Claus D. Pusch & Wolfgang Raible Modalität und ......1. Es ist außerordentlich wichtig,...

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Claus D. Pusch & Wolfgang Raible Modalität und Evidentialität in den romanischen und anderen Sprachen Sommersemester 2006 Inhaltsverzeichnis 0 Vorüberlegungen 1 1 Die einzelnen Sitzungen 2 1.1 Sitzung am 28.04.2006 ... 2 1.2 Sitzung am 05.05.2006 ... 3 1.3 Sitzung am 12.05.2006 ... 3 1.4 Sitzung am 19.05.2006 ... 4 1.5 Sitzung am 26.05.2006 ... 5 1.6 Sitzung am 02.06.2006 ... 5 1.7 Sitzung am 16.06.2006 ... 7 1.8 Sitzung am 23.06.2006 ... 7 1.9 Sitzung am 30.06.2006 ... 8 1.10 Sitzung am 07.07.2006 ... 9 1.11 Sitzung am 14.07.2006 ... 10 1.12 Sitzung am 21.07.2006 ... 11 2 Generalia 12 3 Abbildungen 13 0 Ausgangsüberlegungen und Teilnehmer Unter ‘Modalität’ versteht man eine seman- tisch-pragmatische Kategorie, die die Ein- stellung des Sprechers zur Geltung seiner Aussage betrifft: der Sprecher bringt dabei zum Ausdruck, wie er das von ihm Ge- sagte verstanden haben will, ob und inwie- weit er bereit ist, dafür die kommunikati- ve Regresspflicht zu übernehmen. Insofern ist Modalität eine für das erfolgreiche Kom- munizieren zentrale und linguistisch über- aus interessante Kategorie. Das Problem ist freilich, dass Modali- tät –in diesem weiten Verständnis– auf sehr unterschiedliche Weise zum Ausdruck ge- bracht werden kann: auf morphologischer Ebene durch die Verbalmodi wie Indika- tiv, Konjunktiv; auf syntaktischer Ebene durch umschreibende Syntagmen, so ge- nannte Periphrasen; auf diskursiv-textueller Ebene durch die klassischen Satzmodi –Fra- ge, Aufforderung etc.– und, wie zum Bei- spiel im Deutschen sehr häufig, durch un- flektierte Diskursmarker, sog. Modalparti- keln. Dabei weisen diese Enkodierungsoptio- nen für Modalität unterschiedliche Grade an Grammatikalisierung oder an pragmatischer Verfügbarkeit auf; zugleich bieten nicht alle Einzelsprachen dasselbe Inventar an forma- len Ausdrucksmöglichkeiten für Modalität – wohingegen das Konzept ‘Modalität’ als ei- ne universelle semantisch-pragmatische Ka- tegorie betrachtet werden muss. Eine besondere Subkategorie der Moda- lität, die in den letzten Jahren intensiv er- forscht und diskutiert wurde, ist die Evi- dentialität. Sie zeigt an, woher der Sprecher sein Wissen hat: der Sprecher gibt –in klas- sischen Evidentialitätssystemen– z.B. an, ob er das, was er sagt, mit eigenen Augen gese- hen, aus eigener Evidenz erschlossen oder nur aus zweiter Hand erfahren hat. Eviden- tialität ist beispielsweise in den indigenen Sprachen Amerikas eine häufig morpholo- gisch ausgedrückte Modalitätskategorie, in europäischen Sprachen gilt eine solche mor- phologisch-grammatikalisierte Evidentiali- tät als selten (s. Abb. 1 auf S. 13). Dennoch postulieren jüngere Forschungen die Exi- stenz von Evidentialitätsmarkern z. B. auch in den romanischen Sprachen. In diesem Seminar sollte Modalität als ei- ne im Diskurs realisierte Kategorie unter- sucht werden, die mehr oder minder gram- matikalisch ausgedrückt wird; es sollte das Verhältnis von ‘Modalität’ und ‘Modus’ zur speziellen Subkategorie der Evidentia- lität vor allem in den romanischen Spra- chen (eingeschlossen die auf ihnen lexika- lisch basierenden Kreolsprachen) untersucht werden. Zugleich sollten aber auch –zum Zweck der Veranschaulichung und des Ver- gleichs– außerromanische Sprachen in den Blick genommen werden, in denen Moda- lität auf charakteristische, in der Romania nicht oder nicht im selben Maße anzutref- fende Weise ausgedrückt wird. 1

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Claus D. Pusch & Wolfgang Raible

Modalität und Evidentialität in den romanischen undanderen Sprachen

Sommersemester 2006

Inhaltsverzeichnis

0 Vorüberlegungen 1

1 Die einzelnen Sitzungen 21.1 Sitzung am 28.04.2006. . . 21.2 Sitzung am 05.05.2006. . . 31.3 Sitzung am 12.05.2006. . . 31.4 Sitzung am 19.05.2006. . . 41.5 Sitzung am 26.05.2006. . . 51.6 Sitzung am 02.06.2006. . . 51.7 Sitzung am 16.06.2006. . . 71.8 Sitzung am 23.06.2006. . . 71.9 Sitzung am 30.06.2006. . . 81.10 Sitzung am 07.07.2006. . . 91.11 Sitzung am 14.07.2006. . . 101.12 Sitzung am 21.07.2006. . . 11

2 Generalia 12

3 Abbildungen 13

0 Ausgangsüberlegungenund Teilnehmer

Unter ‘Modalität’ versteht man eine seman-tisch-pragmatische Kategorie, die die Ein-stellung des Sprechers zur Geltung seinerAussage betrifft: der Sprecher bringt dabeizum Ausdruck, wie er das von ihm Ge-sagte verstanden haben will, ob und inwie-weit er bereit ist, dafür die kommunikati-ve Regresspflicht zu übernehmen. Insofernist Modalität eine für das erfolgreiche Kom-munizieren zentrale und linguistisch über-aus interessante Kategorie.

Das Problem ist freilich, dass Modali-tät –in diesem weiten Verständnis– auf sehrunterschiedliche Weise zum Ausdruck ge-bracht werden kann: auf morphologischerEbene durch die Verbalmodi wie Indika-tiv, Konjunktiv; auf syntaktischer Ebenedurch umschreibende Syntagmen, so ge-nannte Periphrasen; auf diskursiv-textueller

Ebene durch die klassischen Satzmodi –Fra-ge, Aufforderung etc.– und, wie zum Bei-spiel im Deutschen sehr häufig, durch un-flektierte Diskursmarker, sog. Modalparti-keln.

Dabei weisen diese Enkodierungsoptio-nen für Modalität unterschiedliche Grade anGrammatikalisierung oder an pragmatischerVerfügbarkeit auf; zugleich bieten nicht alleEinzelsprachen dasselbe Inventar an forma-lenAusdrucksmöglichkeiten für Modalität –wohingegen das Konzept ‘Modalität’ als ei-neuniversellesemantisch-pragmatische Ka-tegorie betrachtet werden muss.

Eine besondere Subkategorie der Moda-lität, die in den letzten Jahren intensiv er-forscht und diskutiert wurde, ist die Evi-dentialität. Sie zeigt an, woher der Sprechersein Wissen hat: der Sprecher gibt –in klas-sischen Evidentialitätssystemen– z.B. an, ober das, was er sagt, mit eigenen Augen gese-hen, aus eigener Evidenz erschlossen odernur aus zweiter Hand erfahren hat. Eviden-tialität ist beispielsweise in den indigenenSprachen Amerikas eine häufig morpholo-gisch ausgedrückte Modalitätskategorie, ineuropäischen Sprachen gilt eine solche mor-phologisch-grammatikalisierte Evidentiali-tät als selten (s. Abb.1 auf S.13). Dennochpostulieren jüngere Forschungen die Exi-stenz von Evidentialitätsmarkern z. B. auchin den romanischen Sprachen.

In diesem Seminar sollte Modalität als ei-ne im Diskurs realisierte Kategorie unter-sucht werden, die mehr oder minder gram-matikalisch ausgedrückt wird; es sollte dasVerhältnis von ‘Modalität’ und ‘Modus’zur speziellen Subkategorie der Evidentia-lität vor allem in den romanischen Spra-chen (eingeschlossen die auf ihnen lexika-lisch basierenden Kreolsprachen) untersuchtwerden. Zugleich sollten aber auch –zumZweck der Veranschaulichung und des Ver-gleichs– außerromanische Sprachen in denBlick genommen werden, in denen Moda-lität auf charakteristische, in der Romanianicht oder nicht im selben Maße anzutref-fende Weise ausgedrückt wird.

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In diesem Seminar wurden keine Refera-te gehalten. Am Montag oder Dienstag vorder jeweiligen –am Freitag stattfindenden–Sitzung machten die Referenten das Textfi-le der Arbeit den Dozenten zugänglich. Dieverschickten die durchgesehene Arbeit perMailing-Liste an alle Teilnehmerinnen undTeilnehmer. Die Arbeit musste vor der Sit-zung von allen gelesen werden. Die Auf-gabe von Referentin oder Referent bestanddann darin, die Sitzung und die Diskussionüber die eigene Arbeit zu leiten (ohne dasReferat zu wiederholen). Gewünscht war al-so eine Diskussion über die schon von allengelesene Vorlage.

Die Zahl der Teilnehmer war auf die Zahlder Themen beschränkt. (Teilnahme ‘außerKonkurrenz’ war möglich)1.

Das Seminar wurde sowohl für die Stu-dierenden der Romanistik (alle Studiengän-ge) als auch des M.A. ‘European Lingui-stics’ angeboten. Zum Kursangebot gehörteauch ein Gastvortrag von DR. BERT COR-NILLIE (Universität Leuven / Belgien) über“Evidentiality in Spanish. On the modesof knowing and the (inter)subjectivity ex-pressed by (semi-)auxiliaries”, der an einemDonnerstag außerhalb der Freitags-Semina-re stattfand.

1 Die einzelnen Sitzungen

1.1 Sitzung am 28.04.2006

Die erste Sitzung begann mit Hindernissen:der eine Seminarleiter war davon ausgegan-gen, die Veranstaltung finde im Raum 4 derSedanstraße statt, also am für ihn gewohntenOrt. Der betreffende Hörsaal war zwar frei,

1Die ‘aktiven’ Teilnehmer: GLORIA ERNST, SÓ-NIA ISABEL ESTEVÃO GRILO, JOHANNA FRECH,CLAUDIA FISCHER, MARGARETH JABCZYNSKI , L I-NA KARAKI , SABINE K IEMLEN , STEFFI KNY, COR-NELIA LAUFER, SOPHIA LUI , NIKOS MYTILINAIOS ,DANIELA OHLENSCHLEGEL, ANDREA RAABE , SO-NIA RAMÍREZ BECKER, BARBARA STÜBNER. STEF-FI KNY und NIKOS MYTILINAIOS nahmen als be-reits graduierte Studierende aus dem StudiengangMa-ster of European Linguisticsam Seminar teil. Eindritter, RAFAEL MATEO EISENKRAFT, nahm es mitseinen Pflichten als Seminarteilnehmer nicht sonder-lich ernst und wurde ausgeschlossen. SÓNIA ISABEL

ESTEVÃO GRILO trat später wegen zu großer Arbeits-belastung zurück. – Außer Konkurrenz nahmen teil:CLAIRE ALLGEIER, FRANZISKA KRAFT, SIRA LAN-GENFELD, M ICHAEL MEIER.

aber nicht reserviert (verschlossen). Der an-dere Seminarleiter wartete mit der Mehrzahlder Seminarteilnehmer, die offenbar nichtdie Webseite des Seminars in Erinnerunghatten, in einem Raum im Kollegiengebäu-de I. Da der Raum zu klein war und überdiesder Video-Projektor nicht funktionierte, zogman dann erneut und bis auf weiteres defi-nitiv in die Sedanstraße um.

CLAUS D. PUSCH stellte eingangs kurzden World Atlas of Language Structuresvor2. Er enthält auch diverse Karten zumThema ‘Modus und Modalität’. Man kannihnen entnehmen, dass, abgesehen von derimmer möglichen semantischen Umschrei-bung von modalen Inhalten, zwei Strate-gien verwendet werden: die eine ist dievon Verbalaffixen, die andere die von ver-balen Konstruktionen. Dabei ist auffällig,dass der Ausdruck der deontischen Moda-lität häufiger mit Affixen realisiert wird alsder Ausdruck der epistemischen Modalität.Dies könnte dafür sprechen, dass die deon-tische Modalität primär ist, die epistemi-sche sekundär – was durch die Entwick-lung im Spracherwerb bestätigt würde (vgl.u. Abschnitt1.2, S.3).

Die ‘eigentliche’ Sitzung galt dann derVorlage “Modus und Modalität. Begriffsde-finitionen und Abgrenzung” von CLAUDIA

FISCHER. Die Referentin stellte nochmalskurz den Inhalt ihrer Arbeit vor: die Un-terscheidung zwischen ‘Modus’ und ‘Mo-dalität’ sowie die zwischen eindimensiona-len, zweidimensionalen und dreidimensio-nalen Modalkonzeptionen. Bei der anschlie-ßenden Arbeit in Gruppen ging es um De-finitionen von ‘Modus’ – wobei versuchtwurde, mit Wolfram Bublitz und anderenals Hintergrund das dreipolige Zeichensche-ma von Karl Bühler zu verwenden. Wiein einer kurzen Reprise in der folgendenSitzung nochmals etwas eigehender reflek-tiert wurde, würde sichdeontischeModa-lität insbesondere an den Adressaten rich-ten, epistemischean das Wissen, das Spre-cher und/oder Hörer haben können.Alethi-scheModalität wäre dann eine Modalität,die sich nur auf den Bereich der Gegenstän-de und Sachverhalte bezieht – der freilichnicht an und für sich existiert, sondern nur

2Haspelmath, Martin (ed.). 2005.The world atlasof language structures.Oxford etc. : Oxford UniversityPress.

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in der Wahrnehmung von Personen: was dierelative Künstlichkeit des Konzepts der ale-thischen Modalität unterstreicht. Ob es Mo-di oder Modalitäten gibt, die mit der drittender Bühler’schen Funktionen des sprachli-chen Zeichens zu tun haben, der Ausdrucks-funktion, blieb offen.

Was man anhand der Vorlage von FrauFISCHER bereits, wenn auch z. T. nur im-plizit, kennen lernen konnte, war die Unter-scheidung zwischen ‘Modus’ und ‘Modali-tät’ auf eineraußereinzelsprachlichen, ‘ko-gnitiv’ oder ‘logisch’ genannten Ebene (Ari-stoteles wurde hier zitiert) und deneinzel-sprachlichen Realisierungsformenvon ‘Mo-dalität’ und ‘Modus’: Informationen, dieals Suffixe realisiert sind (beispielswei-se zahlbar, ausweispflichtig); lexematischeModi, also die Modalverben auf der einenSeite und Satzadverbien wiehoffentlich,vermutlichauf der anderen; dann syntakti-sche Modi (die OppositionAussage vs Fra-gesatz); schließlich phonematisch-graphe-matische Modi (Fragezeichen oder Intona-tionskonturen).

1.2 Sitzung am 05.05.2006

Gegenstand war die Vorlage von DANIELA

OHLENSCHLEGEL über “‘Root modality’ -deontische Modalität - epistemische Moda-lität: zur Typologie modaler Werte.”

Die Verfasserin legte es in der Sitzungdarauf an, durch Fragen Präzisierungen zuden von ihr vorgestellten Modalitätskonzep-ten zu bekommen. Es ging, wie schon in derSitzung zuvor, hauptsächlich umepistemi-scheunddeontischeModalität. Daraus ent-wickelte sich eine fast anderthalb Stundenlange Grundsatzdiskussion, in die sich sehrviele der Seminarteilnehmer intensiv ein-brachten. Als Ergebnis kann Folgendes fest-gehalten werden:

1. Es ist außerordentlich wichtig, Moda-lität als kognitive, außereinzelsprach-liche Kategorie zu unterscheiden vonden einzelsprachlichen modalen Reali-sierungen. Sie können ganz verschie-dene Gestalt annehmen – nicht nur dievon Modalverben. Im scholastischenZeichenmodell auf S.14 ist es derUnterschied zwischen dem außerein-zelsprachlichenconceptusund seiner

einzelsprachlichen Realisierung (signi-ficatio).

2. Die Diskussion über Modalität und ih-re einzelsprachliche Realisierung lei-det ganz eindeutig darunter, dass im-mer einzelne Satzbeispiele betrachtetwerden, zu denen der weitere Kon-text fehlt. Sätze ohne Kontext kön-nen bekanntlich ganz verschieden in-terpretiert werden – jeder denkt sicheinen anderen Kontext dazu. Es ist alsodurchaus wichtig, Beispiele nicht iso-liert, sondern im zugehörigen Zusam-menhang zu präsentieren. Trotz die-ser ganz verschiedenen Interpretations-möglichkeiten ist es wichtig, die Mo-dalitätskonzepte zu kennen und zu the-matisieren: sie stellen gewissermaßeneine prototypische, ideale Form vor,von der einzelsprachliche Realisierun-gen mehr oder minder abweichen.

3. Die Kenntnis dieser Modalitätskonzep-te ist auch deshalb wichtig, weil siein der Ontogenese in einer Art Stufen-folge stehen: verschiedene Quellen be-tonen, dass Kinder zuerst deontische,dann epistemische Modalität themati-sieren bzw. ausdrücken können (vgl.o. Abschnit1.1, S.2). Die deontischewäre also grundlegender als die episte-mische – was sich ja auch amAtlasof World Languagesanhand der Kar-ten zur Realisierung von epistemischerund deontischer Modalität feststellenließ: der höchste Prozentsatz von spezi-fischer Realisierung war bei der deon-tischen Modalität gegeben.

Die Diskussion war insgesamt sehr frucht-bar und die Referentin, Frau OHLENSCHLE-GEL, konnte sich weitgehend auf die Rolleeiner Moderatorin beschränken.

1.3 Sitzung am 12.05.2006

Die Sitzung wurde von GLORIA ERNST

bestritten mit einer Vorlage über “Modali-tät, Grammatikalisierung und Subjektivie-rung: das Beispiel der Modalverben im Eng-lischen und in den romanischen Sprachen.”Da derjenige Seminarleiter, der die Funk-tion des resümierenden Chronisten wahr-nimmt, wegen Staatsexamina nicht an der

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Sitzung teilnehmen konnte, beruht der Be-richt hier, was Evidentialitäts-Kriterien an-geht, auf Hörensagen.

Die Referentin studiert Englisch und Spa-nisch und hat in ihrer Arbeit sinnvollerwei-se beide Sprachen über das Thema der Evi-dentialität miteinander verbunden. Sie un-terstreicht in diesem Zusammenhang einengrundlegenden Unterschied: das Englischehat modale Hilfsverben, die in ihrer Verwen-dungsfähigkeit stark eingeschränkt sind, Se-mi Auxiliaries und, als aussterbende gram-matische Modus-Kategorie, den Subjunk-tiv. Im Spanischen gibt es einen funktionie-renden Unterschied zwischen Indikativ undSubjuntivo. Aus diesem Grund, so GLORIA

ERNST, seien die Modalverben im Spani-schen und anderen romanischen Sprachenwesentlich weniger stark grammatikalisiert.

Die während der Sitzung diskutier-te Hauptthese war einer Gegenüberstel-lung der Grammatikalisierungs-Konzeptio-nen von Elizabeth C. Traugott und Chri-stian Lehmann in der Vorlage der Verfas-serin geschuldet3. Nach Elizabeth C. Trau-gott wäre Grammatikalisierung, die im An-fangsstadium immer der Expressivität ge-schuldet wäre, gleichbedeutend mit ‘Sub-jektivierung’ – was dazu führen würde, dassSprachen immer ‘subjektiver’ würden; eineThese also, die man relativieren muss unddie in der Diskussion auch relativiert wur-de. Davon unbeschadet bleibt die Überle-gung, dass sich bei der Entwicklung von epi-stemischen aus deontischen Ausdrucksmit-teln an das ‘subjektivere’ und relative Wis-sen von Kommunikationspartnern appelliertwird (vgl. o. Abschn.1.1, S.2 das zur Veran-kerung im Bühlerschen Schema Gesagte).

1.4 Sitzung am 19.05.2006

Um “Modalität und Pragmatik: Die Mo-dalpartikeln des Deutschen und ihre Ent-sprechungen in den romanischen Sprachen”ging es in der Vorlage von MARGARETH

3Zuletzt: Traugott, Elizabeth Closs. 1995. “Sub-jectification in Grammaticalisation”. In: Stein, Die-ter & Wright, Susan (eds.).Subjectivity and Subjec-tivisation: Linguistic Perspectives.Cambridge: Cam-bridge University Press, p. 31-54. – Lehmann, Chri-stian. 1995 [weltweit als graue Literatur bekannt seit1984] Thoughts on Grammaticalization.München &Newcastle: Lincom Europa.

JABCZYNSKI. Die Verfasserin arbeitete ge-nerell, wie dies das Thema nahe legt, mitÜbersetzungsbeispielen, die sie interpretie-ren ließ. Dabei kam ihr zugute, dass derSeminarleiter zusätzlich noch Beispiele ausdem RomanBericht über Bruno/Rapportsur Bruno von Joseph Breitbach mitge-bracht hatte – der Roman eines zweisprachi-gen Autors, der erst in deutscher und zweiJahre später in französischer Version publi-ziert wurde. Beide Versionen des Romansstammen vom Autor selbst4.

Am Beispiel der deutschen Partikel‘doch’ wurde herausgearbeitet, dass ein‘doch’, das im Dialog verwendet wird, diePräsupposition/Voraussetzung macht, dassjemand etwas weiß/etwas wissen müsste,oder eine bestimmte Absicht hat oder nichthat oder haben müsste usw. Ein Beispiel:

‘Es ist doch nicht so, dass man an denGott der Christen glauben muss, um einGewissen zu haben’.

Hier wird vorausgesetzt, dass jemand ge-genteiliger Ansicht ist. Im französischenÄquivalent lautet die Stelle

‘Pour avoir une conscience, est-il vrai-ment nécessaire de croire au Dieu desChrétiens ?

Hier wird ein gängiges Verfahren ange-wandt: die Präsupposition wird in Frage ge-stellt – was man in der deutschen Versionebenso machen könnte: ‘Ist es wirklich so,dass man an den Gott der Christen glaubenmuss, um ein Gewissen zu haben?’. Ein an-deres Beispiel:

‘Und wie er es denn aufnehme, wennman die Intimitäten, die er doch wohlmit seiner Frau habe, als Unzucht be-zeichne?’

‘Et que dirait-il, lui à qui je parlais, sion appelait luxure l’intimité qu’il nemanquait sans doute pas d’avoir avecsa femme ?’

Hier ist die Unterstellung sogar im Klar-text vorhanden:die er doch wohl. . ., elegantwiedergegeben mitqu’il ne manquait sansdoute pas d’avoirusw.

4Breitbach, Joseph. 1962.Bericht über Bruno.Frankfurt/Main : Insel Verlag; Breitbach, Joseph. 1964.Rapport sur Bruno.Paris : Gallimard.

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Interessant ist noch der Fall des ‘doch’ beiImperativen:

‘Lassen Sie ihn doch, ich bin vielzu geschmeichelt, dass er heute schonzum zweiten Mal Zeit für mich hat,’sagte er.

Die Präsupposition ist hier, dass der andereetwas gegen das Gespräch hat, das in diesemFall Bruno mit dem russischen Botschafterführt. Französisch wird dies wiedergegebenmit laissez-le doncusw.

Interessant war die Frage, was bei einerRückübersetzung aus dem Französischenins Deutsche geschehen würde. In manchenFällen ist die Präsupposition hier in derfranzösischen Version nicht deutlich ausge-drückt – man käme in der deutschen Versi-on wohl nicht darauf, sie explizit zu machen.Thematisiert wurde auch der Umstand, dassdie ganzen Redepartikel polysem gewordensind und neben ihrer präsuppositiven Be-deutung in der Regel auch noch eine andereBedeutung haben (etwa ‘doch’ im Sinn von‘aber’: er wollte heute viel erledigen, docher kam unverrichteter Dinge wieder zurück).

1.5 Sitzung am 26.05.2006

CORNELIA LAUFERs Vorlage betraf einenDauerbrenner der romanistischen Diskussi-on: “Der romanische Subjunktiv: seine dia-chrone Entwicklung und die Diskussion umseinen Grundwert.” Da im Deutschen derKonjunktiv völlig anders verwendet wird alsin den romanischen Sprachen, gibt es hiereine abundante, mehr als 100-jährige Dis-kussion namentlich über den ‘Grundwert’,den gemeinsamen Nenner hinter den ver-schiedenen Verwendungsweisen dieses Mo-dus.

CORNELIA LAUFER beschäftigte die Se-minarteilnehmer nach einleitenden Bemer-kungen mit verschiedenen Aufgaben. Dieerste war die Erklärung von einigen Kon-junktiv-Vorkommen in einem Textpassusaus VoltairesZadig; eine zweite die Stel-lungnahme zu möglichen Grundwerten, dieaus einer langen Liste von Termini ausge-wählt werden sollten, darunter solche Ter-mini wie Peter Wunderlis ‘Teilaktualisie-rung des Verbalgeschehens’.

Am Schluss deutete einer der Seminarlei-ter eine wesentlich einfachere Erläuterung

des Konjunktivgebrauchs an, bei der die Be-weislast quasi umgekehrt wird: zu erklä-ren ist nicht der Konjunktiv als der Nor-malfall, sondern der Gebrauch des Indika-tivs in untergeordneten Subjekt- oder Ob-jektsätzen als Sonderfall. Dies hängt mitder Doppelfunktion eines Modus zusam-men, der die syntaktische Funktion hat, Un-terordnung anzuzeigen. Er muss als Mo-dus auch eine modale Funktion haben; die-se kann nicht die des Indikativs sein, alsodie Übernahme der Regresspflicht durch denSprecher. Sie kann nur in einer Einschrän-kung der Regresspflicht liegen. Dies führt inallen Fällen, in denen mit der Semantik desMatrix-Verbs im Hauptsatz zum Ausdruckgebracht wird, dass der Sprecher die Re-gresspflicht übernimmt, zu einem modalenWiderspruch, der mit dem Indikativ im un-tergeordneten Satz vermieden werden muss.Dies sind epistemische Verben (wissen, ge-sehen haben, sagen, behaupten– all die Ver-ben, die den starken Pol epistemischer Mo-dalität bilden (vgl. u. Abschn.1.11, S. 10)und die im Lateinischen denAccusativuscum Infinitivoalias ACI erfordern5.

1.6 Sitzung am 02.06.2006

Zu verhandeln waren zwei Vorlagen: dievon LINA KARAKI , betitelt mit “Der Sub-junktiv in den heutigen romanischen Spra-chen: diasystematische und textsortenspe-zifische Variation sowie syntaktische Au-tomatisierung”; und die von NIKOS MY-TILINAIOS über “Subjekt- und Objektsät-ze im Neugriechischen und in Unteritalien.”– Frau KARAKI fokussierte die Diskussionnochmals auf einige Punkte, die ihr wichtigerschienen: der erste waren die kognitivenGrund-Konzepte von Anna Wierzbicka, so-weit sie etwas mit dem Konjunktiv zu tun

5Raible, Wolfgang. 1980. “Regel und Ausnahme inder Sprache.” In:Romanische Forschungen92: 199-222. – Raible, Wolfgang. 1983. “Knowing and Be-lieving - and Syntax.” In: Parret, Herman (ed.).OnBelieving. Epistemological and Semiotic Approaches-De la croyance. Approches épistémologiques et sémio-tiques. Berlin (de Gruyter): 275-291. – Raible, Wolf-gang. 1992. “The pitfalls of subordination: Subject andobject clauses between Latin and Romance.” In: Bro-gyanyi, Bela & Lipp, Reiner (eds.).Historical Philolo-gy: Greek, Latin, and Romance. Papers in honor of Os-wald Szemerényi II.Amsterdam & Philadelphia (Ben-jamins) (Current Issues in Linguistic Theory, Nr. 87):299-337.

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haben könnten: dies war der Ausdruck ei-nes Wunsches (WANT), Ausdruck der Mög-lichkeit (MAYBE ), Ausdruck des Zweifels(NOT THINK) und der Ausdruck des Man-gels an Wissen (NOT KNOW). In den roma-nischen Sprachen, beispielsweise im Spani-schen (die Überlegungen von Catherine Tra-vis, die sich auf Anna Wierzbicka beruft,bezogen sich speziell auf das Spanische6)spielt in praktisch allen Fällen hier die Op-position zwischen dem Modus Indikativ unddem Modus Konjunktiv eine Rolle. Auchhier wurde wieder nach einem Grundwertgesucht, den es nicht geben kann, statt sichzu fragen, wann der Konjunktiv nicht ste-hen darf (in Wierzbickas Termini wäre diesinsbesondere das KonzeptKNOW – klar, beiNOT KNOW darf ja der Konjunktiv stehen).

Eine längere Diskussion ergab sich an-hand von soziokulturellen Parametern fürden Gebrauch oder Nicht-Gebrauch desKonjunktivs. Der Rückgang des Konjunk-tiv-Gebrauchs bei der zweiten und drittenGeneration von ehemaligen Migranten inKalifornien wurde als ein nur bedingt gutesBeispiel für eine generelle Tendenz angese-hen. Interessanter sind die Beobachtungenzum unterschiedlichen Gebrauch zwischenSprecherinnen und Sprechern – aber auchhier muss man stark zwischen Types und To-kens, zwischen den Mustern und den kon-kreten Vorkommen oder Realisierungen vonsolchen Mustern, unterscheiden: nur dann,wenn die Types zurückgehen, kann man voneinem Rückgang des Konjunktivs sprechen.

Ein weiterer Punkt, der angesprochenwurde, war die Verwendung des Konjunk-tivs oder des Indikativs nachel hecho deque:steht es vor dem finiten Verb, wird dasSyntagma also ‘thematisch’ gebraucht, stehtvorzugsweise der Konjunktiv7; wird el he-cho de quehinter dem finiten Verb eines Sat-zes verwendet, steht normalerweise der In-dikativ.

Die sozialen Parameter spielten nochmalseine wichtige Rolle bei dem französischenKonjunktiv-Vorkommen, die anhand der

6Travis, Catherine Elizabeth. 2003: “The semanticsof the Spanish subjunctive: Its use in the natural se-mantic metalanguage”. In:Cognitive Linguistics14(1):47-69.

7‘Thematischer Gebrauch’ bedeutet ‘ungewöhnli-che Stellung’ – daher steht als weiteres Sicherheitsnetzfür Unterordnung der Konjunktiv.

Dissertation von Ralph Ludwig behandeltwurden8. Hier ist der Konjunktiv-Gebrauchstark abhängig von Verwendungskontext.Es ergab sich aber wiederum, dass man sehrgenau achten muss nicht auf die absoluteZahl von Konjunktiv-Vorkommen, sondernauf die verschiedenen Types. Nur dann,wenn die Zahl der Types hoch ist, kannman von einer starken Verankerung desKonjunktivs sprechen.

NIKOS MYTILINAIOS tat sich etwasschwer, seinen Kommilitoninnen die eigent-liche Problematik vorzustellen, die charak-teristisch ist für die Balkansprachen, inklu-sive Neugriechisch und die ehemaligeMa-gna Graecia, also Unteritalien und Sizilien.Er hielt sich länger mit der Frage auf, warumdie ‘perfektive Nicht-Vergangenheitsform’im Griechischen futurische Bedeutung hat(na grapso, tha grapso, wo die Formgrap-so allein perfektive Bedeutung hat, die Fu-turpartikel (tha) oder die Konjunktivparti-kel (na) jedoch dem Ganzen eine zukünfti-ge Bedeutung geben). Vermutlich liegt hierder aus vielen Sprachen bekannte Effekt vor,dass eine perfektive Form (die per se Ab-geschlossenheit bedeuten muss), wenn siemit dem Präsens verbunden wird, logischer-weise nur eine futurische Bedeutung habenkann9.

Das eigentlich Interessante an dem Bal-kan-Sprachbund-Phänomen, um das es ge-hen sollte, war, dass die Unterordnung vonSätzen nicht etwa durch zwei –in Abhängig-keit vom Matrix-Verb– konkurrierende Mo-di im Nebensatz ausgedrückt wird (Indika-tiv vs Konjunktiv), sondern dass diese Auf-gabe auf die Konjunktion am Anfang desNebensatzes übertragen wird. Dasselbe Phä-nomen gibt es auch im Bereich derMagnaGraecia, also in Unteritalien. In den Fällen,in denen in anderen Sprachen das Matrix-verb mit Indikativ im Nebensatz stehen wür-de, steht dort die Konjunktion A am Anfangdes Satzes, in den Fällen, in denen im unter-

8Ludwig, Ralph. 1988.Modalität und Modus im ge-sprochenen Französisch.Tübingen : Narr (ScriptOra-lia ; 7).

9Raible, Wolfgang. 1990. “Types of tense and as-pect systems.” In: Bechert, Johannes/Bernini, Giuli-ano/Buridant, Claude (Eds.),Toward a Typology ofEuropean Languages.Berlin & New York : de Gruyter,: 195-214 (Empirical Approaches to Language Typo-logy ; 8).

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ordneten Satz der Konjunktiv stehen würde,steht die Konjunktion B. A ist im Griechi-schenpôs oder hoti, im Rumänischen undunteritalienischen Sprachenca (aus Latei-nisch quia). Der Typ B wäre im Rumäni-schensa, im Griechischenna oder tha, inunteritalienischen Dialektenmu (aus Latei-nischquomodo/modo). Der ‘Vorteil’ dieserLösung liegt in den unteritalienischen Dia-lekten darin, dass man keinen Konjunktivmehr braucht bzw. das Problem des moda-len Widerspruchs durch eine jeweils eigeneKonjunktion gelöst wird10.

Offen blieben zwei Fragen: Haben dieuntergeordneten Verbformen, also die nachmo/mu und ca, in den unteritalienischenDialekten noch eine Tempus-Informa-tion?11. Die zweite Frage, die durch SÓNIA

ISABEL ESTEVÃO GRILO in der nächstenSitzung geklärt werden sollte, aber niegeklärt wurde, war die, ob zwischen dempersönlichen Infinitiv des Portugiesischenund der Konjunktiv-Infinitiv-Lösung desGriechischen strukturelle Parallelen beste-hen. Es wäre die unterordnende Funktioneiner weniger finiten Verbform, die aller-dings Informationen zur Person und zumNumerus enthält – was der von der latei-nischen Grammatik geprägten Vorstellung‘Infinitiv’ zuwiderläuft, aber in vielen Spra-chen vorkommt und nur für Personen miteinem spezifischen linguistischen Weltbildetwas ‘Exotisches’ darstellt.

1.7 Sitzung am 16.06.2006

Gegenstand der Diskussion war die Vorla-ge von BARBARA STÜBNER über “Moda-lisierung und Subordination. Das Beispielder sog. parenthetischen Verben und struk-turell verwandter Modalisierungsverfahrenim komplexen Satz.” Aufgabe dieser paren-thetischen Verben (der deutsche Typglaubich) ist es, eine Assertion abzuschwächen.Mit den Worten von Émile Benveniste gehtes um eineassertion mitigée12: “Ich habe

10Es ist die Information, die man im Deutschendurchob unddassin Sätzen mit ‘ich wusste nicht . . . ’bekommt.

11FRANCESCOAZZARELLO, aus Palermo gebürtig:sie haben.

12Émile Benveniste. 1966. “De la subjectivité dansle langage.” In : ders.,Problèmes de linguistiquegénérale, 1.Paris : Gallimard: 258-266. Herunterlad-bar unter

glaub ich meinen Schlüsselbund verloren”bringt zum Ausdruck, dass ich wohl mei-nen Schlüsselbund verloren habe, mir des-sen aber noch nicht ganz sicher bin.

Da solche Parenthesen nur dann die As-sertion beeinträchtigen können, wenn siesich auf die konkrete Sprechsituation be-ziehen, sind sie im Prinzip nur im Prä-sens und in der ersten Person Singular mög-lich, sie sind also in ihrer Finitheit redu-ziert – im Deutschen drückt sich dies auchin der Nebensatz-Stellung (glaube ich) aus.Es dürfte auch klar sein, dass solche mo-dalen Parenthesen nur mit solchen Verbenmöglich sind, die normalerweise den Kon-junktiv erfordern: also solchen, mit denenman nicht die Übernahme der kommunika-tiven Regresspflicht thematisiert. Interessantist in diesem Zusammenhang freilich, dassdas Verb ‘glauben’, das auch bei Gebrauchin der ersten Person Singular im Spanischenund Französischen nur mit Indikativ im un-tergeordneten Satz möglich ist, im parenthe-tischen Gebrauch die Assertion abschwächt;dass es also so funktioniert wie ‘je suppose’,‘je présume’.

Frau STÜBNER ließ, nachdem sie einenKatalog von Kriterien für parenthetischeModalausdrücke aufgestellt hatte, Beispieleanalysieren. Sie stammten aus den Arbeiten,die sie herangezogen hatte, also insbeson-dere aus der von Hanne Leth Andersen13.Dazu kam noch ein rezentes Interview ausdem deutschen Fernsehen – dabei wurde al-len klar, wie stark in Fernsehdiskussionenoder Fernsehinterviews, schon aus Gründender Höflichkeit, modalisiert wird: “ich wür-de sagen...”, “sozusagen”, “sagen wir mal...”usw., also die typischenhedge-Ausdrückeim Bereich der Modalisierung. – Daraus er-gab sich noch eine kleine Zusatzdiskussionüber den Sinn von Höflichkeitsstrategien.

1.8 Sitzung am 23.06.2006

Anhand der Vorlage von JOHANNA FRECH

wurde das Thema “Evidentialität und affi-

http://latina.phil2.uni-freiburg.de/raible/Lehre/2006/Materialien/Benveniste.pdf

13Hanne Leth Andersen. 1996. “Verbes parenthéti-ques comme marqueurs discursifs.” in: Muller, Clau-de (ed.).Dépendence et intégration syntaxique.Tübin-gen : Niemeyer.

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ne Konzepte (Mirativität, Surprisativ): Be-griffsdefinition und Exemplifizierung an-hand ‘reiner’ (stark morphologisierter) Evi-dentialsysteme” behandelt. Es geht bei Evi-dentialität, Mirativität, Überraschungsfor-men, um Erscheinungen, die in den Spra-chen der Welt relativ häufig sind: der Spre-cher lässt erkennen, ob er sich für die Rich-tigkeit einer Aussage selbst verbürgen kann,insbesondere durch Evidenz (er hat das, wo-von er redet, selber gesehen). Dabei gibt esdirekte Evidenz oder indirekte Evidenz –z. B. über Hörensagen. Systeme mit indirek-ter Evidenz sind häufiger als Systeme mit di-rekterund indirekter.

Bei der Verteilung fällt sofort die fast völ-lige Abwesenheit der vielen afrikanischenSprachen auf (Abb.1 auf S.13). In Euro-pa sind ‘Evidentialis-Sprachen’ das Bulgari-sche, das Türkische und die generell die Fa-milie der Türksprachen, das Persische unddie Neuiranischen Sprachen. Weit verbrei-tet sind Evidentialsysteme an der WestküsteKanadas und der Vereinigten Staaten sowieim Amazonasgebiet.

Im Deutschen und in den romanischenSprachen gibt es einen indirekten Evidentia-lis: in den romanischen Sprachen geht es umden Modus Conditionalis im Hauptsatz, mitdem die Assertion auf eine nicht genanntedritte Person verschoben wird; und es gehtum Verben wie ‘müssen’ im Deutschen: “ermuss schon unterwegs sein [dies schließeich aus verschiedenen Umständen].” Sol-che Kategorien wie ‘Mirativ’ werden in denromanischen Sprachen oder im Deutschenproblemlos auch ausgedrückt mit solchenSyntagmen wie ‘schau mal’, Spanisch pas-send zum Mirativ:¡mira! und dergleichen.

Unter den Sprachen mit Evidenz-Syste-men gibt es solche, die bis zu fünf Stu-fen unterscheiden. Deutlich wurde, dasssolche Evidenz-Systeme besonders häufigin Verbindung mit Vergangenheitstemporavorkommen dürften, z. T. wohl auch mitGegenwartstempora, wenn etwas für bei-de Kommunikationspartner nicht gleicher-maßen sichtbar oder wahrnehmbar ist. Klarsein dürften auch typische Grammatikali-sierungskanäle für Evidentialis-Formen:se-hen, hören, sagensind wohl die typischstenAusgangspunkte von Entwicklungen, die indiese Richtung gehen. Eine weitere Quellesind epistemische Verben.

Die Frage, die am Schluss offen blieb, dieaber in einer späteren Sitzung noch am Ran-de verhandelt wurde, betrifft das Verhältniszwischen Modus (nicht Modalität) und Evi-dentialität (s. Abbildung2 auf S.13).

1.9 Sitzung am 30.06.2006

Vorgesehen waren zwei Vorlagen: eine vonSÓNIA ISABEL ESTEVÃO GRILO über“Evidentialität im Romanischen: die moda-le Verwendung von Tempusformen, vor al-lem des Imperfekts und des Futurs”; die an-dere von SABINE K IEMLEN “Evidentiali-tät im Romanischen: Romanische Modal-verben im evidentiellen Gebrauch”. Verhan-delt werden konnte nur eine, die von FrauK IEMLEN, weil die sich andere Referentinwegen Arbeitsüberlastung aus dem Seminarzurückgezogen hatte. Dabei ging es dannaber vor allem um einen Aufsatz von Ma-rio Squartini, der der Vorlage der Referentinzugrunde lag. Sein Thema: ein Problem, dasuns schon zu Beginn des Seminars mehrfachbeschäftigt hatte: der permanente Übergangzwischen Evidentialität, epistemischer undauch deontischer Modalität14.

Die Frage, die man sich hier stellen kannund die im Verlauf des Seminars schondes öfteren gestellt wurde (o. Abschnitt2,S.3), lautet: macht es überhaupt Sinn, ineiner Sprache, in der solche Unterschei-dungen nicht grammatisch-obligatorisch ge-macht werden müssen, nach dem sprach-lichen Ausdruck entsprechender kognitiverKategorien zu suchen? Dies macht durch-aus Sinn, weil –und hier sei erneut auf dasscholastische Zeichenmodell (Abb.3 auf S.14) verwiesen– die entsprechenden kogniti-ven Inhalte bzw. Kategorien gegeben sind,weil sie also ausgedrückt werden, allerdingsnormalerweise nicht in einem 1:1-Verhältniszwischen Inhalt und Form, sondern in ei-ner etwas komplexeren Verteilung. Es wer-den also mehr Mittel eingesetzt, um etwaszu erreichen, was in anderen Sprachen starkgrammatikalisiert ist.

Der Ansatz von Mario Squartini bestehtdarin, im Vergleich zwischen drei romani-schen Sprachen herauszuarbeiten, dass –we-gen unterschiedlicher Verteilung der jewei-

14Mario Squartini. 2004. “Disentangling evidentiali-ty and epistemic modality in Romance.”Lingua 114:873-895.

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ligen Eigenschaften– auf kognitiver EbeneUnterschiede zwischen Evidentialität undepistemischer Modalität angenommen wer-den dürfen.

“The basic problem is that in sev-eral languages grammatical markerscan be found showing different formsof cluster of the two notions, thus blur-ring the conceptual distinction.”

Eine erste Erkenntnis ist die, dass dasfranzösischedevoir sowohl in den Vergan-genheitstempora wie im Präsens mit futuri-scher Bedeutung verwendet werden kann:

“Especially in those contexts wherethe French synthetic Future is barredor morphologically unavailable (Sub-junctive, Future Infinitive, Future Par-ticiple, if clauses),devoir tends to beused in a pure futural meaning.” (S.879)

Die entsprechende futurische Bedeutung istbei ital.dovereim Präsens nicht vorhanden.

“The distinctive behaviour of the Con-ditional and the Present Indicative canbe interpreted assuming that the epi-stemic degree of the commitment onthe factuality of the situation plays acrucial role”:

Im Italienischen ist die reportative Funkti-on von dovere im Allgemeinen auf Fällevon nicht-Faktizität oder nicht-Eintreten fürdie kommunikative Regresspflicht charakte-ristisch. Es gilt:

“The data on conditional clauses con-clusively show that in Italiandovere+ infinitive is only admitted if com-bined with non-factuality, thus con-firming the intrinsic non-factual valueof the construction.” (S. 887)

Beim Spanischen ist interessant:

“When used with the perfective aoristicpast (Spanish Simple Past or PretéritoIndefinido) tener que[. . . ] and haberde [. . . ] are interpreted as deontic,whereasdeber is interpreted not onlyas deontic but also as non-factual [...]”

Für Squartini bedeutet dies, dass die nicht-Faktizität kognitiv als eine getrennte Ein-heit aufgefasst werden kann, die je nach

Sprache sich mit anderen Faktoren verbin-den kann. Ähnliche Unterscheidungen wer-den dann noch an hypothetischen Konditio-nalgefügen gezeigt.

Insgesamt erweist sich (und dies ist natür-lich nicht neu, s. o. Abschn.1.8, S.8), dassdas Konditional in allen romanischen Spra-chen eine reportative Funktion hat, und dasses deswegen auch für hypothetische Sach-verhalte gut geeignet ist.

1.10 Sitzung am 07.07.2006

Die Arbeit von SONIA RAMÍREZ war demThema “Evidentialität und Logophorizität:die morphologischen Spezifika der Rede-wiedergabe und ihre modalisierende Dimen-sion” gewidmet. Dies ist ein Gebiet, dasin jeder Sprache von Bedeutung sein muss,weil man nicht nur über Reiseerlebnisse,jede Art von Ereignissen, von Geschehen,nicht nur über eigene Überlegungen redet,sondern auch darüber, was andere gesagt ha-ben oder gesagt haben sollen. Und da dieAnzeige dessen, ob man für etwas, was mansagt, regresspflichtig gemacht werden willoder nicht, in der sprachlichen Kommunika-tion zentral ist, dürfte eine solche Anzeigebei der Wiedergabe der Rede anderer vonbesonderer Wichtigkeit sein. Daher kenn-zeichnen wir solche Aussagen dann als di-rekte Rede anderer (Herr X hat behauptet,dass . . . ), als indirekte Rede oder als erlebteRede.

Für diese Art von Signalisierung der kom-munikativen Distanz gibt es oft spezielleFormen wie den Konjunktiv I im Deutschen;für die romanischen Sprachen kann manganze Tabellen aufstellen, welche direkteForm in der indirekten Rede in welche Formtransponiert wird: Präsens zu Imperfekt, Fu-tur zu Konditional etc. Besonders raffiniertist allemal die erlebte Rede, die dem Le-ser (es handelt sich wohl um eine schrift-kulturelle Form) erst auffällt, wenn er einbesonderes Gespür dafür entwickelt hat: da-her wohl auch die vielen Bezeichnungen desPhänomens:stream of consciousness, sty-le indirect libre, estilo indirecto libre, ora-tio quasi oblicua, estilo indirecto encubier-to, ecos irónicos. Während in der indirektenRede alle Deiktika, also die personalen, dielokalen und die temporalen, umgesetzt wer-

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den müssen, bleiben neben anderen Signa-len der direkten Rede auch die lokalen unddie nicht-verbalen temporalen erhalten. Kä-te Hamburger hat viele solche Beispiele ge-sammelt – sie erscheinen ohne Kontext ‘un-logisch’ wie etwa “heute Abend wollte derKönig Flöte spielen”. Erst wenn man weiß,dass Friedrich II. gesagt hat: “heute Abendwill ich Flöte spielen”, wird der Satz ver-ständlich15.

Die Wichtigkeit der ‘Logophorizität’wird unterstrichen durch die Vielzahl vonSignalen, die es zu ihrer Anzeige gibt: lexi-kalische, syntaktische, prosodische und gra-phische. Logophorizität ist von der Naturder Sache her aufs Engste mit der Eviden-tialität verknüpft (eigene Anschauung durchselbst gehört haben, Anschauung durch Hö-rensagen oder durch Inferenz).

Da der Berichterstatter zwar die Ar-beit selbst intensiv rezipiert hat, wegen ei-nes Blockseminars auf dem Schauinsland(“Sprache und Gehirn”) aber nur noch ander letzten halben Stunde der Sitzung teil-nehmen konnte, hat er, was die Sitzung an-geht, im Übrigen z. T. selbst nur Evidenzvom Hörensagen.

1.11 Sitzung am 14.07.2006

Es waren unter dem generellen Thema“Modalität und Polarität: Zusammenspielvon und Wechselwirkungen zwischen Mo-dalverben und Negation im Romanischen”zwei Vorlagen zu verhandeln: die von SO-PHIA LUI mit Schwerpunkt auf “Grundbe-griffe und Typologie der Polarität”, und dievon ANDREA RAABE zur “Polarität undPragmatik im Italienischen”.

Es ging in beiden Fällen zwar um dasgleiche Thema. Die Ansätze zur Behand-lung waren jedoch recht verschieden: SO-PHIA LUI behandelte ihr Thema anhand voneinschlägigen Satz-Beispielen und entspre-chenden Tests (“Klima-Test”)16. ANDREA

RAABE, deren Vorlage völlig auf der Dis-sertation und einem Aufsatz von Cristina

15Hamburger, Käte.41994.Die Logik der Dichtung.Stuttgart : Klett-Cotta.

16Dascaveas!gegenüber den Satzbeispielen, das wirmehrmals ausgesprochen hatten (o. Abschn.2, S.3),konnte sie nicht berücksichtigen, weil die fertige Ar-beit schon Mitte April vorlag.

Bertoli Sand beruhte17, kam es dagegen aufdie Einbettung von Negation in pragmati-sche Kontexte an. Die zentrale Gemeinsam-keit beider Arbeiten war die Frage danach,wie epistemische und deontische Prädikatebei der Negation behandelt werden.

Das Grundproblem der Arbeit von SO-PHIA LUI war zum einen der Skopus derNegation eines Modalverbs –¿was verändertsich bei einer Abfolge (MOD (NEG (p)))gegenüber (NEG (MOD (p)))?–, illustriertbeispielsweise durch die SätzeElvis may notbe at a concertgegenüberElvis can’t be ata concert.Was sich dabei letztlich heraus-stellt ist, dass es im Englischen eine Skalavon Modalverben gibt: ihr schwacher Pol istmay/can, ihr starkermust, währendshoulddie mittlere Position besetzt.Beidekönnen–je nach Kontext– epistemischoder deon-tisch sein. Den Unterschied merkt man aufjeden Fall erst bei der Negation: beim deon-tischen System wird zur Negation der ein-gebetteten Propositionmust notverwendet,zur Negation des modalen Elementsneednot. Im epistemischen Fall wirdcan’t ver-wendet zur Negation des eingebetteten Sat-zes,may notfür die Negation des modalenVerbs.

Auch im Italienischen kann man Ska-len für deontische und epistemische Verbenaufstellen. Auch hier gibt es natürlich denschwachen und den starken Pol. Im Fall derdeontischen Modalität istpotere das eineExtrem,bisognareoder essere neccessariowären auf der anderen Seite. Dazwischenliegt danndovere, volereusw. Im Fall derepistemischen Modalität ist es auf der einenSeiteessere possibile, auf der anderen Sei-te sind es die Verben, die in Komplement-sätzen den Indikativ erfordern (sapere, es-sere certo, essere chiaro– vgl. o. Abschn.1.5, S.5 zum obligatorischen Indikativ stattdes sonst gebotenen Konjunktivs in roma-nischen Sprachen). Die Mittelposition wirdhier eingenommen voncredere, dovere, sup-porreusw.

Das Typische ist nun im Italienischen,dass es eine Gruppe von Verben gibt, beidenen im Fall vonnegation raisingkeineeigentliche Bedeutungsveränderung eintritt

17Bertoli Sand, Cristina. 2004.Negation und Prag-matik : das so genannte Negation Raising im Italieni-schen.Titz : Lenzen. (Sprachen in Forschung und Leh-re ; 2)

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– wie sie etwa eintritt, wenn manich be-haupte nicht, dass . . .einemich behaupte,dass nicht . . .gegenüberstellt.Ich glaubenicht, dass er kommtwird mehr oder min-der gleichbedeutend behandelt wieich glau-be, dass er nicht kommt. Das Besondere desAnsatzes von Cristina Bertoli Sand bestanddarin, dass sie, im Einklang mit anderen,früheren Arbeiten, hier Höflichkeit ins Spielgebracht hat. Es ist allemal höflicher, alle-mal ein Ausdruck höheren sozialen commit-ments, zu sagen:non credo che verràalscredo che non verrà.

In der Regel kann man feststellen, dassdie germanischen Sprachen, speziell dasEnglische, im Fall der deontischen und derepistemischen Modalität die gleiche Skalavon Verben verwenden, dass dieselben Ver-ben im Fall der Negation aber nicht mehrverwendbar sind, sondern gegen andere aus-getauscht werden: sprachtypologisch alsoein Modal Suppletion System. Die romani-schen Sprachen haben hier stattdessen dieNegation Placement Strategy: die Verbenbleiben lexikalisch identisch, durch die Ver-änderung der Position des Negators werdenbestimmte Effekte erzielt.

SOPHIA LUI hatte ihren Stoff sicher inder Hand. Für ANDREA RAABE blieb aller-dings nur relativ wenig Zeit übrig, weil ihreKommilitonin wesentlich mehr als die Hälf-te der verfügbaren Zeit beansprucht hatte.

1.12 Sitzung am 21.07.2006

STEFFI KNY hatte mit dem Thema “DieModalitätslehre der scholastischen Gram-matik und ihr Niederschlag in Grammati-ken romanischer Sprachen bis zurgram-maire générale et raisonnée” die letzte re-guläre Sitzung zu bestreiten. Sie hatte damiteine Aufgabe, die ihrem Status als Studie-rende des StudiengangsMaster of EuropeanLinguisticsin doppelter Weise gerecht wur-de: es ging um Grundlagen der europäischenSprachwissenschaft und um eine Aufgabe,die den zehn (gegenüber den sonstigen acht)ECTS-Punkten gerecht wurde.

STEFFI KNY hatte nämlich über einegrundlegende Phase der Geschichte des Ok-zident zu berichten, über die Scholastik, dievon der Hochkultur des arabischen Spanienausgelöst wurde und weitreichende Folgenhatte. Was die Grammatik angeht, sei unbe-

scheidenerweise auf einen Beitrag des Chro-nisten verwiesen18.

Frau KNY gab zunächst einen Überblicküber die Sprachphilosophie der Scholastikund die Grammatikschreibung im Mittelal-ter. Es geht um die Rezeption derArs gram-maticavon Donat [Mitte 4. Jh n. Chr.] undderInstitutiovon Priscian [491-518, stammtaus Mauretanien und hat in Ostrom ge-schrieben] sowie ihre weiterführende Kom-mentierung insbesondere im 13. Jahrhun-dert bei den scholastischen Modisten (1240-1300). Erwähnt wurde hier zunächst dieSuppositionslehre, d. h. die verschiedenenArten, in denen man sprachliche Zeichenverwenden kann: für Individuen, für Grup-pen, für Klassen von Gruppen, aber auch,als suppositio materialis, also im Sinn desSprachmaterials (“‘Kny’ hat drei Buchsta-ben”).

Die Besprechung der scholastischen Op-position vonmodalitas de reundmodalitasde dictowurde von der Referentin eingebet-tet in die Satzanalyse, die man nach logi-schen und nach sprachlich-inhaltlichen Kri-terien betreiben kann. Diemodalitas de reschaut auch auf den Inhalt des Satzes, d. h.auf seine Bedeutung im Zusammenhang mitder Referenz, diemodalitas de dictobeur-teilt dagegen ‘wahr’ und ‘falsch’ nach aus-sagelogischen Gesichtspunkten.Modalitasde redürfte so mit dem verwandt sein, wasoben (Abschn.1.1, S.3) ‘alethisch’ genanntwurde.

Die Lehre der Modisten versteht man ambesten anhand des vierpoligen Zeichenmo-dells am Ende dieser Synthese (Abb.3 u.auf S.14). Sein universalgrammatischer An-spruch ergibt sich aus den Kriterien, die Ari-stoteles an Wissenschaft und Wissenschaft-lichkeit (gegenüber einer Kunst) gestellt hat– ars grammaticawar bis dahin nur ei-ne ’Kunst der Grammatik’. Erläutert wur-den auch diemodi significandi essentialesund accidentalesvon sprachlichen Zeichenmit einer Bedeutung (Pol dersignificatioinAbb. 3 u. auf S.14). Aus der Frage danach,

18Raible, Wolfgang. 1987. “Comment intégrer lasyntaxe dans la sémantique. La solution des grammairi-ens scolastiques.” In: Lüdi, Georges & Stricker, Hans &Wüest, Jakob (eds.).‘ROMANIA ingeniosa’. Festschriftfür Prof. Dr. Gerold Hilty zum 60. Geburtstag. Mélan-ges offerts à Gerold Hilty à l’occasion de son 60e anni-versaire.Bern etc.: Peter Lang, 497-510.

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wozu diemodi significandi accidentales(imLateinischen bei Nomina: Genus, Numerus,Kasus) nötig sind, hat sich eine Kongruenz-lehre und von da aus eine Syntax entwickelt,die es weder bei Donat (eine reine Wortar-ten-Lehre) noch bei Priscian gab.

Im Anschluss daran wurde der Einflussder scholastischen Grammatik auf die roma-nischen Grammatiken behandelt: gering ister in der italienischen Grammatik des 16.Jh.s (wichtig für die Rezeption der Scho-lastik ist, dass der Humanismus der Re-naissance die Scholastik als Negativ-Folieverwendet hat, von der er sich abhebenwollte), größer in der spanischen Gramma-tik (Nebríja), am größten in dergrammairegénérale et raisonnéevon 1650 sowie, zu-vor, im 16. Jahrhundert, schon bei Sancti-us/Sánchez, der allerdings nur kurz gestreiftwurde.

Bedauerlich ist, dass das viel leistungs-fähigere Zeichenmodell der Scholastik lan-ge in Vergessenheit geriet. Denn solangedie Scholastiker, wie hier die Modisten,nur denken mussten, waren ihre Leistungenausgezeichnet. Nur Naturwissenschaft lässtsich nicht betreiben, wenn man keine Empi-rie machen will oder anhand von Autoritä-ten schon vorher weiß, was herauskommenmüsste.

STEFFI KNY musste die Sitzung ohnedenjenigen der beiden Seminarleiter bestrei-ten, der die scholastischen Lehren besondersgut kennt19.

2 Generalia

Das Seminar war von seiner Thematikund seiner Bandbreite her nicht gerade an-spruchslos. Gleichzeitig wurden jedoch ei-ne Menge von Aspekten behandelt, die fürjeden Romanisten zentral sind: Indikativ /Konjunktiv im untergeordneten Satz, Re-dewiedergabe, Unterschiede bei den episte-mischen und den deontischen Verben zwi-schen den germanischen und den roma-nischen Sprachen, der romanische Condi-tionalis im Hauptsatz als Evidentialis (im

19Wolfgang Raible musste zum Wissenschaftsforumin München sein und wirkte an einem bestens besuch-ten Workshop über elektronisches Publizieren (spezi-ell: Vernetzungsstrukturen) mit, der von Freitag 21.7.15h bis Samstag 22.7. 13h dauerte.

Sinn von Verschiebung der Regresspflichtauf einen Dritten), Strategien der verbalenHöflichkeit.

Was die Teilnehmer trotzdem immer wie-der beschäftigt hat, war die Frage danach,was Evidentialitäts-Kategorien, die in die-ser Breite in romanischen Sprachen und imDeutschen nicht grammatikalisiert sind, ineinem solchen Seminar zu suchen haben.Antworten wurden mehrfach gegeben, zu-erst o. in Abschnitt1.2, S. 3. Die beste,die man am Ende des Seminars geben kann,ist der erneute Verweis auf das scholasti-sche Zeichenmodell (Abb.3 auf S.14): Dieganzen Unterscheidungen existieren auf derKonzeptebene, sie gehören also zu unseremkognitiven Inventar. Sie können damit in al-len Sprachen ausgedrückt werden, nur ebenmit unterschiedlichen Mitteln. Das wurdevielfach deutlich – z. B. schon anhand derdeutschen Partikeln und ihrer Äquivalente(o. Abschn.1.4, S.4).

Was bei den Studierenden auffiel warnicht nur, dass der eine oder die anderesich mit ihren Themen etwas schwer taten,sondern dass manche ein Seminar immernoch als eine Veranstaltung missverstehen,zu der man kommt, wenn man will (auf je-den Fall zu der Sitzung, bei der man in an-deren Seminarformen vorzutragen hat); Se-minare können nur als kooperative Veran-staltungen gelingen, zu denen alle beitragen,und zwar in jeder Sitzung. Manchmal ge-lang dies sogar ganz gut.

Auffällig war auch, dass manche Teilneh-mer geradezu elementare Schwierigkeitenmit dem Verfassen von Texten haben. Dieswird seit Mitte der 90er Jahre des vergange-nen Jh.s von Dozenten zunehmend beklagt(es betrifft umgekehrt auch die Fähigkeit,wissenschaftliche Texte zu lesen und zu ver-stehen) und sollte von den Betroffenen sehrernst genommen werden. Schreibfähigkeitist ein Gut, das sich erst in einem schuli-schen Training von 12 bis 13 Jahren auf-und ganz rasch wieder abbaut, wenn mannicht laufend trainiert.

Ein weiterer Punkt, der auffällt, ist dieAnsicht, es genüge, zu einem Thema eineAutorität zu referieren: Wissenschaft bedeu-tet kritische Rezeption und Beteiligung aneinem permanenten Diskussionsprozess. Invielen Fällen waren die Ergebnisse auch indieser Hinsicht allerdings sehr erfreulich.

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3 Abbildungen

Abbildung 1: Es handelt sich um eine Karte aus demWorld Atlas of Language Structures,in der es um das Vorkommen und um die Realisierungsart von Evidentialis-Formen geht.Als Vektorgraphik kann die Karte stark gezoomt werden. Die Punkte in der Legende bedeu-ten v.o.n.u.: keine grammatikalisierten Evidentials [181]; realisiert als Verbal-Affixe oderKlitika [131]; Teil des Tempussystems [24]; als spezielle Partikel [65]; als Modalpartikel[7]; gemischt [10].

Abbildung 2: Dieses Schema vedeutlicht zweierlei: (1) das Verhältnis, das ein Sprecher zuseiner Regresspflicht haben kann und die grammatischen Modi –jeweils in eckigen Klam-mern–, die in einzelnen Sprachen dieses Verhältnis ausdrücken können. (2) Die Stellen, andenen man Evidentialis-Formen zu suchen hat bzw. finden kann.

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Abbildung 3: Tetradisches scholastisches Zeichenmodell. Um zu verstehen, was alles andie Stelle von ‘conceptus’ gehört, seien einige Beispiele genannt: die Betrachtung einesStummfilms ohne Untertitel; solche Größen wie ‘Schema’, ‘script’, ‘Szenario’, ‘Super-struktur’, ‘Makrostruktur’. Ohne ein solches Modell kann man unmöglich Sprachwandeloder die Übersetzung von einer Sprache in die andere erklären. – Weiterhin: Die typischenFehleinschätzungen der Prototypensemantik rühren daher, dass man nicht sieht, dass siesich mit der Konzept-Ebene befasst, nicht mit der sprachlichen (significationes). EleanorRosch hat immer Kognitionspsychologie betrieben, nie sprachliche Semantik. – Die Über-setzung des scholastischen Slogans oben lautet: “Die Wörter (voces) bedeuten (significatio)die Dinge (res) vermittelt über die Konzepte.”

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