Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das...

8
Betrifft KINDER 11-12|2017 Hauptsache 1 verlag das netz KINDER www.betrifftkinder.de ISSN 1613-737X Heft 03-04|18 Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und GrundschullehrerInnen heute Betrifft Hauptsache Der Stein des Anstoßes Demokratisches und Politisches in Kitas Pro&Contra »Das ist falsch!« genügt nicht Die »Reckahner Reflexionen« geben Orientierung Wissen Geschwisterkulturen Betrifft KINDER extra Mit dem Herzen beim anderen Empathie im Bilderbuch

Transcript of Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das...

Page 1: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

Betrifft KINDER 11-12|2017

Hauptsache 1

verlag das netz

KINDERwww.betrifftkinder.de ISSN 1613-737X Heft 03-04|18

Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und GrundschullehrerInnen heute

Betrifft

Hauptsache

Der Stein des Anstoßes Demokratisches und Politisches in Kitas

Pro&Contra

»Das ist falsch!« genügt nicht Die »Reckahner Reflexionen«geben Orientierung

Wissen

Geschwisterkulturen

Betrifft KINDER extra

Mit dem Herzen beim anderen Empathie im Bilderbuch

Page 2: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

Alle Kinder sind aktive Mitglieder unserer Gesellschaft. Inwelcher Intensität das wirklich zutrifft, ist sehr unterschiedlichund interessengebunden. So haben Konsum- und Medien-landschaften klar strukturierte Orte (Mode, Spielsachen,Internet u.ä.) eingerichtet, die Kinder gezielt ansprechen.Wie sieht es in der demokratischen, gemeinschaftlichen undpolitischen Landschaft aus? Im Papier der Sondierungsge-spräche1 der Großen Koalition war mit exakt einem Satz fest-geschrieben, dass die Kinderrechte im Grundgesetz verankertwerden sollen. Das ist ein politisches Signal, doch für denTransfer in die Praxis vor Ort in den Kitas braucht es mehr.Axel Möller hat darüber nachgedacht.

Partizipation und Teilhabechancen für alle Kinder werdenschon seit Jahren in vielen Kindertageseinrichtungen konzep-tionell diskutiert, erprobt und gelebt. Dabei wird die Sichtauf die Möglichkeiten der Beteiligung von allen Kindern zumBeispiel auf das Krippenalter erweitert. Auch für die Auto-rInnen Tanja Betz, Wolfgang Gaiser und Liane Pluto ist Par-tizipation ein Dauerthema, was sich nicht zuletzt in ihrerPublikation Partizipation von Kindern und Jugendlichen von2010 zeigt. In ihrer Auseinandersetzung mit Inklusion, derReflexionen pädagogischer Haltungen, ihren Ausführungenzu den Herausforderungen bei der Aufnahme von Kindernmit Fluchterfahrungen und der Auseinandersetzung mit Kin-derrechten und ihre Wirksamkeit in der alltäglichen pädago-gischen Praxis wird das immer wieder deutlich. Dabei weistdas Autorenteam darauf hin, dass die Vielzahl der Arbeits-felder von Partizipation und ihren Überschneidungen in Po-litik und pädagogischer Praxis den eigentlichen Ansatz eherunscharf machen (ebenda, S. 21). Eine weitere große Her-ausforderung ist die Motivation zur Partizipation, meist durchWillensbekundungen der Teams gekennzeichnet. Größtenteilsjedoch sind »realisierte partizipative Prozesse« strukturellnoch nicht vorhanden (ebenda, S. 21), um sie breit durchzu-setzen. Andererseits können die Teams in den Kitas bundes-weit auf eine Vielzahl unterschiedlicher Unterstützungsforma-te zugreifen.

Annedore Prengel hat in Bildungsteilhabe und Partizipationin der Kindertageseinrichtungen2 politik- und demokratiebe-zogene Modelle, Studien und Erfahrungen der Partizipationim Elementarbereich systematisch dargestellt. So findet man

z.B. unter den demokratiebezogenen Modellen das Kitanetz-werk – Demokratie von Anfang an3 (ebenda, S. 39 f.) undunter den politikbezogenen Modellen die Kinderstuben fürDemokratie4 (ebenda, S. 36 f.). Jene werden auch explizit imHandbuch politischer Bildung (Neuß 2014) erwähnt, in demdie strukturelle Verankerung der Partizipation von Kindern inden Kitas thematisiert wird. Neben den angeführten Partizi-pationsansätzen (ebenda, S. 179–181) ist der Anti-Bias-Ansatznach Louise Dermand-Sparks5 (ebenda, S. 182–184) exempla-risch hervorzuheben. Im Handbuch der Kinderwelten (Der-mand-Sparks, 2008) werden hierzu vier Ziele pädagogischerArbeit identifiziert: • Kinder sind selbstbewusst und trauen sich etwas zu, sie

sind sich ihrer Familien und ihrer Identität bewusst; • Kinder lernen, achtsame Beziehungen zu anderen Men-

schen aufzubauen und akzeptieren Unterschiede zwischenden Menschen;

• Kinder erkennen unfaire Äußerungen und Handlungen undeignen sich dafür Kompetenzen an und

• Kinder können sich allein oder mit anderen gezielt gegenVorurteile zur Wehr setzen (ebenda, S. 241).

»Die vier Ziele beziehen sich auf die vielen Bereiche vonsozialer Identität und sozialer Ungleichheit, deren Zusam-menspiel sich je nach politischen und gesellschaftlichenGegebenheiten verändert und immer wieder zur neuen Be-trachtung auffordert.« (ebenda, S. 241)

Jedoch wirkt der Demokratiebegriff in der Kitapraxis nochetwas unbeholfen, steht dieser doch im Spannungsfeld zwi-schen einerseits der formal-repräsentativen Auffassung alsRegierungssystem (Sturzbecher, Walz 2003) und anderer-seits als »Konzept demokratischer Selbstentfaltung« (ebenda,S. 14). Diese Selbstentfaltung spiegelt sich in der sozialenPartizipation oder, wie es John Dewey6 ausdrückte, als »Le-bensform« wieder. Auch Lilo Dorschky weist in Bildungsziel:Demokratiekompetenz (DKJS 2009) darauf hin, dass sichalltagsdemokratische Handlungsansätze von Aushandlungs-prozessen der Makropolitik unterscheiden müssen (ebenda,Abschnitt 12). Partizipative Alltagsprozesse basieren aufdemokratischen Grundkompetenzen wie Empathie, Rollen-distanz, Fähigkeiten zum sozialen Handeln und Ambiguitäts-toleranz. Diese sollen Lernprozesse von Kinder befördernund sie gleichzeitig zu konstruktiven Akteuren machen

Betrifft KINDER 03-04|2018

Hauptsache6

Der Stein des AnstoßesDemokratisches und Politisches in Kitas

Page 3: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

(ebenda, Abschnitt 12). Mit Blick auf die aktuellen gesell-schaftlichen und politischen Entwicklungen kann man heutefragen: Wie können soziale und politische Partizipation inder pädagogischen Praxis verzahnt werden? Welche Rollespielen hierbei die Kinderrechte? Welche Kompetenzen brau-chen also pädagogische Fachkräfte?

In drei Szenarien praktisch gedacht

Um die Rolle der pädagogischen Fachkräfte vorerst anzu-schauen, soll folgende szenische Skizze behilflich sein:

Eine Gruppe von Kindern steht am Ufer eines Sees undschaut auf das stille Wasser. Dabei erkennen die Kinder ihrSpiegelbild. Die pädagogische Fachkraft hört den Kindernzu und geht auf ihre Fragen ein. Plötzlich fällt ein Stein indas Wasser. Es bilden sich Ringe auf der Wasseroberflächeund die Spiegelbilder der Kinder werden undeutlich.

Hier frieren wir das Szenario ein, wie wir es aus Filmen ken-nen, um genauer hinzuschauen. Drei mögliche Konsequenzenkönnen die pädagogische Fachkraft in diesem Gedanken-spiel beschäftigen und sie weiß, dass sie binnen Sekundenreagieren muss:

Szenario Eins

Die verärgerten Kinder haben schnell das Kind gefunden,das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder,die die Kinder betrachtet haben, zerstört hat. Einige Kinderbilden eine Gruppe und verurteilen sofort die Tat des Kindesin ihrer Mitte.

Wie auch in den beiden folgenden Szenarien orientiert sichdie pädagogischen Fachkräfte in ihrer Haltung an Schlüssel-wörtern, mit denen sie die Situation für ihr pädagogischesHandeln schnell umreißen: Das Kind soll nicht ausgegrenztwerden, bleibt aktiver Teil der Gruppe; die pädagogischeFachkraft will nachhaltig Sorge tragen, dass sich alle Kinderin der Gruppe wohlfühlen; die Kinder lernen vorurteilsbe-wusst zu handeln. Es gilt das Motto: Wir reden miteinanderund akzeptieren die Meinung der anderen!

Szenario Zwei

Auf dem Wasser bilden sich kleine Wellen, die sich ausbrei-ten und immer größer werden. Die Kinder beobachten dasNaturschauspiel des wandernden Wassers.

Betrifft KINDER 03-04|2018

Hauptsache 7

Page 4: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

Die Wellen erinnern an das ökosystemische Modell von UrieBronfenbrenner7: Die sich erweiternden Kinderräume8 sindTeil unserer demokratischen Gesellschaft. Familien und Freun-de, Kitas und Spielplätze, die Bildungslandschaften wirkenvielfältig auf die Kinder. Alle Kinder kommen aus verschiede-nen Familien in unterschiedlichen Milieus, gehen in dieselbeKita und danach besuchen sie unterschiedliche Schulen, umspäter einen Beruf zu erlernen oder ein Studium zu begin-nen. Der Wurf des Kindes kann nun verstanden werden alsStein des Anstoßes, mit dem ein konstruktives Gesprächüber die Vergrößerung des Lebens und die gemeinsame Zu-kunft – aller Kinder und jedes einzelnen Kindes – begonnenwerden kann.

Szenario Drei

Die Spiegelbilder der Kinder verzerren sich und die Kinderstellen belustigt fest, dass sie anders aussehen, obwohl siedie gleichen geblieben sind.

Hier ploppen Herausforderungen mit dem Anders- und Fremd-sein auf. Was bedeutet das: die Anderen, die Fremden? Wer

ist anders und wer ist wo fremd? Wie ist das, wenn ich michselbst fremd fühle? Woher kommen die Anderen und dieFremden? Was haben sie erlebt? So kann eine Auseinander-setzung zum Beispiel mit Flucht und geflüchteten Kindernbeginnen, die die Kinder sicher oft im Fernsehen und denDiskussionen der Eltern miterlebt haben. Wird es nun poli-tisch?

Mehr als eine Perspektive

Die in dem Gedankenspiel angedeutete Mehrperspektivitätzeigt, dass es hier nicht um ein eindeutiges Richtig oderFalsch geht. Vielmehr wird von pädagogischen Fachkräfteneine persönliche Haltung zu komplexen gesellschaftlichenVorgängen und politischen Veränderungen gefordert (siehe:Anti-Bias-Ansatz). Das Wissen und die Reflexion von sozialerund politischer Partizipation sowie der bewusste Umgangdamit können offensichtlich nicht losgelöst voneinanderbetrachtet werden.

Thomas Jaun weist schon 2001 in seinem Buch »Angst vorKindern« auf Spannungsfelder zwischen den KoordinatenMenschenbild, pädagogische, entwicklungspsychologische

Betrifft KINDER 03-04|2018

Hauptsache8

Page 5: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

und politische Haltung hin, die bei der Partizipation von Kin-dern entstehen und sich in ihren Wirkungen überschneiden(ebenda, S. 56). Und nicht nur das: In seiner Präzisierungdes Verhältnisses von Pädagogik und Partizipation erkenntJaun die »pädagogische Falle« (ebenda, S. 70): »Die Päda-gogik geht von einem hierarchischen Verhältnis der Agieren-den aus, die Partizipation von einem gleichberechtigten. Par-tizipation setzt für alle die gleiche Freiheit voraus, währenddie Pädagogik Freiheit in dem Rahmen gewährt, der von denErziehenden abgesteckt wurde. Steht hinter der Partizipationvon Kindern pädagogisches Denken, dann ist sie ein Instru-ment, das im Dienste bestimmter Ziele steht. Sie wird ein-gesetzt zur Förderung von sozialem oder demokratischemLernen. Partizipieren Kinder aus einem weitestgehend poli-tischen Denken heraus, dann steht der Ausgleich von ver-schiedenen Interessen im Zentrum.« (Ebenda, S. 71)

Die Mehrperspektivität und ihre differenzierten Herausfor-derungen zeigen sich nicht nur in der Beziehung der Kinderzu den Erziehenden. Interessant wird es, wenn man die Er-ziehenden unterscheidet in pädagogische Fachkräfte, Elternund Familienangehörige und weitere Erwachsene, die imUmfeld der Kinder leben. Differenziert man die angeführtenZielgruppen zum Beispiel nach ihrem Verständnis vom Men-schen und ihrer politischen Meinung, dann wird es komplex:Wie geht man mit mehreren Perspektiven um? Wie mit derVielschichtigkeit gesellschaftlicher und politischer Zusam-menhänge, die sich in Kitas oft zeigen?

Politische Kinder?

Ein erster Zugang ist, das veränderte Bild vom Kind impolitischen Kontext zu betrachten. Oder, wie Thomas Jaunmeinte, »Kinder als politische Wesen« (ebenda, S. 80)wahrzunehmen: »… im engeren Sinn, weil sie allein durchihre Existenz ein Objekt der Politik sind (ob genügend be-achtet oder nicht) ... [und] auch im weitesten Sinne, weilsie über ihr Handeln und über ihre eigenen Angelegenhei-ten selbst entscheiden wollen«. (Ebenda, S. 81)

Mit Blick auf die Rechte der Kinder, auf Meinungsäußerungoder Beteiligung, die Verantwortlichkeiten, methodischenund finanziellen Mittel, kann nach Jaun in drei Bereiche derKinderpolitik unterschieden werden:• Politik für Kinder: Erwachsene planen und führen politi-

sche Maßnahmen oder Projekte ohne die aktive Beteili-gung der Kinder durch.

• Politik mit Kindern: Kinder werden in die Planung undDurchführung von politischen Maßnahmen und Projekteneinbezogen und nehmen sich als wirksam aktiv wahr.

• Politik von Kindern: Politische Interessen von Kindernwerden aufgegriffen und unter ihrer aktiven Mitwirkunggestaltet. (Nach Jaun, S. 81)

Hier offenbart sich das Dilemma pädagogischer Fachkräfte inden Kitas, denn je weiter weg die politischen Entscheidungs-träger sind, oder – um es hierarchisch zu betrachten – je hö-her die politische Ebene ist, desto mehr wird Politik für Kin-der gemacht. Und offensichtlich ist auch, dass man älterenKindern und Jugendlichen bessere Kompetenzen in der Wahr-nehmung und Umsetzung von institutionalisierter Partizipa-tion einräumt, sie eher im Bereich Politik mit Kindern siehtals die jüngeren Kinder. Letztlich aber sind alle Kinder defini-tiv von der »höheren Politik« betroffen. Nach Lothar Böhnischgibt es keine klare Trennung der Erwachsenenwelt von derKinderwelt (Böhnisch 1992): »… die (damit verbundene) Tren-nung zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt ist lebensprak-tisch immer wieder durchbrochen, Kinder sind – zum Beispielüber die Medien – mit der Erwachsenenwelt konfrontiert, wäh-rend sie gleichzeitig von dieser Erwachsenenwelt im Schon-raum Kindheit (z.B. Kindergarten) abgesondert werden. Sol-che und ähnliche Alltagsdiskrepanzen haben Kinder immerwieder auszubalancieren, zu bewältigen.« (Ebenda, S. 120)

Inwieweit man Kindern kommunikative Argumentationenermöglicht und diese an die höheren Ebenen der Politik undan andere Erwachsene weiterleitet, eine strukturelle Beteili-gung und Mitgestaltung der Kinder öffentlich macht – dasheißt, ihnen auf demokratischer und politischer Ebene so-zusagen Bewältigungsstrategien anbietet, hängt von denKompetenzen demokratischen und politischen Handelns derpädagogischen Fachkräfte und deren Transferleistungen imInteresse aller Kinder ab. Was bedeutet diese Erkenntnispraktisch für die Kita als Organisation und für die pädagogi-schen Fachkräfte? Welches aktuelle Bild von der Kita spielthier gerade welche Rolle in welchem politischen Kontext?

Kompetenzen politischen Handelns in Kitas

Zum einen diskutieren pädagogische Fachkräfte in Fort- undWeiterbildungen wie auch in der alltäglichen Praxis immerwieder über ihre pädagogischen Kompetenzen und reflektie-ren die Ergebnisse aus Konfliktsituationen ihrer Einrichtun-gen. Im erweiterten Sinne wird hier meistens in Selbst-, Sach-und Sozialkompetenz unterteilt (Weißeno 2014). Zum ande-ren nimmt eine differenzierte Politisierung zu, die mit demwachsenden gesellschaftlichen Veränderungsdruck einher-geht. Die Auseinandersetzung zum Beispiel mit rechtsextre-mistischen, zunehmend populistischen oder diskriminieren-den Ansichten im Umfeld von Kitas gehört für viele Erziehe-rinnen und Erzieher zum Alltag.9 In Kitas müssen eigene undpädagogische Handlungskompetenzen in Bezug zum Politi-schen gesetzt werden. So kann in den Einrichtungen mit derWirkung von »politischer Öffentlichkeit« umgegangen undHandlungsmodelle des Teams für alle Kinder und für dieZusammenarbeit mit ihren Familien entwickelt werden.

Betrifft KINDER 03-04|2018

Hauptsache 9

Page 6: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

Fündig wird man mit dem Blick über den institutionellenGartenzaun. Georg Weißeno fügt zum Beispiel das Kompe-tenzdreieck aus Selbst-, Sach- und Sozialkonzept in seinkognitionspsychologisches Modell der Politikkompetenz(ebenda, S. 168) und somit in die Diskussion um politischesHandeln in der Schule ein. Dabei baut er auf vier Kompe-tenzdimensionen: Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit,politische Handlungsfähigkeit, und Einstellung und Motiva-tion (ebenda, S. 170): »Die Dimension Wissen ist eine grund-legende Kompetenzdimension … Die Rationalität des poli-tischen Urteilens wird beeinflusst von Bedürfnissen undInteressen, von Gefühlen und Assoziationen, von Erwartun-gen und Erfahrungen … Das politische Urteil bereitet daspolitische Handeln vor.« (Ebenda, S. 170–171)

Konsequenterweise muss überprüft werden, ob und wiedie genannten Kompetenzdimensionen in die frühkindlicheBildung transferiert werden können. Offensichtlich ist jedoch,dass eine politische Bildung für pädagogische Fachkräfte inKitas erforderlich ist. Ob es reicht, das notwendige Fach-wissen zum Beispiel – in Anlehnung an Jaun – von Pädago-gik, Entwicklungspsychologie, dem Wissen vom Menschen-bild und der Partizipation von Kindern in Kitas zu tragen,ist zu hinterfragen. Ein anderer Weg für Teams ist, wenn siemit politischen Herausforderungen konfrontiert sind, dass

sie qualifizierte Akteure der politischen Bildung in ihrer Um-gebung ansprechen. Mit deren Expertisen entwickeln sie ausden Konflikten heraus ihre politische Urteils- und Hand-lungsfähigkeit in der Kita.10

Alles Leben ist Problemlösen

Ein Denken im Sinne einer gestaltbaren Lebensumwelt, dasalltäglich demokratisch ist und somit an Problemen, Pro-zessen und Beteiligung orientiert, braucht jeden Tag Ent-scheidungen. Verbindet man pädagogisches Handeln mitAnsätzen und Methoden der Partizipation, Teilhabe, Inklu-sion, der Wertevermittlung und Sprach- und anderer Förde-rung im pädagogischen Alltag, fragen sich pädagogischeFachkräfte und Eltern manchmal: Wo bleiben in dieser Kom-plexität erwachsener Maßnahmen die Kinder? Bei dieserFrage soll kritisch und zum Reflektieren auffordernd nocheinmal an die »Pädagogische Falle« erinnert werden.

Interessanterweise verbindet Thomas Jaun für diese Frage-stellung das Demokratische mit dem Politischen, indem erPartizipation als Motor für Kinderpolitik (Jaun 2001, S. 184)sieht und fünf Thesen zur Kinderpolitik (ebenda, S. 186–193)formuliert:

Betrifft KINDER 03-04|2018

Hauptsache10

Page 7: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

• These 1: Es bedarf einer gesamtheitlichen und querschnitts-orientierten, auf das Kind fokussierten Politik – Kinderhaben ihre Rechte und die Politik ist für ihre Anliegensensibilisiert.

• These 2: Im Zentrum steht die Auseinandersetzung – DieHaltung in der Begegnung der Erwachsenen mit Kindernführt zu Maßnahmen entlang der Realität der Kinder.

• These 3: Partizipation von Kindern ohne Kinderpolitik istundenkbar – und umgekehrt – Beteiligungsprojekte fürKinder müssen, um den Einfluss von Kindern geltend zumachen, im weitesten Sinne politisch eingebunden sein.

• These 4: Eine Politik, die zu mehr Kinderfreundlichkeitführen soll, kann nicht kostenneutral sein – Nur eine be-darfsgerechte und angemessene Rahmengesetzgebunggarantiert Kinderfreundlichkeit.

• These 5: Kinderpolitik raubt den Kindern nicht die Kind-heit, sondern schenkt ihnen bessere Voraussetzungen fürihr Aufwachsen – Idealisierte Kindheitsbilder vermehrendie Angst davor, Kinder mit Politik zu verbinden.

Denken wir hier einmal weiter: Mit dem Grundverständnisder Kita als lernende Organisation und mit forschendem Blickdes Teams sind die fünf Thesen von Jaun Indikatoren füreine konzeptionelle Weiterentwicklung. Die Kitas identifizie-ren und kennzeichnen sichtbare Schnitt- und Leerstellen dersozialen und politischen Partizipation auf den Ebenen derKinder, Eltern, Teams und Lebensumwelt. Perspektivwechselwerden zum Beispiel vorgenommen: Die Kitas hinterfragenexistierende Partizipationsideen aus Sicht der Kinder. DieVerortung im Sozialraum und das bestehende Netzwerk zuKooperationspartnern werden überprüft und angepasst. Grobskizziert, entsteht ein erstes Verständnis im Dreieck pädago-gischer, demokratischer und politischer Haltungen und – imerweiterten Sinne – ihrer erforderlichen Kompetenzen (die wirschon mal im Blick hatten). Das Team aktiviert Erfahrungenund Ressourcen bei der Gestaltung von Entwicklungsprozes-sen und baut schrittweise mit lokaler/regionaler Unterstüt-zung11 eine Kita-eigene Struktur demokratischen und politi-schen Handelns auf. Praktisch sind pädagogische Fachkräf-te und Kinder gemeinsam »die Lernenden, die [Anm. d. A.]durch gemeinwohlorientierte Lernziele zu lebenslangem poli-tischen Interesse und Engagement angeregt werden« (Brun-hold 2012). Kitas begleiten alle Kinder in Lernprozessen zumvorurteilsbewussten und demokratischen Denken und Han-

Betrifft KINDER 03-04|2018

Hauptsache 11

Page 8: Das Praxisjournal für ErzieherInnen, Eltern und ... KINDER_Stein des... · das den Stein in das Wasser geworfen und die Spiegelbilder, die die Kinder betrachtet haben, zerstört

deln auf dem Weg, perspektivisch mündige Bürger zu wer-den. Die dafür erforderlichen Entscheidungsprozesse könnenfür Kinder schon in der Kita beginnen.

Übrigens …

Zurück zum eingefrorenen Szenario. Sie erinnern sich? DieSzene geht weiter:

Alles bewegt sich wieder. Die Naturgeräusche, die Stimmender Kinder, ihre Gedanken und Fragen sind zu hören. Es wirdimmer lauter, bewegter. Auf dem Wasser breiten sich die Wel-lenringe weiter aus und werden immer größer.

Wie agieren die Kinder? Und wie entscheiden Sie?

Literatur

Betz, Tanja/Gaiser, Wolfgang/Pluto, Liane (2010): Partizipa-tion von Kindern und Jugendlichen – Diskussionsstränge,Argumentationslinien, Perspektiven. In: Betz, Tanja/Gaiser,Wolfgang/Pluto, Liane (Hrsg.): Partizipation von Kindernund Jugendlichen, Forschungsergebnisse, Bewertungen,Handlungsmöglichkeiten. Bundeszentrale für politischeBildung

Böhnisch, Lothar (1992): Sozialpädagogik des Kindes- undJugendalters – Eine Einführung. Juventa

Brunold, Andreas (2012): Entscheiden als Dimension derpolitischen Handlungskompetenz. In: Weißeno, Georg/Buchstein, Hubertus: Politisches Handeln – Modelle, Mög-lichkeiten, Kompetenzen. Bundeszentrale für politischeBildung

Dermand-Sparks, Louise (2008): Anti-Bias Pädagogik: Aktuel-le Entwicklungen und Erkenntnisse aus den USA. In: Wag-ner, Petra (Hrsg.) Handbuch Kinderwelten – Vielfalt alsChance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildungund Erziehung. Herder

Dorschky, Lilo (2009): Bildungsziel: Demokratiekompetenz.In: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (Hrsg.): Metho-densammlung – Lernorte der Demokratie im Vor- undGrundschulbereich. Download unter: https://www.dkjs.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/themen/Fruehe_Bildung/Methodenmappe_Demokratie_Anfang_Auflage_4.pdf, zu-letzt gesehen am 13.02.2018

Jaun, Thomas (2001): Angst vor Kindern? – Die Notwendig-keit der Kinderpartizipation und Wege dazu. Verlag fürSoziales und Kulturelles

Prengel, Annedore (2016): Bildungsteilhabe und Partizipationin Kindertageseinrichtungen. Eine Expertise der Weiterbil-dungsinitiative für frühpädagogische Fachkräfte. DJI

Neuß, Norbert (2014): Vorschulische Einrichtungen. In: San-der, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Wo-chenschau-Verlag

Sturzbecher, Dietmar/Walz, Christine (2003): Kooperationund soziale Partizipation als Bedürfnis und Entwicklungs-aufgabe von Kindern. In: Sturzbecher Dietmar/Großmann,Heidrun (Hrsg.): Soziale Partizipation im Vorschul- undGrundschulalter. Ernst Reinhardt

Weißeno, Georg (2012), Dimensionen der Politikkompetenz.In: Weißeno, Georg/Buchstein, Hubertus: Politisches Han-deln – Modelle, Möglichkeiten, Kompetenzen. Bundeszen-trale für politische Bildung

1 Siehe https://www.tagesschau.de/inland/ergebnis-sondierungen-101.pdfS. 10, gelesen am 06.02.2018 … »II. Kinder stärken – Kinderrechte insGrundgesetz – Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklichverankern.«

2 Siehe: https://www.weiterbildungsinitiative.de/uploads/media/WiFF_Exp_47_Prengel_web.pdf, gesehen am 13.02.2018

3 Siehe auch: https://www.dkjs.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/themen/Fruehe_Bildung/Demokratie_von__Anfang_an-Arbeitsmaterialien_fuer_die_Kitapraxis.pdf, gesehen am 13.02.2018

4 Siehe auch: https://www.kinder-beteiligen.de/dnld/kinderstubederdemo-kratie.pdf, gesehen am 13.02.2018

5 Siehe auch: https://situationsansatz.de/Downloads_kiwe.html, gesehenam 13.02.2018

6 John Dewey, amerikanischer Pädagoge und Philosoph (1859–1952), haupt-sächlich bekannt durch sein Werk »Demokratie und Erziehung«, Beltz

7 Für Urie Bronfenbrenner ist die Entwicklung des Menschen in eine »dy-namische Einheit« eingebunden und beruht auf Wechselwirkung von In-dividuum und Umwelt. Die von ihm als Mikro-, Meso-, Exso-, Makro-und Chronosysteme werden in seinem Modell als Kreise dargestellt.Siehe auch als erste Annäherung: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96kosystemischer_Ansatz_nach_Bronfenbrenner

8 Lothar Böhnisch spricht von Kinderräumen, die nicht abgeschottet sindund die Qualität einer Kinderöffentlichkeit haben, welche das raumbe-tonte und forschende Lernverhalten von Kindern unterstützt.

9 Siehe: http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/223901/umgang-mit-kindern-von-neonazis, http://frauennetz-pankow.de/ wp-con-tent/uploads/2015/01/Brosch%C3%BCre-Rechtsextremismus-in-Kitas.pdf,https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/lola-handreichung-internet.pdf

10 Siehe zum Beispiel: https://www.aktion-zivilcourage.de/News_Couragier-te_Kinder_-_in_Kita_und_Grundschule.427d10860/

11 In vielen Städten und Landkreisen gibt es Kinderbevollmächtigte und/oder Kinderbüros, die Anfragen nach Unterstützung an Experten weiter-vermitteln können

Betrifft KINDER 03-04|2018

Hauptsache12

Axel Möller ist Koordinator und wissenschaftlicher Mitar-beiter im ESF-Programm »Kinder Stärken« Kompetenz-und Beratungsstelle www.kinder-staerken-sachsen.de inder Regionalstelle Dresden am Zentrum für Forschung,Weiterbildung und Beratung an der ehs Dresden gGmbH.

Kontakt [email protected]