund der interindividuellen Variation des Wortschatzes ist eine genaue Einschätzung der lexikalischen Fähigkeiten jeder Schülerin bzw. jedes Schülers eine wichtige Voraussetzung für eine adaptive Unterrichtsplanung. Mehr zum Thema Müller, A., Schulz, P., Grimm, A. & Tracy, R. (in Druck) Spracherwerb. In C. Titz, S. Geyer, A.

Ropeter, H. Wagner, S. Weber & M. Hasselhorn (Hrsg.), Entwicklung von Konzepten zur Sprach- und Schriftsprachförderung. BiSS-Basics Band I. Stuttgart: Kohlhammer.

Schulz, P. & Grimm, A. (2012). Spracherwerb. In H. Drügh, S. Komfort-Hein, A. Krass, C. Meier, G. Rohowski, R. Seidel & H. Weiss (Hrsg.), Einführung in die Germanistik. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 155-172.

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C6 Wortschatzerwerb bei ein- und mehrsprachigen Kindern

Besonderheiten des Wortschatzerwerbs ein- und mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler sowie die Arbeitsweise des mentalen Lexikons kennen

(bvc) Aufgaben: 1. In der Abbildung unten wird am Beispiel des Wortes fahren illustriert, welche Informationen im Idealfall gemeinsam mit einem Wort abgespeichert werden und beim Wortabruf genutzt werden können. Erarbeiten Sie einen Lexikoneintrag für andere Wörter. Wählen Sie neben Verben auch Wortarten wie Adjektive, einfache und zusammengesetzte Nomen, Konjunktionen oder Präpositionen. 2. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse und tauschen Sie Ihre Erfahrungen aus! Wodurch kann sich ein Lexikoneintrag von Sprecher zu Sprecher unterscheiden?

Quelle: Reber, K. & Schönauer-Schneider, W. (2009). Bausteine sprachheilpädagogischen Unterrichts. München, Bael: Ernst Reinhardt Verlag, S. 96

3. Was lässt sich aus diesem Modell eines Lexikoneintrags für die Einführung neuer Wörter ableiten?

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C7 Stolperstellen der deutschen Sprache Charakteristika der deutschen Sprache kennen, die Lernenden besondere Schwierigkeiten bereiten können (gw) Die deutsche Sprache ist eine von vermutlich 5.000 bis 6.000 Sprachen weltweit. Sie wird in Deutschland, Österreich, der Deutschschweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien, Südtirol, dem Elsass und Lothringen sowie Nordschleswig gesprochen. Außerdem ist sie eine Minderheitensprache in einigen europäischen und außereuropäischen Ländern (Rumänien, Südafrika, Namibia). Im Unterschied zu analytischen Sprachen, bei denen ein Morphem genau einem begrifflichen und grammatischen Inhalt entspricht, ist das Deutsche eine synthetische Sprache: In einem Wort werden häufig mehrere Morpheme kombiniert. Dies können offensichtliche Kombinationen sein wie lern-te, ge-lern-t, aber auch integrierte Bündel von Morphemen wie fuhr (fahr in der Vergangenheit, 3. Pers. Sing.) oder zum (= zu dem). Die Flexion (Beugung) betrifft Nomen, Verben, Adjektive, Artikel sowie Pronomen. Man unterscheidet drei Arten der Flexion: die Deklination (Veränderung der Nomen, Adjektive, Artikel und Pronomen hinsichtlich Genus (Geschlecht), Kasus (grammatischer Fall) und Numerus), die Konjugation (bei Verben) und die Komparation (bei Adjektiven). In der Regel begegnen Lernende zuerst der Phonologie, dem Lautbild, des Deutschen. In der Duden-Grammatik werden 21 Konsonantenphoneme und 16 Vokalphoneme beschrieben. Umlaute wie /ü/ und /ö/ sind beispielsweise in manchen germanischen (Englisch) und romanischen Sprachen (Italienisch, Spanisch) nicht vorhanden und sind deshalb von Lernenden aus diesen Sprachräumen schwer wahrzunehmen und zu artikulieren. Auch Diphthonge (eu, au, äu, ei), Nasallaute (eng, singen) und Dehnungsmarkierungen (durch Doppelvokal oder Dehnungs-h) können Probleme bereiten. Typisch für das Deutsche sind Konsonantenhäufungen am Wortanfang (Schnecke, Sprung) und -ende (Sumpf, Angst), die es so in vielen anderen Sprachen nicht gibt. Die Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen ist oft bedeutungstragend und benötigt besondere Aufmerksamkeit (Wal – Wall, Rose – Rosse), weil viele Lernende mit anderen Herkunftssprachen diesen Unterschied nicht hören. Die Orthographie kann von der Lautung erheblich abweichen (z.B. wird /ts/ gesprochen, aber ‚z‘ geschrieben). Die Auslautverhärtung von /b/, /d/ und /g/ muss gelernt werden ebenso wie das stimmlose und stimmhafte ‚s‘. Komplex ist im Deutschen auch das Artikelsystem, da die Artikel Informationen zu Genus, Kasus und Numerus enthalten und es zu Überschneidungen in den Formen kommt (z.B. der Junge (m) Nominativ Singular, – der Frau (f.) Genitiv Singular; das Kind (n.) Nominativ und Akkusativ Singular). Außerdem stellt die Flexion in Nominalgruppen für viele Lerner ein Problem dar (ein kleiner Hund – der kleine Hund – des kleinen Hundes). Des Weiteren stellt die Bildung des Plurals im Deutschen eine große Herausforderung dar, da es acht Formen der Pluralbildung gibt. Die Regeln hierfür sind schwer zu durchschauen und es gibt zahlreiche Ausnahmen. Im Bereich der Wortbildung fordern den Lerner vor allem die ausgeprägten Wortzusammensetzungen, Nominalisierungen, Bedeutungsveränderungen durch Vorsilben und Wortklassenwechsel durch Nachsilben heraus. Strukturwörter wie Artikel, Pronomen, Zahlwörter, Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien gilt es zu erkennen und richtig einzuordnen.

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Semantische Hürden sind Begriffe mit unterschiedlicher oder sehr ähnlicher Bedeutung, Redewendungen, abstrakte Fachbegriffe und unpersönliche Formulierungen (man, es) sowie Passivkonstruktionen, die im Deutschen je nach Textsorte in 5-10% der Sätze verwendet werden. Zusätzlich gilt es das Vorgangspassiv (mit werden) vom Zustandspassiv (mit sein) zu unterscheiden. In der Syntax charakteristisch für die deutsche Sprache ist die Verbklammer bei trennbaren Verben, Modalverben, beim Perfekt, Futur und Passiv sowie die Verbendstellung im Nebensatz und die Inversion (Umkehrung der üblichen Satzstellung Subjekt – Verb bei vorangestelltem Satzteil oder Nebensatz). Die Verbklammer dürfte für den Sprachanfänger eine der größten Herausforderungen beim Hörverstehen und Lesen, aber auch beim Sprechen und Schreiben darstellen – von verschachtelten Satzkonstruktionen mit eingeschobenen oder mehreren aufeinander folgenden Nebensätzen einmal abgesehen. Großen Einfluss auf das (Lese)verstehen haben die Proformen für Wörter (z.B. Er, ihm, diese, beide, jene) oder Satzglieder (z.B. dadurch, dabei) sowie die Konnektoren (z.B. deshalb, daher), die Sätze logisch miteinander verknüpfen. Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Die Kenntnis der Problembereiche des Deutschen ist für eine gezielte Sprachförderung bzw. einen adaptiven Grammatikunterricht unabdingbar. Sprachliche Hürden können gezielt vermieden werden, wenn es um das Formulieren von Aufgabenstellungen und die Auswahl von Texten für den Unterricht geht. Ebenso hilft es den Lernenden mit erhöhtem Sprachförderbedarf, wenn die Lehrkraft in ihrer gesprochenen Sprache, unnötige Sprachbarrieren abbaut.

Mehr zum Thema Oomen-Welke, I. (2013): Sprachvergleich und Sprachbewusstheit. In I. Oomen-Welke & B. Ahrenholz,

Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 85-97 Brinitzer, M.; Hantschel, H.-J.; Kroemer, S.; Möller-Frorath, M.; Ros, L. (2013). DaF unterrichten.

Basiswissen Didaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Stuttgart: Klett Sprachen. 87-93 Rösch, H. (2003). Stolpersteine der deutschen Sprache. In H. Rösch (Hrsg.), Deutsch als

Zweitsprache. Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen zur Sprachförderung. Hannover: Schrödel, 213-215.

Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (2014). Fortbildungen zur Durchgängigen Sprachbildung. Stolpersteine der deutschen Sprache. Förmig Berlin (http://www.foermig-berlin.de/materialien/Stolpersteine.pdf)

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C8 Faktoren, die den Zweitspracherwerb beeinflussen Wissen über Faktoren, die den Spracherwerb begünstigen bzw. beeinträchtigen können; Relevanz dieser Einflussfaktoren für die gezielte Beratung von Schülern und Schülerinnen sowie Eltern erkennen (bvc) Auch wenn der Spracherwerb insgesamt robust und in der Regel erfolgreich ist, fallen in der pädagogischen Praxis mitunter mehrsprachige Kinder und Jugendliche auf, deren sprachliche Fähigkeiten in der Zweitsprache Deutsch deutlich hinter den impliziten Erwartungen der pädagogischen Fachkräfte zurückbleiben. Die Sprachentwicklung dieser Kinder weicht im Verlauf, in der Geschwindigkeit und letztlich in dem Erfolg von der Entwicklung der vielen sprachunauffälligen Kinder mit Deutsch als Zweitsprache ab. Viele verschiedene Faktoren haben Einfluss auf den Zweitspracherwerb. Manche Erwerbsbedingungen lassen sich verändern, andere hingegen nicht. Um diejenigen Kinder, die Anlass zur Sorge geben, rechtzeitig durch adäquate Fördermaßnahmen unterstützen und ihre Eltern richtig beraten zu können, sollten pädagogische Fachkräfte verschiedene Ursachen für ungünstige Entwicklungsverläufe kennen. Einen wesentlichen Einfluss auf den Spracherwerb hat der Umfang des Sprachangebots aus der Umgebung. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache benötigen ausreichend Lerngelegenheiten, um die Umgebungssprache zu erwerben. Hat ein Kind außerhalb der Schule nur wenig Kontakt zu deutschsprachigen Personen, weil es z.B. keine Betreuungs- oder Vereinsangebote am Nachmittag besucht, beschränkt sich sein deutschsprachiger Input allein auf das Sprachangebot in der Schule. Die Lehrkräfte und Mitschülerinnen bzw. Mitschüler sind in diesem Fall besonders wichtige Sprachvorbilder für den Schüler bzw. die Schülerin. Zum Erwerb der Zweitsprache Deutsch bedarf es des Weiteren eines qualitativ hochwertigen Sprachangebots. Nicht jedem Kind steht ein zielsprachlicher, kontrast- und variationsreicher Input im Deutschen zur Verfügung. Hat es vor allem Kontakt zu Zweitsprachlernerinnen und -lernern, die selbst Förderbedarf im Deutschen haben, oder sprechen die Eltern mit ihrem Kind zwar Deutsch, haben die Sprache aber als Zuwanderer selbst nur unvollständig erworben, reicht dieser Input nicht aus. Für diese Kinder ist es besonders wichtig, dass die Lehrkräfte aller Fächer ihnen als Sprachvorbild ein komplexes und abwechslungsreiches Sprachangebot zur Verfügung stellen und sie gezielt beim Spracherwerb unterstützen. Manche Kinder und Jugendliche wachsen in einer Umgebung auf, in der die Herkunftssprache im Alltag dominiert und das Deutsche als Verkehrssprache weniger relevant ist. Wenn die Kinder auch in der Kita oder Schule vorwiegend auf Peers treffen, mit denen sie mühelos in ihrer Familiensprache kommunizieren können, kann dadurch die individuelle Motivation zum Erwerb der deutschen Sprache beeinträchtigt werden. Die Motivation ist ein Faktor, der insbesondere bei älteren Lernern einen Einfluss auf den Zweitspracherwerb haben kann. Wenn ein Kind trotz eines hinreichenden Sprachangebotes aus der Umgebung kaum Fortschritte im Deutschen macht und auch in seiner Erstsprache Auffälligkeiten zeigt, kann eine therapiebedürftige Sprachentwicklungsstörung die Ursache sein. Diese kann Folge von Primärbeeinträchtigungen wie z.B. Hörstörungen oder Autismus sein. Sie kann aber auch ohne erkennbare Ursache auftreten. In diesem Fall spricht man von einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES). Etwa 6 bis 8% aller Kinder sind von einer SSES betroffen, unabhängig davon, ob sie ein- oder mehrsprachig aufwachsen. Mehrsprachigen Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung weisen immer auch in der Erstsprache Auffälligkeiten auf.

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Zeigt ein Kind sprachliche Auffälligkeiten, die auf eine Sprachentwicklungsstörung hindeuten, sollten für eine genaue Diagnose Experten wie z.B. der Kinderarzt oder eine Fachkraft des BFZ (Beratungs- und Förderzentrum) hinzugezogen werden. Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Das Wissen über Faktoren, die Einfluss auf den Spracherwerb haben, hilft Lehrkräften, Ursachen für ungünstige Sprachentwicklungsverläufe zu erkennen und diesen mit geeigneten Maßnahmen (z.B. Elternberatung, medizinische bzw. logopädische Diagnostik, Förderunterricht) zu begegnen. Mehr zum Thema Müller, A., Schulz, P., Grimm, A. & Tracy, R. (in Druck) Spracherwerb. In C. Titz, S. Geyer, A.

Ropeter, H. Wagner, S. Weber & M. Hasselhorn (Hrsg.), Entwicklung von Konzepten zur Sprach- und Schriftsprachförderung. BiSS-Basics Band I. Stuttgart: Kohlhammer.

Schulz, P. & Grimm, A. (2012). Erst- und Zweitspracherwerb. In H. Drügh, S. Komfort-Hein, A. Krass, C. Meier, G. Rohowski, R. Seidel & H. Weiss (Hrsg.), Einführung in die Germanistik. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 155-172

Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. 2. Aufl. Tübingen: Francke.

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C8 Faktoren, die den Zweitspracherwerb beeinflussen

Wissen über Faktoren, die den Spracherwerb begünstigen bzw. beeinträchtigen können; Relevanz dieses Wissens für die Beratung von Schülern und Schülerinnen sowie Eltern erkennen (bvc) Aufgabe: Lesen Sie das folgende Fallbeispiel:

Pravin (m, 5;10), Erstsprache Panjabi, regelmäßiger Kontakt zur deutschen Sprache seit Eintritt in die Kita mit 4;0 Jahren

Die Eltern von Pravin sind vor sechs Jahren aus Pakistan ins Rhein-Main-Gebiet gezogen. Sie sprechen untereinander überwiegend Panjabi und manchmal Urdu. Die Mutter spricht mit dem Sohn Panjabi, das Pravin inzwischen gut spricht. Er kennt auch Lieder und kleine Gedichte in der Sprache. Der Vater hat durch seinen Beruf Kontakt zu deutschsprachigen Kollegen. Dadurch kann er sich inzwischen recht gut auf Deutsch verständigen. Um seinem Sohn die Eingewöhnung in den Kindergarten zu erleichtern, hat er sich – auf Anraten der Erzieherin – vor zwei Jahren entschieden, mit seinem Sohn fortan überwiegend Deutsch und kaum noch Panjabi zu sprechen. Pravin hat seit fast zwei Jahren einen Halbtagsplatz im Kindergarten. Sein bester Freund dort ist Iqbal, mit dem er Panjabi sprechen kann. Auch die meisten anderen Kinder seiner Gruppe sprechen zuhause eine andere Sprache als Deutsch. Pravin macht im Deutschen leider nur sehr langsam Fortschritte. Sein Wortschatz ist nach Aussage der Erzieherin eher gering und die Sätze klingen oft noch holprig. Er produziert vorwiegend kurze Sätze wie „Pravin auch Wasser trinken“ oder „Iqbal Garten gegeht“. Deshalb besucht er seit einiger Zeit zusätzlich den morgendlichen Vorlaufkurs der örtlichen Grundschule, die gleich neben der Kita liegt. Wenn die Erzieherin oder die Vorlaufkurslehrerin mit ihm Deutsch sprechen, scheint er das meiste zu verstehen, spricht aber noch immer wenig. Mittags holt ihn seine Mutter aus der Kita ab und sie essen zuhause gemeinsam. Nachmittags spielt er gern mit seiner jüngeren Schwester. Bei gutem Wetter geht die Mutter mit beiden auch auf den Spielplatz in der Nähe. (Quelle: Goethe-Universität, Info-DaZ, Informations- und Forschungsstelle Deutsch als Zweitsprache)

Was empfehlen Sie den Eltern und der Erzieherin von Pravin, um ihm mehr Gelegenheit zur Begegnung mit der deutschen Sprache zu geben?

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C9 Typisch mehrsprachig: Sprachmischungen und weitere Phänomene Besonderheiten und Kompetenzen mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler kennen und für die Beratung von Eltern nutzen (bvc) Mehrsprachige Kinder und auch Erwachsene verfügen über rezeptive und meist auch produktive Kompetenzen in mehr als einer Sprache. Sie greifen beim Sprechen, Schreiben, Lesen und Zuhören auf ihr gesamtes sprachliches Repertoire in ihren beiden bzw. allen Sprachen zu. Alle sprachlichen Wissenssysteme eines mehrsprachigen Sprechers sind potentiell aktiv und interagieren miteinander. Aus diesem Grund können sich die Sprachen nicht nur in der Phase des Erwerbs, sondern auch später beeinflussen. Dabei kann es auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, also z.B. in der Aussprache, Grammatik oder Wortwahl, gelegentlich zu Übertragungsfehlern (Interferenzen) kommen. Sagt z.B. ein Schüler mit der Erstsprache Italienisch ‚Ich hab gemacht meine Hausaufgaben’, kann die vom Deutschen abweichende Verbstellung aus der Satzbildung in der Erstsprache herrühren. Kenntnisse über zentrale Merkmale der Erstsprachen von DaZ-Schülerinnen und -Schülern helfen einer Lehrkraft, solche Interferenzfehler zu erkennen und sie in der Förderung gezielt aufzugreifen. Typisch mehrsprachig ist auch, dass Sprecher und Sprecherinnen ihre Sprachen gelegentlich mischen bzw. zwischen ihnen hin und her wechseln können (Code-Switching). Die Entlehnung einzelner Wörter (borrowing) kann bisweilen durch lexikalische Lücken oder unterschiedliche Abrufgeschwindigkeiten von Wörtern und Ausdrücken verursacht sein. Das Wechseln zwischen zwei Sprachen ist jedoch meist ein stilistisches Mittel und hat eine kommunikative Funktion, z. B. wenn man sich den anderen Gesprächspartnern zugehörig zeigen oder bewusst von ihnen abgrenzen möchte. Viele mehrsprachige Schülerinnen und Schüler fühlen sich im gemischtsprachigen Modus mit ihren Peers besonders wohl. Einsprachige sind oftmals erstaunt, mit welcher Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit zwischen Sprachen hin und her gewechselt werden kann. Übergänge sind innerhalb eines Wortes, eines Satzes oder auch innerhalb eines Gespräches zu beobachten. Dabei sind diese Wechsel keinesfalls zufällig; sie sind systematisch und folgen bestimmten Regeln. So werden aus der Erstsprache geborgte Wörter schon von ganz jungen bilingualen Kindern richtig in einen Satz der anderen Sprache eingefügt (z.B. Kannst du move a bit und soll ich hit it?, Keim & Tracy 2006) und bei Bedarf sogar mit einer Flexionsendung der Zweitsprache versehen (z.B. Cleanst du dein teeth?, Keim & Tracy 2006). Ob mehrsprachige Sprecher und Sprecherinnen ihre Sprachen mischen, hängt vor allem von dem Gesprächspartner bzw. der Gesprächspartnerin ab. Wenn es die Situation erfordert, können die Sprachen auch strikt getrennt werden: Immer dann, wenn das Gegenüber nur eine der beiden Sprachen versteht, bleibt der Sprecher bzw. die Sprecherin in der gemeinsamen Sprache und bemüht sich zum Beispiel, auftretende Wortschatzlücken nicht mehr durch Entlehnungen aus der anderen Sprache, sondern durch Umschreibungen oder Wortneuschöpfungen zu schließen. Diese Kompetenz zur Trennung der Sprachen ist schon bei mehrsprachigen Kindern mit zwei bis drei Jahren vorhanden. Typisch für Mehrsprachige ist, dass eine der Sprachen dominant ist. Sie wurde umfänglicher erworben und wird deshalb meist auch bevorzugt gesprochen. Eine gänzlich ausgewogene Entwicklung in beiden Sprachen ist eher die Ausnahme und kann seitens der Eltern oder Lehrkräfte nicht erwartet werden. Im Laufe der kindlichen Entwicklung kann die Sprachdominanz wechseln. Dies ist zum Beispiel möglich bei Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache, die mit Eintritt in die Kita oder Schule Deutsch erwerben, in der Herkunftssprache hingegen keinen Unterricht erhalten. Durch den gesteuerten Sprach- und Schriftspracherwerb in der Schule und auch durch den regelmäßigen Kontakt zur Umgebungssprache durch Peers, Freizeitangebote u.v.m. erreichen die Schülerinnen und Schüler in der Zweitsprache Deutsch oftmals umfangreichere sprachliche Fähigkeiten als in

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der Herkunftssprache. Dadurch wird mittelfristig auch für viele Kinder mit nichtdeutscher Herkunftssprache das Deutsche zur dominanten Sprache, in der sie sich wohl fühlen. Charakteristisch für mehrsprachige Sprecher ist außerdem, dass ihr Wortschatz domänenspezifisch ist, was bedeutet, dass nicht für jedes Wort eine Entsprechung in der anderen Sprache gleich mit erworben wird. Vielmehr gibt es in der Regel einige Wortfelder, die in der Herkunftssprache, und andere, die in der Umgebungssprache besser ausgebaut sind. Während z.B. Wörter für Verwandtschaftsbeziehungen vor allem in der Familie und damit in der Herkunftssprache erworben werden, begegnen die Kinder z.B. Begrifflichkeiten rund um das Thema Pausenhof eher in der Schule und lernen diese Wörter demzufolge eher auf Deutsch. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Sprachmischungen und -wechsel bei mehrsprachigen Sprechern – abgesehen von Wortentlehnungen aufgrund lexikalischer Lücken – nicht per se als Anzeichen für sprachliche Defizite zu bewerten sind. Sie sind ein typisches Kennzeichen mehrsprachiger (auch sehr fortgeschrittener) Sprecher in mehrsprachigen Gesprächssituationen und erfordern eine hohe sprachliche Kompetenz. Bedeutung für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung: Sprachmischungen und Sprachwechsel sollten als kommunikative Ressourcen und Kompetenzen anerkannt werden. Möchte man für die Sprachstandserfassung oder Sprachförderung eine einsprachige Gesprächssituation herstellen, sollte man eine monolinguale Gesprächspartnerin bzw. einen monolingualen Gesprächspartner für die Durchführung wählen, um das Auftreten von Sprachmischungen zu vermeiden. Kenntnisse der Lehrkraft über zentrale Merkmale der Herkunftssprachen sind hilfreich für die Fehleranalyse und das gezielte Aufgreifen der sich unterscheidenden Formen und Strukturen in der Sprachförderung.

Mehr zum Thema Krifka, M.; Błaszcz, J.; Leßmöllmann, A.; Meinunger, A.; Stiebels, B.; Tracy, R. & Truckenbrodt, H.

(Hrsg.) (2014). Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler. Berlin, Heidelberg: Springer VS. (darin insbesondere das einführende Kapitel von R. Tracy: „Mehrsprachigkeit: Vom Störfall zum Glücksfall“)

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C Grundlagen zu Sprache und Deutsch als Zweitsprache C9 Typisch mehrsprachig: Sprachmischungen und weitere Phänomene Besonderheiten und Kompetenzen mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler kennen (bvc) Aufgaben: 1. Überlegen Sie, wann Sie selbst Sprachmischungen produzieren, wenn Sie in Ihrer Zweitsprache oder einer Fremdsprache sprechen. Warum mischen oder wechseln Sie die Sprachen? 2. Beschreiben und analysieren Sie die unten angeführten Äußerungen mehrsprachiger Sprecherinnen und Sprecher. a) Worin unterscheiden sich die Sprachmischungen? b) Was könnten Gründe für die Mischungen sein? c) Welche Kompetenzen zeigen sich beim Einfügen von Wörtern und Sequenzen der Erstsprache in das Deutsche?

(1) Jetzt uva (= Weintrauben) essen.

(C. 2;7 J., bilingual Deutsch/Italienisch) (Beispiel aus Cantone 2007, 175)

(2) Soll ich die droppen? (= fallen lassen) I’ve dropped him. (=Ich habe ihn fallen lassen.) (H. 2;9 Jahre, bilingual Deutsch/Englisch) (Beispiel aus Tracy 2014, S. 25)

(3) Zeynebi de gördüm (= ’ich habe auch Zeynep gesehen’), die Arme die hat fast en

Herzinfarkt bekommen.

Bahnda göryüm böyle yapıyo (= ‚ich sehe sie in der Bahn, sie macht so’), die Arme

hat gedacht, mir is was passiert.

die ganze Zeit insanlar nasıl bakıyo (= ‚wie die Leute die ganze Zeit schauen’), wie

die misch angekuckt haben, des gibt’s net.

(Deutsch-türkische Sekundarstufenschülerin im Gespräch mit Peers)

(Beispiel aus Keim/Tracy 2006, S. 224)

(4) isch könnte nie einen Mann lieben, wenn er meine Sprache nischt kann * die

Mischsprache * einen Türken nich und auch keinen Deutschen * isch könnte nie zu

einem sagen * ich liebe dich * das klingt so hart * aber seni seviyorum (= ich liebe

dich) klingt schön

(Deutsch-türkische Sekundarstufenschülerin im Gespräch mit Peers)

(Beispiel aus Keim/Tracy 2006, S. 224)