Computerschach arno 2012 (I) 'LHVFK|QH QHXH:HOW GHU 6FKDFKHQJLQHV · 2013. 4. 24. · von...

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'LHVFK|QHQHXH:HOWGHU 6FKDFKHQJLQHV Die meisten Schachspieler haben zu ihrem PC ein ähnliches Ver- hältnis wie zu ihrem Auto oder ihrem Fernseher. Man ist froh, wenn es oder er läuft, und stellt keine besonderen Ansprüche. Stö- rungsfrei und kostengünstig soll es sein. Man braucht keine 200 PS und auch keine 200 Programme. Gebrauchsanleitungen verschwin- den nach dem Kauf ungelesen in einer Schublade – bis zum Tag X, an dem ein Problem auftritt. Dann sucht man sie (vergebens) und ruft schließlich einen Freund an, der sich besser auskennt und hoffent- lich schnell helfen kann. Nach und nach lernen wir einiges durch Ausprobieren und/oder wieder- holte Tipps unseres Freundes, doch wenn wir endlich das Gefühl haben, einigermaßen firm zu sein, passiert etwas gänzlich Unvorher- gesehenes: ein Programm-Update stellt die Grafik unseres Compu- ters auf den Kopf, nichts ist mehr dort, wo es einmal war... Es dauert geraume Zeit, bis wir diesen Schicksalsschlag verwun- den haben, doch auch nach der Wiederherstellung der PC-Ord- nung bleibt die Welt nicht lange friedlich. Wieder einmal wollen wir unseren Freund einbestellen, der aber sträubt sich dergestalt: ,,Wann trennst du dich endlich von diesem Schrott?“ Ups! Fluch und Segen des technischen Fortschritts – das sind die beiden Seiten, die auch die Entwicklun- gen im Bereich der Schachengi- nes 1 markieren. Und das in immer stärkerem Maße, so dass sich schon seit Jahren eine wachsende Verunsicherung in der Schach- welt breit macht. So schön es ei- nerseits ist, dass wir uns compu- tergestützte Live-Analysen der Partien via Internet ins Haus holen können, wo – so fragen viele be- sorgt – bleibt bei all der Informati- onsflut der Mensch und dessen selbständiges Denken? War Schach nicht einst ein geistiger Wettstreit von Persönlichkeiten, ästhetisch reizvoll und berichtens- wert für die Nachwelt? Die ,,gute alte Zeit“ ist passé, die ,,gute neue“ müssen wir durch ei- nen bewussten und kompetenten Umgang mit der Technik erst selbst schaffen. Dass dies möglich ist und teilweise schon vor unse- ren Augen geschieht, zeigen auch Beispiele aus dem Schachbereich. 'HU0HQVFKLP 0LWWHOSXQNW Mit großem Genuss verfolgte ich unlängst den Video-Livestream der London Chess Classic, wo wechselnde Kommentatoren englische Großmeister, aber auch Turnierteilnehmer – die laufenden Partien analysierten und dem Zu- schauer dabei einen phantasti- schen Einblick in das großmeister- liche Denken boten. In lockerem Ton, stets auch zu einem Scherz aufgelegt und sich selbst nicht zu ernst nehmend, wurde im ständi- gen Disput versucht, sich in die Köpfe der Weltklassespieler hin- einzudenken, wurde um Ideen und Vorhersagen gerungen. Engines bemühte man nur gelegentlich. Eine brillante Idee war es, den je- weils spielfreien Turnierteilneh- mer aufs Podium zu holen, um ihn in die Analyse einzubeziehen und zu verschiedenen Themen un- kompliziert zu befragen. Hier stand definitiv der Mensch im Mittelpunkt! London war nicht nur ein großes Turnier, sondern auch ein Fest für den Live-Zu- schauer am heimischen PC und damit, so denke ich, für die gesam- te Schachwelt! Ein anders gelagertes jüngeres Beispiel, das mir gut gefallen hat, war die Kampagne für den Blind- simultan-Weltrekord von Marc Lang, die interessante Einblicke in das Denken und das Spezialtrai- ning des erfolgreichen deutschen Blindspielers lieferte – bis hin zum live dokumentierten Count- down des neuen Weltrekords. Überall ist Hochtechnologie im Spiel, allerdings unter der Regie von Menschen, die das Schach lie- ben und es den Zuschauern per- sönlich nahe bringen können. Das ist das Entscheidende! Von Arno Nickel 1 Neudeutsch für Schachprogramm und im engeren Sinne dessen ,,Motorsystem“, das Schachzüge generiert, was vielfach auch als Schachspielen bezeichnet wird. Computerschach arno 2012 (I) 56 Schach 2/2012

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'LH�VFK|QH�QHXH�:HOW�GHU6FKDFKHQJLQHVDie meisten Schachspieler habenzu ihrem PC ein ähnliches Ver-hältnis wie zu ihrem Auto oderihrem Fernseher. Man ist froh,wenn es oder er läuft, und stelltkeine besonderen Ansprüche. Stö-rungsfrei und kostengünstig solles sein. Man braucht keine 200 PSund auch keine 200 Programme.Gebrauchsanleitungen verschwin-den nach dem Kauf ungelesen ineiner Schublade – bis zum Tag X,an dem ein Problem auftritt. Dannsucht man sie (vergebens) und ruftschließlich einen Freund an, dersich besser auskennt und hoffent-lich schnell helfen kann. Nach undnach lernen wir einiges durchAusprobieren und/oder wieder-holte Tipps unseres Freundes,doch wenn wir endlich das Gefühlhaben, einigermaßen firm zu sein,passiert etwas gänzlich Unvorher-gesehenes: ein Programm-Updatestellt die Grafik unseres Compu-ters auf den Kopf, nichts ist mehrdort, wo es einmal war...Es dauert geraume Zeit, bis wirdiesen Schicksalsschlag verwun-den haben, doch auch nach derWiederherstellung der PC-Ord-nung bleibt die Welt nicht langefriedlich. Wieder einmal wollenwir unseren Freund einbestellen,der aber sträubt sich dergestalt:,,Wann trennst du dich endlichvon diesem Schrott?“ Ups!Fluch und Segen des technischenFortschritts – das sind die beidenSeiten, die auch die Entwicklun-gen im Bereich der Schachengi-nes1 markieren. Und das in immerstärkerem Maße, so dass sichschon seit Jahren eine wachsendeVerunsicherung in der Schach-welt breit macht. So schön es ei-

nerseits ist, dass wir uns compu-tergestützte Live-Analysen derPartien via Internet ins Haus holenkönnen, wo – so fragen viele be-sorgt – bleibt bei all der Informati-onsflut der Mensch und dessenselbständiges Denken? WarSchach nicht einst ein geistigerWettstreit von Persönlichkeiten,ästhetisch reizvoll und berichtens-wert für die Nachwelt?Die ,,gute alte Zeit“ ist passé, die,,gute neue“ müssen wir durch ei-nen bewussten und kompetentenUmgang mit der Technik erstselbst schaffen. Dass dies möglichist und teilweise schon vor unse-ren Augen geschieht, zeigen auchBeispiele aus dem Schachbereich.

'HU�0HQVFK�LP0LWWHOSXQNWMit großem Genuss verfolgte ichunlängst den Video-Livestreamder London Chess Classic, wowechselnde Kommentatoren –englische Großmeister, aber auchTurnierteilnehmer – die laufendenPartien analysierten und dem Zu-schauer dabei einen phantasti-schen Einblick in das großmeister-liche Denken boten. In lockeremTon, stets auch zu einem Scherzaufgelegt und sich selbst nicht zuernst nehmend, wurde im ständi-gen Disput versucht, sich in dieKöpfe der Weltklassespieler hin-einzudenken, wurde um Ideen undVorhersagen gerungen. Enginesbemühte man nur gelegentlich.Eine brillante Idee war es, den je-weils spielfreien Turnierteilneh-

mer aufs Podium zu holen, um ihnin die Analyse einzubeziehen undzu verschiedenen Themen un-kompliziert zu befragen.Hier stand definitiv der Menschim Mittelpunkt! London war nichtnur ein großes Turnier, sondernauch ein Fest für den Live-Zu-schauer am heimischen PC unddamit, so denke ich, für die gesam-te Schachwelt!Ein anders gelagertes jüngeresBeispiel, das mir gut gefallen hat,war die Kampagne für den Blind-simultan-Weltrekord von MarcLang, die interessante Einblicke indas Denken und das Spezialtrai-ning des erfolgreichen deutschenBlindspielers lieferte – bis hinzum live dokumentierten Count-down des neuen Weltrekords.Überall ist Hochtechnologie imSpiel, allerdings unter der Regievon Menschen, die das Schach lie-ben und es den Zuschauern per-sönlich nahe bringen können. Dasist das Entscheidende!

Von Arno Nickel

1 Neudeutsch für Schachprogramm und im engeren Sinne dessen ,,Motorsystem“,das Schachzüge generiert, was vielfach auch als Schachspielen bezeichnet wird.

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'LH�QHXH�XQG�GLHDOWH�6HULH�]XP7KHPD���(QJLQHV´Wenn wir Schachengines ,,in denGriff bekommen“, sprich, siekompetent und nutzbringend ein-setzen wollen, statt uns von ihnenihr Schach diktieren zu lassen,müssen wir sie gründlich kennen-lernen und angemessen einschät-zen. Diesem Zweck dient meinevierteilige Serie, die sich wie obenrechts zu sehen darstellt.Es ist natürlich nicht das ersteMal, dass 6&+$&+ sich desThemas Computerschach an-nimmt, aber so explizit und aus-führlich aus Anwendersicht hat esschon lange keinen Beitrag mehrgegeben. Der grundlegende Textvon Großmeister Rainer Knaakzum Analysieren mit dem Compu-ter, einer Art Tutorial mit vieleninteressanten Beispielen, liegtmittlerweile zwölf Jahre zurück,ist allerdings auch heute noch sehrempfehlenswert als Einführungund zum historischen Vergleich.Ich war beim nochmaligen Lesenüberrascht, wie viele seiner dama-ligen Aussagen heute noch Gül-tigkeit haben! Auch damals han-delte es sich um eine vierteiligeSerie. Wer die Hefte 7, 8, 10 und12/1999 nicht besitzt, kann sichden Text als PDF-Datei von der6&+$&+-Homepage herunter-laden.2 Teil 1 beschrieb ,,Diegrundlegenden Techniken“, Teil 2,,Das richtige Deuten der Anzei-ge“, Teil 3 ,,Das Herausholen desMaximums“, Teil 4 räumte mit,,Irrtümern“ auf und widmete sich,,Sonstigen Fragen“. Unnötig zuerwähnen eigentlich, dass Knaakals ChessBase-Mitarbeiter undMathematiker über die nötigeFachkompetenz verfügt.

Ich will seine ,,basics“ nicht wie-derholen, sondern setze sie hier alsweitgehend bekannt voraus. Nachzwölf Jahren sind wir vielmehr ge-spannt darauf, wie sich der Be-reich der Engines heute darstellt,was neu hinzugekommen ist undwas Schachspieler heute im prak-tischen Umgang mit den ,,Mon-stern“ beschäftigt.Der erste Teil der Serie soll einenÜberblick liefern und aktuelleEntwicklungstrends aufzeigen.In Teil 2 werden wir uns anhandvon Beispielen ein Bild von dergewachsenen Spielstärke der Pro-gramme machen, aber auch fra-gen, worin selbst heute noch ihreSchwächen bestehen. Wie könnenAnwender in ihrer täglichen Pra-xis des Analysierens von Partienbzw. von kritischen Stellungenund Eröffnungsideen optimal vonden Engines profitieren? Im dritten Teil werfen wir darananknüpfend einen Blick auf diejüngste Neuerung von ChessBase,die unter dem Namen Let’s checkfür Furore sorgt. Wie entwickeltsich der Aufbau einer in Echtzeitwachsenden und sich selbst verän-dernden ,,Wissensdatenbank“?Wie gut funktioniert die Vernet-zung von Computeranalysen imEröffnungsbereich und welcheAuswirkungen deuten sich an?Im vierten Teil schließlich unter-suchen wir die Auswirkungen derEngineentwicklungen auf den all-gemeinen Schachbetrieb und spe-ziell auf das Großmeisterschach.Welche Rolle spielen Engines beider Partievorbereitung und derWettkampf- und Turniertaktik?

7HLO��$NWXHOOH(QWZLFNOXQJHQLP�hEHUEOLFN

)DNWRU�+DUGZDUHDie gängigste Erklärung für dieLeistungsexplosion der letztenJahre im Bereich der Engines istder rasante Fortschritt im Hardwa-rebereich: schnellere und lei-stungsfähigere Prozessoren, grö-ßere Speicher mit schnelleren Zu-griffszeiten, bessere Mother-boards, kurzum: Fortschritte inder Mikroelektronik.Das aber ist nur die halbe Wahr-heit. Ohne qualitative Verbesse-rungen im Bereich der Program-mierung würde der Steigerungsef-fekt weit geringer ausfallen, wo-von man sich überzeugen kann,indem man ein älteres Schachpro-gramm auf einem modernen Dual-oder Quadrechner laufen lässt.Solchen Versuchen sind gewisseGrenzen gesetzt, weil viele alteProgramme (die meist noch nichtüber das UCI-Protokoll verfügten)unter den neuen Betriebssystemennicht ohne weiteres installiert wer-den können. Doch kann man bei-spielsweise anhand der Daten derschwedischen ComputerranglisteSSDF folgende Zahlenwerte er-mitteln:3 Deep Fritz 8 erspielte aufeinem Athlon-Rechner (1200MHz, 256MB RAM) in 1144 Par-tien mit Turnierbedenkzeit gegenandere Programme eine Elozahlvon 2783, während das gleicheProgramm auf einem Quad Q6600

7HLO�� $NWXHOOH�(QWZLFNOXQJHQ�LP�hEHUEOLFN7HLO�� 'LH�6WlUNHQ�XQG�6FKZlFKHQ�KHXWLJHU�(QJLQHV7HLO�� :DV�EULQJW�/HW·V�FKHFN� GLH�QHXH���:LVVHQVGDWHQEDQN´"7HLO�� :LH�GLH�(QJLQHV�GDV�6FKDFK�YHUlQGHUQ

2 www.zeitschriftschach.de/zeitung/schach_knaak.htm3 Angaben nach http://de.wikipedia.org/wiki/Schwedischer_Schachcomputerverein

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(2,4 GHz, 2 GB RAM) in 844 Par-tien eine Elozahl von 2904 er-reichte – das sind nur 120 Elo-punkte Zugewinn. Die Leistungvon Deep Fritz 12 dagegen liegtbei gleicher Hardware bei 3105Elopunkten aus 780 Partien – alsoum noch einmal 200 Elopunktehöher. Würde man noch weiter zu-rückgehen, denn Deep Fritz 8 kamEnde 2003 auf den Markt, undVersionen aus den 90er Jahren te-sten, beträge der Leistungsunter-schied zwischen beispielsweiseFritz 5.32 (1999, zur Zeit der Serievon Knaak) und Fritz 12 oder 13auf moderner Hardware grob ge-schätzt ca. 400 Elopunkte.Den größten Qualitätssprung beiden Programmen verzeichnen wirzwischen 2005 und 2008, wennwir die SSDF-Liste mit den Spit-zenreitern zum jeweiligen Jahres-beginn zugrunde legen (s.u.).Die letzte SSDF-Liste datiert aufMai 2011 und lässt leider eine Rei-he von aktuellen Programmen, dieaus verschiedenen Gründen unterPlagiatsverdacht getellt wurden,vermissen, darunter die heutzuta-ge sehr populären UCI-EnginesHoudini und Stockfish.

Mir ist nicht bekannt, wie dieSchweden nach dem von derComputervereinigung ICGA imJuni 2011 gegen Rybka ausge-sprochenen Bann (der Weltver-band sieht es als erwiesen an, dassCode von den Open-Source-Pro-grammen Fruit und Crafty kopiertwurde)4 mit ihrem aktuellen Spit-zenreiter fortzufahren gedenken.Fakt ist jedoch, dass die SSDF-Li-ste kaum noch als repräsentativ fürdie heutige Landschaft des Com-puterschachs angesehen werdenkann. Traurigerweise besitzt siefast nur noch historischen Wert.

3DUDGLJPHQZHFKVHOLQ�GHU�3URJUDPPLHUXQJBevor wir die aktuelle Engine-Landschaft weiter ausleuchten, istfestzustellen, dass außer demHardwareboom noch etwas ande-res stattgefunden hat: eine Art Pa-radigmenwechsel im Computer-schach, wie es unlängst Dr. SørenRiis, ein namhafter Mathematikerund Computerwissenschaftler, ineinem längeren Beitrag auf derenglischsprachigen Homepagevon ChessBase ausgeführt hat.5

Statt Jahr für Jahr in den gewohn-ten Bahnen des Feintunings derProgramme zu verharren und hierund da eine neue Funktion einzu-bauen bzw. die alte zu überarbei-ten, beschritt Fabien Letouzey2004 mit seinem Open-Source-Programm Fruit einen neuenWeg, indem er radikal die Such-tiefe und die Geschwindigkeit inden Mittelpunkt stellte. Einerseitsgriff er dabei alte Ideen auf undzeigte, wie man sie genauer undeffektiver umsetzt; andererseitsverzichtete er auf ,,unnötigen Bal-last“, wie umfangreiche Bewer-tungsfunktionen.Der Erfolg mit seinem ,,wesent-lich einfacher aufgebauten“ Pro-gramm – verglichen mit ,,klassi-schen Riesen“ wie Shredder undJunior6 – gab ihm Recht. Bei derComputer-WM 2005 wurde Fruitsensationell Zweiter hinter Zappa,obwohl es im Unterschied zu an-deren Programmen nur auf einemStandard-PC mit einem Prozessorlief. Das Beispiel Fruit machte hin-sichtlich der Anpassung fast allermodernen Engines an den Hard-warefortschritt Schule.Einigen Programmen, wie zumBeispiel Rybka, wurde nach undnach auch mehr Schachwisseneingeimpft, um zusätzliche Lei-stungssteigerungen zu erzielen.Der Gewinn an Schnelligkeit undintelligenter Suche machte die En-gines zunehmend als Analyse-werkzeuge für Großmeister bishin zur Weltelite interessant,nachdem sie vorher fast aus-schließlich dazu verwendet wor-den waren, taktische Finessen auf-zuspüren.

Elo-Entwicklung der Schachengines (1994-2011)

Jahr Elo Engine/Testgerät1994 2346 Mephisto Genius 2.0 (486/50-66 MHz)1995 2440 Mephisto Genius 3.0 (Pentium 90 MHz)1996 2440 M-Chess Pro 5.0 (Pentium 90 MHz)1997 2462 Rebel 8.0 (Pentium 90 MHz)1998 2589 Fritz 5.0 (Pentium 200 MHz MMX)1999 2576 Hiarcs 7.0 (64 MB Pentium 200 MHz MMX)2000 2630 Junior 6.0 (128 MB K6-2 450 MHz)2001 2709 Chess Tiger (14.0 CB 256 MB Athlon 1200 MHz)2002 2759 Deep Fritz 7.0 (256 MB Athlon 1200 MHz)2003 2791 Shredder 7.04 UCI (256 MB Athlon 1200 MHz)2004 2800 Shredder 8.0 CB (256 MB Athlon 1200 MHz)2005 2808 Shredder 9.0 UCI (256 MB Athlon 1200 MHz)2006 2902 Rybka 1.2 (256 MB Athlon 1200 MHz)2007 2935 Rybka 2.3.1 Arena (256 MB Athlon 1200 MHz)2008 3238 Deep Rybka 3 (2 GB Q6600 2,4 GHz)2009 3232 Deep Rybka 3 (2 GB Q6600 2,4 GHz)2010 3213 Deep Rybka 3 (2 GB Q6600 2,4 GHz)2011 3216 Deep Rybka 4 (2 GB Q6600 2,4 GHz)

4 Vgl. SCHACH 8/2011, S. 255 Vgl. http://www.chessbase.com/

newsdetail.asp?newsid=78076 So beschrieben von Dr. Ingo Althöfer

in einem Forums-Beitrag vom 14.1.2012: http://forum.computerschach.de/ (unter ,,Frage zu Fabien“).

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$NWXHOOH�5DQJOLVWHQDas heutige Kräfteverhältnis derSpitzenengines wird in den u. a.Tabellen dargestellt. Nicht enthal-ten sind einige als offenkundigeRybka-Derivate geltende Engines,wie zum Beispiel IvanHoe,Fire(bird) und Robbolito, wobeinicht verschwiegen werden soll,dass auch andere Engines alszweifelhaft gelten – je nach Testerbzw. Autor.Seit 2006 gibt es die CCRL-Liste,die von einer internationalen Ver-einigung von Testern erstellt wird.Sie existiert für verschiedeneModi, wobei wir hier nur einenBlick auf die Tests mit der läng-sten Bedenkzeit werfen: 40 Minu-ten für 40 Züge.6

Es ist jeweils die erfolgreichsteVersion eines Programms aufgeli-stet. Die neuen EntwicklungenHoudini 2.0, Komodo 4 und Crit-ter 1.4 wurden bereits in die Testsaufgenommen, aber entweder la-

gen noch nicht genügend Partienvor oder die neuen Versionen er-reichten noch keine besseren Plat-zierungen als ihre Vorläufer.Daneben die IPON-Liste von IngoBauer, wobei wir hier nur das Ab-schneiden der 20 erfolgreichstenEngines bzw. Engineversionenuntereinander betrachten,8 so alshätten diese ein geschlossenesBlitzturnier für sich ausgetragenund jede 1.900 Partien gespielt(Bedenkzeit: 5 min + 3 sek/Zug).Getestet wurde die 64bit Single-Core-Version (mit vier Ausnah-men, wo nur eine 32bit Versionvorlag). Die Elo-Zahlen wurdennach einem Wert von 2800 fürShredder 12 geeicht.Viele der Namen werden Ihnennichts sagen, obwohl es sich umleistungsstarke und teilweise ko-stenfrei erhältliche UCI-Engineshandelt. Es folgen daher einige nä-here Erläuterungen, wobei ichnicht umhinkomme, die leidigenPlagiatsvorwürfe zu streifen.

3ODJLDWVYRUZ�UIHRKQH�(QGHMitte 2004 legte der als professio-nell und erfahren anerkannte fran-zösische Programmierer FabienLetouzey den Programmcode fürseine Fruit-Engine offen und regtederen Weiterentwicklung als,,open source engine“ an, nach-dem er sich wegen nachlassendenInteresses (vielleicht auch man-gels Profitabilität) von derSchach-Programmierung zurück-gezogen hatte. Ende 2005 kam mitder ersten Rybka 1.0 beta Versionvon Vasik Rajlich – einem bis datonur Insidern bekannten amerikani-schen Programmierer mit tsche-chischen Wurzeln, aber immerhinInternationaler Meister – eine völ-lig neue Freeware-Engine heraus.Rybka zog auf Anhieb an den füh-renden kommerziellen Program-men wie Shredder, Hiarcs, Juniorund Fritz vorbei und war somit

CCRL-Liste 30.12.2011 (40min/40Züge)

1. Houdini 1.5a 64-bit 4CPU 3301 (695)2. Rybka 4.1 64-bit 4CPU 3266 (661)3. Critter 1.2 64-bit 4CPU 3256 (433)4. Stockfish 2.0.1 64-bit 4CPU 3241 (514)5. Komodo 3 64-bit SSE 3216 (610)6. Naum 4.2 64-bit 4CPU 3180 (1087)7. Spike 1.4 Leiden 4CPU 3130 (878)8. Deep Shredder 12 64-bit OA On 4CPU 3127 (1660)9. Deep Junior 12.5 64-bit 4CPU 3122 (480)

10. Deep Fritz 11 4CPU 3096 (335)11. Chiron 1.1a 64-bit 3095 (370)12. Hiarcs 13.2 4CPU 3089 (567)13. Spark 1.0 64-bit 4CPU 3083 (526)14. Zappa Mexico II 64-bit 4CPU 3078 (2457)15. Protector 1.3.6 64-bit 4CPU 3061 (223)16. Deep Sjeng c’t 2010 3048 (1720)17. Onno 1.2.70 64-bit 4CPU 3037 (307)18. Gull 1.2 64-bit 3029 (775)18. Thinker 5.4CInert 64-bit 4CPU 3029 (1552)20. Toga II 1.4.1 SE 4CPU 3007 (1950)

IPON-Liste 30.12.2011 (5min+3sek)

1. Houdini 2.0 STD 30202. Critter 1.4 SSE42 29863. Komodo 4 SSE42 29794. Deep Rybka 4.1 SSE42 29535. Stockfish 2.1.1 JA 29426. Chiron 1.1a 28407. Naum 4.2 28368. Fritz 13 32b 28219. Deep Sjeng c’t 2010 32b 2800

10. Deep Shredder 12 280011. Gull 1.2 279912. Spike 1.4 32b 279013. Protector 1.4.0 276414. Hannibal 1.1 276315. spark-1.0 SSE42 276016. HIARCS 13.2 MP 32b 274917. Deep Junior 12.5 274018. Zappa Mexico II 272019. Deep Onno 1-2-70 268720. Strelka 2.0 B 2676

7 CCRL: Die vollständige Liste der 238 Programmversionen mit den jeweils angegebenen statistischen Abweichungen findetman unter http://computerchess.org.uk/ccrl/4040/index.html.

8 IPON: Die vollständige Liste mit weiteren statistischen Details, die für eine genaue Einschätzung wichtig sind, findet manunter http://www.inwoba.de/

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definitiv auch stärker als die letz-ten Fruit-Versionen. Das Rybka-Fieber griff um sich, und ehe dieKonkurrenz auch nur ansatzweisehinter die Geheimnisse der Rybka-Erfolge kam, gelang es Rajlich,mit neuen, mitterweile kommer-ziellen Programmversionen sei-nen Vorsprung weiter zu ver-größern. Die Erfolgsstory gipfelteim Gewinn von vier aufeinander-folgende Computer-Weltmeister-schaften (2007-2010).2007 bekam Rybka Konkurrenzvon dem russischen ProgrammStrelka, das der bis dahin völligunbekannte Juri Osipow veröf-fentlichte und das aufgrund einessehr ähnlichen Testverhaltens so-fort als Rybka-Kopie eingestuftwurde. Allerdings behauptete Osi-pow, dass er sich an Fruit orien-tiert habe, nicht an Rybka. 2008legte der Russe den Programmco-de von Strelka 2 offen. Rajlich sahdies als Beweis dafür an, dass Osi-pow seine ProgrammversionRybka 1.0 beta durch ,,ReverseEngineering“ (Rückwärts-Pro-grammierung) kopiert habe,9 al-lerdings unternahm er keine recht-lichen Schritte und legte im Ge-genzug auch nicht seinen Pro-grammcode offen.2009 folgte ein neuer Schlag fürRajlich: Eine Gruppe von Pro-grammierern mit Phantasienamen,darunter Roberto Pescatore (Ro-bert Fischer), zerlegte Rybka 3und veröffentlichte einen Cloneim Internet. Sie tauften ,,ihr“ Pro-gramm Ippolit und lieferten damitdie Plattform für weitere Rybka-Ableger, darunter Robbolito,IvanHoe und Firebird. Im Zugeder Auseinandersetzungen um dieRybka-Kopien wurde die Frageimmer lauter, woher eigentlichRajlich seine Ideen genommenhabe, der er seine Traumkarriere

zu verdanken hatte. Rajlich mach-te keinen Hehl daraus, dass er vonFruit gelernt und einiges über-nommen habe, doch seine Kritikerbehaupten spätestens seit demFrühjahr 2011, dass er weit mehrals das getan und den Code vonFruit und Crafty eins zu eins über-nommen und anschließend uner-laubterweise für seine kommer-ziellen Zwecke genutzt habe.

:DV�)UXLW�XQG5\END�EHZLUNWHQDie rechtlichen und moralischenAspekte der Geschichte sind fürmeine Ausführungen nicht vonBelang, daher beschränke ichmich darauf, folgendes für dieEntwicklung des Computer-schachs festhalten:1. Rybka hat es am schnellsten underfolgreichsten verstanden, vonFruit zu lernen. Das betrifft vorallem Verbesserungen der Such-und Bewertungsfunktionen, also

Methoden der Effizienzsteigerungund der Verfeinerung und nichtunbedingt ein Mehr an Schach-wissen.2. Auch andere Engines – vermut-lich die meisten Spitzenprogram-me – haben von Fruit und Rybkaprofitiert, nicht zuletzt durch dieIppolit-Veröffentlichungen von2009 zum Rybka 3-Programmauf-bau. Den geringsten Nutzen dürf-ten die damals schon etabliertenkommerziellen Programme wieJunior, Hiarcs, Shredder undFritz daraus gezogen haben, die invielerlei Hinsicht anders struktu-riert sind. Die durchschnittliche Spielstärkeheutiger Spitzenprogramme aufschneller Hardware ist so gewal-tig, dass es aus menschlicher Sichtfast keine Rolle mehr spielt, obeine Engine 50 oder 100 Compu-ter-Elopunkte mehr oder wenigeraufweist. So äußerte der Nieder-länder Jan Smeets, seinerzeitWM-Sekundant von Topalow, im

&RPSXWHUVFKDFK������LP�1$6$�7HVWODERU

9 Man kann durch ,,reverse engineering“ zwar nicht den Programmcode 1-1 entschlüsseln, erhält aber eine Version, die sich(im Idealfall) genau so verhält wie das ursprüngliche Programm.

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Frühjahr 2010: ,,Diese Program-me sind heutzutage so stark, ichdenke, sie spielen alle auf einemNiveau von 3300, 3400 Elo. Dafällt ein Unterschied von fünfzigPunkten mehr oder weniger nichtins Gewicht.“10

Zwar sind Computer-Ratingsnicht auf menschliches Schachübertragbar und nur sehr schwermit diesem zu vergleichen, den-noch belegt diese Aussage, dassselbst Weltklassespieler heutekein Problem mehr damit haben,die in Elozahlen symbolisierteSpielstärke von Engines ohneWenn und Aber anzuerkennen.Für die überwiegende Zahl derAnwender geht es heute nichtmehr um noch stärkere Engines,ihnen wäre deutlich mehr damitgedient, Programme zu haben, dieihnen den Sinn der Varianten undder resultierenden Stellungsbe-wertungen gut verständlich erklä-ren können. Hier liegt die großeHerausforderung für die Zukunft!

:KR�LV�ZKR"Werfen wir nun einen Blick aufdie heutigen Spitzenprogramme,wobei ich mich aus Platzgründenauf eine kleine Auswahl beschrän-ken muss; die meisten kommer-ziellen Programme setze ich alsbekannt voraus.

Houdini ist das offensichtlichnach dem berühmten Entfesse-lungskünstler benannte Programmvon Robert Houdart. Es erschienim Mai 2010 auf dem Markt undsorgte auf Anhieb für Aufsehen,weil es Rybka in Blitzmatches be-siegte. Auch heute noch liegenHoudinis Stärken gegenüberRybka bei kurzen Bedenkzeiten,während das Kräfteverhältnis beilangen Partien ausgeglichen zusein scheint (dazu liegt kein aussa-gekräftiges statistisches Materialvor, u. a., da Houdini als vermeint-licher Rybka-Clone von vielen Te-stern boykottiert wurde und wird).

Seit Oktober 2011ist Houdini mit derVersion 2.0 kom-merziell. Auf sei-ner Website wirbtHoudart damit,dass WeltmeisterAnand bevorzugtmit Houdini analy-siere. Der Belgier,selbst ein starkerSpieler, machtzwar keinen Hehldaraus, dass aucher von den anrüchi-gen Ippolit-Veröf-fentlichungen pro-fitiert hat, bean-sprucht aber fürsich, soviel Eigen-leistung in seinProjekt gesteckt zuhaben, dass es sichdeutlich von allen

anderen unterscheidet. Besondersstolz ist er auf seine (Stellungs-)Bewertungsfunktion, die in derTat die moderateste – und oft viel-leicht auch realistischste – zu seinscheint. Daneben verfügt Houdiniüber eine sehr intelligente und ef-fiziente Suchfunktion, die es derEngine ermöglicht, häufiger undschneller als andere Programmestarke positionelle Fortsetzungenzu finden.

Rybka läutete im Jahre 2005eine neue Ära des Computer- undspeziell des PC-Schachs ein, in-dem es sofort an den führendenkommerziellen Programmen vor-beizog und die Szene bis 2010 klardominierte. Während die frühenRybka-Versionen besondersdurch ihr dynamisches, aber stetsumsichtiges Stellungsspiel beein-druckten, zeigten sie sich taktischnoch anfällig, speziell gegen Kö-nigsangriffe. Diese Schwächewurden mit den Versionen 3 und 4abgebaut. Rybkas Bewertungs-funktion ist relativ umfangreich,

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10 Quelle: http://www.chessvibes.com/reports/chess-engine-controversity

Computerschach arno 2012 (I)

Schach 2/2012 61

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was das Programm gegen Kon-kurrenten wie Houdini, Stockfishoder Fritz langsam erscheinenlässt, doch findet Rybka bei aus-reichender Rechentiefe häufigbessere Lösungen für Stellungs-probleme als die ,,Schnellbrüter“.Das macht sich besonders beiÜbergängen vom Mittelspiel insEndspiel bemerkbar. Viele End-spielstellungen versteht Rybkabesser als andere Engines, vor al-lem hinsichtlich der Freibauern-bildung und -handhabung. Aller-dings gibt es auch noch ,,weißeFlecke“ wie die Behandlung un-gleichfarbiger Läuferendspieleoder das zu späte Erkennen vonRemisschaukeln in Schwerfigu-renendspielen. Nach meinem per-sönlichen Eindruck aus dutzendenFernpartien der letzten zwei Jahreist Rybka jedoch immer noch dieerste Wahl für komplexe Fern-schachanalysen, speziell mit Blickauf Endspielübergänge.Rajlich erkennt die Leistungenvon Houdini allerdings durchausan und äußerte kürzlich, dass dieKonkurrenz, er selbst einge-schlossen, nunmehr gefragt sei,von Houdini zu lernen.11 Nichtnur deshalb darf man gespannt aufRybka 5 sein, woran seit längeremfieberhaft gearbeitet wird.

Komodo heißt das hierzulandenoch wenig bekannte Programmder US-Amerikaner Don Daileyund Larry Kaufman. Es tritt seit2009 als eine Weiterentwicklungaus Rybka 3 in Erscheinung undhat sich – mittlerweile in den Ver-sionen 3 und 4 (nunmehr kommer-ziell) – zu den Spitzenengines ge-sellt. Das Programm liegt bislangnicht als Multiprozessor-Versionvor (was sich bald ändern soll),scheint jedoch sehr gut an 64bit-

Betriebssysteme angepasst zusein. Kaufman war schon imRybka-Team für die behutsameImplementierung von Schachwis-sen verantwortlich, was er nun beiKomodo in noch stärkerem Maßeund offensichtlich auch erfolg-reich versucht. Seine Stärken hatdas Programm im positionellenMittelspiel, während es im End-spiel noch Schwächen aufweist.Kenner der Szene halten es fürdenkbar, dass Komodo schon innaher Zukunft die AnalyseengineNr. 1 sein wird, nicht zuletzt fürdas Fernschach.

Stockfish ist das zur Zeit wohlspielstärkste Open-Source-Pro-gramm, es wird von Tord Romstad(Norwegen), Joona Kiiski (Finn-land) und Marco Costalba (Itali-en) entwickelt und ist im Jahre2008 aus dem Programm Glau-rung hervorgegangen. Gerade istdie Version 2.2 erschienen. Stock-fish hat seine Stärken im Blitz-schach, wo ihm gelegentlich über-raschende Königsangriffe gelin-gen und er mit taktisch pointier-tem Druckspiel glänzt. Als weite-

re Stärke gilt die effiziente Nut-zung der Hash-tables. Allerdingserscheinen die Stellungsbewer-tungen oft unausgeglichen undsprunghaft sowie – gemessen anRybka und Houdini – zu optimi-stisch. Des Weiteren ist Stockfishim Endspiel häufig nicht konse-quent genug bzw. einmal mehr zuoptimistisch. Hier fehlt es offen-bar (noch) an Wissen.

Critter ist das frei erhältlicheProgramm des Slowaken RichardVida, der 2008 zum Computer-schach zurückgekehrt ist. Der Pro-grammierer selbst sieht sich alseher schwachen Spieler, weshalbes umso mehr erstaunt, dass seineEngine, die zunächst als reiner,,Taktiker“ galt, zuletzt in atembe-raubendem Tempo bis in die Spit-ze vorgedrungen ist. Das Poten-zial ist schwer einzuschätzen.,,Critter verliert normalerweiseviele Bauern, gewinnt aber Figu-ren.“ Ob dieser Kommentar einesbegeisterten Testers Aussagekrafthat, bleibt abzuwarten. Er könnteunser Schachverständnis gehörigauf den Kopf stellen ;-)

11 Rajlich: ,,So I think that in 2005 the improvement is probably due to Fruit, between 2005 and 2010 or so the improvementis probably due to Rybka, and most recently it’s probably due to Houdini.“Zitiert nach Dr. Søren Riis lt. http://www.chessbase.com/newsdetail.asp?newsid=7807.

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Computerschach arno 2012 (I)

62 Schach 2/2012

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Naum wird seit 2004 von demKanadier Aleksandar Naum mitstetem Erfolg entwickelt. Wäh-rend frühe Versionen frei erhält-lich waren, ist Naum seit einigerZeit ein kommerzielles Pro-gramm. Es beeindruckt wenigerdurch spektakuläre Attacken alsvielmehr durch unauffällige, abernachhaltige Solidität bis ins End-spiel hinein. In der letzten SSDF-Liste lag Naum 4.2 hinter Rybka 4und Rybka 3 an dritter Stelle!12

Naum profitiert von längeren Be-denkzeiten, bei denen es taktischweniger anfällig ist.

Chiron ist schon seit 2002 derName einer italienischen Engine,entwickelt von Ubaldo AndreaFarina, doch erst nach einer kom-pletten Neuentwicklung im Jahre2009 (mit Credits an Stockfish,Fruit und andere) hat sie sich indie Phalanx der Weltelite gespielt.Chiron 1.1a ist die aktuell käufli-che Version. Über das Spielver-

halten ist bislang wenig bekanntgeworden. Die Multi-Prozessor-Engine (32 als auch 64bit) wirdmit vielfältigen Funktionen, wieunter anderem mit Support von biszu 16 Prozessorkernen, für ver-schiedene Tablebaseformate undvon Chess960 angeboten, was, ne-benbei bemerkt, inzwischen aberfür viele der genannten Engineszum Standard geworden ist.

Spike ist die Freeware-Engineder beiden deutschen Program-mierer Ralf Schäfer und VolkerBöhm und wird seit 2004 ent-wickelt. Nach schönen Anfangs-erfolgen – erster Chess960-Com-puterweltmeister 2005 und 1Ó-Ó-Matchsieg gegen Supergroßmei-ster Peter Swidler bei den ChessClassic 2006 – wurde es bald dar-auf ruhiger um die durch kombi-nationsreiches Angriffsschach be-eindruckende Engine. Aber dieVersion 1.4 hält überraschendlocker auf einem Computer-Elo-Niveau von 3000 mit! Bleibt dieFrage, ob da noch mehr kommt!?

Eine Anmerkung zur Frage des,,Stils“ von Schachprogrammen.Viele Freaks ziehen anhand vonComputerpartien Vergleiche zugroßen Meistern der Schachge-schichte, was Programmierer je-doch eher belustigt als beein-druckt. Engines haben keinen ko-härenten Spielstil im Sinne einesmenschlichen Vorbildes. Derarti-ge Interpretationen führen nur zufalschen Folgerungen und Erwar-tungen, die den Blick für die tat-sächlichen Stärken und Schwä-chen eines Programms verstellen.

Im zweiten Teil werden dieschachlichen Kriterien im Vorder-grund stehen. Mitunter spielenSchachprogramme ,,wie Gott“,wenn sie zum Beispiel auf End-spieldatenbanken zugreifen; siekönnen aber auch völlig versagen,wenn die Such- und die Bewer-tungsfunktion keinen Zugang zurStellung liefern.

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12 http://ssdf.bosjo.net/list.htm

Computerschach arno 2012 (I)

Schach 2/2012 63

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,,Das Bewertungssystem aller Computerprogrammeist prinzipiell eindimensional. Am Ende, nach Abwä-gen aller Faktoren, wird in einer einzigen Zahl allesausgedrückt, was das Programm zu einer Stellung zusagen hat.“ Robin Smith, Moderne Schachanalyse

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Die analytischen Befunde vonSchachprogrammen muten häufigspektakulär an, weil sie völlig ausdem Rahmen unserer gewohntenVorstellungswelt fallen. BrillanteZüge, die das Gütesiegel vonWeltmeistern tragen, zeigen dieEngines in wenigen Sekunden an,womit der Eindruck entsteht, manhabe es mit einem perfektenSchachspieler zu tun. Einfache,zwingend notwendige Züge fin-den dieselben Engines dagegenmanchmal gar nicht oder bewertensie falsch.Die Ursache für diese Diskrepanzist, dass Computer zwar schnellrechnen können, aber nur über einsehr begrenztes Schachwissenverfügen. An dieser prinzipiellenAussage hat sich seit den Anfän-gen der Schachprogrammierungwenig geändert. Während derMensch ganzheitlich und vernetztdenkt und schon beim ersten An-blick einer Schachstellung analo-

ge Positionen aus seinem Ge-dächtnis abruft, arbeiten Compu-ter detaillierte Fragenkataloge undBefehlsketten ab, bevor sie zu ei-ner rein arithmetischen Stellungs-bewertung gelangen. Menschendefinieren im Verlaufe einerSchachpartie verschiedene Teil-ziele, an denen sie sich mehr oderweniger bewusst orientieren. Sievariieren ihre Teilziele, folgen Vi-sionen oder auch nur Schablonen.Computer dagegen verfolgen keinkonkretes Ziel, sondern suchenper Ausschlussverfahren nach denStellungen mit den höchstmögli-chen Werten für beide Seiten.Es ist wichtig, sich über diese Un-terschiede im Klaren zu sein, umdie relativen Stärken und Schwä-chen von Engines im Vergleichzum Menschen richtig zu verste-hen und zu bewerten. Ob ein Com-puter den gleichen Zug wie einMensch anzeigt oder umgekehrt,sagt für sich genommen noch garnichts aus. ,,Wenn zwei das Glei-che sagen, müssen sie noch langenicht das Gleiche meinen“, lautetein altes Sprichwort. Lajos Por-tisch entgegnete einst, als jemandihm gegenüber erwähnte, er schla-ge den gleichen Zug wie der Com-puter vor: ,,Soll das ein Lob odereine Beleidigung sein?“

Zu dem angeschnittenen Themen-komplex ein plastisches Beispiel:

L. Aronjan 2802P. Swidler 2755

Moskau (Tal Memorial) 20111

-+-+-+-W+p+-+p+-pZq+n+p+Z-+-+k+--+-+p+-z+-S-Z-+P-+-+-ZP++-+-+-M-Stellung nach 41... Êf6-f5

Die meisten Engines zeigen hieraus dem Stand das in der Partiegespielte Springeropfer 42. Ë:h4!an. Einen Zug, der Menschen eini-ges an Stellungsverständnis undBerechnung abverlangt.

Von Arno Nickel

1 (vgl. die vollständige, kommentierte Partie in 6&+$&+ 1/2012, S. 57f.)

Computerschach arno 2012 (II)

40 Schach 3/12

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Die Programme erkennen schnell,dass nur zwei Fortsetzungen demWeißen Vorteil versprechen: 42.Ë:h4 und 42. Ìe2; andere Zügewie 42. g4 und 42. Êh1 werdendeutlich schwächer eingeschätzt.Allerdings fällt auch die Bewer-tung für 42. Ë:h4 vorerst moderataus, je nach Programm zwischen,,+0.20� und ,,+1.20� � also nochkeine klare Gewinnanzeige. Wasdie Engines in den ersten Suchtie-fen erkennen, ist der forcierte Ma-terialrückgewinn und die Bildungeines starken Freibauern auf b6.42... Ë:c3 43. g4+ Êe5 44. Ëh8+f6 45. Ëb8+ Êd5 46. Ë:b7+ Ëc6

-+-+-+-++Q+-+-+-pZq+nzp+Z-+k+-+--+-+p+P++-+-Z-+P-+-+-Z-++-+-+-M-

In der Vorausberechnung spielt esnun eine entscheidende Rolle, wiedie Schachprogramme nach denbereits abgearbeiteten 10 Halbzü-gen die möglichen Fortsetzungenberechnen. Welche Kandidaten-züge werden bis zu welcher Tiefeim Suchbaum weiterverfolgt undwie werden sie bewertet?Typische Kandidatenzüge für einSchachprogramm sind 47. Ë:a6(sofortiger Materialrückgewinn),47. Ëe7, 47. Ëf7, 47. Ëh7 und47. Ëa7 (jeweils drohender Mate-rialrückgewinn), 47. Ë:c6+ (Da-mentausch) und 47. Ëb8 (droht48. b7, ohne dass der schwarzeKönig über d6 zur Verteidigungherbeieilen kann).Die meisten Engines sehen nachweiterer Rechenzeit keinen an-wachsenden weißen Vorteil, son-dern schwarze Gegenchancen

nach zum Beispiel 47. Ë:a6 Ìg5(nebst Ìg5-f3+) oder 47. Ëf7Êd6 48. Ë:f6 g5.Nach 47. Ëb8! berechnen sie 47...Ìc5 (einziger Zug) 48. Ëg8+Ëe6 und nun entweder 49. Ëa8+mit Dauerschach oder 49. Ë:g6Ìb7 (oder 49... Êd6) mit leichtemweißen Vorteil.Es stellen sich zwei Fragen.

-+-+-+-++-+-+-+-pZ-+qzQ+Z-sk+-+--+-+p+P++-+-Z-+P-+-+-Z-++-+-+-M-Stellung nach 49. Ëg8:g6

1) Haben die Programme dieseStellung in ihrer Vorausberech-nung 15 Halbzüge zuvor schonauf der Agenda, oder wird derSuchbaum zugunsten von 49.Ëa8+ (bzw. früher: 47. Ë:a6) ab-geschnitten?

2) Falls eine Engine 49. Ë:g6schon vor 42. Ë:h4 erwägt: wietief reichen die Berechnungen undwelche Ergebnisse zeitigen sie?

Die Antworten entscheiden dar-über, ob die Engines das Springer-opfer 42. Ë:h4 in ihrem weiterenRechenprozess als Favorit beibe-halten oder (zumindest zeitweilig)42. Ìe2 höher bewerten. Letzte-res passiert bei Rybka 4.1 in Re-chentiefe 16 bis 20 und bei Houdi-ni 2.0 in Rechentiefe 19 bis 24.Erst bei noch längerer Rechenzeiterkennen die Programme, dassSchwarz dem weißen h-Bauernam Ende der kritischen Variantemit 42. Ë:h4 nichts entgegenzu-setzen hat.Aronjan gewann die Partie nachden weiteren Zügen 49... Êc4 (als

zäher bewerten Engines 49...Êd6, aber Swidler wollte einenGegenangriff gegen den weißenKönig inszenieren) 50. h4 Êd351. h5 Êe2 52. h6 Ëc4 53. h7Êe1 54. Ë:f6 1-0

Wie nun könnte der Denkprozessbeim Menschen aussehen?Bevor er irgendwelche Züge be-rechnet, registriert er die folgen-den Stellungsmerkmale:

-+-+-+-W+p+-+p+-pZq+n+p+Z-+-+k+--+-+p+-z+-S-Z-+P-+-+-ZP++-+-+-M-

λ exponierter schwarzer König;λ gut geschützter weißer König;λ aufgelockerte schwarze Bauern-

kette am Königsflügel;λ intakte, aber defensive weiße

Bauernkette am Königsflügel;λ vorgerückte, aber festgelegte

weiße Bauern am Damenflügel;λ latent gefährdeter weißer Ìc3;λ extrem mobile weiße Ëh8;λ hängender schwarzer Ïh4.

Das sind acht Stellungsmerkmale,die der Mensch relativ schnell er-fassen kann, während er einigeweitere zunächst vernachlässigt(zum Beispiel den Umstand, dassder Ïa5 schwach ist). Er erkenntrasch, dass er entweder sofortDrohungen gegen den schwarzenKönig aufstellen oder den Sprin-ger nach e2 ziehen muss (seineWunschfolge wäre 42. g4+ Êg5?43. Ëe5+, aber natürlich nimmtSchwarz den g-Bauern en passantund wäre nach 42... h:g3 43. f:g3Ìg5 aller Sorgen ledig).

Computerschach arno 2012 (II)

Schach 3/12 41

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Die Erkenntnis, dass Schwarznach 42. Ë:h4 Ë:c3 43. g4+ nur43... Êe5 antworten kann und 44.Ëh8+ die Antwort 44... f6 er-zwingt, da sonst auf c3 die Dameverloren geht, lenkt das menschli-che Augenmerk auf das kritischeAbspiel. 45. Ëb8+ Êd5 46.Ë:b7+ gewinnt mit Schach dengegnerischen b-Bauern, was deneigenen zur Großmacht avancie-ren lässt, und macht Lust auf mehr.Nach dem neuerlich erzwungenen46... Ëc6 beginnen die Problemein der Vorausberechnung.Die forcierte taktische Zugfolgescheint vorerst beendet und esstellt sich die Frage, ob und wieder Freibauer auf b6 zu verwertenist. Klar ist, dass es schnell gehenmuss, denn Schwarz hat einenSpringer mehr und wird unver-züglich dem weißen König zu Lei-be rücken, wenn er eine Atempau-se erhält.Aronjans Klasse offenbart sichmit dem stillen Zug 47. Ëb8!, dermehrere Funktionen erfüllt: wäh-rend er das Feld b7 für den b-Bau-ern räumt, hält er die schwarzenFiguren, besonders den König, inSchach. Um b6-b7 zu verhindern,ist Schwarz zu 47... Ìc5 genötigt.Ein Zug, der den Springer vomweißen König entfernt, was einenevtl. Gegenangriff im Keim er-stickt (das hätte die Alternative47. Ëf7 mit Angriff auf g6 nichtgeleistet). Nach 48. Ëg8+ ist 48...Ëe6 wieder erzwungen, und nach49. Ë:g6+ hat Weiß eine Gewinn-stellung erreicht � mit seinen nun-mehr zwei Freibauern ist er aufbeiden Flügeln am Drücker; einschwarzes Gegenspiel kommt zuspät � die taktisch allerdings im-mer noch schwierig zu handhabenist.Wenn man unterstellt, dass Aron-jan das strategische Motiv des An-griffs auf beiden Flügeln, sprichden Vormarsch mit beiden entste-henden Freibauern, bereits bei sei-

ner Entscheidung für 42. Ë:h4! imBlickfeld hatte, kann man mit Fugund Recht behaupten, dass er,,weiter rechnete� als die meistenProgramme! Unter praktischenGesichtspunkten kommt auf derHabenseite hinzu, dass er diekomplizierten Folgen von 42.Ìe2 nicht zeitraubend zu untersu-chen brauchte, wenn er sich zuerst42. Ë:h4 widmete. Dafür sprichtim konkreten Fall vieles, denn einMensch wird sich zunächst for-cierten Zugfolgen zuwenden; einLuxus, den sich ein Programmnicht erlauben kann. Es muss 42.Ìe2 und andere Züge mit be-trächtlichem Aufwand erforschen� trotz der immer stabiler werden-den Hauptvariante 42. Ë:h4.

Wie stark Schachprogramme spie-len können und wie gut sie in derAnalyse sind, ist in den meistenStellungen, die in der Praxis vor-kommen, von der Rechentiefebzw. dem Rechenhorizont abhän-

gig. Welche dramatischenAuswirkungen im Laufeder Jahre die ständige Er-weiterung der Suchtiefenbewirkt hat, zeigt sich vorallem daran, dass heutzu-tage sogar schon die mei-sten Eröffnungsbüchermit Engine-Unterstützungverfasst werden, was vornicht allzu langer Zeitnoch als undenkbar galt.Während Programme frü-her oft unterschätzt wur-den, werden sie heute viel-fach überschätzt. Manneigt dazu, die Rechener-gebnisse falsch zu inter-pretieren, indem sie quasi,,vermenschlicht“ werden.Der Anwender registriertbeim flüchtigen Nachspie-len der gezeigten Partie,dass seine Engine genauwie Aronjan 42. Ë:h4spielt, und sieht dies nur

zu gern als Bestätigung desmenschlichen Plans. Dass seinProgramm den Zug mit einer un-zureichenden oder sogar falschen,,Begründung“ spielt und dass esihn beim tieferen Berechnen derStellung zeitweilig oder endgültigaufgibt, kommt ihm nicht in denSinn, denn dazu müsste er sichentweder wesentlich mehr Zeitnehmen oder durch ständige kriti-sche Arbeit mit Engines über ei-nen entsprechenden Wissenshin-tergrund verfügen.Entsprechend hat sich auch diemenschliche Interpretation der,,positionellen“ Fähigkeiten vonProgrammen radikal gewandelt.Während man ihnen strategischeFähigkeiten früher pauschal ab-sprach, hat der Spielstärkezu-wachs bei den Engines dazu ge-führt, dass ihnen nunmehr ein sub-tiles Stellungsspiel zugesprochenwird. Im Grunde handelt es sichdabei um eine Vermenschlichungder Schachprogramme.

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Computerschach arno 2012 (II)

42 Schach 3/12

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Mitverantwortlich für diesenWandel war der Wettkampf zwi-schen Deep Blue und Garri Kaspa-row 1997, wobei eine der Schlüs-selstellungen noch heute für unse-re Thematik interessant ist:

Deep BlueG. Kasparow

New York 1997 (m/2)

r+r+q+k++-+-+-z-p+-v-z-z+p+PzP+-PZp+-+-++-Z-+-+PR+L+-WP+T-+-+-M-Stellung nach 35... Íf8:d6

Kasparow hatte hier von demGroßrechner 36. Ëb6 mit derIdee, den b-Bauern zu gewinnen,erwartet und sich zu Recht starkes

Gegenspiel versprochen: 36...Ëe7 37. a:b5 Îab8 38. Ë:a6 e4mit der Drohung 39... Ëe5 nebstËh2+.2 Die Tatsache, dass DeepBlue längere Zeit 36. Ëb6 favori-sierte und dann verwarf, um dasfür Schwarz lebensnotwendigee5-e4 dauerhaft zu verhindern,stimmte den Weltmeister äußerstargwöhnisch. Er vermutete einenmenschlichen Eingriff von seitendes Deep Blue-Teams.3

Der Zug, der die Schachwelt elek-trisierte, war � nach 36. a:b5 a:b5� 37. Íe4. John Nunn kommen-tierte in der MegaBase: ,,Ein grau-samer Zug. Die einzige Chancefür Schwarz, Gegenspiel zu be-kommen, wäre, seinen Läuferdurch ...e4 zu aktivieren. AberDeep Blue durchtrennt das einzige

Seil, das den ertrin-kenden Kasparov ret-ten konnte.�Daniel King zitierteZsuzsa Polgar: ,,DerComputer spielte wieein Champion. WieKarpow.�4

Wie gehen Houdini2.0 und Rybka 4.1.heute mit der Stel-lung um? Die Ant-wort auf diese Fragebestätigt unsere be-reits gewonnenen Er-kenntnisse über dasVorgehen der Pro-gramme. Sie erken-nen schnell, dass 36.Ëb6 mit der Idee desBauerngewinns aufProbleme trifft. Soverlässt Rybka diesenPfad in Tiefe 17 und

Houdini in Tiefe 23 (bei etwa glei-cher Rechenzeit) zugunsten desvon Deep Blue gespielten 37.Íe4. Allerdings stagniert die Be-wertung bei Houdini von Tiefe 24bis 30 bei ,,+0.53�, die Engineverfolgt mit 37... Ëd8 eine stärke-re Fortsetzung als die Kasparows.Es läuft auf eine Art ,,Gegen-blockade� des Schwarzen am Da-menflügel hinaus; das gleiche Mo-tiv zeigt Rybka mit 37... Îcb8.Auch Rybkas Bewertung stagniertbei ,,+0.61�, womit deutlich wird,dass die Programme keinen Ge-winn erkennen, und klar ist, dasssie durchaus wieder zu 36. Ëb6 alserste Wahl zurückkehren könnten,da dieser Zug (mit 38. Ëe3 stattdes Bauernraubs) als etwa gleich-wertig eingeschätzt wird.

*DUUL�.DVSDURZ�ZlKUHQG�GHU�VHFKVWHQ�0DWFKSDUWLH�JHJHQ�'HHS�%OXH ������GLH�VHLQH�1LHGHUODJHEHVLHJHOWH��$XVVFKODJJHEHQG�GDI�U�ZDU�VHLQHU�$XVVDJH�]XIROJH�GLH�X��D�����3DUWLH�

2 Daniel King hat in seinem Buch zum Wettkampf (Kasparow gegen Deep Blue, Beyer Verlag, Hollfeld 1997) darauf hingewiesen, dass Weiß in dieser Variantenicht auf auf a6 nehmen muss, sondern nach 38. Ëe3 immer noch eine ,,schöneStellung“ hat (S. 82f.).

3 Wie Kasparow in seinem am 20. April 1999 an der Konferenz über High SpeedComputing in Oregon gehaltenen Vortrag Chess, Politics & Computers detailliertausführte, vgl. Fragen der Zeit, Bank Hofmann AG, Zürich (1999), S. 34ff.

4 King, S. 143

Computerschach arno 2012 (II)

Schach 3/12 43

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r+r+q+k++-+-+-z--+-v-z-z+p+PzP+--Zp+L+-++-Z-+-+PR+-+-WP+T-+-+-M-Stellung nach 37. Íc2-e4

In der Partie gab Kasparow mit37... Î:a2? 38. Ë:a2 sofort diea-Linie preis.Nunn: ,,Die Stellung ist verloren.Der schwarze Läufer muss auf d6bleiben, um den d5-Bauern zublockieren, aber Schwarz kannnicht den Läufer dort behalten undgleichzeitig den schwachen Bau-ern auf b5 verteidigen. Das voll-ständige Fehlen jeden Gegen-spiels ist entscheidend. Weiß hatviel Zeit, mit Dame und Turm dieschwarze Stellung zu infiltrieren.�Es folgte 38... Ëd7 39. Ëa7 Îc740. Ëb6 Îb7 41. Îa8+ Êf7 42.Ëa6 Ëc7 43. Ëc6 Ëb6+ 44. Êf1Îb8 45. Îa6? (45. Ëd7+ nebst46. Îa7 gewinnt). 1-0

Kasparow gab auf, statt den wei-ßen Fehler mit 45... Ëe3! (nach45... Ë:c6? 46. d:c6 wäre Schwarzin der Tat chancenlos) auszunut-zen.5 Dass ihm Deep Blue dieseMöglichkeit einräumte, schürtezusätzlich sein Misstrauen.

Rybka und Houdini bezweifeln,dass die Eroberung der a-Linie fürWeiß zum Gewinn ausreicht,wenn Schwarz den Tausch auf a2nicht sofort forciert, sondern zu-nächst mit 37... Ëd8 seine Damebesser postiert. Der Unterschiedzur Partie zeigt sich darin, dassSchwarz nach zum Beispiel 38.

Êh2 Î:a2 39. Ë:a2 mit 39... Îb8am Damenflügel eine Auffang-stellung einnehmen kann.

-t-w-+k++-+-+-z--+-v-z-z+p+PzP+--Zp+L+-++-Z-+-+PQ+-+-+PMT-+-+-+-

Analysediagramm

Wie kommt Weiß nun weiter? An-ders als im Text funktioniert die,,Infiltration� hier nicht mehr soproblemlos.Auf etwa 40. Ëa6 mit der Dro-hung 41. Îa5 nebst Î:b5 folgt40... Îb6, und weder ist der Ïb5zu erobern noch gelangt die weißeDame nach c6.Auf 40. Ëa7 folgt ebenfalls 40...Îb6, nach 41. Ëa8 verteidigt sichSchwarz dann mit 41... Íb8 42.Îa7 Êf8.Brechen wir die Analyse hier mitdem Urteil ,,unklar� ab. Houdini2.0 kann auch nach weiteren achtplausiblen Zügen keinen Gewinnausmachen. Das Bewertungsni-veau bewegt sich stabil zwischen,,+0.50� und ,,+0.60�.Vielleicht kann Weiß einen ande-ren Ansatz verfolgen, indem erzwar die a-Linie erobert, aber dortmit der Dame in Hinterstellungbleibt und am Königsflügel einezweite Front zu errichten ver-sucht. Das ist allerdings ein höchstkompliziertes Unterfangen.Es überrascht nicht, dass Rybka4.1 in der kritischen Ausgangs-stellung nach anfänglicher ,,Be-geisterung� für 37. Íe4 schon inTiefe 20 zur von Deep Blue ver-worfenen Alternative 37. Ëb6schwenkt und sich hier bei zuneh-

mender Vertiefung bis ins unglei-che Läuferendspiel große Hoff-nungen auf einen Sieg macht. DieBewertung bleibt selbst dann nochdeutlich höher als bei 37. Íe4(,,+1.05� gegenüber ,,+0.62�), alsRybka ab Tiefe 23 das richtigeschwarze Gegenspiel 37... Î:a238. Î:a2 Îa8 39. Îa5 Î:a5 40.b:a5 Ëe7 41. Êf1 e4! erkennt. Diedanach stagnierende Bewertungkann allerdings als Hinweis daraufgedeutet werden, dass es auch hiernicht entscheidend weitergeht.

Wie sich zeigt, ist die Suchtiefeund teilweise auch die Art der Su-che (Ein- oder im Mehrvarianten-modus) entscheidend dafür, wel-che Ergebnisse man erhält. AlsAnwender sollte man versuchen,ein Gefühl bzw. ein Verständnisdafür zu erlangen, ob und wanneine Engine die ,,kritische Such-tiefe“ für eine aussagekräftige Be-wertung erreicht hat.Die Variantenanzeige selbst ist inAbhängigkeit von vielen Faktorenunterschiedlich konsistent. Hou-dini und Rybka zum Beispiel war-ten häufig mit langen Variantenauf, die auf nahezu gespenstischeWeise Bestand haben, währendman eigentlich immer glaubte,man solle nur den ersten Zug einerangezeigten Variante als ,,gesi-chert“ akzeptieren. Die Verläss-lichkeit der angezeigten Zugfolgevariiert je nach Engine. Es gibt noch einen weiterenGrund, der selbst bei den genann-ten Engines oft zu starkenSchwankungen der Zugangabenbeim Ausspielen der Variantenführt: Wenn in einer Stellungmehrere annähernd gleichwertigeZüge möglich sind, aber der Ein-Variantenmodus eingestellt ist,spielt der Zufall bei der Auswahlder bevorzugten Fortsetzung eine

5 Zeitgenössische Quellen sahen dann nach 46. Ë:d6 Îe8! ein schwarzes Dauerschach (nach etwa 47. Íf3 Ëc1+, vgl. u. a.6&+$&+ 6/1997, S. 11), aber heutige Technik stellt dieses Urteil mit 47. Ëd7+ Îe7 48. Ëc6 Ë:e4 49. d6 in Frage.

Computerschach arno 2012 (II)

44 Schach 3/12

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gewisse Rolle. Möchte man alsoeine möglichst umfassende Ein-schätzung einer Stellung durcheine Engine erhalten, empfiehltsich der Mehr-Variantenmodus;wenn man dagegen in die Tieferechnen lassen will, ist der Ein-Variantenmodus zu bevorzugen.

Zurück zur Frage der positionellenEngine-Fähigkeiten. Die früher weithin zutreffendeCharakterisierung der PC-Schach-programme als taktisch stark undpositionell schwach hat sich seitDeep Blue sukzessive als über-holt, wenn nicht gar als völligfalsch herausgestellt. Sie enthältzwar einen wahren Kern, wasmanche Stellungstypen und sehrweitreichende oder komplexeSpielpläne betrifft (woraus sichdie Langlebigkeit des alten ,,Vor-urteils“ erklärt), aber es hat sichgezeigt, dass die schematischeUnterscheidung zwischen ,,posi-tionell“ und ,,taktisch“ im Verlau-fe von Partien und längeren Zug-folgen weniger erklärt, als dass sievernebelt. In der Praxis treten bei-de Faktoren als eine komplexeEinheit auf, in der auch die Aspek-te, die zeitweilig in den Hinter-grund treten, immer latent mit-schwingen. Bereits in den 90erJahren kam dem Verfasser dieIdee, ein aus der Vor-Computer-zeit stammendes positionellesSchachlehrbuch mit PC-Program-men zu checken. Das Ergebniswar schon damals schockierend:die Programme fanden fast alle,,positionellen“ Meisterzüge undverbesserten sogar noch einigeStellungseinschätzungen. Wir stehen also vor dem Phäno-men, dass Schachprogrammezwar nach menschlichen Maßstä-ben nichts vom Schach verstehen,dass ihre formalen Bewertungs-funktionen aber gleichzeitig rechtgut geeignet sind, um die Suchenach aussichtsreichen Fortsetzun-

gen zu steuern. Zudiesen Bewertungs-kriterien zählen: of-fene Linien, Königs-sicherheit, aktiverKönig im Endspiel,Bauernstrukturen,vorgerückte Bauern,Freibauern, hängen-de und unbewegli-che Bauern, starkeund schwache Fel-der, Beweglichkeit,Aktivität und Zu-sammenspiel der Fi-guren sowie speziel-le Materialkonstella-tionen, wie zum Beispiel das Läu-ferpaar. Bekannte Ausnahmen undSchwachstellen sind für alle bzw.die meisten Programme Festun-gen, langzügige Stellungswieder-holungen, die Horizontbegren-zung an sich, das Phänomen desHorizonteffektes, Probleme mitungleichen Läufern, ungleicheMaterialverteilungen, Zugzwang-stellungen; kurz gesagt alles, wassich nicht leicht in praktikable Re-geln fassen lässt. Hier stößt derAlpha-Beta-bzw. Minimax-Algo-rithmus, jenes gemeinsameGrundprinzip aller heutigenSchachprogramme, an seine Lei-stungsgrenzen. Rechts oben sehen Sie eine sub-jektive Einschätzung der relativenStärken und Schwächen von Engi-nes und Menschen (Top-GM) un-ter den Bedingungen einer Tur-nierpartie. Die Zahlenwerte ste-hen von 0 = gering/schwach bis 9= hoch/stark. Diese Liste ließe sich noch weiterfortführen, sie soll zunächst je-doch nur ein Gesamtbild skizzie-ren, um eine ungefähre Vorstel-lung davon zu vermitteln, welcheFaktoren eine Rolle spielen.Schauen wir uns nun einen Fall an,bei dem viele Engines kein gutesBild abgeben:

Computerpartie 2012

-+-+-+-++p+-+-+--Z-+-+p+V-+-+p+-k+-+-+-M+-+-+-+--+-+-+-++-+-+-+-Weiß am Zug

Es sind sieben Steine auf demBrett, so dass die bekanntenTablebases (max. sechs Steine)noch nicht greifen. Wie ist dieStellung einzuschätzen? Houdini (egal ob 1.5 oder 2.0)zeigt aus dem Stand eine Bewer-tung von ,,+0.02“ an, die Variantebleibt immer gleich – von Tiefe 11bis 32. Remis!Ein Dutzend anderer namhafterProgramme, einschließlich Rybka(egal ob 3 oder 4), sieht Weiß zwi-schen ,,+3“ und ,,+7“ in der Vor-hand.Es handelt sich um eine typischeFestung. Houdini hat Recht!Schwarz muss nur den König nachc8 stellen und wegen des drohen-den Patts hat Weiß, nachdem erdie gegnerischen Königsflügel-

Computer Mensch

Erkennen taktischer Motive 8,5 6,5

Berechnen von Varianten 8,5 4,5

Stellungsbewertung 6,5 7,5

Langfristige Pläne 3,5 7,5

Offene Stellungen 7,5 5,5

Geschlossene Stellungen 5,5 6,5

Taktische Endspiele 8,5 4,5

Strategische Endspiele 3,5 6,5

Zeitökonomie 8,5 2,5

Speicher/Gedächtnis 8,5 2,5

Hardware/Physis 8,5 2,5

Intuition 0 4,5

Computerschach arno 2012 (II)

Schach 3/12 45

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bauern abgeräumt hat, keineChance, den schwarzen Königvon der Deckung des Ïb7 zu ver-treiben. Dieselben Programme,die Weiß den Sieg versprechen,zeigen nach dem Verschwindeneines schwarzen Königsflügel-bauern und geladenen Tablebasessofort ,,0.00“ an.Glauben Sie in einem solchen, garnicht selten anzutreffenden Fallbitte nicht an einen ,,Bug“ IhresProgramms. Vielmehr ist der Son-derfall dieser Endspielfestungnicht, bzw. nur bei Houdini, pro-grammiert.

Wie ist der folgende Fall einzu-schätzen?

Thomas HallLehrbeispiel, 2008

-+-+-+k++-t-+-+--+-M-+-++-+-+-+p-+-+-+-z+-v-+PzP-T-+-+P++-+-+-+-Schwarz am Zug

Alle Programme zeigen hier einenschwarzen Gewinn an, aber nichtalle denselben Gewinnweg.Goalgetter wie Rybka und Houdi-ni geben 1... Í:b2 2. Ê:c7 Êf7mit Werten um ,,-5.00� zugunstendes Schwarzen an. Bei Houdini istdas nach dem vorangegangenenBeispiel erstaunlich, denn ausmenschlicher Sicht handelt es sichum die gleiche Festungsidee: derweiße König geht nach f1 undSchwarz kommt nicht weiter (denf-Bauern kann Weiß geben). Ausirgendeinem Grunde funktioniertdie Progammieridee aus dem vori-gen Beispiel hier nicht.

Der Witz an der Stellung ist, dassSchwarz nur gewinnt, wenn er dieTürme auf dem Brett lässt, denn erbraucht den seinigen um den Ïg2zu erobern. Der Autor gibt als Ge-winnidee ein Manöver an, in demder schwarze Läufer nach f2 ge-führt wird:6

1... Îc4 2. Îe2 Êf7 3. Îa2 Îd4+4. Êc5 Îd1 5. Êc4 Íe1 6. f4 Íf2

-+-+-+-++-+-+k+--+-+-+-++-+-+-+p-+K+-Z-z+-+-+-zPR+-+-vP++-+r+-+-

Vielleicht gibt es eine zähere Ver-teidigung für Weiß, aber im Prin-zip ist die Gewinnidee goldrichtig.Diesmal ist es Shredder 12, dasmit einer relativ schnellen Lösungund dem Fund des Íf2-Manöversglänzt, ohne sich je auf den Irrweg1... Í:b2 begeben zu haben. Zap-pa Mexico II ist etwas langsamer,aber auf der richtigen Spur. AuchJunior 12.5 zeigt gute Ansätze mitallerdings unsystematisch wirken-den Lösungen.

Ein Thema für sich sind Zug-zwangstellungen. Programme, diemit der sogenannten ,,Nullzug-Technik“ arbeiten, sind bei dieserVoreinstellung meist nicht in derLage, eine Zugzwangsituation zuerkennen. Der ,,Nullzug“ ist einebeliebte und verbreitete Aus-schlusstechnik, die es einem Pro-gramm erlaubt, die Suche deutlichschneller voranzutreiben.

Robin Smith beschreibt sie wiefolgt: ,,Die Technik basiert auf der(üblicherweise, aber nicht immerkorrekten) Annahme, dass dasAusführen eines Zuges eine Situa-tion herbeiführt, die günstiger istals die Situation nach komplettem‘Auslassen’ eines Zuges. GegenEnde einer Suchverzweigung darfeine Seite zweimal hintereinanderziehen, d. h. die andere Seite erhälteinen ‘Nullzug’. Wenn die Partei,die den Doppelzug ausführendurfte, nach diesen zwei Zügennicht wirklich sehr gut steht, kannder erste der zwei Züge nicht be-sonders stark gewesen sein und[soll] daher aus der weiteren Su-che ausgeschlossen werden. DasNullzug-Ausschlussverfahrenwird normalerweise im Endspielausgeblendet. In dieser Spielphasekommt es relativ häufig zu Zug-zwangstellungen, in denen dasAusführen eines Zuges nachteiligist. Dann wäre das Nullzug-Ver-fahren kontraproduktiv.“7

Passend dazu brachte bereits Rai-ner Knaak 1999 in seiner Artikel-serie in 6&+$&+

8 die nachfol-gende Réti-Studie:

Richard RétiSchachmaty 1928

-+-+kt-++-+-+p+K-+-z-W-++p+-+-Z--+-+P+-++PZ-+-+--+-+-+-v+-+-+-+-Weiß gewinnt

6 Thomas Hall, Chess Programs Are Not Smart, Juli 2008, im Bloghttp://www.zenpawn.com/chessblog/2008/07/chess-programs-are-not-smart/

7 Robin Smith, Moderne Schachanalyse, Gambit, London 2005 (S. 183)8 Download unter http://www.zeitschriftschach.de/zeitung/schach_knaak.htm

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46 Schach 3/12

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Die thematische Lösung lautet: 1.Êh6 Íe5 2. Êg7 Íh2 3. c4 b:c44. e5 Í:e5 5. b:c4 Í:f6+ 6. g:f6Îh8 7. Ê:h8 Êd7 8. Êg8 undgewinnt (auf die Feinheiten nach5... Íg3 6. c5, die zu einer Verlän-gerung des Widerstandes mit glei-chem Ausgang führen, gehen wirhier nicht ein).Weiß gibt also die Dame gegeneinen Läufer, sofern er dabei

1) den eingeklemmten Turmauf f8 mit seinem König erobernkann und

2) das anschließende Bauern-endspiel gewinnt.Wenn ein Glied der Zugzwang-kette fehlt (Nullzug), dann funk-tioniert der Mechanismus natür-lich nicht. Knaak beschrieb vorzwölf Jahren8 die Schwierigkei-ten, die Fritz 5.32 selbst noch nachdem Vorgeben der ersten beidenZüge hatte, wonach sich das Pro-gramm in Tiefe 19 mit Weiß aufVerlust stehend sah. Nimzo 99 da-gegen spürte den Gewinn mit 3. c4

in Tiefe 16, die gleichzeitig er-reicht wurde, auf. Die Art der Anwendung des,,Nullzuges� ist offensichtlichkompliziert. Wann benutzt dasProgramm ihn und wann nicht?Gänzlich verwirrend ist, dass bei-spielsweise Fritz 13 wie schon sei-ne Vorgängerversionen dem An-wender die Parameter-Option ein-räumt, den Nullzug abzustellen.Doch mehrere Testläufe zeigten,dass diese Option zumindest in derAusgangsstellung wenig ändert.Auch in Tiefe 35 zeigt Fritz 13noch 1. Ëf5 mit der Bewertung,,0.00� an (ähnlich Deep Fritz 12).Allerdings erkennen die neuenFritze inzwischen den Gewinn beiVorgabe von 1. Êh6 Íe5 2. Êg7und erlauben es auch durch Rück-verfolgen der Variante, quasidurch ,,Hashen�, die Erkenntnisauf die vorangegangen Halbzügezu übertragen.Engines, bei denen die Option,,,den �Nullzug� abstellen�, in der

Réti-Stellung sofortgreift, sind Komodound Zappa Mexico.Ebenso haben Crafty,Houdini, Rybka undandere Programme,die eine solche Optionnicht anbieten, keinProblem, 1. Êh6 alsweißen Gewinnwegzu erkennen. Shredder12 bietet die Optionunter der ChessBase-Oberfläche nicht anund versagt ähnlichwie Fritz, währendStockfish unberechen-bar verfährt.Manche Anwendermöchten gern beimÜberprüfen von Stu-dien den Lösungswegwie im Buch aufge-zeigt bekommen undreagieren dann ent-täuscht, wenn ihre En-

gine wie in unserem Beispiel nach1. Êh6 unthematisch mit 1... Îg8fortsetzt. Sie nehmen irrtümlichan, das Programm habe 1... Íe5nicht erkannt bzw. nicht gefun-den. Das ist jedoch eine grobeFehlinterpretation, die auf man-gelndem Verständnis der ange-zeigten Varianten beruht. Studienthematisieren ja nicht Verlustzügenach dem Zahlenwert einer Engi-ne, sondern um bestimmte Motiveund Ideen auszudrücken. AusSicht der Engines ist die schwarzeStellung nach 1... Íe5 noch hoff-nungsloser als nach 1... Îg8; d. h.sie haben den weißen Gewinndurchaus erkannt und suchen nunnach einer nicht ganz so aussichts-losen Fortsetzung. ,,Schön spie-len� kennen sie nicht, wie sie jaauch keine Schachfiguren kennen.Es sind alles nur endlose Zahlen-reihen...

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Computerschach arno 2012 (II)

Schach 3/12 47

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,,Das Internet ist ein Misthaufen. Neunzig Prozentsind Schrott, aber es finden sich auch ein paar Perlenund Goldgruben.“ Joseph Weizenbaum

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Ein Gespenst geht um in CaissasReich: es hört auf den NamenLet’s Check und behauptet keck,die Schachwelt zu ,,revolutionie-ren“! Kein Eröffnungszug istmehr vor ihm sicher. Ob 1. e4 oder1. d4, alles wird von weltweit ver-netzten Computern in einem gi-gantischen, niemals endendenWettbewerb rauf und runter analy-siert (oder schon gescannt?). NurLet’s Check hat den Schlüssel zurWahrheit, sagt uns, was richtigund was falsch ist, welche Varian-ten angesagt sind und welche wirgetrost ad acta legen können.Nigel Short war einer der ersten,der dem Gespenst im Herbst 2011bei seinem Blitzmatch gegen GarriKasparow in Belgien begegnete:,,Fürchterlich. Ihr ruiniert dasSchachspiel. Das ist ein Science-Fiction-Albtraum.“1 Völlig arglosäußerte sich dagegen Deutsch-lands oberster Schachtrainer UweBönsch: ,,Da sich sowieso keinMensch all die Varianten merkenkann, entscheidet auch künftig dieschachliche Spielstärke und nicht(nur) das Auswendiglernen von

Varianten über Sieg und Niederla-ge.“2

Bislang gibt es das ,,Gespenst“nur als Funktion von Fritz 13. Obund wann es auch in das eigentli-che Datenbankprogramm Chess-Base implementiert wird, bleibtabzuwarten. Es gibt sowohl Grün-de, die dafür, als auch Gründe, diedagegen sprechen; letztlich sind esfirmeninterne Entscheidungen. Mit Fritz erreicht ChessBase sehrviel mehr Anwender als mit demDatenbankprogramm und sicher-lich auch mehr Computerschach-fans, die die eifrigsten Zuarbeiterfür Let’s Check sind, indem sieihre Engines auf einer leistungs-fähigen Hardware oftmals rundum die Uhr online analysieren las-sen. Ob Eröffnungs-, Mittel- oderEndspielstellungen, alle neuenZügen werden im LiveBuch ge-speichert, das in einem extra Fen-ster angezeigt wird (wie jedes an-dere Engine-Buch); d. h. man er-fährt zu jeder Brettstellung, wel-che Züge entweder schon in Parti-

en gespielt wurden oder als manu-elle Eingaben in der Datenbankvorhanden sind. Im Let’s Check-Fenster stehen, sofern man online(d. h. mit dem Datenbankserververbunden) ist, zu jeder Brettstel-lung die bisher vorliegenden tief-sten Engineanalysen (siehe Abb.unten).Angezeigt werden die ersten dreiHalbzüge der jeweiligen Hauptva-riante, die eine Engine ermittelthat, sowie die Enginebewertung,die Rechentiefe und der Benutzer-

Von Arno Nickel

1 Presseartikel von live-PR.com am 14.10.2011(mit ,,ihr“ meinte er nicht das Gespenst, sondern ChessBase)

2 Presseartikel der Agentur Roessler PR am 26.10.2011

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44 Schach 5/12

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name desjenigen Anwenders, derdie Stellung als erster ,,entdeckt“und von einer Engine berechnenlassen hat. Aufgeführt ist auch dieZahl der ,,Besucher“ einer Stel-lung, woran man das allgemeineInteresse oder den Bekanntheits-grad einer Variante ablesen kann.Wird eine neue Analyse auf denSchachserver übertragen, die tie-fer ist als eine der bisher angezeig-ten drei Hauptvarianten, verdrängtsie einen Vorgänger und klettert inder Hierachie nach oben. Schafftsie es bei genügend langer Dauer(mindestens zehn Minuten) bis andie erste Stelle, ist dies ein ,,deepvariation win“, der mit Extra-Punkten für den Anwender be-lohnt wird.Die 100 erfolgreichsten Punkte-sammler werden in einer ,,Ehren-liste“ aufgeführt (siehe nebenste-hende Abb.), in der man auch diejeweiligen Benutzerinformatio-nen vom Schach.de-Server an-klicken kann. Wer schneller in derListe vorankommen will, kannseine Engine ,,stiften“, indem ersie dem Server zur Verfügungstellt, der damit systematisch Par-tien und Stellungen aus Datenban-ken sowie solche, die von Anwen-dern eingereicht werden, analy-siert. Für diesen Dienst an der All-gemeinheit werden den StifternExtra-Punkte gutgeschrieben.Ein Blick auf die Rangliste nacheinem halben Jahr zeigt wenig be-kannte Namen, obwohl es sich beidem einsam Führenden mely im-merhin um einen bekannten Fern-schachspieler handelt: der Thürin-ger Dr. Uwe Mehlhorn war 2009Deutscher Fernschachmeister und2011 Deutscher Ärztemeister imNahschach. Auf Anfrage erfuhrenwir von ihm, dass Let’s Check sei-ner Einschätzung nach das Fern-schach nicht mehr beeinflussenwird, als es die Datenbanken undEnzyklopädien momentan ohne-hin schon tun.

Die mit tiefen Engineberechnun-gen ermittelten Züge finden Ein-gang in das LiveBuch, sofern sieauf dem Brett ausgeführt werden.Es handelt sich um ein Eröffnungs-buch, wie es jede Engine nutzt, nurdass dieses Buch permament ver-ändert und erweitert wird und dasses nicht speziell für den Wett-kampf mit anderen Engines ausge-legt ist. Den Grundstock bilden dieEröffnungszüge der Online-Parti-endatenbank von ChessBase mitknapp sechs Millionen Partien. ImFritz-Handbuch heißt es: ,,Jederkann zu jeder Zeit Züge ins LiveBuch eingeben, egal wie sinnvolloder sinnlos diese sind. Wie einmenschliches Gehirn vergisst dasLiveBuch jedoch unwichtige, d. h.selten aufgefrischte Informationnach einiger Zeit wieder.“ Es liegt nahe, dass jemand, dersich über den letzten Stand der Er-

öffnungstheorie und -praxis infor-mieren will, diese Quelle abfragt,selbst wenn er von Hause aus keinInteresse an Engine-Analysen hat.Um das LiveBuch zu öffnen, mussman mit dem Datenbankserververbunden sein, was durch eingrünes Lämpchen bestätigt wird.Man muss allerdings keine Engineaktiviert haben. Verschiedentlichwurde in Berichten der Eindruckerweckt, nur derjenige habe Zu-griff auf die Ergebnisse von En-gine-Analysen, der selbst welchebeisteuere. Das ist definitiv falsch!Nach meinen Tests ist es jedemFritz13-Anwender, der mit demDatenbankserver verbunden ist,möglich, auch ohne eigene En-gine-Aktivitäten die Vorschlägeund Bewertungen anderer einzu-sehen. Der einzige Unterschiedist, dass dem anonym einge-loggten Anwender die Benutzer-namen derjenigen vorenthaltenwerden, die sich dort mit ihren En-ginevarianten eingetragen haben.Wer Engineanalysen für eigenePartien und Stellungen in Auftraggeben will, sollte jedoch auchselbst bereit sein, das Seinige bei-zusteuern. Nur durch eigene Akti-vitäten erwirbt er die ,,Credits“,um andere für sich analysieren zulassen. Allerdings ist ein positivesCredits-Konto kein unbedingtesMuss; ähnlich wie beim Dispo-Kredit kann man vorübergehendschon mal ,,überziehen“.

(LQ�GLJLWDOHV�6FKODUDIIHQODQG�Was und vor allem wem bringtLet’s Check etwas? Revolutioniertdie ,,Wissensdatenbank“ tatsäch-lich die Schachwelt?Es gibt eine Reihe praktischerGründe, die von ChessBase wer-bewirksam angeführt werden, umden Nutzen ihrer Erfindung pla-stisch nahezubringen. Anwendersind nicht mehr auf ihre eigene

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Schach 5/12 45

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Hard- und Software beschränkt,sondern haben an den giganti-schen Analyseressourcen der All-gemeinheit teil. Ergebnisse tieferComputeranalysen gehen nichtmehr unwiderruflich verloren,sondern werden aufbewahrt undallen zugänglich gemacht (fastklingt es ein bisschen nach Kom-munismus...). Unnötige Doppelar-beit wird vermieden, die Analyseerfolgt tendenziell koordiniert undarbeitsteilig. Man konzentriertsich auf Brennpunkte des aktuel-len Interesses und auf ungeklärteProbleme. Der Einzelne sitzt mitseinen Analysen nicht mehr iso-liert vor dem heimischen PC, son-dern tauscht sich mit vielen ande-ren in der Welt aus. Die hohe Qua-lität und Aktualität der engineba-sierten Information zu vielen aktu-ellen Schachpartien ist ein weite-res Plus. Der Anwender ist nichtmehr auf die wenigen Partien be-schränkt, die er live verfolgenkann oder zu denen er Analysenfindet, sondern er kann aus demriesigen Datenquell schöpfen.

6FKODUDIIHQODQG"All das ist zweifellos richtig, dochbevor uns das Wasser im Mundezusammenläuft, wollen wir eineder Kernfragen stellen, dieSchachspieler beschäftigt: Wel-che Qualität haben Enginezügeund -bewertungen im Rahmen ei-ner Eröffnungsreferenz? Handeltes sich hier tatsächlich um Wissen,wie die Werbung behauptet?Wissen als Begriff zu definierenund ihm eine allgemeingültige Be-deutung zu geben – zu dieser Fragesind im Laufe der Jahrhunderte un-zählige Arbeiten verfasst worden.Wir wollen hier davon ausgehen,dass Informationen und Daten fürsich genommen noch kein Wissen

darstellen, sondern nur die Grund-lage bilden, auf der sich durch Er-kennen von Zusammenhängenbzw. durch Lernprozesse Wissenherstellen lässt – oder auch nicht.3

Allenfalls könnte man die Engine-varianten und -bewertungen als,,Enginewissen“ bezeichen, dochda wir keine Engines, sondernMenschen sind, ist es mühsam füruns, dieses Wissen nachzuvollzie-hen und zu verstehen.Es liegt auf der Hand, dass es vonjedem Anwender selbst abhängt –von seiner Spielstärke, seinemSchach- und seinem Computer-schachwissen –, welchen Zuganger zu den Enginedaten findet. Ichbin diesbezüglich eher skeptisch,was die breite Masse der Schach-spieler, einschließlich der Ver-einsspieler, betrifft. Ihnen ist miteinem guten Eröffnungsbuch, daserhellende Erklärungen und kom-mentierte Beispielpartien enthält,deutlich mehr gedient als mit einerenzyklopädischen Engine-Züge-Datenbank. Was soll zum Beispieljemand, der kaum das Königsin-disch-Einmaleins beherrscht, mitder Information anfangen, dassdie Engine X in irgendeiner Unter-variante im 19. Zug eine starkeNeuerung gefunden zu habenglaubt?Diese Art von Information, dieerst noch der kritischen Prüfungbedarf, ist nur für absolute Spezia-listen wirklich interessant, ver-ständlich und relevant. Unser ima-ginärer Schachspieler wird dieseStellung vermutlich nie aufs Brettbekommen. Und er wird ungeach-tet allen Enginewissens auch dienächsten zehn Jahre nicht über einSpielniveau von 1600 hinauskom-men. Let’s Check wird sein Ver-ständnis eher reduzieren, weil sichihm die Zusammenhänge nicht er-schließen. Das mag pessimistisch

klingen, doch es ist wesentlichrealistischer als die Annahme ei-ner riesigen Let’s Check-Commu-nity, die im regen Austausch vonEnginevarianten ihr Schachver-ständnis erweitert oder die Eröff-nungstheorie bereichert. Die Qualität der Enginevariantenund -bewertungen im LiveBuch istsehr unterschiedlich, je nach Stel-lung, Engine, Rechentiefe und Artder Analyse. Auch das erschließtsich nur Spezialisten und erforderteinen gewissen Aufwand. Die An-nahme, dass eine Vielzahl von En-ginebewertungen und neuen -zü-gen zu einer spürbaren Bereiche-rung des Eröffnungswissens führt,ist bislang rein hypothetisch unddarf bezweifelt werden. Das Wis-sen muss erst noch erarbeitet wer-den, es liegt ebenso wenig wieGeld auf der Straße! In vielen Fällen ist das durch Er-fahrung gewonnene Eröffnungs-wissen der Menschen sowohlreichhaltiger als auch tiefer als dasvon Engines. Nehmen wir zumBeispiel die vom Informator-Ver-lag herausgegebene Enzyklopädieder Schacheröffnungen. Die Be-wertungen dort mögen Engine-Analysen nicht immer standhal-ten, aber das mindert den Wert desWerkes kaum.

'DV�/LYH%XFKNiemand wäre bis vor kurzem aufdie Idee gekommen, die Aus-gangsstellung des Damengambitsnach 1. d4 d5 2. c4 von Engines indie Tiefe rechnen zu lassen. DankLet’s Check wissen wir nun, dassdrei Top-Engines hier überein-stimmend 2... e6 spielen. Und dar-an wird sich so schnell vermutlichnichts ändern, da der Zug in allendrei Fällen mit der gigantischenRechentiefe 30 bis 31 festgeklopft

3 Ein Zitat des amerikanischen Medienkritikers Neil Postman: ,,Die Amerikaner wissen alles über die letzten 24 Stunden, aberso gut wie nichts über die vergangenen Jahrhunderte.“ N. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt/M. 1985, S. 168.

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46 Schach 5/12

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ist. Hat diese Engine-Anzeige ir-gendeine Relevanz, außer viel-leicht zu bestätigen, dass die En-gines die Eröffnungsprinzipien zubeherrschen scheinen? Ein Blickins LiveBuch verhilft dem Laienzu der möglichen Erkenntnis, dass2... d:c4 und 2... c6 pi mal Daumenals gleichwertige Fortsetzungenangesehen werden können. Nichtohne Weiteres wird er auf die Ideekommen, dass diese Fortsetzun-gen auch von den Engines so be-wertet werden und der Bewer-tungsunterschied zu 2... e6 ziem-lich bedeutungslos ist. Möglicher-weise wurde die Stellung nur des-halb so tief berechnet, weil sie vonsehr vielen ,,besucht“ wird undmanch einer unabsichtlich seineEngine hier parkt... Nehmen wir eine weniger ortho-doxe Stellung, in der es schon ei-niges zu rechnen gibt:

rslwk+-tzp+-+pvp-+-z-sp++-zPZ-+--+-+-Z-++-S-+-+-PZ-+-+PZT-VQMLSR

Eine Ben-Oni-Stellung, die nach1. d4 Ìf6 2. c4 e6 3. Ìc3 c5 4. d5e:d5 5. c:d5 d6 6. e4 g6 7. f4 Íg78. e5 entsteht.8. e5 ist ein etwas verfrühter An-griff,4 mit dem Weiß auf die sofor-tige Öffnung der Stellung durch8... d:e5? spekuliert, wonach ereine starke Initiative entfaltenkann. Die Großmeister KarstenMüller und Rainer Knaak be-zeichnen 8. e5 in ihrem Buch 222Eröffnungsfallen nach 1.d4 als,,Fallenzug, bei dem eine guteWahrscheinlichkeit besteht, dassSchwarz hereinfällt�.5 Ein Blick

ins LiveBuch bestätigt unsere Be-fürchtungen. Auch einige Enginesfallen mit 8... d:e5 herein (sieheAbb. oben), wenn man sie nichttief genug rechnen lässt.Ein anderer Fall:

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Das Sizilianische Flügelgambitnach 1. e4 c5 2. b4 c:b4.Uns interessiert, wie Engines dieHauptvariante(n) behandeln,wenn wir sie Zug für Zug durch-gehen. Zunächst stoßen wir wie-der auf die heilige Dreieinigkeit:alle Engines spielen 3. Ìf3 stattwie die Partien des LiveBuchs denHauptzug 3. a3. Nach 3. a3 folgenuns die Engines bis 3... d5 4. e:d5

Ë:d5 5. Ìf3 e5. Hier möchten sieübereinstimmend 6. a:b4 spielen(statt des in der Praxis häufigerenund erfolgreicheren 6. Íb2). 6...Í:b4 7. Ía3 oder 7. c3 bewertensie dann als fast ausgeglichen mitleichtem Vorteil für Schwarz, derja einen Bauern gewonnen hat. 6.Íb2 schneidet deutlich schlechterab, nach 6... Ìc6 kommen wir zueiner Stellung, die thematischenCharakter besitzt.

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Man kann diese Stellung eigent-lich nur unter dem menschlichenBlickwinkel der weißen Bemü-hungen um Initiative verstehen.Dann erschließt sich 7. c4 als die

4 Als nachhaltiger gilt 8. Íb5+, wonach sich mit 8... Ìbd7 und 8... Íd7 gleichzwei schwächere Fortsetzungen anbieten (statt des richtigen 8... Ìfd7!).

5 K. Müller/R. Knaak, 222 Eröffnungsfallen nach 1.d4, Zürich (Edition Olms)2008, S. 42. Zu 8... d:e5? bemerken die Autoren: ,,Ein typischer Fehler, dennSchwarz öffnet dem weißen Angriff ohne Not Zugstraßen.“

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logische Fortsetzung, mit derWeiß das Spiel verschärft � in derHoffnung auf für ihn vorteilhafteVerwicklungen, in denen sich Fi-gurenspiel und bessere Entwick-lung gegenüber der materiellenSchwerkraft durchsetzen.Es ist alles andere als leicht, dazuZustimmung von Engine-Seite zuerfahren. Das LiveBuch zeigt dies-mal drei verschiedene Variantenan, die in der Praxis noch keineErprobung gefunden haben: 7.Ì:e5 Ì:e5 8. Ëe2, 7. Ëe2 und 7.a:b4. Auf hartnäckiges Drängenstimmt uns Houdini 2.0c dannaber doch zu, dass 7. c4 ganz nachoben rücken soll (siehe nebensei-tige Abb.). Wenn wir nun mit Engine-Zustim-mung die weitere Zugfolge 7...Ëe6 8. Íd3 (sehr apart!) 8... Ìf69. 0-0 Íd6 10. Îe1 0-0 11. a:b4eingeben...

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..., erreichen wir eine Stellung, beider die Experten zu der Einschät-zung ,,unklar“, ,,mit beiderseiti-gen Chancen“ bzw. im ,,dynami-schen Gleichgewicht befindlich“gelangen. Erstmals sieht HoudiniWeiß leicht im Plus.Was hat das LiveBuch uns für Er-kenntnisse beim Nachspielen derHauptvariante vermittelt? Wennwir es recht betrachten: Keine! ImGegenteil, wir haben ,,ihm“ etwasbeigebracht. Und ohne starke En-

gine und Hardware wären wir auf-geschmissen gewesen und hättenden Bewertungen nicht mehr alsunser Buchwissen und Schachver-ständnis entgegensetzen können.Ironischerweise gilt wieder, wasMatthias Wüllenweber, einer derBegründer von ChessBase und einerfahrener und leidenschaftlicherSchachspieler, in einem Artikel zuLet’s Check so formulierte: ,,Es istein bisschen wie in der Unschärfe-relation der Quantenphysik: Mankann das System nicht beobach-ten, ohne es zu verändern.“6

Wahrlich, man steht zugleichdrinnen und draußen.Ohne Zweifel wird Let’s Check invielen Fällen starke neue Zügeund zutreffende Umbewertungenvon Varianten hervorbringen. DerWert des LiveBuchs für den Spe-zialisten, für Fernschachspielerund für Leute mit einem breitenHintergrundwissen ist unbestrit-ten, und ihr Zutun könnte langfri-stig auch zu Qualitätsverbesserun-gen in vielerlei Hinsicht führen.Dass es in dieser Richtung Bedarfgibt, zum Beispiel im Sinne einervermehrten verbalen Kommentie-rung im LiveBuch (die ja jederzeitund durch jeden Anwender in ge-

wissem Maße möglich und er-wünscht ist, mit bis zu 140 Zei-chen pro Zug), weiß auch Wüllen-weber. Einen möglichen Grundfür die Zurückhaltung mit Kom-mentaren sieht er in dem Dislike-Button, mit dem andere AnwenderKommentare, die ihnen falsch er-scheinen oder aus beliebigenGründen missfallen, bewertenkönnen. Diese Probleme könntenmit der Einrichtung einer Redakti-on in Angriff genommen werden.Denn es ist nicht selbstverständ-lich – schon allein sprachlich –,dass Eröffnungskommentare vonbeliebigen Anwendern das leisten,was man von einer gut gepflegten,,Wissensdatenbank“ erwartet.Besser gar keine Anmerkung, alseinen flachen, fehlerhaften oderüberflüssigen Kommentar.Verwirrend ist manchmal die Zu-sammenstellung der verschiede-nen Engines, die unterschiedlicheBewertungsmethoden und ein an-deres Bewertungsspektrum ha-ben, was ihre Vergleichbarkeit er-schwert. Doch die Vielfalt hatauch ihr Positives: auf diese Weiserelativiert sich alles etwas und esist für Abwechslung gesorgt, ob-wohl sich die Engines mit zuneh-mender Spielstärke immer mehrangleichen und die Leistungsun-terschiede immer feiner werden.

6 M. Wüllenweber: ,,Fritz 13 ist endlich da – gemeinsames Analysieren mit Let’sCheck!“, Artikel auf der Homepage des Deutschen Schachbundes am 30.09.2011.

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.RPSOH[H(U|IIQXQJVLGHHQSpanisch ist eine der Eröffnungen,die Engines auch dann spielen,wenn man sie ohne Eröffnungs-buch gewähren lässt. Allerdingsnur die ersten Züge: 1. e4 e5 2.Ìf3 Ìc6 3. Íb5. Die Behandlungder Eröffnungsprinzipien � Ent-wicklung und Kampf um das Zen-trum � ist hier von großer Klarheitund nicht ohne Grund vorbildhaftfür den Schachunterricht.Die Befragung des Íb5 durch 3...a6 ist schon nicht mehr selbstver-ständlich; die meisten Engines se-hen Weiß wegen des entstehendenDoppelbauern nach 4. Í:c6 deut-licher im Vorteil als bei anderendritten Zügen des Schwarzen. Ju-nior 13 wähnt Weiß gar leicht inNachteil, wenn er 4. Ía4 spielt.Wenn wir die bekannteste Spa-nisch-Stellung nach 4. Ía4 Ìf65. 0-0 Íe7 6. Îe1 b5 7. Íb3 vor-geben, zeigt sich, dass die Enginesweder nach 7... 0-0 noch nach 7...d6 dem tausendfach bewährtenMainstream mit 8. c3 folgen.

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Natürlich hat Weiß besondersnach 7... 0-0 verschiedene Optio-nen, dem Marshall-Angriff nach8. c3 d5 auszuweichen: 8. h3, 8.a4, 8. d3 und 8. d4 sind heutzutagehäufig gespielte Alternativen.Aber dass der Hauptzug 8.c3durchschnittlich schlechter ab-schneidet (nur Stockfish setzt ihn

in Tests im Unterschied zu Fritz,Shredder, Junior, Houdini undRybka an die erste Stelle), ist eindeutliches Indiz dafür, dass Engi-nes � was die langfristige Partie-anlage angeht � ein anderesSchach spielen als Menschen.,,Computer spielen kein Spa-nisch�, heißt es auch heute nochlapidar von Programmiererseite.Aber wie verträgt sich diese Aus-sage mit dem neuen Führungsan-spruch von Let�s Check? Sollenwir uns auf die altmodische For-mel zurückziehen, wonach die En-gines lediglich dazu dienen, takti-sche Probleme zu lösen? Es liegtauf der Hand, dass viele komplexeEröffnungssysteme, die einenlangwierigen strategischen Kampfthematisieren und in denen Men-schen die Spannung oftmals be-wusst lange aufrecht erhalten �Königsindisch, Englisch, Franzö-sisch, Caro-Kann etc. � von denEngines ähnlich ,,unmenschlich�behandelt werden wie Spanisch �weshalb wir prinzipiell keine zugroßen Erwartungen betreffs einer,,Revolution� der Eröffnungs-theorie hegen sollten.

'\QDPLVFKH(U|IIQXQJHQ�Natürlich gibt es auch Abspiele, indenen die Engines ihre Stärkenausspielen können. So wurden mitihrer Hilfe viele scharfe Variantendes Najdorf-Sizilianers zum Re-mis ausanalysiert, was sich zuletztdeutlich im Fernschach niederge-schlagen hat. Die Weißen müssennach neuen Wegen suchen.Ein Beispiel ist die Topalow-Ideeh7-h5 gegen den Englischen An-griff, bei dem Weiß nach der lan-gen Rochade einen Bauernsturmam Königsflügel plant: 1. e4 c5 2. Ìf3 d6 3. d4 c:d4 4.Ì:d4 Ìf6 5. Ìc3 a6 6. Íe3 e5 7.Ìb3 Íe6 8. f3 h5 9. Ëd2 Ìbd7.

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Während das LiveBuch nach 8...h5!? im März 2012 nur rund 450Partiebeispiele enthielt, wurde dieStellung schon 13.000 Male vonAnwendern aufgesucht, was aufein ungewöhnlich starkes Interes-se schließen lässt. Der Grund istschlicht und einfach, dass Weißbislang kein wirklich überzeugen-des Rezept gefunden hat, hier ei-nen Vorteil nachzuweisen. Nebendem meistgespielten 10. 0-0-0 ste-hen die Züge 10. a4 und 10. Ìd5zur Diskussion. Bei Let�s Checkwurde am eifrigsten 10. Ìd5 ana-lysiert � die Empfehlung verschie-dener Engines, die Weiß aller-dings nur minimalen Vorteil ver-spricht: 10... Ì:d5 11. e:d5 Íf512. Íe2 Íe7 13. 0-0 0-0 14. Ìa5Ëc7 15. Îac1 Ìf6 16. c4.

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Weiß will b2-b4 und c4-c5 folgenlassen. Falls Schwarz dem mit b7-b6 vorbeugt, nistet sich der weißeSpringer auf c6 ein. Schwarz suchtim Zusammenhang mit dem Vor-stoß e5-e4 nach Gegenspiel.

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Hier scheint die hohe Dynamikdes Spiels den Engines sehr gele-gen zu kommen, und es ist sehrwohl denkbar, dass sich Spielermit Erfolg an deren Ergebnissenund Empfehlungen orientieren.

'DWHQP�OOEin Problem ist der mit demWachstum des Datenbestandesmitwachsende Müll, den es durchintelligente Verfahren herauszu-filtern gilt. Bislang gelten die Zu-griffszahlen als wichtigstes Be-wertungskriterium und nicht dieeingebrachte Qualität.Anders als bei einer reinen Eröff-nungsenzyklopädie strebt Let’sCheck die Speicherung komplettanalysierter Partien an und willnicht im Mittelspiel abbrechen.Man überlegt, wie Endspielanaly-sen sinnvoll einzugliedern sind,ohne ständige Doppelungen imSystem zu produzieren. DasWachstum des LiveBuchs beruhtalso nicht ausschließlich auf neu-en Eröffnungszügen, sondern aufPartieeingaben, wie weiter untenanhand einer Statistik noch zu zei-gen sein wird.

Eine der Hauptgefahren, die Kriti-ker in den möglichen Auswirkun-gen von Let’s Check sehen, be-steht vereinfacht gesagt in dem,,Nachplappern“ von Enginezü-gen und -bewertungen durch uner-fahrene und unkritische Anwen-der. Wenn Let’s Check durch diemarktbeherrschende Stellung vonChessBase und den damit einher-gehenden Einfluss auf das organi-sierte Schachleben als das Maß al-ler Dinge gepusht werden sollte,wäre dies fatal. Die Tendenzen zurInformationsüberflutung, zurOberflächlichkeit, zum reinenKonsumieren, zur Maschinen-gläubigkeit und zur Beschleuni-gung (also eigentlich das ganzeGegenteil von Schach) sind in un-serer Gesellschaft ohnehin starkam Wirken und begünstigen einesolche Entwicklung. Es bleibt zuhoffen, dass die verantwortlichenMacher sich dieser Problematikausreichend bewusst sind.Das Schachspiel wird weder durchComputer noch durch ChessBasein den nächsten Jahrzehnten ,,ge-löst“ werden, doch die Art, wieSchach gespielt und betriebenwird, droht sich zu ändern: Rausch

am Offensichtlichen und Kick desAugenblicks, statt geduldig nachden tiefer verborgenen Schätzendes Schachs zu suchen, von denenfrühere Generationen vielleichtmehr wussten als wir Allwissen-den der Computer-Neuzeit.Um gegen jede Computer-Gläu-bigkeit eine warnende Breitseiteabzufeuern, hier noch ein Beispielaus dem LiveBuch:

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Eine geläufige Französisch-Stel-lung, die nach 1. e4 e6 2. d4 d5 3.Ìc3 Ìf6 4. Íg5 entsteht.Die Hauptfortsetzungen sind nun4... d:e4, 4... Íe7 und 4... Íb4.Wie die Abbildung oben linkszeigt, bevorzugen die Engines imLiveBuch nun 4... Íe7.Wenn sich aber ein Anwender inden Kopf setzt, einen x-beliebigenZug aus einem x-beliebigenGrund in die Phalanx der Tief-rechner einzuschmuggeln, wirdihm dies relativ mühelos gelingen,wie die zweite Abbildung obenlinks beweist.4... Îg8 fällt bewertungsmäßigkrass ab und wurde nur durch Ma-nipulationen in die Liste der be-sten Engine-Züge hineinge-schmuggelt. Wir verraten nicht,wie es funktioniert, weil wir keineNachahmer ermutigen möchten,doch jeder erfahrene Anwenderkann sich leicht vorstellen, mitwelchen Tricks es gelingt, das Li-veBuch mit beliebigen Zügen zumanipulieren. Das muss keines-wegs immer so bizarr zugehen wie

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hier. Es reicht schon, dass jemandseinen Lieblingszug von der zwei-ten auf die erste Position seinerEngine-Anzeige hieven möchteund es wird ihm bei entsprechen-dem know how mühelos gelingen.Anwender sollten deshalb niemalsleichtgläubig einem System ver-trauen, dass gegen solche Manipu-lationen nur unzureichend bis garnicht geschützt ist. Selber denkenist auch hier die erste Pflicht!

:DFKVWXPAbschließend eine Statistik.Die linke Spalte zeigt die Anga-ben von 0.00 Uhr bis 12.10 Uhram 7.3.2012, die rechte Spalte füreinen ganzen Tag, in diesem Fallfür den 6.3.2012. Wir konzentrie-ren uns auf die rechte Spalte:• 1.473 Anwender haben auf

Let’s Check an diesem Tag (24Stunden) zugegriffen;

• 611 Besucher war die Höchst-zahl der gleichzeitig einge-loggten Anwender;

• 749.738 Stellungen wurden andiesem Tag aus dem LiveBuchabgefragt;

• 564.305 neue Stellungen wur-den eingegeben, wobei dieseZahl komplette Partien mitVarianten einschließt, auchEndspielstellungen werdenanalysiert;

• 391 neue Stellungen pro Minutewar der Durchschnitt am 6.3.2012 (564.305:1440);in der linken Spalte ist der Wert401 Stellungen pro Minute, dasist der Durchschnitt in den letz-ten fünf Minuten;

• 138.428 Stellungen wurden am6.3.2012 von Anwendern miteiner Mindestdauer von einerMinute online analysiert;

• 19.656 Stellungen davon (rund14%) wurden von gestiftetenEngines analysiert;

• in 991 Fällen rückten neue, tie-fere bzw. länger berechneteEngine-Varianten an die ersteStelle;

• 585 neue Stellungen (außerhalbder bekannten Eröffnungs-theorie) wurden ,,entdeckt“,d. h. mit einer Mindestdauervon fünf Minuten berechnet.

Diese Angaben liefern ein Bildvom quantitativen Wachstum derLet’s Check Datenbank.

Auf einen besonderen Aspekt fürdie Eröffnungsvorbereitung in derTurnierpraxis wies Uwe Bönsch

in der Einführungsphase von Let’sCheck hin. Seiner Ansicht nachführt es ,,...vermutlich dazu, dasssich die Chancengleichheit vonProfis und Amateuren weiter an-nähert und sich jeder Spieler nochschneller als bisher einen Über-blick über den Stand der Eröff-nungstheorie verschaffen kann“.7

U. a. mit den Auswirkungen desComputerschachs auf die Eröff-nungsvorbereitung der Weltklas-se-Großmeister werden wir uns imabschließenden Teil beschäftigen.

)RUWVHW]XQJ��(QGHLQ�6&+$&+ ������7 Presseartikel der Agentur Roessler PR am 26.10.2011

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Schach 5/12 51

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»Sich exakt so vorzubereiten, dass der Gegner keineChance hat – dass klappt fast nie. Deshalb bist du amBrett nach wie vor auf Inspiration und Kreativitätangewiesen.« Jan Gustafsson1

7HLO��

Wenn man Eröffnungsvorberei-tung als »Waffe« begreift, dannbefinden wir uns zur Zeit mitten ineiner Spirale des Wettrüstens. DasTempo wird ebenso wie die Stärkeund die Art der »Waffen« durchEntwicklungen im Computerbe-reich bestimmt.Angefangen hat alles zu Beginnder 1990er Jahre, wobei die erstenPCs, Datenbanken und Computer-programme noch keine wirklicheHerausforderung für das mensch-liche Schach darstellten. Es dauer-te Jahre und Jahrzehnte, bis dieimmer stärker spürbare Qualitätder Veränderungen in das allge-meine Bewusstein rückte undschließlich zu einem zentralenThema wurde, an dem heute nie-mand mehr vorbeikommt.Schiedsrichter Geurt Gijssen erin-nert sich daran, wie Karpow undKasparow erstmals 1990 bei ihrerWeltmeisterschaft in New Yorkund Lyon Computer einsetzten,um die Partien nachzubereiten,wobei es manchen überraschen-den Fund gegeben haben soll.2 Dadamals noch mit Hängepartien ge-spielt wurde, machte der Compu-tereinsatz schlagartig auch auf dieProblematik einer unerwünschten

Beeinflussung von WM-Partienaufmerksam. Es sollte allerdingsnoch bis 1995 dauern, bis sich –nach einer Phase des Experimen-tierens3 – endgültig Zeitregelun-gen durchsetzten, die keine Partie-unterbrechungen mehr vorsahen.4

Ironischerweise und durchaussymbolhaft war jenes Jahr 1995 –das mit dem Wechsel von Cam-pomanes zu Iljumschinow alsFIDE-Präsidenten eine weitereZäsur mit sich brachte – gleichzei-tig das Todesjahr des prominente-sten Gegners der neuen Regelun-gen: Michail Botwinnik – einender letzten Klassiker.

$QDQGV�)XQGIm August 2001 wurde FIDE-Weltmeister Vishy Anand gefragt,wann er das erste Mal festgestellthabe, dass Schachprogrammewichtige Analysetipps geben kön-nen. Seine Antwort ist auch heutenoch aufschlussreich, denn siezeigt, wie weit unsere Thematikzurückreicht:»Daran kann ich mich noch sehrgut erinnern. Es war in dem Matchgegen Kamsky, in Indien 1994, alsich in der Vorbereitung zusammenmit Fritz eine Idee im Marshall-

Gambit analysiert habe. Ich hattekurz vor dem Match in Monacobereits gegen Kamsky gespieltund wollte eine Variante verbes-sern (Anand denkt nach und zeigteinige Varianten auf). Ich kannmich noch erinnern, dass Fritz dieweiße Stellung nach etwa 20 Zü-gen viel besser beurteilte, was ichallerdings nicht so sah. Fritz fanddann einige Züge, die mich sehrbeeindruckt haben, Züge, die ichnicht gefunden hätte. Ein Jahr spä-ter saß ich leider auf der falschenSeite des Brettes, als Kasparow inder zehnten Partie aus dem Matchin New York das berühmte Turm-opfer brachte. Er hatte fast dieganze Partie mit dem Computervorbereitet.«5

Bei dem Marshall-Beispiel kannes sich nur um folgende Stellunghandeln, die Anand 1994 kurz hin-tereinander zweimal gegen Kams-ky auf dem Brett hatte:

Von Arno Nickel

(U|IIQXQJVYRUEHUHLWXQJPLW�GHP�&RPSXWHU

Computerschach arno 2012 (IV)

32 Schach 6/12

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Spanisch (C 89)

V. Anand 2715/2720G. Kamsky 2695/2695

Monaco (rapid) 1994Sanghi Nagar (m/1) 1994

1. e4 e5 2. Ìf3 Ìc6 3. Íb5 a6 4.Ía4 Ìf6 5. 0-0 Íe7 6. Îe1 b5 7.Íb3 0-0 8. c3 d5 9. e:d5 Ì:d5 10.Ì:e5 Ì:e5 11. Î:e5 c6 12. d4Íd6 13. Îe1 Ëh4 14. g3 Ëh3 15.Íe3 Íg4 16. Ëd3 Îae8 17. Ìd2Îe6 18. a4 Ëh5 19. a:b5 a:b5 20.Ìe4 Íc7 21. Íd2 Îfe8

-+-+r+k++-v-+pzp-+p+r+-++p+n+-+q-+-ZN+l++LZQ+-Z--Z-V-Z-ZT-+-T-M-

In Monaco spielte Anand hier imApril das menschliche 22. Ìc5??,das allerdings einen unparierbarenMattangriff heraufbeschwört:22... Î:e1+ 23. Î:e1 Î:e1+ 24.Í:e1 Ìf4! 25. g:f4 Í:f4 26. h4.Statt nun den Sack mit 26... Ë:h427. Ëe4 Ëh2+ 28. Êf1 Ëh3+ 29.Ëg2 Íe2+ 30. Êg1 Íh2+! zuzu-machen, revanchierte sich Kams-ky mit dem ebenso menschlichenFehler 26... Íf3?, der das rettende27. Í:f7+! zuließ (27. Ìe4?Ëg6+). 27... Ê:f7 28. Ìe4 Ëg4+(28... Ëg6+? 29. Ìg5+) 29. Ìg3g6 30. b3 Íd5 31. c4 b:c4 32.b:c4 Ëf3 33. Ë:f3 Í:f3 führteschließlich zum Remis (46).

Ich verfüge leider nicht überdie Möglichkeit, die kritischeStellung mit Fritz 3 (der da-mals aktuellen Version) zutesten, doch soll erwähntwerden, dass Fritz 13 (erst)im Wechsel von Tiefe 17 zu18 von 22. Ìc5?? Abstandnimmt und in Tiefe 20 dieVerbesserung anzeigt, dieAnand vier Monate später inder 1. Partie des WM-Kandi-daten-Halbfinales aufs Brettbrachte: 22. Íd1!.Das ist der Fritz-Fund, anden sich Anand in dem Inter-view von 2001 erinnerte. Ob-wohl der Zug auch von heuti-gen Engines mit weißemVorteil angezeigt wird(0.61/29 Houdini 2), gelanges Anand nicht, diesen gel-tend zu machen. Die sichnach 22... Í:d1 23. Îe:d1 f524. Ìg5 Îe2 25. Ìf3 Î8e3!6

26. Îa8+ Êf7 27. Ìg5+Êg6 28. Í:e3 Ì:e3 ergebendenwilden Verwicklungen führtenletztlich zu einem Dauerschach(Remis, 43).

Zwei Partien später, als Kamskymit 15... Îe8 (statt 15... Íg4) vonden Textpartien abwich, kam An-and doch noch zu seinem vollenPunkt, womit sich die Eröffnungs-vorbereitung unter Verwertung ei-nes Fritz-Vorschlages letztlichausgezahlt hatte, zumal sein Geg-ner im weiteren Verlauf vomMarshall-Angriff Abstand nahm.Dieses Match des FIDE-Zyklusentschied Kamsky im Tiebreak al-lerdings dennoch für sich.

1 Im Interview mit Michael Eder, FAZ.net, 12.11.2008. 2 Geurt Gijssen im März 2006 in seiner ChessCafe-Kolumne An Arbiter’s Note-

book unter »The Time Limits They Are a-Changin’« (From the Archives,http://www.chesscafe.com/text/geurt02.pdf).

3 Dazu zählte u. a. das WM-Match Timman-Karpow 1993, vgl. Gijssen, ebendort.4 An die Zeiten, da noch mit Hängepartien gespielt wurde, errinnerte Robert Hüb-

ner kürzlich in seinem Beitrag »Abbruch« im Schach-Kalender 2012, S. 44ff.5 Anand-Interview von Eric van Reem in Computerschach & Spiele, August 2001.6 Diese Stellung ziert das Titeldiagramm von 6&+$&+ 9/1994.

9LVZDQDWKDQ�$QDQG��OLQNV��XQG�*DWD�.DPVN\��UHFKWV��WUXJHQ�0LWWH�GHU�����HU�-DKUH�]ZHL0DWFKHV�JHJHQHLQDQGHU�DXV�� ,P�:0�=\NOXV�GHU�),'(�EHKLHOW�.DPVN\������LQ�6DQJKL1DJDU�QDFK�6WLFKNDPSI�PLW�����GLH�2EHUKDQG��XQG�YHUORU�GDV�VSlWHUH�:0�)LQDOH�LQ�(OLVWD�����JHJHQ�.DUSRZ��������UHYDQFKLHUWH�VLFK�$QDQG�LQ�/DV�3DOPDV�EHL�GHU�3&$��XQVHU)RWR��PLW�HLQHP��Ó��Ó �XQG�YHUORU�GDV�7LWHOPDWFK������LQ�1HZ�<RUN�JHJHQ�.DVSDURZ��

Computerschach arno 2012 (IV)

Schach 6/12 33

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.DVSDURZ�VHUYLHUW���Nach Garris und Nigel ShortsAusscheren aus der FIDE 1993gab es damals den parallelenWeltmeisterschafts-Zyklus derPCA. Hier revanchierte sich An-and im März 1995 an Kamsky undqualifizierte sich für das WM-Match gegen Kasparow, bei demer in der 10. Partie auf der »fal-schen Seite des Brettes« saß:

Spanisch (C 80)

G. Kasparow 2795V. Anand 2725

New York (m/10) 1995

1. e4 e5 2. Ìf3 Ìc6 3. Íb5 a6 4.Ía4 Ìf6 5. 0-0 Ì:e4 6. d4 b5 7.Íb3 d5 8. d:e5 Íe6 9. c3 Ìc5 10.Ìbd2 d4 11. Ìg5 d:c3 12. Ì:e6f:e6 13. b:c3 Ëd3

r+-+kv-t+-z-+-zpp+n+p+-++ps-Z-+--+-+-+-++LZq+-+-P+-S-ZPZT-VQ+RM-

Hier entkorkte Kasparow imWorld Trade Center seine Neue-rung 14. Íc2 (statt 14. Ìf3 inPartie Nr. 6), für die die Kommen-tatoren � ebenso wie für die Folge-züge � nicht mit Rufzeichen spar-ten. 14... Ë:c3 15. Ìb3 Ì:b3 16.

Í:b3 Ìd4. Verschmäht 16...Ë:a1, worauf 17. Ëh5+ g6 18.Ëf3 Ìd8 19. Ëf6 Îg8 20. Í:e6Íe7 21. Íd7+ Ê:d7 22. e6+ samtË:a1 eine mögliche (Computer-)Fortsetzung gewesen wäre. 17.Ëg4 Ë:a1 18. Í:e6 Îd8.7

-+-tkv-t+-z-+-zpp+-+L+-++p+-Z-+--+-s-+Q++-+-+-+-P+-+-ZPZw-V-+RM-

19. Íh6.Noch immer konnte Kasparowseiner Vorbereitung folgen undzog unverzüglich. Auf der Uhrhatte er bereits eine ganze StundeZeitvorteil, was ein weiterer wich-tiger und oftmals entscheidenderFaktor der Vorbereitung ist. Hinzukam hier Kasparows berühmtes»Türknallen«.8

Anand wehrte sich nach Kräften,unterlag aber schließlich in einemEndspiel mit Minusbauern, in daser sich nach 19... Ëc3 20. Í:g7Ëd3 21. Í:h8 Ëg6 22. Íf6 Íe723. Í:e7 Ë:g4 24. Í:g4 Ê:e7gerettet hatte (1-0, 38).

Solche Siege mit spektakulärenNeuerungen trugen dem Welt-ranglistenersten der Jahre 1985-2005 den Beinamen eines »Welt-meisters der Eröffnungsvorberei-

tung« ein, wobei er nicht selteneine Renaissance vergessenerbzw. aus der Mode geratener Er-öffnungen initiierte (wie etwaSchottisch).

����XQG�ZLUG�DEVHUYLHUWUm so erstaunter war dieSchachwelt, als es seinem Heraus-forderer Wladimir Kramnik imJahre 2000 gelang, KasparowsMaschinerie komplett auszubrem-sen. Mit der »Berliner Verteidi-gung« der Spanischen Partie leite-te Kramnik direkt aus der Eröff-nung in ein komplexes, strategi-sches Endspiel über, mit dem dieComputer damals völlig überfor-dert waren und mit dem sie auchheute noch ihre liebe Mühe undNot haben. »Die Berliner Mauer«,wie das Eröffnungssystem seit-dem weltweit genannt wird, istauch heute noch ein großes Prob-lem für die 1. e4-Aufschläger, wiezuletzt wieder das Match Aronjan-Kramnik (S. 16ff.) bewies.Interessant ist, wie ChessBase-Programmierer Matthias Wüllen-weber im November 2000 denKramnik-Coup kommentierte.Hartmut Metz fragte ihn: »Kaspa-rows Bezwinger galt lange Zeit alsComputer-Muffel. Hatten SieWladimir Kramnik angesichtsdieses Mankos Siegchancen indem WM-Kampf eingeräumt?«Wüllenweber: »Kramniks Sekun-danten Miguel Illescas und JoelLautier sind seit Jahren erfahreneComputeranwender. In der aktuel-len ChessBase-Version steckenein halbes Dutzend Verbesserun-

7 Das Titeldiagramm von 6&+$&+ 11/1995.8 »Dass er [Kasparow, d. A.] eine vorbereitete Variante spielte, zeigte sich daran, dass er bis zum 20. Zug nicht einmal fünf

Minuten seiner Bedenkzeit verbraucht hatte. Es hatte den Anschein, als ob der Angriff nicht brutal genug war, um all seineEnergie zu absorbieren, denn am Brett schnaubte er wie ein Walross. Nach jedem Zug verließ er die Glaskabine und krach-te die Tür hinter sich zu. Nach einer Weile wurde die Sache albern; im Pressezentrum redeten alle nur noch über Kaspa-rows rüdes Benehmen. Zu seiner Verteidigung kann man vielleicht vorbringen, dass er sich wohl nicht absichtlich so auf-führte, sondern schlicht seine Emotionen nicht kontrollieren konnte.« Patrick Wolff: Kasparov versus Anand. The Inside Story of the 1995 World Chess Championship Match, Cambridge, Massachusetts 1996 (H3 Publications), S. 118.

9 Schachkolumne von Hartmut Metz (MeKo), November 2000, auf http://www.scr-kuppenheim.de/meko/wull.html.10 Das Match endete 7-7, was Kramnik als Weltmeister lt. den Wettkampfregularien zur Titelverteidigung reichte.

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gen, die auf Vorschläge Lautierszurückgehen. Vielleicht hatteKasparow einen Erfahrungsvor-sprung in der rechnergestütztenAnalyse scharfer Eröffnungen wieder Najdorf-Variante. Diese wur-den ja vom Herausforderer ge-schickt vermieden.«9

Hier deutet sich etwas an, wasnicht nur für Weltmeisterschafts-kämpfe typisch ist, wenngleich essich dort vor den Augen der Welt-öffentlichkeit am deutlichsten of-fenbart: Die Suche nach erfolgrei-chen Eröffnungskonzepten ist har-te Teamarbeit und wird immeraufwendiger, je höher man auf derElo-Leiter steigt. Das zu verarbei-tende Datenmaterial wird von Jahrzu Jahr umfangreicher und dieanalytische Durchdringung immersubtiler, womit meine These vonder »Spirale des Wettrüstens« un-termauert wird. Der einsame Wolfunter den Großmeistern, der allesallein zu bewältigen sucht undsich sträubt, mit Engines zu analy-sieren, ist eine aussterbende Spe-zies. Man sieht ihn noch hier undda auf schlecht dotierten Openoder als Legionär in niederklassi-gen Mannschaftswettbewerbenwildern, aber er stellt sich kaumnoch der Konkurrenz der höher-rangigen Elo-Hyänen, weil er hierkaum noch etwas zu beißen findet.

/HNRV�.RQWHUUm in der Chronologie fortzufah-ren... Auch Kramnik musste vor-bereitungstechnisch Federn las-sen. Das WM-Match 2004 gegenPeter Leko riss er mit einem Siegin der letzten Partie aus dem Feu-er,10 aber in der 8. Partie erlebte ergegen den Marshall-Angriff desUngarn sein Waterloo:

(LQHU�GHU�+|KHSXQNWH�GHV�VFKDFKEH]R�JHQHQ�6FKDIIHQV�YRQ�-RVp�'LD]��6R�VDKGHU�VSDQLVFKH�.DULNDWXULVW�GLH�(QWZLFN�OXQJ� GHV� :0�0DWFKHV� .DVSDURZ�$Q�DQG������YRQ�%HJLQQ�ELV�]XU�����3DUWLH�

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Spanisch (C 89)

W. Kramnik 2770P. Leko 2741

Brissago (m/8) 2004

1. e4 e5 2. Ìf3 Ìc6 3. Íb5 a6 4.Ía4 Ìf6 5. 0-0 Íe7 6. Îe1 b5 7.Íb3 0-0 8. c3 d5 9. e:d5 Ì:d5 10.Ì:e5 Ì:e5 11. Î:e5 c6 12. d4Íd6 13. Îe1 Ëh4 14. g3 Ëh3 15.Îe4 g5 16. Ëf1 Ëh5 17. Ìd2Íf5 18. f3 Ìf6 19. Îe1 Îae8 20.Î:e8 Î:e8 21. a4 Ëg6Kramnik hatte diese Stellung zwarin der häuslichen Vorbereitungauf dem Brett gehabt, sie jedochnicht gründlich analysiert, wie erspäter sagte.11 Wegen Lekosknapper Bedenkzeit (hier nur

noch 20 Minuten) entschied ersich, die Risiken von...

-+-+r+k++-+-+p+pp+pv-sq++p+-+lz-P+-Z-+-++LZ-+PZ--Z-S-+-ZT-V-+QM-

... 22. a:b5 Íd3 23. Ëf2 am Brettzu berechnen und der Remis-schaukel 23. Ëd1 Íe2 24. Ëe1Íd3 25. Ëd1 auszuweichen. Sei-ne Idee bestand offenkundig dar-

in, die Dame zu geben und dena-Bauern laufen zu lassen. 23...Îe2 24. Ë:e2 Í:e2 25. b:a612

-+-+-+k++-+-+p+pP+pv-sq++-+-+-z--+-Z-+-++LZ-+PZ--Z-Sl+-ZT-V-+-M-

Bis hierhin strahlte Kramnikgroße Zuversicht aus und spulteseine Züge flott herunter � als obnichts seine Vorbereitung in Frage

%ULVVDJR�������$QDWROL�.DUSRZ��OLQNV��I�KUW�V\PEROLVFK�GHQ�HUVWHQ�=XJ�GHV�:0�0DWFKHV�/HNR��YRUQ��JHJHQ�.UDPQLN��KLQWHQ�DXV��1HEHQ�.UDPQLN�SRVLHUW�-RHO�/DXWLHU�LQ�VHLQHU�(LJHQVFKDIW�DOV�GDPDOLJHU�3UlVLGHQW�GHU�6SLHOHUJHZHUNVFKDIW�$&3��

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stellen könnte. Als Leko endlichzog (seine Uhr zeigte noch 7:48min bis zur Zeitkontrolle), trafKramnik der Blitz: 25... Ëd3!! �Rien ne va plus! Thematisch und schön übersicht-lich wäre nun 26. a7 gewesen:26... Ëe3+ 27. Êg2 Í:f3+! 28.Ì:f3 Ëe2+ 29. Êg1 Ìg4! 30.a8Ë+ Êg7 31. Ë:c6 Ëf2+ 32.Êh1 Ëf1+ 33. Ìg1 Ìf2 matt.Stattdessen versuchte Kramniknoch... 26. Êf2 Í:f3! 27. Ì:f3Ìe4+ 28. Êe1 ..., aber auch inZeitnot behielt Leko die Über-sicht: 28... Ì:c3!. Er hatte diemangelnde häusliche Vorberei-tung des Weltmeisters, der ihn aufunbekanntes Terrain gelockt hat-te, am Brett gründlich widerlegt!29. b:c3 Ë:c3+ 30. Êf2 Ë:a1 31.a7 h6 32. h4 g4 0-1

3V\FKRORJLHXQG�RGHU�+LJKWHFK"Vier Jahre später, bei der WM2008 in Bonn, erlebte Kramnikgegen Anand, wie man trotz harterVorbereitungsarbeit komplett da-nebenliegen und ins Leere laufenkann. In einem Interview vom Au-gust 2011 liest sich das so:»Im Match gegen Anand lief allesvon Anfang an schief, so wie beiKasparow, als er gegen michspielte. [...] Natürlich kann Kaspa-rows Vorbereitung nicht mit derAnands verglichen werden – An-and machte seine Sache zweifellosviel besser, intelligenter undschlauer. Er hat mich tatsächlichkomplett überlistet.« (Frage: Duwurdest völlig überrascht?) »Ja,meine Vorbereitung war nicht gutgelaufen, so dass ich praktischnichts für Weiß in der Hand hatte,

obwohl ich sehr viel gearbeitethatte, mehr als vor dem Match ge-gen Kasparow. Meine Schwer-punktsetzungen in der Vorberei-tung zahlten sich einfach nichtaus. Ich hatte absolut nichts gegendie Meraner Variante, obwohl ichMonate daran gearbeitet hatte.«Es klingt fast ein bisschen resig-niert, wenn Kramnik, der knappsechs Jahre jünger ist als Anand,später über den Sinn der Vorberei-tungsarbeit philosophiert:»Ich habe schon immer sehr vielgearbeitet und wirklich viel zuTage befördert, mehr als andere.Vielleicht nicht mehr als Kaspa-row, aber durchaus auf einem ver-gleichbaren Niveau. Dennoch ver-fällt immer ein großer Teil davon.Nur wenig kommt zur Anwen-dung; vielleicht 5% bis 10%. Dasist ein Problem für alle Schach-spieler, weshalb manche faul wer-den. Beim Fußball liegen die Din-ge einfacher: man geht trainierenund weiß, dass Laufarbeit undSchusstraining einem später zugu-te kommen werden. Aber beimSchach kann einem genauso gutdas Gegenteil passieren: ich habeoft viel Arbeit in das ein oder an-dere Abspiel gesteckt, das dannjemand einen Zug früher wider-legt, so dass man alles in denMülleimer schmeißen kann. Dasist meines Erachtens der Haupt-grund dafür, dass Schachspielerverglichen mit anderen Sportlernrelativ wenig arbeiten.«13

Jan Gustafsson wurde nach derWM 2008 mit dem Satz zitiert,Anand habe den Mercedes-FahrerKramnik aufs Motorrad gesetztund in unwegsames Gelände ge-lockt.14 Das ist nicht nur ein tref-fender metaphorischer Vergleich,

sondern auch ein Hinweis darauf,wie komplex Vorbereitung zu se-hen ist. Es scheint die Clevernessund Anpassungsfähigkeit des am-tierenden Weltmeisters zu sein,die ihn in seinem nächsten WM-Kampf 2010 gegen Topalow inkritischen Momenten einen küh-len Kopf bewahren und die richti-gen Entscheidungen treffen ließ. Das WM-Match 2010 wurde vonAnands Manager Hans-WalterSchmitt als »die größte Material-schlacht der Schachgeschichte«15

bezeichnet, denn nie zuvor wur-den so viele Bits und Bytes einge-setzt, um die »schachliche DNA«des Gegners zu analysieren. Topa-low konnte bei seiner Vorberei-tung auf einen BlueGene-Groß-rechner der Bulgarischen Akade-mie der Wissenschaften mit 8192Prozessoren zugreifen. Anandstechnische Ausrüstung vor Ortwar um einiges bescheidener. DerInder erfreute sich jedoch der frei-willigen Unterstützung von Spie-lern wie Kasparow und Kramnikvia Internet/Skype. Das dürfte An-ands Moral gut getan haben, nach-dem er gleich zu Beginn mit derGrünfeld-Indischen Verteidigungeine herbe Niederlage gegen einenglänzend vorbereiteten Topaloweinstecken musste. Wie sich imVerlaufe des Wettkampfs zeigensollte, griff aber Topalows Vorbe-reitung gegen Katalanisch nicht,und das lag nicht in erster Linie anden Stellungen selbst, sondernAnand verstand sie einfach besserund machte das Spiel. Am Ende,als er seinen Titel mit der letztenPartie verteidigt hatte und derStress von ihm abfiel, urteilte An-and, dies sei sein bisher härtesterWM-Kampf gewesen.

11 Zu seinem Lapsus äußerte sich Kramnik ausführlich im Interview mit Dirk Poldauf in 6&+$&+ 12/2004, S. 50f.12 Das Titeldiagramm von 6&+$&+ 11/2004.13 Kramnik-Interview mit Wladimir Tkatschiew auf Why Chess: »Ich bin bis zu einem gewissen Grad Fatalist«, deutsche

Fassung Teil 1 am 24. April 2012 auf http://www.chessbase.de (Teil 2 am 9. Mai 2012, ebendort).14 Im Interview mit Michael Eder, FAZ.net, 12.11.2008.15 Zitiert nach Alexander Armbruster: »Die Technologie des Weltmeisters«, FAZ.net, 4.3.2010.

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Man könnte annehmen, dasser damit unmittelbar die Aus-einandersetzung mit demGegner meinte, doch ausdem Gesamtzusammenhangwird deutlich, dass es zu ei-nem Gutteil die permamenteTeamarbeit am Computerwar, der pausenlose Analyse-zustand, der an den Kräftengezehrt hatte.Unbeteiligte können kaumnachvollziehen, welche An-spannung die Analysearbeitam Computer bedeutet, wennsie unter Zeit- und Entschei-dungsdruck geleistet werdenmuss. Der Computer ist nichtnur eine Hilfe, sondern ergibt dem Akteur – der seineBerechnungen permanentkontrolliert, in die Variantenhineingeht, Abspiele ver-wirft, neue Züge auswähltund ständig vergleichend bewer-tet, welches tatsächlich die bestenoder geeignetsten Zugfolgen sind– keine oder nur wenige Erho-lungspausen. Auch für ein Analy-seteam lautet das oberste Gebotunter Wettkampfbedingungen:»Time is money«.Extremen Stress kann das Spielzweier Gegner mit Computerun-terstützung bedeuten, das sog. Ad-vanced Chess. Jeder muss die Zeit,während der Gegner am Zuge ist,für die eigene Analyse nutzen undkann nicht im Saal auf- und abspa-zieren, um wieder einen frischenKopf zu bekommen.

*ROG�ZHUWVor diesem Hintergrund wirddeutlich, wie wichtig es ist, Analy-searbeit am Computer zielorien-tiert und ökonomisch zu struktu-rieren. Ein Hauptteil der Arbeitwird bereits geleistet, bevor maneine Engine zuschaltet. Wenn ichin einem Wettkampf stehe, evtl.sogar in einem Mannschaftstur-nier, wo ich eine besondere Ver-

antwortung trage, muss ich genauwissen, welches die kritischenStellungen sind, die ich gegen ei-nen bestimmten Gegner bekom-men könnte, die ich anstrebenbzw. vermeiden sollte. Wohl dem,der in solchen Situationen einenkompetenten Berater zur Seite hat,ob er sich nun »Trainer« nenntoder nicht. Oft beraten sich Spie-ler untereinander und simulierenSzenarien. Und manchmal könnenTipps von anderen Gold wertsein... Erinnert sei in diesem Zusammen-hang an den Erfolg der deutschenMannschaft bei der Europamei-sterschaft 2011. Keiner hatte unsauf der Rechnung. Vergleichbarfast dem (Fußball-) »Wunder vonBern« (1954) gab es im griechi-schen Porto Carras ein deutschesSchachwunder! Der Regisseurhieß diesmal nicht Sepp Herber-ger, sondern – mit einem deutlichbescheideneren Auftrag als »Er-öffnungstrainer« – Rustam Ka-simdshanow, FIDE-Weltmeister2004 und erprobter Anand-Sekun-

dant. Kasimdshanows Ratschlägestellten sich letztlich als Schlüsselzum Gesamterfolg heraus, wie dieSpieler selbst in ihren Analysenkund taten.16

8P�GLH�(FNH�GHQNHQEröffnungsvorbereitung mit demComputer spielt sich nicht nur improfessionellen Bereich ab, sie istheutzutage auf allen Ebenen desSchachsports gang und gäbe.Nicht alle Spieler verfügen aberüber die Erfahrung, das Knowhowund das Sachwissen, um eine sol-che Vorbereitung intuitiv richtiganzugehen. Interessant ist deshalbdie Anleitung eines angehendenFIDE-Trainers, wobei derSchwerpunkt nicht auf der Arbeitmit dem Computer liegt, sondernauf dem Gesamtkonzept der Er-öffnungsvorbereitung während ei-nes Turniers. In seiner Hausarbeitformulierte der österreichische IMMartin Neubauer verschiedeneFragen, denen es im Rahmen einerStil-Analyse des Gegners nachzu-gehen gelte:

5XVWDP�.DVLPGVKDQRZ��UHFKWV��LP�.UHLVH�GHU�$QDQG�6HNXQGDQWHQ�ZlKUHQG�GHV������HU�:0�0DWFKHV�JHJHQ�7RSDORZ��Y�O�Q�U����5DGRVODZ�:RMWDV]HN��6XU\D�6KHNKDU�*DQJXO\�3HWHU�+HLQH�1LHOVHQ��-XVW��GD�GLHVH�6&+$&+�$XVJDEH�HUVFKHLQW��XQWHUVW�W]W�ZLHGHUGDV�VFKRQ������XQG������LGHQWLVFKH�7HDP�GHQ�:HOWPHLVWHU�JHJHQ�*HOIDQG�

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λ Fühlt er sich in offenen odergeschlossenen Stellungen wohler?λ Strebt er taktische Verwicklun-gen an oder geht er ihnen aus demWeg?λ Neigt er zu wagemutigen Kö-nigsattacken?λ Wie verteidigt er sich?λ Beherrscht er Endspiele?λ Wie steht es um seine eröff-nungstheoretischen Kenntnisse?17

Es liegt auf der Hand, dass einesolche systematische und nahezuidealtypische Analyse während ei-nes Turniers nur in sehr begrenz-tem Maße zu leisten ist, zumal esauch keinen Sinn macht, seineEnergie bei der Vorbereitung auf-zubrauchen und dann beim eigent-lichen Kampf, der noch am selbenoder am nächsten Tage stattfindet,ausgelaugt zu sein. Neubauerempfiehlt in Anlehnung an Jussu-pow maximal zwei bis zweiein-halb Stunden Vorbereitung amWettkampftag. Nicht zu verges-sen ist, dass wir uns gleichzeitigstets auch mit unseren eigenenStärken und Schwächen befassenbzw. konfrontieren müssen. Mansollte sich deshalb keineswegs zu-viel vornehmen, sondern pragma-tisch vorgehen. Wenn wir uns aufdas jeweils Machbare, also auf ei-nige wenige Punkte konzentrie-ren, könnte dies schon wichtigeLerneffekte mit sich bringen, auchwenn es uns nicht gelingt, denGegner komplett zu »scannen«.All das sind individuelle Entschei-dungen, die jeder für sich treffenmuss, egal ob er das Maximumanstrebt oder sagt: »Das allesbringt mir nichts. Ich spiele dannam besten und es macht mir dannam meisten Spaß, wenn ich garnichts über meinen Gegner weiß.«

Unabhängig von unserer individu-ellen Entscheidung gibt es aller-dings einen objektiven Prozess,der die Rahmenbedingungensetzt, unter denen sich heute Tur-niere und Wettkämpfe abspielen.So ist es jederzeit möglich, dassder Gegner uns nach allen Regelnder Kunst, unter Nutzung auto-matisch generierter Spielerdos-siers, Eröffnungsreports mit Vari-antenbäumen und aus unserenPartien erstellten Engine-Bü-chern, »durchleuchtet«, was Neu-bauer zu der Empfehlung veran-lasst, man solle sich auch einmalselbst »scannen«, um zu sehen,wie die Gegner einen sehen(könnten). Mit Anands Worten:»Ich muss daran denken, dass erdarüber nachdenkt, wie ich den-ke.«18

Solch verschlungene Überlegun-gen hat es zwar auch früher schongegeben, doch nicht mit der Infor-mationsfülle und den Techniken,die uns heute zur Verfügung ste-hen. Ein heutiger Titelanwärter,der gezwungen ist, stets das Maxi-mum anzustreben, steht währendeines Turniers unter einem objek-tiven Vorbereitungsstress, den esso früher nicht gegeben hat. DieVariante, mit der er gerade ge-wonnen hat, evtl. sogar mit einerNeuerung, ist am nächsten Tagschon »verbrannt«, weil der Geg-ner möglicherweise schon compu-tergestützte Gegenmaßnahmen inpetto hat. Auch hier wieder wirdZeit zu einem kostbaren Faktor,denn das ständige Überprüfen undteilweise Umstellen des Tagesre-pertoires geht an die Substanz.Ehe man sich versieht, vollziehtman gedanklich den nächstenSchritt im »Wettrüsten«: »Warumdarf eigentlich nur Topalow so ei-

nen tollen Rechner haben? Sollteich mir nicht auch etwas gönnen?Wenigstens einen Quad...«

'HU�.ODVVLNHU�ª%XFK©Der Zugang zu Eröffnungsfragenist individuell sehr unterschied-lich, aber es scheint seit einigerZeit einen verstärkten Trend inRichtung Repertoire-Buch zu ge-ben. Das Gros der Vereinsspielersucht Orientierung im immerdichter werdenden Varianten-dschungel und meidet taktischkomplizierte Abspiele nicht zu-letzt aus Angst vor der gegneri-schen Vorbereitung, die möglichstwenig konkrete Angriffspunktefinden soll. Weiß-Eröffnungenwie das Londoner System, derColle-Aufbau, das Colle-Zuker-tort-System, Trompowsky, umnur einige zu nennen, sind heuteim Amateurbereich beliebter dennje, um theorielastigen Eröffnun-gen wie dem Damengambit ein-schließlich Slawisch und Katala-nisch sowie diversen indischenSystemen auszuweichen, dieSchwarz zur Auswahl hat, wennWeiß sich zu 1. d4 und frühemc2-c4 entschließt. Wer die Mühenicht scheut, sich ein komplexeres1. d4-Repertoire mit dem Schwer-punkt auf einem Fianchetto desÍf1 gegen diverse schwarze Ant-worten zuzulegen, wird sich gernan den beiden vielgelobten Bän-den Boris Awruchs aus der Groß-meister-Repertoire-Reihe orien-tieren.19 Eine Zeitlang war derKönigsindische Angriff als weißeRepertoire-Eröffnung sehr be-liebt, doch er ist eine Außenseiter-Eröffnung geblieben, weil Weißbei guter gegnerischer Behand-lung sogar aufpassen muss, dasGleichgewicht zu wahren.

16 Vgl. 6&+$&+ 12/2011, S. 3ff., besonders die kommentierten Partien Movsesian-Meier und Gustafsson-Balogh.17 Siehe http://www.fide-trainer-academy.com/Trainerarbeiten/Openingpreparation_IM_Neubauer.pdf.18 Anand-Interview »Schach ist Schauspielerei« in DER SPIEGEL Nr. 40/2008 vom 28.9.2008.19 Boris Awruch: 1.d4. Band 1, dt. Übersetzung der engl. Ausgabe von 2008, Glasgow 2009 (QualityChess); 1.d4. Band 2,

dt. Übersetzung der engl. Ausgabe von 2010, Glasgow 2010 (QualityChess).

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Gegen Sizilianisch grassieren eineUnmenge von »Anti-Systemen«,um die Hauptvarianten zu vermei-den, was auch als Reflex auf dieanwachsende Datenflut gesehenwerden kann. Einzelne Variantenwie der Grand Prix-Angriff mitfrühem f2-f4 gegen Sizilianisch,sind so umfänglich geworden,dass sie inzwischen eigenständigekomplexe Systeme bilden. Einetypische moderne Repertoire-Empfehlung ist die Universalwaf-fe 1... d6 gegen jeden weißen Er-öffnungszug.20

Welchem Repertoire man auchfolgen mag, es leuchtet ein, dasseine Spezialisierung das Ver-ständnis für Stellungsmuster und-strukuren fördert und damit aucheinen gewissen Schutz gegencomputergestützte Vorbereitungdes Gegners bieten kann. ZumBeispiel, wenn dieser sich auf(ihm) weniger vertrautes Terrainbegibt, um eine vermeintliche»Killervariante« anzubringen, diesich dann als Rohrkrepierer er-weist. Natürlich lassen sich imGegenzug auch Nachteile formu-lieren, wie allen voran derjenige,dass sich der Gegner ohne zugroßen Aufwand gezielt vorberei-ten kann.

.DXIPDQV�5HSHUWRLUHDie meisten modernen Eröff-nungsbücher setzen es entwederals selbstverständlich voraus oderbetonen, dass ihre Analysen com-putergeprüft sind. Wobei nur vonFall zu Fall festgestellt werdenkann, wie sorgfältig und/oder ziel-führend die Analysen wirklich an-gefertigt worden sind. Ein Güte-

siegel per se sollte man in »com-putergeprüft« nicht sehen. Wennallerdings ein Großmeister undanerkannter Computerexperte wieLarry Kaufman (den ich in Teil 1dieser Artikelserie als Co-Autordes Programms Komodo vorge-stellt habe), sein Repertoire-Buchfür Weiß und Schwarz21 vorlegtund dabei detailliert beschreibt,wie er methodisch vorgegangenist und wie intensiv alle Züge vonSpitzenprogrammen analysiertund nichtsdestotrotz mit dem kriti-schen Blick des Großmeisters ge-prüft worden sind, dann versprichtdas ein Eröffnungsbuch der neuenGeneration, das es so bislang nochnicht gegeben hat. Der amerikanische ErfolgsautorJohn Watson rühmt KaufmansWerk laut Verlagswerbung über-schwenglich als das »inhaltsreich-ste Repertoirebuch, das ich ken-ne«. Kaufman hat einen 8-Kern-und zuletzt einen 12-Kern-Rech-ner rund um die Uhr mit Stellun-gen gefüttert, die durchschnittlich15 Minuten analysiert wurden,wobei jeder Prozessor-Kern ar-beitsteilig – und teilweise mit an-deren Programmen als Gegen-check – eine Stellung abarbeitete.Das sind mindestens 5.000 Stel-lungen pro Woche, wie er vor-rechnet, nach fünf Monaten ist die100.000-er Grenze überschritten. Für Weiß empfiehlt Kaufman 1.d4, das er – wie Awruch – füraussichtsreicher hält, um einenVorteil zu erlangen, und praktischgesehen für weniger riskant. Weißhält bei Ungenauigkeiten oft nochdas Remis in Händen, währendsich das Blatt in offenen Stellun-

gen (nach 1. e4) häufig schnellzugunsten des Schwarzen wendenkann. Über die positionellen Zielegegen einzelne Schwarz-Verteidi-gungen gibt er gleich zu Beginneinen Überblick, wobei er sich u.a. auf eine differenziertere Mate-rialbewertung bezieht, als sie ge-meinhin üblich ist. Dieser Ab-schnitt, der sicher auch auf seinenErfahrungen mit der Schachpro-grammierung beruht, veranlasstdazu, völlig neu über die Wertere-lationen zwischen den Figurenaufgrund der Spielpraxis nachzu-denken und erscheint erfrischendinnovativ. Kaufman behandeltnicht nur die populären Schwarz-Verteidigungen, sondern auchGambits und Nebenkampfschau-plätze, die durch Zugumstellun-gen entstehen können (z. B. nach1... d6 die Philidor-Verteidigung,Alt-Indisch, Pirc oder die Moder-ne Verteidigung).Dem Schwarzen empfiehlt er ge-gen 1. d4 Grünfeld-Indisch. Auf 1.e4 spielt er 1... e5 und strebt imSpanier das Breyer-System mit9... Ìb8 an. Es versteht sich vonselbst, dass er auch viele andereSpielweisen behandelt, die Weißalternativ aufs Brett bringen kann.Sehr interessant sind seine Be-gründungen, warum er von Emp-fehlungen aus seinem früherenRepertoirebuch von 2003 abge-gangen ist und warum er diese undjene Spielweise für gut bzw.schlecht hält. Alleine diese Erläu-terungen machen es wert, sich mitdem Buch zu beschäftigen undkönnten die eigene Arbeit amAufbau eines Eröffnungsrepertoi-res befruchten.

20 Cyrus Lakdawala: 1...d6 move by move, London 2011 (Everyman).21 Larry Kaufman: The Kaufman Repertoire for Black & White. A Complete, Sound and User-friendly Chess Opening Reper-

toire, Alkmaar 2012 (NewInChess).22 Garri Kasparow in einer Buchrezension am 11.2.2010:

http://www.nybooks.com/articles/archives/2010/feb/11/the-chess-master-and-the-computer/?pagination=false.23 Vgl. http://www.2700chess.com.24 Aronjan-Interview mit Gerald Baraunberger: »Schach ist ein brutales Spiel«, FAZ.net, 28.12.2011.25 Anand-Interview »Schach ist Schauspielerei« in DER SPIEGEL Nr. 40/2008 vom 28.9.2008.

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Wie positiv oder negativ sich dieArbeit mit dem Computer fürKaufmans Repertoirebuch ausge-wirkt hat, können nur intensivereUntersuchungen der von ihm ana-lysierten Varianten und Partienzeigen sowie praktische Erfahrun-gen von Spielern, die seinen Emp-fehlungen folgen.

$XVEOLFNGlücklicherweise ist die Schach-welt nicht so uniform, wie esmanchmal scheint, wenn vom zu-nehmenden Einfluss der Compu-ter die Rede ist. Es klingt zwarerschreckend, wenn selbst Kaspa-row den heutigen Schachspielernattestiert, dass sie, obwohl sienach wie vor in hohem Maße aufihre Intuition und Logik angewie-sen sind, zunehmend wie Compu-

ter spielen,22 doch liegen darinauch positive Dinge: vorurteilsfreiund nüchtern an Stellungen heran-gehen, einen Zug nicht danach be-urteilen, wie er aussieht, sondernwie er wirkt, ob er funktioniert.Die jungen Spieler wie Carlsen,Radjabow, Karjakin, Nakamuraund Caruana, um fünf der gegen-wärtigen Live Top Ten23 zu nen-nen, profitieren in gewaltigemMaße von dieser neuen Vorur-teilslosigkeit, mit der sie groß ge-worden sind. Sie trauen sich daherin viel stärkerem Maße als andere,die stets Autoritäten gefolgt sind,nach neuen Wegen in der Eröff-nung Ausschau zu halten. Mit Levon Aronjans Worten:»Man versucht durch die Wahlseltener Eröffnungen, den Analy-sen auszuweichen, um Spaß zu ha-

ben und einfach zu spielen.«24 Esist sicherlich mehr typ- als alters-bedingt, wieweit zu gehen manbereit ist. Spieler wie AlexanderMorosewitsch, Alexej Schirowund Nigel Short haben sich nielange bitten lassen, um neue Er-öffnungsideen fern des Mainstre-ams aufs Brett zu bringen. Siebrauchen diesen kreativen Kick,um ihr Bestes geben zu können. Dass Spieler aller Leistungsklas-sen gern in diese Richtung stre-ben, zeigt die erfolgreicheBuchreihe SOS – Schach ohneScheuklappen, die bei NewInChess mittlerweile in 13 Bändenvorliegt. Ergo: Man braucht keineAngst zu haben, dass den Schach-spielern in naher Zukunft die Ide-en ausgehen könnten. Wenn heutegelegentlich eine zunehmendeDominanz der Taktik im Turnier-schach beklagt wird, dann ist diesweniger die Schuld der Computerbzw. weniger ihrem Einfluss ge-schuldet, als vielmehr den geän-derten Zeitregelungen mit eineroftmals rigiden »Endspurtphase«,die naturgemäß die Fehlerquotebegünstigt und Taktikern entge-genkommt. Dass uns Computer-analysen oft als »hochtaktisch« er-scheinen, kann man auch als Aus-druck davon sehen, dass wir nochkeinen rechten Begriff davon ha-ben, welche Gesetzmäßigkeitenden jeweiligen Verfahren zugrun-de liegen. Der Terminus »Taktik«beschreibt nur die Erscheinungs-form noch nicht entdeckter bzw.verstandener Strategeme.Geben wir dem amtierenden Welt-meister Viswanathan Anand dasSchlusswort zu dieser Serie:»Schach wird so bald nicht ster-ben. Es gibt noch viele Zimmer indiesem Gebäude, die wir nochnicht betreten haben. Ist es 2015so weit? Ich denke nicht. Für jedeTür, die Computer zugeschlagenhaben, haben sie zugleich eineneue aufgestoßen.«25 ν

Computerschach arno 2012 (IV)

Schach 6/12 41