critica Nr. 11

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Überwachung: Warum sich Geheimdienste nicht demokratisch kontrollieren lassen S. 6 Protest: In der Türkei kämpfen junge Menschen um eine lebenswerte Zukunft S. 10 Kultur: Die Berliner Rapperin Sookee spricht im Interview über Feminismus und Hip-Hop S. 14 Zeitung von Die Linke.SDS (Sozialistisch–Demokratischer Studierendenverband) Ausgabe Nr. 11 / 2013 www.critica-online.de critica Wenn wohnen zum Luxus wird Studierende finden zu Studiumsbeginn immer häufiger ein Wohnraumdesaster vor. Warum die Mieten steigen und was ihr dagegen tun könnt. S. 8

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critica - Studierendenzeitung von Die Linke.SDS

Transcript of critica Nr. 11

Überwachung: Warum sich Geheimdienste nicht demokratisch kontrollieren lassen S. 6

Protest: In der Türkei kämpfen junge Menschen um eine lebenswerte Zukunft S. 10

Kultur: Die Berliner Rapperin Sookee spricht im Interview über Feminismus und Hip-Hop S. 14

Zeitung von Die Linke.SDS (Sozialistisch–Demokratischer Studierendenverband)

Ausgabe Nr. 11 / 2013 www.critica-online.decriticaWenn wohnen zum Luxus wirdStudierende finden zu Studiumsbeginn immer häufiger ein

Wohnraumdesaster vor. Warum die Mieten steigen und

was ihr dagegen tun könnt. S. 8

2 Editorial Bundestagswahl 3

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Zum Semesterstart wird der Wohnraummangel für Studierende einen neuen Höhepunkt erreichen. Es fehlt an günstigem Wohnraum in Hochschulnähe und öffentlichen Wohnheimplätzen. Das Bündnis „Studis gegen Wohnungsnot“ ruft darum in der Woche vom 4. bis 8. November zu Mietenaktionstagen mit krea-tiven Aktionen und Demonstrationen auf:

Mittwoch, 6.11. – Vollversammlungen zum Thema „Studentische Wohnungsnot“ an vielen Universitäten.

Donnerstag, 7.11. – „Wohnheim Rathaus“ - Wir wollen mit Schlafsäcken, Zelten und Möbeln zu den Rathäusern ziehen, um deutlich zu machen, dass es zu wenig günstigen Wohnraum gibt.

Freitag, 8.11. – „Studis in Wohnungsnot“- Demo.

Ihr wollt mehr Informationen zu den Aktionstagen haben oder selbst aktiv wer-den? Dann schaut am besten auf diese Webseite:

studis-gegen-wohnungsnot.de

Mietenaktionstage4. – 8. November

Alles schläft, Merkel macht’s

Der erste Bundestag ohne FDP, die rechtspopulistische AfD verfehlt nur

knapp den Einzug ins Parlament und die Union bekommt fast eine absolute Mehr-heit – eigentlich ist diese Wahl ein poli-tisches Erdbeben. Wie gesagt: eigentlich. Zu einer starken Verschiebung der politi-schen Kräfteverhältnisse gehört sonst ein polarisierender und mitreißender Wahl-kampf. Doch davon war im Spätsommer dieses Jahres nichts zu spüren. Ruhig und inhaltslos plätscherte er vor sich hin.

Über allem thronte eine unnahbare An-gela Merkel. Von fast jeder Werbefläche lächelte sie einem unter der Überschrift „Kanzlerin für Deutschland“ entgegen. Mancherorts fühlte man sich schon an realsozialistischen Personenkult erinnert. Die Allgegenwart der Person Merkel ist dabei nur die Kehrseite der Inhaltslosig-keit des CDU-Wahlkampfes. Es war ein Unionswahlkampf, der keine Botschaft kannte außer „Uns geht’s gut und Mutti macht das schon…“ Doch diese Beruhi-gungspille wurde in Krisenzeiten gern geschluckt und verhalf der Union zum besten Ergebnis seit 23 Jahren.

Ihr Wahlerfolg war aber nicht alleine das Werk der Unionsparteien. Sie profitierten auch von der extrem geringen Polari-sierung im Wahlkampf. Die SPD konnte mit ihrem Kandidaten Steinbrück nicht glaubhaft vermitteln, wirklich anders zu sein als ihre schwarze Konkurrenz. Zu frisch waren die Erinnerungen an Hartz IV, die Agenda 2010 und Finanzminister Steinbrück während der Großen Koali-tion. Da konnte der Spitzenkandidat so viel sozialpolitische Kreide fressen wie er wollte, seine Worte von sozialer Gerechtig-keit konnte gerade ihm, dem Architekten der Agenda 2010, niemand ernsthaft ab-nehmen. Auch durch das Festhalten an einem aussichtslosen rot-grünen Bündnis gelang keine Inszenierung eines Lager-wahlkampfs, geschweige denn die Erzeu-gung einer Wechselstimmung. Dadurch

entschieden sich viele doch für das bür-gerliche Original: Merkel. Die SPD fuhr ihr zweitschlechtestes Ergebnis in der Nachkriegszeit ein.

Trotz ihres Erfolges steht auch die Union nicht sorglos da. Ihr natürlicher Koaliti-onspartner FDP ist an der 5-Prozent-Hür-de gescheitert und ihre Koalitionsmehr-heit verschwunden. Das Scheitern der Liberalen war lange vorbereitet. Wäh-rend der gesamten Legislaturperiode konnten sie keine inhaltlichen Akzente setzen. Sie fielen vor allem durch die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels und einen stetig vorgetragenen Sozial-chauvinismus auf. Nicht nur Wester-welles Äußerungen von der angeblich spätrömischen Dekadenz machte die FDP zum kaltherzig-neoliberalen Hass-objekt. Folgerichtig lagen die Freidemo-kraten seit Sommer 2010 in Umfragen beständig auf oder unter 5 Prozent. Den endgültigen Todesstoß versetzte ihr das neue Wahlrecht, durch das alle Über-hangmandate ausgeglichen werden und sich Stimmensplitting nicht mehr lohnt. Selbst als konturlose Mehrheitsbeschaf-ferin war die FDP für die Union nicht mehr zu gebrauchen und fiel wie eine blutleere Hülle aus dem Bundestag.

Die Grünen entwickelten sich während der Legislaturperiode spiegelbildlich zur FDP. Während die Liberalen um ihr Überleben kämpften, errangen die Grü-nen mit Rückenwind von Stuttgart 21 und Fukushima Traumergebnisse in den Sonntagsfragen. Dass sie diese Umfra-geergebnisse nicht halten konnten, war klar. Doch ihr Ergebnis lag mit 8,4 Pro-zent deutlich unter dem des letzten Ur-nenganges. Sie haben als einzige Partei während des Wahlkampfes drastisch an Zustimmung verloren. Die Grünen konn-ten in der Wahlkampfzeit keine begei-

sternde Kampagne lancieren. Sie waren im gesamten Zeitraum in der Defensive und mussten sich gegen äußere Kritik am Veggie-Day und 30 Jahre alten Tex-ten über Pädophilie sowie Steuerplänen verteidigen, die eigentlich nur Besser-verdienerInnen belasten würden. Hinzu kamen die Aussichtslosigkeit einer rot-grünen Mehrheit und die medial insze-nierte Zuspitzung auf die beiden Kanz-lerInnenkandidatInnen. Das schlechte Wahlergebnis entfaltet jetzt innerpar-teiliche Wirkung. Die gesamte Spitze ist bereits zurückgetreten oder stellt sich Neuwahlen. Aus den anstehenden Strö-mungskämpfen wird voraussichtlich der rechte Flügel gestärkt hervorgehen. Zu sehr wird der Steuerwahlkampf medial als Grund für das schlechte Abschnei-den benannt, als dass die VertreterInnen der Steuerpläne vom linken Flügel die innerparteiliche Führung beanspruchen könnten.

Die fehlende Zuspitzung des Wahl-kampfes half aber nicht nur Merkel, sondern auch Parteien, die in radikaler Opposition zur vorherrschenden Politik stehen. Die rechtspopulistisch-neolibe-rale AfD errang 4,7 Prozent der Stim-men. Ihre Kampagne war monothema-tisch auf die Kritik an der von CDU bis Grüne getragenen Krisenpolitik ausge-richtet. Dabei profitierte sie auch davon, dass die LINKE in der Eurofrage zu blass blieb. Mit dem Thema der Eurokritik konnte sie ein großes Potential von Un-zufriedenen aller sozialen Klassen mobi-lisieren. Im trojanischen Pferd der Euro-kritik versteckt die Partei Themen mit einer deutlich unsozialen Stoßrichtung. Die Partei tritt für verschärfte Zuwan-derungsregelungen und ultraneoliberale Ordnungspolitik ein und hat eine nach rechts offene Flanke, wenngleich sie ein-deutig keine faschistische Partei ist.

Die Kampagne der LINKEN fiel durch klare Inhalte und Forderungen auf. Mit diesem themenzentrierten Wahlkampf konnte sie einen Kontrapunkt zur groß-en Ähnlichkeit der anderen etablierten Parteien setzen. Dadurch konnte sie im Wahlkampf Menschen für sich gewin-nen. Auch solche, die sie in den letzten Jahren, als sich die Partei zu sehr mit internen Querelen als mit den Interes-sen ihrer WählerInnen beschäftigte, verloren hatte. Auch die hessische Land-

Liebe Leserin, lieber Leser,

Rolex, Benz und Manolo Blahniks waren gestern – heute ist das schicke Innenstadt-appartement das neue Statussymbol. Woh-nungsnot und Verdrängung sind die Kehr-seite dieser Entwicklung. Doch es gibt auch Chancen des Widerstands (S. 8). Unter hohen Mieten leiden auch die Menschen in Istan-bul. Das ist aber nur ein Grund von vielen für die Massenproteste in der Türkei in diesem Sommer (S. 10). Während die Welt gespannt nach Istanbul blickte, schauten die Geheim-diente auf unsere Aktivitäten im Internet. Durch den Überwachungsskandal wird es offensichtlich: Geheimdienste sind eine Ge-fahr für die Demokratie (S. 6). Gefährlich für das Patriarchat sind die Lines der queer-feministischen Rapperin Sookee. In unserem Interview (S. 14) spricht sie über sexualisier-ten Hip-Hop und erzählt uns, wie sie sich eine feministische Welt vorstellt.

Weil alles, was wir interessant genug finden, um darüber zu schreiben, nicht auf 16 Seiten passt, gibt es die critica auch online:

www.critica-online.de

P.S.: Hast du Lust, die nächste critica mitzuge-stalten? Kannst du schreiben oder layouten oder willst es lernen? Wir suchen immer nach redaktioneller Verstärkung. Schreib einfach eine Mail an [email protected]

Editorial

Impressum

Gegen die Verarmungspolitik der herrschenden europäischen Eliten regt sich mit den Blockupy-Protesten seit 2012 jährlich Widerstand. Das erklärte Ziel für die Zukunft ist es, den Widerstand zu europäisieren. Gemeinsam soll daher im Jahr 2014 der Protest gegen die autoritäre EU-Krisenpolitik in die Öffentlichkeit getragen und für echte Demokratie gekämpft werden. Vom 22. bis 24. November 2013 findet die europäische Blockupy-Aktionskonferenz in Frankfurt am Main statt. Sie ist der Ort für die Vernetzung sämtlicher europäischer linker Kräfte. Die Konferenz ist zentral für die gemeinsame Strategie und Aktionsplanung im nächsten Jahr. Das Blockupy-Bündnis besteht aus vielen verschiedenen Einzel-personen und Organisationen der gesellschaftlichen und politischen Linken – alle sind willkommen! Weitere Infos unter: blockupy-frankfurt.org

22. – 24. NovemberFrankfurt am Main

Am 8. März findet jährlich der Internationale Frauentag statt. Üblicherweise werden an diesem Tag Blumen an Frauen verschenkt. Zwar gibt es vereinzelt auch Aktionen, die auf herrschende patriarchale Verhältnisse aufmerksam machen, diese werden aber in der Öffentlichkeit so gut wie nicht wahrgenommen. Das soll 2014 anders werden. Gemeinsam mit Gewerkschaften, feministischen Gruppen und weiteren Ak-tiven sollen an diesem Tag feministische Forderungen offensiv in die Öffentlichkeit getragen sowie die Politisierung und das Empowerment von Frauen gefördert wer-den. Denn die Forderungen früherer feministischer Kämpfe um Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frau sind auch heute noch nicht erfüllt. Dazu soll ein Bündnis gegründet werden, welches sich zum ersten Mal am 18. Oktober in Berlin trifft. Wenn ihr euch einbringen wollt, schreibt an [email protected] Infos unter: linksjugend-solid.de/kampagnen/frauenkampftag-2014

critica: Semesterzeitung von Die Linke.SDS Nr. 11/2013

Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin

Redaktion: Deniz Avan, Friederike Benda, Janis Ehling,

Anne Geschonneck, Alexander Hummel, Elisabeth Kula,

Franziska Lindner, Max Manzey, Jakob Migenda, Sarah

Nagel, Paul Naujoks, Ramona Seeger, Michael Stöckel,

Kerstin Wolter

Layout: Sascha Collet

ViSdP: Kerstin Wolter, Kleine Alexanderstraße 28,

10178 Berlin

Anzeigen und Bestellungen: [email protected]

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Während die Bundestagswahl einige Überraschungen lieferte, fuhr die CDU Rekordergebnisse ein. Das liegt auch daran, dass SPD und Grüne

keine Alternative anbieten, meint Jakob Migenda

tagswahl bestätigte diesen Trend. In Hes-sen hatte die LINKE eine starke außer-parlamentarische Arbeit geleistet und war nicht zuletzt im Widerstand gegen die Nordweststartbahn am Frankfurter Flughafen oder den Blockupyprotesten eine wichtige Bündnispartnerin. Wenn die LINKE ihr außerparlamentarisches Engagement ausbaut, kann sie nicht nur Wahlstimmen gewinnen, sondern auch eine breite gesellschaftliche Wirkung erzielen.Blockupy Europe

8. März

Internationaler Frauenkampftag

Steinbrück bleibt unglaubwürdig

Verdienter Abstieg der FDP

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Veggie Day undPädophilievorwürfe

LINKE setzt auf Inhalte

Ergebnisse der Bundestagswahl 2013

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4 Praktikum

„Denken Sie an die rechtzeitige Anmeldung Ihres Pflichtprak-tikums!“, warnt mich die Info-

Mail des Bremer Prüfungsamts. Mist, denke ich, das hatte ich völlig vergessen. Dabei wollte ich die vorlesungsfreie Zeit nutzen, um in den Urlaub zu fahren. Viel-leicht finde ich im Internet einen Prakti-kumsplatz.

Ich klappe den Laptop auf und suche nach ersten Infos. Nach kurzer Zeit stoße ich auf sogenannte Praktikumsvermitt-lungsagenturen. Die garantieren mir zertifizierte Praktika im Ausland bei schnellster Vermittlung. Die Auswahl ist riesig. Praktikumsvermittlung.de bietet neben Freiwilligenarbeit auch andere so-genannte Programme wie Work & Travel und Auslandspraktika an. Ich entscheide mich für ein achtwöchiges Praktikum in Lissabon, ohne Unterkunft und Sprach-kurs und drücke „jetzt berechnen“. Dann trifft mich der Schlag: 990 Euro soll das kosten, darin enthalten sind eine Einschreibegebühr für das „Programm“ und der Organisationskostenbeitrag. Ich muss also fast 1000 Euro dafür bezahlen, dass ich arbeite. Sollte das nicht eigent-lich umgekehrt sein? Mit mulmigem Ge-fühl suche ich weiter. Auf diplomcampus.de finde ich Erfah-rungsberichte von Personen, die bereits ein Praktikum vermittelt bekommen haben. Sie bedanken sich bei der Agen-

tur für die „unvergessliche Erfahrung“ und den „intensiven Einsatz“ und sind davon überzeugt, dass das Praktikum „ihr Leben beeinflusst“ hat. Mir wird schlecht. Doch ich reiße mich zusammen und klammere mich an die Hoffnung, dass die Vermittlungspauschale dieser Agentur vielleicht etwas geringer ist. Mit circa 500 – 600 Euro bin ich dabei, je nachdem, in welches Land ich möch-te. Stutzig macht mich die kleine Zeile weiter unten: „Falls das Praktikum ver-gütet sein sollte, tritt zu dieser Gebühr einmalig eine 15 prozentige Beteiligung an der zugesagten Gesamtvergütung hin-zu“. Aha. Falls ich also so viel Glück habe und ein bisschen Geld für meine Arbeit bekomme, verdient diplomcampus noch-mal mit. Meine Motivation schwindet.

Kaffee kochen auf Borneo

Aber um das Pflichtpraktikum komme ich nicht herum. Und auch nach dem Studium sind Praktika notwendig. Mei-ne Professorin hatte im ersten Semester gesagt, dass wir Auslandserfahrungen und haufenweise Praktika zum Beispiel bei Bewerbungsgesprächen vorweisen müssen. Ich fühle mich etwas zur „in-terkulturellen Kompetenzerweiterung“ gezwungen, zur „kombinierten Praxiso-rientierung und Internationalisierung“. Natürlich: Wenn mir Praktika wirklich verschiedene Jobs näher brächten, mir

dabei helfen würden, berufliche Ent-scheidungen zu treffen und ich wäh-renddessen sogar einen Einblick in eine andere Kultur erhielte, würde ich mögli-cherweise die kompletten Semesterferi-en Praktika absolvieren. Aber was, wenn ich irgendwo auf Borneo für ein Unter-nehmen unbezahlt Akten sortieren und Kaffee kochen muss?

Praktikum statt feste Stelle

Während meiner Recherche wird mir immer klarer, dass besonders Unterneh-men vom Praktikumshype profitieren. PraktikantInnen sind billig, oft arbeiten sie umsonst. Manche Unternehmen be-nutzen PraktikantInnen sogar als Ersatz für reguläre Arbeitskräfte. Persönliche Orientierungshilfe? Fehlanzeige! „Pflicht-praktika“ sind derart in meine Studi-enordnung integriert, dass ich glaube, dass sie gar nicht um ihrer selbst willen gemacht werden sollen. Eher stellen sie abzuhakende Bestandteile meines Studienverlaufs dar, ähnlich einer Prü-fung. Indem Hochschulen ihren Studie-renden durch Praktika sogenannte be-rufliche Skills vermitteln, übernehmen sie unternehmerische Verantwortung. Auch im Bereich der Pflichtpraktika ist zu beobachten, dass sich der Zweck der Universität verändert: weg von der wissenschaftlichen Ausbildung, hin zum Ausbildungsbetrieb für die Wirtschaft.

Kopieren unter PalmenPraktikumsvermittlungsagenturen verlangen für ihren Service eine saftige Gebühr.Doch sie sind nur die Spitze der ausbeuterischen Welt des Praktikums. Von Ramona Seeger

Infos und Tipps rund um deine

Rechte im Studium, Praktikum

und Job bietet das Informa-

tions- und Beratungsangebot

der DGB-Jugend „Students at

work“ : jugend.dgb.de/studium

Und in diesem ökonomischen Licht er-scheint mir auch die Onlinevermittlung. Die Agenturen, nichts anderes als krea-tive Ausweitungen des Dienstleistungs-sektors, werden von der „Generation Praktikum“ nachgefragt, die selbst nach dem Master von einem Praktikum zum nächsten zieht. Die feste Stelle in weiter Ferne und die dauerhafte berufliche Unsicherheit als Normalfall. Dass ich, anstatt etwas zu verdienen, für ein Prak-tikum sogar noch draufzahlen soll, wun-dert mich jetzt auch nicht mehr.

Letztlich entscheide ich mich für ein Praktikum im Jugendzentrum um die Ecke. Das verspricht zwar keine Aus-landskompetenz, schont aber meinen Geldbeutel. Außerdem bekomme ich 9,50 Euro die Stunde. Und das gute Ge-fühl, mich nicht komplett ausbeuten zu lassen.

Universität 5

“Bart, du darfst nicht kiffen. Das ist nicht die richtige Zeit dafür. Für

Drogen gibt es einen Ort und eine Zeit: die Universität.” Diesen pädagogisch wert-vollen Tipp gab Homer seinem Sohn Bart in einer Folge der Simpsons. Nun sind Homers Erziehungstipps wahrscheinlich kein Konsens unter Eltern, aber sein Bon-mot ist trotzdem interessant. Der schöne Spruch bringt das Klischee der Uni von früher auf den Punkt: Studierende haben viel Zeit an der Uni, sei es für Bildung, Bier oder Gras.

Was die Wünsche der Studis angeht viel-leicht schon. Die meisten wollen während des Studiums eine gute Zeit haben und eine gute Ausbildung bekommen. Einige wollen sich sogar richtig bilden, den Din-gen wirklich auf den Grund gehen, aber das ist eine verschwindende Minderheit. Da hat sich bis heute nichts geändert, ma-chen wir uns nichts vor.

An der Uni hat sich währenddessen aber einiges geändert. Zum Semesterstart stellt sich jetzt jeder Studi seinen Semester-plan zusammen. Das ist einfach und geht schnell. Die guten Seminare sind schon belegt und das Angebot ist gering. Eine Auswahl nach Interessensschwerpunk-ten? Ach Quatsch, wir sind hier ja nicht bei wünsch dir was. Immerhin: Umstel-lungsprobleme von der Schule zum Studi-um können nicht entstehen.

Der Unterschied zur Schule fällt erst beim Besuch der Seminare auf. In der Schule hatte jeder seinen Platz. In der Uni muss man froh sein, überhaupt einen zu bekom-men – und sei es auf dem Boden oder vor der Tür.

Dafür kontrollieren die Profs schlechter als Lehrkräfte an Schulen. Es gibt ganz einfach zu wenige von ihnen. Der Studi muss sich deshalb über jede kleine Auf-merksamkeit von Seiten der Profs freuen. Mit viel Glück und ein wenig Arschkrie-cherei, lernt man seine Profs sogar per-sönlich kennen – voller Dankbarkeit, auch nur ein wenig vom Glanze der Koryphäe berührt worden zu sein. In der Unihierar-chie aufzusteigen ist einfacher, wenn man einen der schlecht bezahlten Hilfsjob an-nimmt oder selber Seminare gibt – unbe-zahlt, versteht sich. Das machen aber nur die idealistischen Studis, die die Illusion einer wissenschaftlichen Laufbahn nicht aufgeben möchten und sich von jahrelang befristeten Jobs nicht abschrecken lassen. Arme Irre! Wissenschaftliches Arbeiten in der Uni? Dafür haben nicht mal die Profs Zeit, schließlich müssen Drittmittel einge-worben und hunderte Hausarbeiten korri-giert werden.

Wer die Gnade reicher Eltern oder einen bewilligten BAföG-Antrag hat, hat mehr Zeit. Leider sind das nicht viele. Fast zwei

Drittel der Studis arbeiten in ein oder zwei Nebenjobs, um sich über Wasser zu halten.

Für das Studieren bleibt keine Zeit. Die Studis müssen sich Wissen eintrichtern. Hier ist die Devise: viel hilft viel. Pädago-gische Konzepte, die Beförderung zum kri-tischen Denken oder wissenschaftliches Arbeiten spielen kaum eine Rolle. Inhal-te sind nicht entscheidend und müssen überwunden werden. Viel Wissen, in mög-lichst kurzer Zeit, muss in so einen Studi rein. Da aber kein Prof einen Überblick über das Wissen seiner Studis hat, muss ordentlich geprüft und getestet werden. Ein paar Hausarbeiten hier, ein paar Klau-suren dort und ein wenig Überforderung für die Studis sollte es schon sein. Aber wehe, jemand schafft das große Pensum nicht und überzieht das Studium.

Deshalb ist Ranklotzen angesagt. Für den Fall, dass jemand das nicht schafft oder sich erdreistet, noch andere Interessen zu haben, ist vorgesorgt. Wer über der Re-gelstudienzeit liegt, bekommt kein BAföG mehr oder muss Langzeitstudiengebühren zahlen. Für alle, die das Pensum wegen ihrer Nebenjobs nicht schaffen, bleibt ja noch ein Studienkredit. Zwar oft zu horrenden Zinsen, aber das ist nicht das Problem der modernen Bildungsfabrik. Genauso wenig die vier bis fünf Prozent

der Studierenden, die regelmäßig Antide-pressiva schlucken, weil sie sonst nicht mit dem Studium fertig werden. „Selber Schuld“ heißt das Mantra der heutigen Hochschule! Hier wird ausgesiebt. Die Uni hat schließlich einen Bildungsauftrag. Sie muss junge Menschen auf die Gesell-schaft vorbereiten. Das tut sie – und wie.

Der Studi von heute wird auf eine harte und unsolidarische Gesellschaft vorberei-tet. Junge Menschen brauchen dafür keine Bildung, sondern Disziplin und eine gehö-rige Portion Fatalismus. Hilfe ist nicht zu erwarten. Diszipliniere dich selbst, pass dich an, trag dein Unglück mit Fassung. Bier und Gras bleiben für den Vollrausch. Als kleine individuelle Flucht oder als große Selbstaufgabe. Jeder fünfte Studi nimmt dafür leistungssteigernde Mittel. Amphetamine oder Kokain kommen nicht nur beim Tanzen, sondern auch beim Ler-nen oder Klausurenschreiben zum Ein-satz. Die Uni mag für manche noch ein schöner Ort sein, aber nicht wegen, son-dern trotz des Studiums.

Homer Simpson liegt daneben. Bart sollte heimlich weiterkiffen. Für Bier und Gras bleibt an der Uni keine Zeit mehr. Von Bil-dung hab ich hier nicht gesprochen. Aber darum geht es auch nicht.

Zu Risiken und Nebenwirkungen eines Studiums konsultieren Sie am besten Ihren Therapeuten oder Ihre lokale SDS-Gruppe.

Antidepressiva für Lisa

Lisa hat sich schon mal einen Pillen-Vorrat für das Studium angeschafft

Wünsch dir was war gestern

An der Uni ist heute zwar nicht alles anders, aber vieles schlechter. Darüber sollte man sich aufregen, meint Janis Ehling

Keine Zeit für Wissenschaft

Viel hilft viel

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Repression 7

Das Aufstellen der Reservistenverbände geschieht vor dem Hintergrund des mas-siven Personalabbaus in der Bundeswehr sowie dem Erlass neuer verteidigungspo-litischer Richtlinien 2011 durch das Ver-teidigungsministerium. Zentral im neuen Aufgabenprofil der Bundeswehr und vor allem der neuen Reservisteneinheiten ist der „Schutz kritischer Infrastruktur im Inland“. Laut verteidigungspolitischer Richtlinien verliert mittlerweile „die tra-ditionelle Unterscheidung von äußerer Sicherheit und öffentlicher Sicherheit im Inneren mehr und mehr ihre Bedeutung.“ Des Weiteren sei „das zielgerichtete Zu-sammenwirken des Auswärtigen Diens-tes, der Entwicklungszusammenarbeit, der Polizei, der Streitkräfte, des Zivil- und Katastrophenschutzes und der Nachrich-tendienste auf allen Ebenen zu verstär-ken.“

In einem Aufruf von GewerkschafterInnen und der deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen wird vor der Gefahr neuer Freikorps gewarnt. Diese Korps hatten in der Weimarer Repu-blik Streiks und Arbeiteraufstände blutig niedergeschlagen.

Zivil-militärische Grauzone

Die weitreichenden Aufgabenbereiche der RSUKr sind laut herrschender Mei-nung juristisch gedeckt. Die Anwendungs-möglichkeit des Bundeswehreinsatzes im Inneren wird dadurch aber weiter ausge-dehnt. War eine mögliche deutsche Armee

noch zur Verkündung des Grundgesetzes 1949 ohne jegliche solcher Kompetenz ausgestattet, wurde im Zuge der Not-standsgesetzgebung bereits 1968 dieser Grundsatz aufgehoben. Die Bundeswehr durfte nun auch in besonders schweren Unglücksfällen im Inland eingesetzt wer-den. Mittlerweile hat das Bundesverfas-sungsgericht in seiner Rechtsprechung auch den Begriff des Unglücksfalls weiter ausgedehnt, indem mit der Formulierung „ungewöhnliche Ausnahmesituation“ ei-ne weit auslegbare Vorstellung des Un-glücksfalls etabliert wurde. Zudem wurde der Einsatz der Bundeswehr als Polizei-kräfte für zulässig erklärt, auch mit dem Gebrauch von spezifisch militärischen Waffen.

KritikerInnen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie sehen die Bundeswehrreformen auch im Zusam-menhang mit der Eröffnung von Europas modernstem Gefechtsübungszentrum in der Nähe von Magdeburg. Dieses wurde insbesondere für die Übung von Einsätzen in städtischen Gebieten konzipiert. In die-sem könnten Gefechte wie sie bei sozialen Unruhen bei Massenstreiks oder Großde-monstrationen auftreten, geübt werden. Zur Übung von Einsätzen bei Naturka-tastrophen – dem gewöhnlich einzigen Argument für die Aufrüstung im Inland – eignet sich das Gefechtsübungszentrum jedoch nicht.

Das Grundrechtskomitee sieht damit die Militarisierung im Inneren weiter voran-getrieben. Denn die Bundesregierung hät-te ein Interesse an funktionierenden und erprobten Kooperationsbeziehungen zwi-schen zivilen Akteuren und Gliederungen der Bundeswehr. Beim Hochwasser im Sommer 2013 konnte die Leistungsfähig-keit dieser zivil-militärischen Zusammen-arbeit bereits getestet werden. Dieser war mit bis zu 30.000 SoldatInnen im Einsatz nicht nur der größte Inlandseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr, sondern auch die erste Bewährungsprobe für die neue Reservistenstruktur. Über 500 Re-servistInnen waren im Einsatz. Die Koor-dination zwischen Berufsarmee und Re-servisten wurde dabei ausgiebig getestet.

Sowohl die juristische Entwicklung als auch die praktische Umstrukturierung mit neuem Fokus auf das Auftreten der Bundeswehr im Inland hat sich weitest-gehend unbemerkt von einer kritischen Öffentlichkeit vollzogen. Dies ist durchaus überraschend. Als Ende der 60er die Not-standsgesetze geplant wurden, löste dies eine der größten Widerstandsbewegun-gen in der Geschichte der BRD aus.

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Das Ende der AnonymitätZygmunt Bauman

Whistleblowing oder das Recht auf EnthüllungAndreas Fischer-Lescano

Der drohende Wirtschaftskrieg

Stephan Schulmeister

Ökologische Gleichheit:Der grüne Imperativ

Hans Thie

Die Armee von nebenanDie Bundeswehr macht mobil. Und das nicht nur im aktiven Dienst, sondern auch an der Reserve. Von Anne Geschonneck

6 Repression

Jede Woche eine neue Enthüllung über die Datensammelwut der Geheim-dienste und damit auch jede Woche

neue, bisher unbekannte Begriffe: PRISM, TEMPORA, Bullrun, Fisa, INDECT, XKey-score, GHCQ, OIF, https, VPN und SSL. Kaum jemand kann noch sagen, wofür die einzelnen Kürzel genau stehen. Es bleibt nur die Befürchtung, dass die Überwa-chung mittlerweile ein Ausmaß angenom-men hat, welche die Demokratie offen in Frage stellt. Der Vergleich der speicher-baren Datenmenge im Utah Data Center des US-Geheimdienstes NSA mit der ge-speicherten Datenmenge durch die Stasi zeigt, dass diese Befürchtung berechtigt ist.

Die Stasi hat laut Stasi-Unterlagenbehörde 111.200 Regelmeter an Informationen verwahrt. Rechnet man diese Regelmeter in Bytes um, sind das insgesamt 2,8 Ter-rabyte. Die speicherfähige Datenmenge im sich gerade im Bau befindenden Utah Data Center wird hingegen in Yota-Byte gemessen und entspricht damit dem mehr als 360-milliardenfachen der verwahrten Stasi-Unterlagen. Die Aussagen von hoch-rangigen NSA-Mitarbeitern lassen zudem keine Zweifel darüber aufkommen, dass sie diesen Speicherplatz ausnutzen wol-len. In einem von Edward Snowden ge-leakten Dokument wird der leitende Ge-neral des NSA Keith Alexander mit den Worten zitiert: „Warum können wir nicht jederzeit alle Signale sammeln?“

Der NSA und seinen befreundeten Ge-heimdiensten geht es also um die Über-wachung jeglicher menschlicher Kommu-nikation weltweit. Keine Situation, kein Gespräch, keine Information gilt als zu privat, um nicht gespeichert und gegebe-nenfalls nachrichtendienstlich verwertet zu werden. Informationen, die genutzt werden können, um Menschen zu mani-pulieren und zu erpressen. Dabei geraten immer öfter auch gewöhnliche Menschen in das Visier der digital hochgerüsteten

Schlapphüte. Als die Professorin Ursu-la Gresser zum Beispiel über twitter auf die Möglichkeit hinwies, bei einer öffent-lichen Veranstaltung Fragen an die bay-rische Justizministerin Beate Merk zum Fall Gustl Mollath zu stellen, wurde sie von zwei Polizeibeamten besucht, die sie dazu drängten, die twitter-Nachricht aus dem Internet zu nehmen. Hier wird ein demokratisch nicht legitimierter Überwa-chungsapparat ganz offen dazu genutzt, eine kritische Öffentlichkeit, einen Grund-pfeiler der Demokratie, zum Schweigen zu bringen.

Zunehmend leisten die Menschen jedoch Widerstand. So kamen zu den bundes-weit stattfindenden #Stop watching Us-Demonstrationen am 27. Juli über 10.000 Menschen. Zur „Freiheit statt Angst-De-monstration“ Anfang September in Berlin sogar 20.000. Oft wurde dabei „die demo-kratische Kontrolle der Geheimdienste“ gefordert. Damit wird jedoch die grund-sätzliche Existenz von Geheimdiensten nicht in Frage gestellt und dadurch die eigentlich notwendige Forderung vermie-den. Stattdessen werden diese hier als not-wendiges Übel gesehen, dass Auswüchse entwickelt hätte, die es nun wieder zu kappen gelte. Dieser Einschätzung liegen aber mehrere Irrtümer zu Grunde.

Zunächst ist es falsch anzunehmen, dass Überwachung in der BRD ein neues Phä-nomen wäre. Bereits 1946 begann die von Altnazis aufgebaute Vorgänger-Behörde des BND, die Organisation Gehlen, „die kommunistische Gefahr“ in Westdeutsch-land zu bekämpfen und zu diesem Zweck die deutsche Bevölkerung zu überwa-chen. Dass die deutschen Geheimdienste ihren Hauptfeind immer noch links ver-muten, während sie auf dem rechten Auge blind sind, zeigt nicht zuletzt der Skandal um das bewusste Wegschauen des Verfas-

sungsschutzes bei der NSU-Mordserie. Der Historiker und Autor des Buches „Über-wachtes Deutschland“, Josef Forschepoth, kommt zudem zur Einschätzung, dass der „Überwachungskomplex ein wesentliches Element der Rechtsstaatsentwicklung der BRD“ ist.

Auch ist die Annahme falsch, dass eine de-mokratische Kontrolle von Geheimdiens-ten grundsätzlich überhaupt möglich wäre. Ein parlamentarisches Kontrollgre-mium für die Geheimdienste, besetzt mit Abgeordneten aller Bundestagsfraktionen, existiert zwar schon heute, jedoch ist es machtlos. Dem Kontrollgremium sind stets nur solche Informationen bekannt, die es von der Regierung und den Geheim-diensten vorgelegt bekommt. Wie wenig das oft ist, wurde deutlich als zahlreiche Abgeordnete des parlamentarischen Kon-trollgremiums gestehen mussten, dass sie erst durch die Medienberichte über das

Ausmaß der Überwachung der deutschen Bevölkerung erfuhren.

Es liegt im Wesen der Geheimdienste, dass aus ihrer Perspektive der Großteil ihrer Aktivitäten unentdeckt bleiben soll. Ihre offizielle Existenzberechtigung ist die Be-schaffung von Informationen, die eigent-lich im Verborgenen bleiben sollen. Damit ihnen dies gelingt, dürfen ihre Aktivitäten niemals publik werden. Denn wer weiß, dass er in das Visier der Geheimdienste geraten ist und meint, etwas befürchten zu müssen, wird alles tun, um die Daten, die ihm gefährlich werden könnten, ver-schwinden zu lassen. Ihre inoffizielle Exi-stenzberechtigung ist die Manipulation und Einschüchterung unliebsamer Per-sonen. Auch von diesen Aktivitäten soll die Öffentlichkeit nichts erfahren. Die ver-borgene Kamera, der versteckte Lausch-angriff, der unerkannte Spion – sie alle sind Kinder dieser geheimdienstlichen Logik. Die Intransparenz liegt der Arbeits-weise von Nachrichtendiensten zugrunde. Sollen sie jedoch demokratisch kontrol-liert werden, muss ihre Arbeit transpa-rent werden. Demokratische Kontrolle und die adäquate Erfüllung nachrichten-dienstlicher Aufgaben sind deshalb un-vereinbare Ziele. Geheimdienste lassen sich nicht demokratisch kontrollieren. So lange sie existieren, werden sie ver-suchen sich demokratischer Kontrolle zu entziehen, um ihre Aufgaben adäquat zu erfüllen. Sie sind ein Fremdkörper für die Demokratie. Nur indem sie abgeschafft werden, kann die Demokratie verteidigt werden.

Ausgespähte DemokratieDie Überwachungsprogramme der Geheimdienste sind nicht nur Auswüchse eines notwendigen Übels. Geheimdienste sind Fremdkörper für die Demokratie. Um die Demokratie zu retten, müssen die Geheimdienste verschwinden. Von Alexander Hummel

Nichts ist zu privat

Intransparenz gehört dazu

Überwachung ist nicht neu

Mit den Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräften (RSUKr)

steht der Bundeswehr seit Neuestem eine Heimatschutzkompa-

nie zur Seite. In über 400 Landkreisen befinden

sich insgesamt mehr

als 4.000 ReservistInnen in Bereitschaft, um auch in „Friedenszeiten“ den Auftrag der Bundeswehr innerhalb der Bundes-republik weiterzuführen. Damit sind die ReservistInnen trotz ziviler Berufe für das Verteidigungsministerium militärisch nutzbar und fungieren als Mittelsper-sonen zwischen Militär und Zivilgesell-schaft.

Armee trainiert Einsätze in Städten

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Bernd Belina ist Professor am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Maja kann die Sätze schon auswendig: ja, ich fange jetzt an zu studieren –

Geographie. Nein, vorher habe ich nicht in einer WG gewohnt. Ursprünglich komme ich aus Bielefeld. Ja, das gibt es wirklich. Ich würde mich freuen von euch zu hören! Irgendwann hat sie aufgehört zu zählen, aber es dürfte inzwischen schon das zwan-zigste WG-Casting gewesen sein, seitdem sie vor zwei Wochen nach Berlin kam und anfing, eine vermeintlich einfache Aufga-be zu erledigen: Ein Zimmer in einer WG finden. Sie steht auch auf der Warteliste für einen Platz im Studierendenwohn-heim. Auf Platz 135. So wie Maja wird es dieses Semester vielen Erstis gehen. Im Oktober werden etwa eine halbe Million junge Menschen mit dem Studium be-ginnen und eine Wohnung oder ein WG-Zimmer suchen. Dabei treffen sie in vielen Unistädten auf ein Wohnraumdesaster.

stieg die Anzahl anStudierenden 2010-201213%

Unter anderem durch das faktische Ende des staatlich geförderten Sozialen Woh-nungsbaus und Spekulationen auf dem Wohnungsmarkt, steht in vielen Städten Deutschlands kaum noch günstiger Wohn-raum zur Verfügung. In fast allen Städten gehen die Mieten rasant bergauf. Insbe-sondere bei Neuvermietungen sind Miet-erhöhungen um 20 Prozent keine Selten-heit mehr. In Berlin stieg die Durchschnittsmiete in den letzten fünf Jahren um 25 Prozent und in München al-lein im letzten Jahr um sechs Prozent auf astronomisch hohe 12,53 Euro pro Qua-dratmeter. Auch die Wohnnebenkosten wachsen. Zwischen 2005 und 2010 stie-gen die Kosten für Strom um 30 Prozent. In vielen Städten werden zwar neue Woh-nungen in der Innenstadt geschaffen, je-doch fast ausschließlich im Hochpreisseg-ment. All dies führt dazu, dass die Innenstädte immer mehr zu Luxusghettos verkommen und die finanziell schlechter gestellten BewohnerInnen an den Stadt-rand gedrängt werden. Davon sind auch Studierende massiv betroffen.

Aber sind es nicht die hippen Studi-Knei-pen, die die alten Eckkneipen verdrän-gen? Nicht wenige Studierende stellen sich die Frage, ob sie nicht selbst Teil der Aufwertung sind, wenn sie zum Beispiel eine Wohnung in Berlin-Neukölln, dem Hamburger Schanzenviertel, Köln-Ehren-feld oder dem Münchner Westend suchen.Tatsächlich nehmen Studierende im Pro-zess der Aufwertung und Verdrängung eine Sonderrolle ein. Sie können durch Wohngemeinschaften höhere Mieten als eine arme Familie bezahlen und sie ziehen häufig um, was die Mietspirale schnell steigen lässt und sie für VermieterInnen interessant macht. Gleichzeitig verändern sie den Kiez auch darüber, dass sie durch ihre Bedürfnisse und ihren Lebensstil ein Image produzieren, das ein anderes, zah-lungskräftigeres Publikum anzieht – die sogenannten Yuppies (Young Urban Pro-fessionals).

Wohnraum dem kapitalistischen Woh-nungsmarkt, der ausschließlich auf Profite ausgerichtet ist, entzogen und stattdessen vergesellschaftet werden. Das heißt, dass nicht private InvestorInnen über die Miet-höhe oder die Sanierung bestimmen, son-dern demokratisch darüber entschieden wird, wie die Wohnraumpolitik aussieht. Zahlreiche Initiativen, Stadtteilgruppen und politische AkteurInnen wie die LIN-KE, versuchen heute schon Widerstand gegen Mietsteigerung und Verdrängung zu leisten. Dabei ist es wichtig, dass sich die unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht gegeneinander ausspielen lassen. Es ist ein Kampf, der von allen Betroffenen nur gemeinsam gewonnen werden kann, egal ob es sich um Studierende, Angestell-

te oder RentnerInnen handelt. Denn von Mietsteigungen und Verdrängung sind alle betroffen, die sich die steigenden Ko-sten nicht mehr leisten können. Deshalb Wohnheimplätze fehlen bundesweit

25.000Studierende sind hingegen weit davon entfernt, zu den Top-VerdienerInnen in unserer Gesellschaft zu gehören. Ange-sichts der steigenden Mietpreise sind sie inzwischen selbst von Verdrängung be-troffen und haben häufig keine Aussicht auf eine Wohnung in Hochschulnähe, sondern müssen vom Stadtrand weite Strecken zur Uni pendeln. Sie sind im Grunde die nächsten Opfer der Gentrifi-zierung. Die aktuelle Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks ergab, dass rund 34 Prozent der monatlichen Ein-

nahmen für die Wohnkosten draufgehen. Bei den rund 20 Prozent, die weniger als 650 Euro im Monat zur Verfügung haben, ist es oft sogar mehr. Um ihren Lebens-unterhalt zu sichern, gehen inzwischen 63 Prozent der Studierenden neben dem Studium arbeiten, häufig in prekären Ar-beitsverhältnissen. Eine aktuelle Untersu-chung der Universität Maastricht hat nun ergeben, dass Studierende in Berlin 35,7 Stunden pro Monat arbeiten müssten, um die Monatsmiete bezahlen zu können. In München sind es 37,5 und in Hamburg sogar 38,5 Stunden. Viele Studierende sind darum auf einen Platz im Studieren-denwohnheim angewiesen. Doch ob man dort einen Platz bekommt, gleicht oftmals einem Glücksspiel. Obwohl die Zahl der

Studierenden in den letzten Jahren kräftig anstieg, werden so gut wie keine zusätz-lichen Wohnheime gebaut. Das Deutsche Studentenwerk fordert schon seit mehre-ren Jahren 25.000 zusätzliche Wohnheim-plätze.

Euro kostet die Mo-natsmiete in München durchschnittlich388

Der Umbau der Stadt im Interesse der Rei-chen, denen entweder die Häuser gehören oder die kein Problem damit haben, hö-here Mieten zu bezahlen, trifft inzwischen also auch die Studierenden. Um das Pro-blem langfristig zu lösen, müsste der

Wohnen ist die neue Rolex

Zum Semesterstart werden eine halbe Million junge Menschen mit dem Studium beginnen. Dabei treffen sie in vielen Unistädten auf ein Wohnraumdesaster. Von Kerstin Wolter und Max Manzey

critica: Vor dem Beginn des Winterse-mesters sind viele Studierende auf Woh-nungssuche und müssen oft 400 Euro und mehr für ein Zimmer zahlen. Warum ist das so?

Belina: Studierende sind auf dem Markt für Neuvermietungen unterwegs, und vor allem da explodieren die Mieten vieler-orts. Gleichzeitig gibt es zu wenig bezahl-baren Wohnraum. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen wurde in den letzten 20 Jahren in der BRD zu wenig Wohnraum gebaut, zum anderen hat der Staat seine Förderung im sozialen Wohnungsbau stark zurückgefahren und damit dafür gesorgt, dass es zu wenige Wohnungen gibt. Dazu kommt, dass Städte eine unter-nehmerische Stadtpolitik betreiben. Für ausgeglichene Haushalte und die Steige-rung der Einnahmen wurden eigene Woh-nungsbestände teilweise komplett privati-siert. Damit steigen fast automatisch die Mieten, weil ein Investor möglichst viel Profit machen will.

critica: Studierende gelten oft als Pioniere in Gentrifizierungsprozessen. Muss ich als StudentIn ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich beispielsweise in Neukölln in eine WG ziehe?

Belina: Studierende sind nicht schuld an Gentrifizierung und an steigenden Mieten. Schuld daran sind die Marktmechanis-men und die staatliche Regulierung der Märkte. Deshalb ist es wenig hilfreich, sich individuell ein schlechtes Gewissen zu machen. Was man aber machen kann, ist den Widerstand in von Gentrifizierung betroffenen Gebieten zu unterstützen. Als StudentIn kann man die alteingesessenen AnwohnerInnen, die es vielleicht nicht ge-wohnt sind, sich öffentlich zu äußern und denen oft auch gar nicht richtig zugehört wird, mit dem, was man gut kann, unter-stützen. Sei es durch das Schreiben von Pressemitteilungen oder die Organisation von Aktionen. Statt sich ein schlechtes Ge-wissen zu machen, sollte man sich also lie-ber gegen die Mechanismen, für die man nichts kann, in Recht-auf-Stadt-Initiativen engagieren.

critica: Was sind die wichtigsten Forde-rungen, die an die Politik gestellt werden sollten?

Belina: Die Städte und Gemeinden dazu zu bringen, sich wieder darauf zu besinnen, dass sie selber AkteurInnen auf den Woh-nungsmärkten sind, mit ihren Wohnungs-baugesellschaften und Liegenschaften. Würden Städte nicht mehr wie Unterneh-men, sondern wie sozial verantwortliche Gemeinwesen agieren, könnten sie von einem Tag auf den anderen die Wohnungs-not deutlich entschärfen. Eine andere Sa-che ist, auf lokaler Ebene die kommunale Förderung für bestimmte Wohnraumfor-men zu fordern, zum Beispiel für Studi-wohnheime. Schließlich kann man die Art und Weise, wie Wohnen in Deutschland zur Investitionssphäre geworden ist, auch wieder ändern. Wohnen darf nicht Ware sein – das ist genau der richtige Slogan.

„Ein schlechtes Gewissen hilft nicht“

muss das Ziel sein, Bündnisse zu schmie-den und Druck aufzubauen.

Vor ein paar Monaten hat sich das Bündnis „Studis gegen Wohnungsnot“ gegrün-det. Neben dem SDS sind daran verschiedene hochschulpolitische Gruppen, Stu-dierendenvertretungen und EinzelaktivistInnen beteiligt. Um auf das Wohnraum-desaster zum Semesterstart aufmerksam zu machen und auf die Verantwortlichen Druck auszuüben, plant das Bündnis vom 4. bis 8. November eine Aktionswoche zum Thema Wohnraum an den Universitäten. Enden soll die Woche mit dezentra-len Demonstrationen und Kundgebungen, um deutlich zu machen, dass sich Stu-dierende nicht einfach mit ewigen WG-Castings, dem Wartelistenplatz 135 für das Studierendenwohnheim und der dritten Mieterhöhung in einem Jahr zufrieden geben. Gemeinsam mit all denen, die für bezahlbaren Wohnraum kämpfen, wollen sie die Frage stellen: Wem gehört die Stadt? Ihre Antwort ist klar: Uns!

Vom Bordstein zum Wohnheim: Studierende und ihre Zukunftsträume.

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Der Stadtteil Tarlabasi wird im großen Stil umgebaut. Viele der jetzigen Bewohner werden dort danach keinen Platz mehr haben.

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Aufstand gegen eine verbaute ZukunftIm Sommer ist in der Türkei die junge Mittelschicht auf die Barrikaden gegangen, um für einen Park und gegen die Arroganz der Regierungspartei AKP zu demonstrieren. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit. Von Melanie Sänger

Der Verkäufer zuckt mit den Schultern und zeigt auf einen Zettel in seinem

Kiosk. „Es ist gesetzlich verboten, nach 22 Uhr Alkohol zu verkaufen“, steht da-rauf. Tayyip eben, ihr wisst schon, sagt sein bedauernder Gesichtsausdruck. Das verschärfte Alkoholgesetz, welches die Regierungspartei von Recep Tayyip Erdogan verhängt hat, gilt seit Anfang September. Es hat die Proteste im Früh-sommer angeheizt und ist zum Sinnbild dafür geworden, wie sich die AKP in das Leben der Menschen einmischt. „Klar spielen solche Dinge eine Rolle. Aber das ist bei weitem nicht das einzige, worum es geht“, sagt Meltem. Sie ist Anfang zwan-zig und engagiert sich in Istanbul schon länger in verschiedenen Kampagnen. Die Demonstrierenden seien überhaupt nicht

homogen gewesen, sagt sie. „Es waren Leute aus verschiedenen Schichten und verschiedenen Gründen auf der Straße“. Nur die wenigsten von ihnen waren poli-tisch organisiert. Sie sind spontan gekom-men und manchmal tagelang geblieben. Der Ausbruch der Massendemonstrati-onen passierte in diesem Jahr plötzlich, aber nicht überraschend. Die Mischung aus autoritärem Konservatismus und ne-oliberaler Wirtschaftspolitik, welche die AKP-Politik seit dem Regierungsantritt 2002 kennzeichnen, haben Unzufrieden-heit geschürt und dem Aufstand den Bo-den geebnet.

„Wirtschaft: Stabilität fortsetzen, die Türkei soll wachsen“, verkündete ein Wahlplakat der AKP vor den türkischen

Parlamentswahlen 2011. Die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ kon-zentriert sich allerdings auf den zweiten Teil ihres Namens. Das Image der Partei der Wirtschaftskraft, Dynamik und Ent-wicklung wurde mit gigantischen Baupro-jekten wie der dritten Brücke über den Bosporus unterstrichen.

Aufschwung mit zwei Seiten

Für viele Menschen in der Türkei, die Wirtschaftskrisen und teilweise schon drei Militärputsche erlebt haben, ist re-lative Stabilität nicht selbstverständlich und deshalb kein schlechtes Verspre-chen. Die Wirtschaft ist in den vergange-nen Jahren tatsächlich stark gewachsen und hat der Türkei mittlerweile einen

Platz in den G20 eingebracht – auch das dürfte viele der 49,9 Prozent überzeugt haben, ihre Stimme der islamisch-kon-servativen AKP zu geben. Die Gewinne sind aber nicht bei allen angekommen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist zwar in der Regierungszeit der AKP gestiegen, doch das sagt nichts über die Verteilung des Reichtums aus. Ein Großteil verdient den türkischen Mindestlohn, der im ersten Halbjahr 2013 bei 979 Türkischen Lira lag, umgerechnet etwa 365 Euro. Wessen Einkommen nicht ausreicht, muss sich auf die Familie oder informelle Arbeit ver-lassen – zum Beispiel auf dem Bau oder im Straßenhandel. Ein funktionierendes Sozialsystem gibt es nicht. Die Arbeitslo-sigkeit lag laut dem Statistischen Institut TurkStat 2012 bei knapp zehn Prozent, die

Jugendarbeitslosigkeit bei 19,8 Prozent. Je-des Jahr kommen etwa eine halbe Million neue Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt, die nur schwer integriert werden können. Auch Hochschulabsolventen müssen oft lange nach einem Job suchen. Gerade un-ter jungen Menschen wächst deshalb der Frust. Und junge Menschen gibt es viele: 16,6 Prozent der Bevölkerung sind zwi-schen 15 und 24 Jahre alt. Während der Altersdurchschnitt in Deutschland 2011 bei 44,2 lag, waren die Menschen in der Türkei durchschnittlich 29,2 Jahre alt.

Hafen zu verkaufen

Die AKP bemüht sich indessen, dem er-klärten Ziel, die Türkei zu einem der welt-weit zehn wirtschaftlich stärksten Staa-

ten zu machen, durch neoliberale Politik näher zu kommen. Sie setzt zum Beispiel die bereits vor ihrem Regierungsantritt begonnene Privatisierung staatlicher Un-ternehmen insbesondere seit 2005 massiv fort und destabilisiert die Arbeitsverhält-nisse dadurch weiter. So wurde zum Bei-spiel 2005 ein Brief bekannt, in dem der damalige Finanzminister Unakitan der Weltbank mitteilte, welche 21 Staatsun-ternehmen bis 2009 privatisiert und wie viele Angestellte jeweils entlassen wer-den sollten. Insgesamt 29.000 Arbeitsplät-ze sollten dabei vernichtet werden. Seit 1985 wurden in der Türkei staatliche Fir-men für 42 Milliarden US-Dollar verkauft, ein Großteil davon unter der AKP. Um die Verkäufe zu bewerkstelligen, gibt es eine eigens dafür geschaffene Privatisierungsa-gentur. Wer die nötigen finanziellen Mittel hat, kann sich in deren aktuellem „Port-föy“ (Portfolio) zum Beispiel in den Hafen von Izmir, die türkische Volksbank, eine Zuckerfabrik und Turkish Airlines ein-kaufen. Ein Schwerpunkt liegt im Moment außerdem auf Energie. Nach dem Verkauf des Stromnetzes soll in diesem Jahr auch ein großer Teil der Energieerzeugung privatisiert werden. Wasser ist zum Teil ebenfalls zur Ware geworden.

Nur wer zahlt kann bleiben

Konkurrenz beherrscht auch den städ-tischen Wohnungsmarkt. „Ich habe nach einer weiteren Mieterhöhung gekündigt und wusste, dass ich in meinem Viertel keine bezahlbare Wohnung mehr finden werde“, erzählt eine Mieterin in Istanbul, die lange in Cihangir in der Nähe des Taksimplatzes lebte. Wie viele andere ist sie weggezogen. Während die Mieten in Cihangir immer weiter steigen, findet auf der anderen Seite des Taksimplatzes in Tarlabasi eine noch drastischere Ent-wicklung statt. Der Stadtteil, in dem heute vor allem Kurden leben, wird teilweise abgerissen und neu aufgebaut. Große Banner auf den Baugerüsten am Rand des Viertels verheißen in bunten Bildern eine angenehme Zukunft. Die wird allerdings ohne einen Großteil der jetzigen Bevöl-kerung stattfinden, denn diese werden sich die gesteigerten Mieten meist nicht leisten können und das ist auch gar nicht erwünscht. Tausende müssen bereits jetzt umziehen, häufig bis an den Rand der 15-Millionen-Stadt. Dort entstehen überall vielstöckige Wohnhäuser. Mit der Aufwer-tung von Stadtvierteln und dem Neubau

von Trabantenstädten lässt sich viel Pro-fit machen, und zwar auch für den Staat und seine meist männlichen Vertreter. Die Baugesellschaft TOKI, die viele der neu-en Wohnungen außerhalb des Zentrums hochzieht, ist zum Beispiel eine public pri-vate partnership, die zum Teil städtisch ist und nach marktwirtschaftlichen Prin-zipien arbeitet.

Küssen verboten

Gerade junge Menschen finden sich mehr als zehn Jahre nach Regierungsantritt also in einer Gesellschaft wieder, die zu-nehmend von Konkurrenzdruck geprägt und nach kapitalistischen Kriterien orga-nisiert ist. Besonders Angehörige von Min-derheiten machen außerdem Erfahrungen mit Rassismus und Repression. Dazu kommt die bieder-konservative Lebens-führung, welche die AKP der Bevölkerung schrittweise verordnen will. Das neue Al-koholgesetz gehört ebenso dazu wie ein Kuss-Verbot in den U-Bahnstationen der Hauptstadt Ankara und das Verbot von Alkoholausschank auf vielen Flügen der halbstaatlichen Turkish Airlines, deren Stewardessen nun auch längere Röcke tragen. Im letzten Jahr gab es außerdem eine hitzige Debatte um eine von der Re-gierung geplante Verschärfung des Ab-treibungsgesetzes. Das Gesundheitsmini-sterium veranlasst außerdem, dass Vätern oder Männern von Frauen mit positivem Schwangerschaftstest per SMS gratuliert wird - gerade für unverheiratete Schwan-gere ist das oft eine Katastrophe.

Der Konservatismus spielt auch für den Kulturbetrieb eine Rolle. Kunstschaffende und kritische Journalistinnen und Journa-listen sind häufig Repressionen ausgesetzt oder von Arbeitslosigkeit bedroht. Zuletzt machte diesen Sommer außerdem die ge-plante Privatisierung staatlicher Theater Schlagzeilen. Die Theater sollen zukünftig Gewinn abwerfen und der Leitung eines elfköpfigen von der AKP bestellten Gre-miums unterstellt werden. Dagegen pro-testierten Schauspielerinnen und Schau-spieler. Auch im Zuge des Programms der „Kulturhauptstadt Istanbul 2010“ gab es Kritik. Zuwenig Neues sei gewagt worden und zu viel Geld in die Renovierung von Moscheen geflossen, hieß es.

Es sind also viele Gründe, aus denen die Menschen auf dem Taksimplatz protes-tierten. Mittlerweile ist es auf dem Platz

ruhig geworden, aber an manchen Orten regt sich noch Widerstand. Auch Bünd-nisse, die während der Besetzung des Gezi-Parks gegründet wurden, treffen sich weiter, um Ideen und Pläne fortzufüh-ren. Gerade die vielen Unorganisierten einzubinden, bleibt aber eine Herausfor-derung. Die Erfahrung des gemeinsamen Protests bleibt trotz allem bestehen - für Viele war es der erste ihres Lebens. Mel-tem hält das für zentral. „Das Wichtigste an den Protesten ist für mich, dass die Beteiligten gemerkt haben, dass wir nur etwas verändern können, wenn wir kämp-fen. Wir haben nicht nur Solidarität auf dem Taksimplatz erlebt, sondern auch mit anderen Bewegungen auf der ganzen Welt wie den Indignados in Spanien, den ägyptischen Aktivistinnen und Aktivisten oder den Menschen, die in Griechenland demonstrieren.“

„Die Aktivistinnen und Aktivisten zeigten, wie schnell eine funktionie-rende und solidarische Selbstorganisation auf-gebaut werden kann. Als der Park geräumt wurde, gab es viele Ak-

tive, die nicht einfach ziellos wegliefen, sondern Gasgranaten in vorbereiteten Be-hältern unschädlich machten oder betrof-fenen Menschen die Augen ausspülten.“

Simon Eberhardt studiert in Köln und hat im Juni an einer politischen Delegations-reise nach Istanbul teilgenommen.

„Die AKP - Regierung hat es geschafft, Bevöl-kerungsschichten im Widerstand gegen ihre Politik zu vereinen. Der Kampf um Freiheit und Demokratie wird solan-ge weitergehen, bis sich

die Menschen ihre Forderungen erkämpft haben. Es wird nicht einfach, jedoch hat die Welt gesehen, dass die türkische Be-völkerung aufstehen kann. Und genau das jagt den Mächtigen Angst ein.“

Ezgi Güyildar studiert Jura und engagiert sich bei DIDF und der Partei DIE LINKE. Sie hat ebenfalls an der Delegationsreise teilgenommen.

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Filmtipps 13

Paris zu Beginn der 70er. Die großen Un-ruhen und Massenstreiks um das Jahr 1968 sind vorbei. Doch für viele ist der Traum von einer anderen Gesellschaft noch nicht ausgeträumt. So zeichnet der Regisseur Olivier Assayas in „Die Wilde Zeit“ das Bild einer Jugend, die hin- und hergerissen ist zwischen Politik, Kunst, Sex, Schule und Adoleszenz. Der Film stellt Gilles (Clément Métayer) und seine

FreundInnen vor, die in der Schule die richtige marxistische Einstellung disku-tieren, Flugblätter verteilen und nachts Parolen an das Schulgebäude schmieren. Als bei einer Sprayaktion ein Wachmann verletzt wird und der Verdacht auf Gilles‘ Freundeskreis fällt, tauchen er und seine Freundin Christine (Lola Créton) in Italien unter. Statt Liebe steht jedoch Gilles‘ in-nerer Konflikt zwischen seinem Traum,

Künstler zu werden und dennoch die Revolution nicht aus den Augen zu ver-lieren, im Mittelpunkt. Als Christine und Gilles auf ein maoistisches Filmteam tref-fen, das die Arbeiterklasse und ihre Aus-beutung dokumentieren will, werden die Fragen in Gilles’ Kopf immer lauter. Was ist revolutionäre Kunst? Ab wann wird Kunst nur wieder zum Ausdruck einer bürgerlichen Selbstinitiierung? Zurück in

Paris muss er sich bald entscheiden, wel-cher Weg seinen politischen Ansprüchen gerecht wird.Mit vielen autobiographischen Anekdo-ten schafft Assayas es, die Stimmung ei-ner Zeit in wunderbar ruhiger und den-noch fesselnder Weise darzustellen. Ein sehr sehenswertes Portrait einer revolu-tionären Zeit.

Kerstin Wolter

Großbritannien zur Nachkriegszeit. Die Labour-Partei erringt bei den Parlaments-wahlen 1945 einen Erdrutschsieg. Zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslo-sigkeit werden die Kohleindustrie, die Eisenbahn und das Gesundheitssystem verstaatlicht. Die zentrale Idee ist das gemeinsame Eigentum, denn Produktion und Dienstleistungen sollen dem Wohl al-ler dienen. Den Menschen geht es zuneh-mend besser. Sie profitieren vom sozialen Reformeifer. Doch das ist bald vorbei.

Ab 1979 werden die Errungenschaften der Labour-Partei schrittweise abgebaut. Düster erscheint nun die Zeit der Eisernen Lady, inhaltlich wie technisch, denn Re-gisseur Ken Loach taucht auch die Szenen der 80er Jahre in schwarz-weiß. Düster auch die Bilder der vormaligen Mi-nen- und Hafenarbeiter, die durch That-chers vorangetriebene Privatisierungen und die Zerschlagung der Gewerkschaf-ten ihre Arbeit verloren haben. Loach in-szeniert ein finsteres Zusammenspiel hi-

storischer und zeitgenössischer Momente zu einer Mahnung, die angesichts der eu-ropäischen Spar- und Privatisierungspo-litik brandaktuell ist. Um die öffentliche Versorgung kämpfen wir auch heute: die Wasserversorgung in vielen Kommunen wurde privatisiert, Sozialwohnungen und die Bahn sind teilprivatisiert. Die Doku-mentation wirkt wie eine fesselnde Lehr-stunde, die auf die Gefahren dieser Priva-tisierung hinweist und an uns appelliert, alte Errungenschaften nicht zu vergessen.

Loach gelingt der richtige Mix aus Archi-vmaterial und neu aufgenommenen In-terviews, in denen Zeitzeugen wertvolle Erinnerungen preisgeben. „The Spirit of ‘45“ ist eine angenehm ruhige Doku-mentation, die es schafft, den damaligen gemeinschaftlichen Geist aufwühlend nä-her zu bringen.

Ramona Seeger

Chile 1988. Der durch einen von der CIA forcierten Militärputsch an die Macht ge-kommene Diktator Augusto Pinochet lässt ein Referendum durchführen. Soll Pino-chet Präsident bleiben oder der Weg geeb-net werden für einen demokratischen Neubeginn? 15 Minuten Sendezeit zu spä-ter Nacht gewährt er seinen GegnerInnen, um für ihre Meinung zu werben. “Pino-chet macht ein Referendum, um es zu ver-

lieren?!“, fragt René Saavedra. Er ist eine erfundene Figur im sonst realen Setting. Saavedra ist alleinerziehender Vater, Wer-befachmann und unglücklich. Ein von seiner Liebe verlassener Profiteur des Be-stehenden. Widerwillig übernimmt er die Verantwortung für die Viertelstunde Frei-heit. Seine Methode: Ein verklärtes Chile, die Freude an sich, und der Regenbogen. „Steht das [der Regenbogen] nicht für die

Schwuchtel?“, belustigt sich Pinochet und antwortet auf die unpolitisch wirkende Werbekampagne seiner politischen Geg-ner mit Angst und Repression. ¡NO! ist ein beinahe dokumentarischer Film. Überra-schend und angsteinflößend, erheiternd und spannend, angereichert mit Drama-tik, Witz und Liebe. 30% der Endfassung sind Archivmaterial. Gedreht hat der Regisseur Pablo Larraín

Matte sein Werk im U-matic Format, das zwischen 1968 und 1988 in der Filmin-dustrie Gang und Gebe war. So werden neues Material und reale Aufnahmen un-trennbar. Vielleicht deshalb wurde ¡NO! als erster chilenischer Film überhaupt für den Oscar in der Kategorie „Bester fremd-sprachiger Film“ nominiert. Anschauen? ¡SÍ!

Deniz Avan

Zwischen Kunst und Revolution

Leidenschaftlicher Appell für Gemeinschaftssinn

Gegen die Diktatur der Angst

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12 Gewerkschaft

Bisher gelang es den Gewerkschaf-ten in der BRD nicht, an den Hoch-schulen eine bedeutende Rolle zu

spielen. Dabei ist es gerade heute für Stu-dierende wichtig, dass sie ihre Interessen vertreten und sich organisieren. Seit Jah-ren strömen immer mehr AbiturientInnen an die Unis, während immer weniger Ar-beitskräfte über das duale Ausbildungs-system, bestehend aus Berufsschule und Praxis im Betrieb, ausgebildet werden. Auszubildende lernen etwas über die für sie später zuständigen Interessenver-tretungen. Sie setzten sich zum Beispiel mit Betriebsräten und Gewerkschaften auseinander und erfahren dabei etwas vom Interessensgegensatz von Arbeitneh-merInnen und ArbeitgeberInnen. An Uni-versitäten stehen solche Themen nicht auf dem Lehrplan – was Studierende später bitter zu spüren bekommen. Denn nach der Uni landen immer mehr Hochqualifi-zierte in prekären Beschäftigungsverhält-nissen. Mit Gewerkschaften oder ihren Rechten im Beruf vertraut sind dann die Wenigsten. Damit es nicht soweit kommt, müssen Gewerkschaften früher ansetzen – direkt bei den Studierenden.

In Gewerkschaften gab es lange einen Groll gegen das studentische Milieu. Der Rentner und ehemalige Drucker Udo weiß noch, wie sich Studierende gegenüber Werktätigen verhalten können: „Damals, während der 68er, rebellierten langhaa-rige Studenten gegen den Springer-Verlag und machten unsere Arbeit kaputt, ohne vorher mit uns geredet zu haben.“

„Gammelstudenten“

Das Bild des „Gammelstudenten“ hielt sich bei GewerkschafterInnen hartnäckig. Auf der anderen Seite konnten sich stu-dentische GewerkschafterInnen nicht vor-stellen, ihr akademisches Auftreten für das Gespräch mit GewerkschafterInnen anzupassen. Gründe für Kommunikations-schwierigkeiten zwischen klassischen Ar-beiterInnen und Studierenden gibt es mehrere. Sie liegen zum Beispiel in der Zusammensetzung der Organisation, wie der IG Metall als eher männerdominierte und hierarchische Gewerkschaft, oder den unterschiedlichen Lebenswelten von Studierenden und ArbeiterInnen.

Der DGB und seine Einzelgewerkschaf-ten haben dieses Problem mittlerweile erkannt. „Spätestens seit Ende der 90er wurden Studierende als neue Zielgruppe entdeckt“, meint Kim Ronacher, Jugend-bildungsreferentin des DGB-Bremen. „Ge-werkschaften haben schon lange verstan-den, dass sie künftige ArbeitnehmerInnen dort sensibilisieren müssen, wo der Kon-takt zur Arbeitswelt vorbereitet wird“, meint sie. Wenn das nicht durch Kontakte knüpfen der eigenen Mitglieder mit Stu-dierenden geschehe, müsse man sich Al-ternativen überlegen.

BundesweiteStudigruppen

Hierfür haben der DGB sowie ein Teil der Einzelgewerkschaften sogenannte Hoch-schulinformationsbüros (HIBs) oder Cam-pus Offices eingerichtet. Ebenso organisie-ren sich bundesweit junge GewerkschafterInnen in Studi-Gruppen. Dort, wo Gewerkschaften nicht fest eta-bliert sind, kommen die DGB-Jugend oder einzelne Gewerkschaften für Info-Veran-

staltungen an die Unis. Dann erfahren Stu-dierende zum Beispiel, welche Rechte ih-nen im Praktikum zustehen oder wie viel Gehalt eine studentische Hilfskraft nach Tarif verdient.

Wenn Gewerkschaften auch spät angefan-gen haben, so sind die Ambitionen nun hö-her denn je. Spätestens mit dem Ende 2012 verabschiedeten hochschulpolitischen Programm des DGBs ist die strategische Ausrichtung des Gewerkschaftsbunds an den Hochschulen deutlich. Einerseits rich-tet sich der DGB an sein eigenes Stammkli-entel, indem er die Öffnung der Hochschu-len für Berufstätige fordert, andererseits fordert er die öffentliche Ausfinanzierung von Hochschulen, Geschlechtergerechtig-keit und Mitbestimmung. Um diese Ziele zu erreichen, soll die Organisationsmacht gesteigert werden. Dafür ist es notwendig, dass Studierende und Gewerkschaften noch mehr aufeinander zugehen.Es wird höchste Zeit.

Einfach mal zusammen arbeitenWarum es gerade heute wichtig ist, dass sich Studierende gewerkschaftlich organisieren. Von Ramona Seeger und Paul Naujoks

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14 Interview

Text: Alexander Hummel

Die Linke.SDS – kurz für Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband – ist der einzige bundesweit aktive sozi-alistische Studierendenverband. Der SDS bezieht sich kritisch-solidarisch auf die Partei DIE LINKE, ist aber eine eigenstän-dige Organisation mit vielfältigen Politi-kansätzen.  Bei uns haben sich junge Men-schen mit unterschiedlichen linken Ideen zusammengefunden, um die Gesellschaft und die Hochschulen zu verändern. Wir verstehen uns als Teil eines umfas-senden gesellschaftlichen Bündnisses gegen den neoliberalen und antidemo-kratischen Umbau der Gesellschaft, der mit der Agenda 2010 und dem Bologna-Prozess die Lebens- und Studienwelt immer stärker dem Diktat des Marktes unterwirft. Der SDS kämpft dabei für kon-krete Verbesserungen der Studien- und Lebensbedingungen. Wir setzen uns ein für bezahlbare Mieten und ein Studien-honorar. Wir kämpfen für demokratische

Mitbestimmung an den Hochschulen und ein selbstbestimmtes Studium. Wir wol-len eine Uni für Alle.

Wir verstehen die Hochschule als Teil der Gesellschaft – um die Gesellschaft zu verändern, müssen wir die Uni verändern und umgekehrt. Wir setzen uns daher für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und gegen Rassismus und Diskriminierungen ein.

Lokal verankert…SDS-Gruppen gibt es bundesweit an ca. 40 Hochschulen. In den Hochschulgrup-pen wird ein großer Teil der Arbeit ge-macht. Ob Lesekreise zu sozialistischen Klassikern und aktuellen Problemen, Or-ganisation von politischen Bildungsver-anstaltungen, Arbeit in den Unigremien, Mietendemos oder Anti-Naziproteste: die Bereiche und Aktionen der lokalen Grup-pen sind vielfältig. 

…und bundesweit aktiv.Der SDS ist keine Ansammlung autono-mer Kleingruppen, sondern ein bundes-weit agierender Akteur. Durch unsere handlungsfähige Bundesstruktur können wir aktiv in das politische Geschehen eingreifen. Eine wichtige Rolle spielen wir zum Beispiel bei überregionalen Pro-testen und Aktionen wie Blockupy oder Studis gegen Wohnungsnot. 

Bundesweite Aktivität erschöpft sich bei uns aber nicht darin, ein paar Demos mit-zugestalten. Im SDS existieren mehrere bundesweite Arbeitskreise, in denen wir uns vertieft mit einem bestimmten The-ma auseinandersetzen. Ob zu Antimili-tarismus und Frieden, Hochschulpolitik oder Mieten und Wohnen: In vielen Be-reichen diskutieren und entwickeln wir Alternativen. Und das Produkt eines Ar-beitskreises hältst du gerade in der Hand: die critica.

Aktiv werden!Die Welt verändert sich nicht von allein. Eine bessere Gesellschaft braucht Men-schen, die sich mit Begeisterung dafür engagieren. Wie du deine SDS-Gruppe vor Ort erreichen kannst, erfährst du auf unserer Homepage. Wenn es bei dir kei-ne Gruppe gibt, kannst du sie auch gerne gründen. Wir helfen dir dabei.Support your local SDS!

Willst du mehr über Die Linke.SDS erfahren?Informiere dich auf unserer Homepage: www.linke-sds.orgoder schreib uns eine E-Mail an [email protected]!

critica: Du hast kürzlich in einem Inter-view gesagt, dass es dich nervt, über Sexismus zu reden. Warum?

Sookee: Weil es immer schöner ist, über was Schönes zu reden als über was Doofes. Es ist anstrengend, auf verschie-denen Levels über dasselbe Thema zu sprechen. Daran scheitern viele, die po-litisch aktiv sind, die nicht in der Lage sind je nach Kontext ihre Sprache zu modifizieren. Nicht aus Opportunismus, sondern wegen der Verständlichkeit.

critica: Was sind deine Erlebnisse als Frau in der sehr männlich dominierten Rapszene?

Sookee: Um nur eine blöde Situation zu nennen: ein Bekannter lud mich in sein Studio ein. Wir haben Beats gehört und überlegt, was wir machen könnten. Dann kam sein Kollege rein und fragte: „Häh, was‘n hier los? Was macht denn die Frau hier? Du weißt doch, wenn Frauen im Studio sind, dann knien sie.“ Und ich dachte mir: “Was willst du mir damit sagen? Soll ich dir jetzt einen blasen oder was?“ Er sexualisierte diese Situation auf so eine absurde Art. Das sind diese klassischen Momente: Frauen wird Kompetenz und Fach-lichkeit abgesprochen. Mit Sexualisierung wird Macht ausgeübt und über diese Machtausübung erfolgt Erniedrigung.

critica: Gibt es denn progressive Verän-derungen im Hip-Hop ?

Sookee: Rapmusik macht im deutsch-sprachigen Raum gerade eine gute Ent-wicklung. Ich denke, dass die Dominanz von Gangster- und Battle-Rap ein biss-

chen einbüßen musste. Die großen Hip-Hop-Medien verlinken unser Künstler-kollektiv TickTickBoom (siehe Kasten) plötzlich. Das ist ein gutes Zeichen. Nicht weil wir groß rauskommen wollen, son-dern weil wir wollen, dass sowas wie wir stattfindet. Denn dadurch findet die Aus-einandersetzung mit einer Musik statt, die linke Politik ein stückweit repräsen-tiert und somit eben auch eine Auseinan-dersetzung mit Sexismus.

critica: Feminismus, Politik und Rap spielen für dich schon länger eine Rolle. Du hast sie aber nicht von Beginn an ver-bunden. Warum?

Sookee: Ich habe mich zunächst nicht getraut. Mit 13, 14, 15 Jahren hab ich vorsichtig in Antifa-Zusammenhängen rumhantiert. Da waren Jungs, vor denen ich Schiss hatte. Die wussten viel mehr als ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und fand mich überflüssig. Ich fing

an, mich mehr in Hip-Hop-Kreisen zu be-wegen. Dann bin ich mit 19 an die Uni und habe Gender Studies studiert. Dort war ich plötzlich mit diesem neuen, auf-regenden Denken konfrontiert. Politisie-rungsprozesse, das ist wie eine Sprache lernen, das dauert einfach und passiert nicht von heute auf morgen.

critica: Wie sähe deiner Meinung nach eine feministische und solidarische Ge-sellschaft aus?

Sookee: In dieser Welt würde Kompetenz nicht nur männlichen Personen über-lassen. Die Utopie ist erst dann erfüllt, wenn es keine Markierung und keinen Applaus mehr braucht. Wenn solche Sät-ze wie „Oha, sie weiß aber viel darüber“ aufhören. Die Selbstverständlichkeit ist das Merkmal der Erfüllung. Es gäbe keine Lohnunterschiede mehr und die Verteilung von Renten zöge sich nicht entlang von „wer war mit wem wie lan-ge verheiratet“ oder „wer hat wie viel Geld verdient“. Beim Aspekt von Sexu-alität, Beziehung und Liebe, also da wo vermeintliche Triebe und Emotionen ansetzen, kann man schwer Realpolitik betreiben und eine Lohngesetzgebung verändern. Das einzige, was gesellschaft-lich sanktioniert würde, ist fehlende Ein-vernehmlichkeit und nicht,W wer wie häufig in welcher Weise mit wem pennt. Außerdem würde Feminismus nicht nur als Kampf für Frauenrechte empfunden, sondern erkannt, dass Feminismus ein emanzipatorischer Weg für alle ist. Es geht um eine intersektionale Perspek-tive, die alle Diskriminierungsformen und ihre Verschränkungen in den Blick nimmt.

critica: Dein neuestes Release heißt „Pa-role Brückenbau“. Was meinst du damit?

„Feminismus ist ein emanzipatorischer Weg für alle“Die Berliner Rapperin Sookee ist bekannt für ihre queer-feministische Haltung. Im critica-In-terview spricht sie über sexualisierten Hip-Hop und erzählt uns, wie sie sich eine feministische Welt vorstellt.

Sookee: Mir geht es darum, kommuni-kative Brücken zu bauen, um Inhalte wandern zu lassen. Es geht auch ein stückweit um die Frage, wie wir es schaf-fen können, subkulturelle Themen und Werte einer breiteren Öffentlichkeit vor-zuschlagen, ohne uns vereinnahmen zu lassen und ohne Radikalität einzubüßen. Wenn wir uns gesellschaftliche Verände-rung in unseren kleinen Kreisen basteln, ist das super. Aber damit bleibt die Re-strealität eben die Rest realität und die ist größer als unser Wohnzimmer.

critica: Deine gezeichnete Utopie ent-steht leider nicht von selbst. Was machst du, um sie zu realisieren?

Sookee: Ich bin bei verschiedenen Ak-tionen dabei, klinke mich inhaltlich ein und versuche mit meinen Worten Dinge zusammenzufassen. Im Hier und Jetzt geht es auch darum, sich selbst zu be-obachten und zu gucken, wie ich mich anderen Menschen und mir selbst ge-genüber verhalte. Das ist eine total wich-tige Voraussetzung, wenn man gesell-schaftliche Veränderung herbeiführen will. Ich denke, dass jede Form der Or-ganisierung mit anderen Menschen eine tolle Erfahrung ist. Menschen sollten ihre Lebenszeit nutzen um mit anderen Leuten gemeinsam Dinge zu bewegen. Organisierung ist auf jeden Fall das We-sentliche. Ich mache Dinge, von denen ich denke, dass ich sie gut kann.

Das Interview führte Kerstin Wolter

TickTickBoom ist ein Zusammenschluss aus SängerInnen, DJanes, Beatproduzen-tInnen, VeranstalterInnen, GrafikerInnen und RapperInnen, die linken Hip-Hop ma-chen und feiern. Sie lieben Rap, sie lieben Graffiti, sie lieben Beats und sie lieben die Bühne. Aber sie haben keinen Bock auf das mackerige Gepose eines großen Teils der Hip Hop-Szene, die homophobe und sexistische Sprache und das reaktionäre Menschenbild.

Sookee lebt seit 27 von möglichen 29 Jahren in Berlin, hat Hip-Hop zunächst über Graffiti kennengelernt, aber durch Sprache erzeugte Bilder im Kopf liegen ihr mehr als solche an Wänden. Heute hält sie Vorträge zu (Hetero-)Sexismus im Hip-Hop, aber beschäftigt sich auch mit den subversiven und progressiven Po-tentialen von Subkulturen. Ihre Musik beinhaltet sowohl Kritik an hierarchischen und normativen Strukturen als auch Empo-werment von widerständigen Identitäten, sodass ihre Inhalte zwar nicht leicht verdaulich, aber nie dogmatisch sind.

Gegen die Demokratie gerüstetIn den Politikwissenschaften ist die These von der Post-Demokratie ein alter Hut. Sie beschreibt einen Zustand, in dem die Institutionen der Demokratie formal weiter-bestehen, die WählerInnen jedoch von den Eliten aus Politik und Wirtschaft mit PR-Methoden gelenkt wer-den. In der Öffentlichkeit werden schließlich nur noch Scheindebatten geführt, während die wahren Entschei-dungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Eine solche Lenkung der Öffentlichkeit will jedoch gelernt sein. Hier hilft die Unternehmensberatung DemocRea-dy. Auf ungewohnt unverhohlene Art wirbt sie damit, dass sie Unternehmen dabei hilft „demokratische Pro-zesse mitzugestalten.“ Kernstück ihrer Homepage ist ein zweieinhalb-minütiges Werbevitdeo, in dem ein Un-ternehmenssprecher befürchtet, dass durch „demokra-tische Prozesse (...) alles komplexer“ werde und erklärt, dass sein Unternehmen für die KundInnen „Demonstra-tionen, Bürgerinitativen und Dialogforen“ organisiere. Die Homepage ist wohl unfreiwillig ein Lehrstück über die Manipulation öffentlicher Meinung durch Privatun-ternehmen. Um das Bild des Unternehmens zu vervoll-ständigen, empfehlen wir, probeweise das sogenannte „Anti-Protest-Package“ zu bestellen.

www.democready.com

Sexistisch und sooo hip!Feminismus und Popkultur? Passt nicht zusammen, ein Widerspruch, hat einfach nichts miteinander zu tun? Anita Sarkeesian beweist mit ihrem englischsprachigen Videoblog das Gegenteil. Der Blog, der mittlerweile auch mit deutschen Untertiteln frei online verfügbar ist, zeigt, wie tief sexistische Geschlechterstereotype im popkul-turellen Alltag verankert sind. Sarkeesian kombiniert Erläuterungen und Statistiken mit Ausschnitten aus Hollywood-Blockbustern, TV-Serien, Musikvideos und Videospielen, um uns die verzerrten und klischeebe-stimmten Darstellungen und Unterpräsentationen von Frauen unmittelbar vor Augen zu führen.Die kritische Auseinandersetzung mit Popkultur fristet trotz deren Allgegenwart ein Schattendasein. Dies wird ihrer kulturellen Bedeutung und ihres gesellschaftlichen Einflusses nicht gerecht. Die Vorbilder, Träume, Sehn-süchte und Hoffnungen von einem Großteil der Bevöl-kerung werden von Popkultur geformt. Hat man und frau erst einmal die Welt der Popkultur von Sarkeesian erklärt bekommen, erscheint sie plötzlich verändert. Sarkeesian öffnet die Augen für die Klischees, die die uns umgebende fiktive Realität prägen und zeigt, wie sie unser Denken beeinflussen. Ihr Videoblog ist damit im besten Sinne aufklärend.

www.feministfrequency.com

Watch your Hochschule!An deutschen Hochschulen fehlen Milliarden. Immer häufiger suchen WissenschaftlerInnen und Hochschul-leitungen deshalb nach alternativen Finanzierungsquel-len, sogenannten Drittmitteln. Häufig stammen diese von Unternehmen. Beim Einwerben dieser Drittmittel gerät jedoch die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Gefahr. Denn mit Forschungsprojekten, die Konzerne einfach ökonomisch verwerten können, lassen sich Drittmittel leichter an Land ziehen als mit unprofitabler Grundlagenforschung. Die Versuchung für Wissen-schaftlerInnen sich anzupassen, um zukünftig an mehr Forschungsgelder zu kommen, ist groß. Hochschul-watch.de möchte Transparenz über die Drittmittelfinan-zierungen an Hochschulen schaffen. Auf der als wiki aufgebauten Homepage lassen sich die Verbindungen zwischen der eigenen Hochschule und Unternehmen untersuchen. Selbst aktiv werden ist einfach und er-wünscht. Wer etwas weiß, kann die Einträge auf der Website der eigenen Hochschule selbst editieren. Eine Kooperation mit der taz stellt zudem sicher, dass die In-formationen geprüft werden und bei großer Brisanz eine breitere Öffentlichkeit erreichen.

www.hochschulwatch.de

It‘s not easy being green...

Koch, Jung, Guttenberg,

Wulff, Röttgen, FDP,

Grüne, SPD...

Endlich hab ich eine Anschlussverwendung gefunden!

Und dafür hab ich die

letzten 10 Vortragshonorare

sausen lassen?!

Ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres FDP-Ergebnis

Als ob ihr so große

Leuchten wärt...

Kim Jong Il

looking at Bundestag

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