Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst

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Heiner Keupp Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Vortrag bei der Tagung „not just sad!“ in der Evangelischen Akademie Tutzing am 22. Januar 2016

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Heiner Keupp

Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst

Vortrag bei der Tagung „not just sad!“ in der Evangelischen Akademie Tutzing am 22. Januar 2016

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Summary

Der globalisierte Kapitalismus hat zu einer spürbaren Beschleuni-gung und Verdichtung der Abläufe in den beruflichen und pri-vaten Lebenswelten geführt. Die deutlichen Belege für eine Zu-nahme von Burnout und Depressionen lassen sich als Hinweise auf diese Entwicklung verstehen. Sie führen bei zunehmend mehr Menschen zu dem Gefühl der Erschöpfung.

Wir haben „gesellschaftsdiagnostische“ Möglichkeiten, um Aussagen über die Zunahme von Erschöpfungszuständen zu treffen.

Die Antworten auf diese Probleme dürfen nicht in individualisieren-den Strategien gesucht werden, sondern erfordern kollektive Aktionen.

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These 1

Nach einer Phase disziplinärer Alleinvertretungsan-sprüche, wenn es um die Erklärung von psychischen Störungen geht, geht es heute um die Akzeptanz multidisziplinärer Zugänge. Ein biopsychosoziales Krankheitsmodell der Depression erfordert deshalb neben biologischen und psychologischen auch so-ziale Bedingungsfaktoren zu berücksichtigen. Diese wiederum können nicht die ganze Wahrheit über Depressionen vermitteln, aber ohne sie kann es auch nur eine „halbierte“ Wahrheit werden, die man als „soziale Amnesie“ bezeichnen könnte.

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Von der Notwendigkeit einer psy-chologischen Gesellschaftsdia-gnostik als Alternative zur weit-verbreiteten „Gesellschaftsver-gessenheit“ oder „sozialen Am-nesie“ der institutionalisierten psychosozialen Handlungsfor-men

Russell Jacoby

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Gesellschaftsdiagnostik am Beispiel von Burnout und

Depression

Vom erschöpften Selbst im globalen Kapitalismus

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„Immer mehr Menschen haben mit einem immer schnelleren Wan-del von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen zu kämpfen. Sie können das Gleichgewicht zwischen Belastungs- und Bewäl-tigungspotentialen nicht mehr aufrechterhalten und werden krank. Depression ist zum Beispiel nach den Statistiken der Welt-gesundheitsorganisation eine der wichtigsten Determinanten der Erwerbsunfähigkeit. (…) Schon heute sind weltweit ca. 121 Millio-nen Menschen von Depressionen betroffen. Denn unser Leben ge-winnt zunehmend ‚an Fahrt‘, sei es zwischenmenschlich, gesell-schaftlich, wirtschaftlich oder im Informations- und Freizeitbe-reich.“

Quelle: Ilona Kickbusch (2005). Die Gesundheitsgesellschaft.

Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft

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DER SPIEGEL 3/2011

Erschöpfungsdepression – was hilft gegen die Volkskrank-heit des 21. Jahrhundert?

„Beruflicher Stress, unendlicher Informationsfluss, intensive Kommunikation als soziales Muss: Die moderne Welt hat uns mit ihren Pflichten fest im Griff.

Wer sich selbst nicht fest im Griff hat, läuft Gefahr, aus-zubrennen. Macht uns das moderne Leben auf Dauer krank.“

DER SPIEGEL 30/2011

Der Ausweg?

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Robert Enke (1977 – 2009)

DER SPIEGEL 4/2012

SPIEGEL WISSEN 1/2012

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Prof. Dr. DepressivLehrende an deutschen

Hochschulen sind so produktiv wie nie –

gleichzeitig häufen sich psychische Probleme

DIE ZEIT vom 03.11.2011

Und auch bei den Studierenden nehmen

Depressionen und Angststörungen zu!

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Gesundheitsreport der TKK 2010

Verschreibung von Antidepressiva:

2009 wurden bei Männern 119 Prozent, bei Frauen 96 Prozent mehr Tagesdosen als

im Jahr 2000 verschrieben.

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2020

Nature ruft im Januarheft 2010 eine „Dekade für psychiatrischer Störungen“ aus. Begründet wird diese Priorität damit, dass psychische Störungen wie Schizophrenie und Depressionen die vorherr-schenden Störungen der Altersgruppe von 15 bis 44 Jahre ausmachen würden. Hinzu kommt die wachsende Anzahl von ADHS-Diagnosen bei Kindern. Die Be-handlung dieser Störungen ma-chen etwa 40% der medizinischen Kosten in den USA und Canada aus.

Die biologische Psychiatrie reklamiert für sich die zeitgemässen Erklärungen und Therapien!

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These 2

Es ist notwendig, die inflationäre Verwendung der Diagnosen Burnoutund Depression kritisch zu reflektieren. Die Hauptnutznießer dieser diagnostischen Gepflogenheit ist die Psychopharmaindustrie.

Unstrittig dürfte sein, dass immer mehr Menschen die mit der Globali-sierung verbundenen Veränderungen in ihrer Arbeits- und Alltags-welt als Herausforderungen und Belastungen erleben, die ihre Be-wältigungsmöglichkeiten überschreiten. Die „Klinifizierung“ der daraus folgenden psychischen Probleme enthält die Gefahr der In-dividualisierung gesellschaftlicher Probleme. Insbesondere proble-matisch ist eine rein biologistische Perspektive.

Von der Notwendigkeit einer „Gesellschaftsdiagnostik“

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Allen Frances war Vorsitzender der Kommission, die für DSM-IV zuständig war

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Normalitätskrise

Einfache Trauer:

Der Tod eines geliebten Menschenführt typischerweise zu Traurigkeit und Schlafstörungen, die Betroffenen können an Gewicht verlieren. Mediziner streiten darüber, wie viel Trauer normal ist - und wann sie in eine krankhafte Depression mündet.DSM IV ging von zwei Monaten aus DSM V setzt zwei Wochen an..

Quelle: SPIEGEL Online 23.01.2013 – Karrikaturen von Tom Cool

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Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik

Eine historische Perspektive

Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes

Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“

Der Zwang zur Selbstoptimierung

Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft

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Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik

Eine historische Perspektive

Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes

Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“

Der Zwang zur Selbstoptimierung

Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft

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Theophrast fragte:

„Aus welchem Grunde sind alle hervorragenden Männer, sei es, dass sie sich in der Philosophie, der Politik, der Poesie oder den bil-denden Künsten ausgezeichnet haben, offenbar Melancholiker?“

Theophrast von Eresos 371 v. Chr.–287 v. Chr.

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Albrecht Dürer: Melencolia I

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Lukas von Cranach: Melancholie - 1532

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Martin Luther in seinen „Tischreden“:

Satan est Spiritus tristitiae“.

Oder:

„Die Traurigkeit, die Epidemien und die Melancholie kommen vom Satan“

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Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik

Eine historische Perspektive

Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes

Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“

Der Zwang zur Selbstoptimierung

Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft

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„Der Tod des Selbst“

„Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete, ‘one-style-for-all’ Individuum. Solch eine Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel. (...) Wir feiern jetzt das proteische Sein (...) Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Er-wartungen sind endlos, Optionen allüberall und die Zeit ist eine knappe Ware“

Quelle: Kenneth J. Gergen: The self: Death by technology (2000).

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„Man muss in der Lage sein, sich von den grenzenlosen Möglichkeiten des Verbrauchermarktes und der von ihm propagierten ständigen Erneuerung ver-führen zu lassen; man muss sich freuen können über die Chance, Identitäten anzunehmen und wieder abzulegen und sein Leben auf der endlosen Jagd nach immer intensiveren Glückserlebnissen und immer aufregenderen Erfahrungen zu ver-bringen. Nicht jeder besteht diesen Test. Die dies nicht schaffen, sind der ‚Schmutz‘ der postmoder-nen Reinheit.“

Der „postmoderne Reinheitstest“

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Rosina M. Gasteiger:

„Erwerbstätige müssen immer häufiger mit Veränderungen in der Arbeits-welt zurechtkommen. Gleichzeitig verschieben Organisationen die Ver-antwortung für die Karriereentwick-lung immer mehr auf die Arbeitneh-mer. Die Herausforderung für den Einzelnen ist dabei, sich nicht nur flexibel auf immer wieder neue Be-dingungen einstellen zu können, sondern zugleich die eigene Identität zu wahren und persönliche Werte und Ziele mit der beruflichen Tätig-keit in Einklang zu bringen.“

Die „proteische Karriere“ ist angesagt

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Robert Jay Lifton, geboren 1926 in New York, ist Professor für Psychiatrie und

Psychologie an der New York University

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Quelle: Erasmus Francisci: Der Höllische Proteus, oder Tausendkünstige Versteller

[...]. Nürnberg 1690.

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Eine historische Perspektive

Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes

Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“

Der Zwang zur Selbstoptimierung

Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft

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Die „Gewalt der Positivität“

Die Arbeitswelt setzt auf Eigenmotivation, Initiativgeist und Selbst-verantwortung. Die Disziplinargesellschaft, von der Stechuhr re-giert, wurde von der Leistungsgesellschaft abgelöst, in der jeder sich konditioniert, als sei er sein eigener Unternehmer. Die „Nega-tivität des Sollens“ hat sich zu einer viel effizienteren „Positivität des Könnens“ entwickelt. Obamas millionenfach reproduzierter Slogan „Yes, we can“ hat darin seine alptraumhafte Kehrseite.

Das sich selbst ausbeutende Subjekt ist Täter und Opfer zugleich, Herr und Knecht in einer Person. Allgegenwärtige Werbesprüche gellen wie zum Hohn in ihr nach: „Die Klage des depressiven In-dividuums ,Nichts ist möglich’ ist nur in einer Gesellschaft möglich, die glaubt Nichts ist unmöglich.“

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Vertrauensarbeitszeit

Die Arbeitszeitkultur verändert sich von der kontrollierten Präsenz-pflicht zur „Vertrauensarbeitszeit“.

Thomas Sattelberger (Personalvorstand der Telekom): „Ständige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit ist kein Zeichen von Leistungs-fähigkeit.“

„Vertrauensarbeitszeit“ bedeutet, dass zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern vereinbarte Ziele und Fristen von diesen in selbstbe-stimmter Zeiteinteilung erledigt werden können („managementby objectives“).

Hier übernimmt das Personal zunehmend die Last der unterneh-merischen Verantwortung. Und ist der Gefahr der Selbstaus-beutung ausgesetzt.

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Eine historische Perspektive

Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes

Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“

Der Zwang zur Selbstoptimierung

Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft

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Die Grenzen der „unternehmerischen Anrufung“und des „Subjektivierungsregimes“

„Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück. (…) Im Unglück der Depressiven wird die Kluft zwischen dem Anspruch an die Individuen und ihren stets unzureichenden An-strengungen sichtbar.“

„Depressive Erschöpfung (ist) die dunkle Seite der auf Dauer gestellten Hyperthymie des unternehmerischen Selbst.“

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Das „erschöpfte Selbst“ –Denkanstoss von Alain Ehrenberg

Alain Ehrenberg will zeigen, dass depressive Verstimmungen, Erschöpfung und Verzweiflung keine Unregelmäßigkei-ten, sondern so etwas wie der unvermeidliche Schatten des karriere- und selbstverwirklichungssüchtigen Selbst der kapitalistischen Moderne um die Jahrtausendwende sind.

Dieses Selbst wird gesteuert von der Annahme, dass alles möglich sei. Und dass es ausschließlich in seiner Verant-wortung liege, aus der Fülle der Möglichkeiten das je eigene „gelingende“ Leben zu stricken. Ehrenberg hält diese Behauptung nicht für richtig, sondern für mächtig. Sie wirkt wie eine innere Stimme, die den Unzufriedenen allerorten hämisch einflüstert, dass es anders hätte kom-men können, wenn sie nur die richtige Wahl getroffen hätten. Unter der Last der Verantwortung brechen die solcherart malträtierten Selbste oft zusammen.

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Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik

Eine historische Perspektive

Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes

Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“

Der Zwang zur Selbstoptimierung

Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft

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Hartmut Rosa: Der Beschleunigungszirkel

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These 3

Unter aktiver Beteiligung von Psychotechniken passen sich immer mehr Menschen der unaufhaltsamen Beschleuni-gungsdynamik an, der gesellschaftliche und berufliche Fitness-Parcours hat kein erreichbares Maß, ein Ziel, an dem man ankommen kann, sondern es ist eine nach oben offene Skala, jeder Rekord kann immer noch gesteigert werden. Hier ist trotz Wellness-Industrie keine Chance eine Ökologie der eigenen Ressourcen zu betreiben, sondern in einem unaufhaltsamen Steigerungszirkel läuft alles auf Scheitern und einen Erschöpfungszustand zu.

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These 4

Schon vor Jahren ist uns die „Erschöpfung der utopischen Energien“(Jürgen Habermas) diagnostiziert worden und ein „minimal self“(Christopher Lasch), das ein Fixierung auf Alltagsbewältigung ohne übergreifende Idee. Wir haben es mit einer tiefen Krise im gesell-schaftlichen Selbstverständnis zu tun, das sich nicht einmal mehr über unterschiedliche mögliche Zielvorstellungen streitet, sondern einfach keine mehr hat. In allen gesellschaftlichen Bereichen, in der Politik, in der Wirtschaft und zunehmend auch in den privaten Welten geht es ums „Überleben“, ums „Durchhalten“. Hier zeichnet sich eine Gesamtsituation ab, die man mit dem Begriff „erschöpfte Gesellschaft“ überschreiben könnte.

Erschöpfung ist also nicht nur ein individuelles, sondern auch ein ge-sellschaftlichpolitisches Phänomen.

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Hat die Depression einen Sinn?

Das Zeitalter der Depression

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Das Zeitalter der Depression

Jonah Lehrer: Depression‘s Upside. In: The New York Times Magazine vom 25. Februar 2010

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Charles Darwin:

"Ich sollte mich wahrscheinlich damit zufrie-dengeben, die Fortschritte zu bewundern, die andere in der Wissenschaft machen.“

"Jedes Leiden verursacht Depressionen, wenn es nur lange genug anhält. Doch es macht auch wachsam gegenüber großem und plötzlichem Übel.“

Das Zeitalter der Depression

Charles Robert Darwin (* 12. Februar 1809 in Shrewsbury; † 19. April 1882 in Downe)

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Der evolutionäre Sinn der Depression

Thomson und Andrews stellten sich die Frage, ob ein paar Monate noch so sinnlos scheinender innerer Mo-nologe nicht am Ende auch ihr Gutes haben können. Vielleicht hilft der von Selbstekel begleitete Trauer-prozess, Beziehungsmuster zu überdenken und so-ziales Verhalten neu zu definieren. "Es schien uns nicht logisch, dass das Gehirn ausgerechnet dann versagt, wenn es am meisten gebraucht wird", sagt Andrews. "Vielleicht sucht es nur besonders konsequent nach einem Ausweg.„

"Wenn es die Depression nicht gäbe, würden wir Lebenskrisen weniger gut meistern."

Das Zeitalter der Depression

Paul Andrews von der Virginia Commonwealth University in Richmond

J. Anderson Thomson, Jr., University of Virginia in

Charlottesville

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Das Zeitalter der Depression

Jonah Lehrer: Depression‘s Upside. In: The New York Times Magazine vom 25. Februar 2010

Was könnte insgesamt die Lehre aus diesen Beobachtungen sein? Therapeutisch käme es im Zweifelsfall darauf an, den Patienten da-hin zu bringen, dass er sein Leiden akzeptiert. Dass er den Grundton der Verzweiflung annimmt und vielleicht sogar begrüßt, weil er den Weg frei macht für ein geändertes, besseres Leben nach der Depres-sion. Eines muss man dennoch einräumen: Dass eine Depression einem Zweck dienen kann, dass Trauer uns möglicherweise schlauer macht, nimmt beidem nicht die Schwärze und den Schrecken. Auch ein Fie-ber kann hilfreich sein - trotzdem bekämpfen wir es mit Pillen.

Man kann darin ein weiteres Paradox der Evolution sehen: Selbst wenn tiefer Schmerz uns auf Dauer weiterhilft, bleibt die instinktive Flucht vor ihm doch der stärkste Impuls, den wir kennen.

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Sebastian Deisler im Interview mit dem Tagesspiegel vom 4.10.2007:

„Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich so, wie alles gelaufen ist, nicht geschaffen war für dieses Ge-schäft. Am Ende war ich leer, ich war alt, ich war müde. Ich bin so weit gelaufen, wie mich meine Beine getragen haben, mehr ging nicht.

Ich möchte jetzt ein Leben führen, das ich allein bestimme“.

Auf dem Weg zur Selbstsorge …

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Was folgt aus der Analyse?

1. Subjekte einer individualisierten und globalisierten Gesell-schaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr problemlos auf kulturell abgesicherte biographische Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken ungeheuere Potentiale für selbstbestimmte Gestaltungs-räume, aber auch das Risiko und die leidvolle Erfahrung des Scheiterns. Die Zunahme der Depression verweist auf dieses Risiko. Sie ist aber nicht ein „Fluch der Freiheit“, sondern verweist auf einen Mangel im „Handwerk der Freiheit“.

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Was folgt aus der Analyse?

2. Erforderlich ist eine Auseinandersetzung mit den vorherrsch-enden Menschenbildannahmen . Die Figur des „unterneh-merischen Selbst“ ist auf den kritischen Prüfstand zu stellen. Sie verweist auf ein neoliberales Menschenbildes, das eine maximierte Selbstkontrolle als Fortschritt anpreist. Ausbeu-tung und Entfremdung wird zunehmend weniger als fremd gesetzter Zwang von Menschen erlebt, sondern wirdmehr und mehr zu einer Selbsttechnologie, zu einer Selbst-dressur, die allerdings in den Ideologien des Neoliberalismus in einem Freiheits- oder Autonomiediskurs daher kommt.

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Was folgt aus der Analyse?

3. Selbstsorge ist notwendig, aber die darf sich nicht in individualisierten Überlebensstra-tegien erschöpfen, die die eigene „Fitness“steigern. Im Sinne der Salutogenese geht es um die Erarbeitung von sinnhaften Bewäl-tigungsmustern und um die Stärkung von Widerstandsressourcen.

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Aaron Antonovsky 1923 - 1994

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Das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky

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Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal

unterworfen ist.

Der Kohärenzsinn beschreibt eine geistige Haltung:

Meine Welt erscheint mir verständlich, stimmig, geordnet; auch Pro-bleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen (Verstehbarkeit).

Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann (Handhabbarkeit).

Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Bedeutsamkeit).

Kohärenzfördernd sind die Widerstandsressourcen: Individuelle, soziale, gesellschaftliche und kulturelle Ressourcen.

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Generalisierte Widerstandsressourcen und Resilienzfaktoren

• Im Individuum: organisch-konstitutionelle Widerstandsressourcen, Intelligenz, Bildung, Bewältigungsstrategien und Ich-Stärke, emo-tionale Sicherheit, Selbstvertrauen.

• Im sozialen Nahraum: Sozialen Beziehungen, Netzwerke, Verortung, Vertrauen und Anerkennung, zivilgesellschaftlichem Engagement.

• Auf gesellschaftlicher Ebene: Anerkennung über die Teilhabe an gesellschaftlich relevanten Ressourcen (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung….).

• Auf der kulturellen Ebene: Zugang zu kulturellem Kapital im Sinne tragfähiger Wertorientierungen (bezogen aus philosophischen, politischen, religiösen oder ästhetischen Quellen).

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• Auf salutogenetischer Grundlage gibt es neue Angebote, die Freude an der eigenen Tätigkeit wieder zu gewinnen und das auf der Basis ge-lungener Selbstsorge.

• Ein Beispiel ist das Burnon-Zentrum in Düssel-dorf, das Menschen helfen will, wieder Feuer und Flamme zu spüren.

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Was folgt aus der Analyse?

4. Eine Strategie der universellen oder Verhältnisprävention muss letztlich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zielen und dazu ist nicht nur die professionelle Arbeitsgestaltung gefragt, sondern die aktive Beteiligung der Betroffenen, denen bewusst ist, dass individuelle Selbstsorge nur im Rah-men kollektiver Interessenvertretung (z.B. in Selbsthilfe-gruppen, Netzwerken, Gewerkschaften, Attac) möglich ist.

Und es ist dringend notwendig, neue Formen des Arbeitsschutzes zu entwickeln, die wirksame Antworten auf die wachsenden psychischen Belastungen und Störungen in der Arbeitswelt bilden.

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Herzlichen Dank für

ihre Aufmerksamkeit

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