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Der 17. Juni 1953 Widerstand als Vermächtnis XIV. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung Büro Leipzig 8. und 9. Mai 2003 Dokumentation Gefördert durch die Erich-Brost-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Der 17. Juni 1953Widerstand als Vermächtnis

XIV. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung

Büro Leipzig

8. und 9. Mai 2003

Dokumentation

Gefördert durch die Erich-Brost-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung

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XIV. Bautzen-Forum 8.– 9. Mai 2003

Matthias Eisel: Vorbemerkung 6

Grußworte

Günter Mühle 8

Harald Möller 11

Cornelius Weiss13

Marko Schiemann 17

Michael Böhmer 21

Referate

Bernd Faulenbach: Der 17. Juni 1953 24in der deutschen Geschichte

Podiumsgespräch: Der 17. Juni 1953 – Widerstand als Vermächtnis

Hans-Jochen Vogel 44Erik BettermannRonald Lässig

Spurensuche – Ein Schülerprojekt der Mittelschule 60Doberschau und des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Bautzen

Heidi Roth: Bemerkungen 72zur Ergänzung des Schülerprojekts

4 Inhalt

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Referate

Ilko-Sascha Kowalczuk: Der 17. Juni 1953 in den Akten 76der StaatssicherheitThomas Krüger: Verfolgung und Widerstand als 93Themen der politischen Bildungsarbeit

PodiumsgesprächDer 17. Juni 1953 aus der Perspektive von Zeitzeugen

Norbert Haase 102Maike Neumann 106Günter Assmann 113Achim Beyer 121

Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

„Solidarität mit Berlin“ – Der 17. Juni 1953 in den sächsischen Bezirken

Silke Klewin: Einleitung 130

Matthias Rößler: Grußwort zur Ausstellungseröffnung 134

Michael Beleites. Einführung in die Ausstellung 138

Tobias David: Die Initiative 17. Juni 1953 in Leipzig 143

Teilnehmer und Autoren des 146XIV. Bautzen-Forums

Bautzen-Foren im Überblick 148

Impressum 151

Inhalt 5

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Matthias Eisel

Vorbemerkung

Der 17. Juni 1953 sei ein faschistischer Putsch gewesen, ein Werkvon Provokateuren, von faschistischen Agenten aus dem Auslandund der westdeutschen revanchistischen Monopolbourgeoisie, diediesen „Tag X“ seit langem vorbereitet hätten. So oder so ähnlichlautete die von der SED-Geschichtsschreibung vorgegebeneSprachregelung, wenn es denn unvermeidbar war, auf das Datumund die Ereignisse Bezug zu nehmen.Aber eigentlich galt der 17. Juni 1953 als schärfstes Tabu und

6 Vorbemerkung

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wurde totgeschwiegen. Mir selbst, Jahrgang 1958, ist er „offiziell“weder in der DDR-Schule noch später im Studium begegnet. ImWestfernsehen und im Westradio war sporadisch davon die Rede,vor allem in den (ritualisierten?) Gedenkreden zu den Jahresta-gen. Zeitzeugen oder gar Beteiligte im Osten mussten sich zurük-khalten. Aus heutiger Sicht kann man wohl sagen, dass der restriktive undverlogene Umgang der SED mit dem Volksaufstand seine Wirkungüber die Jahre nicht gänzlich verfehlte. Selbst die Friedliche Revo-lution vom Herbst 1989 und maßgebliche Bürgerrechtler vermie-den es, sich auf das Datum zu beziehen. Marianne Birthler verwiesdarauf jüngst in einem Interview. Dabei war es Stasi-Chef Mielkeselbst, vom dem angesichts der Fluchtwelle im Sommer 1989 inden Akten die böse Ahnung überliefert ist: „Genossen, steht unsein neuer 17. Juni bevor?“ Nun also, 50 Jahre nach dem Aufstand, hat das Ereignis ganzoffenbar seinen Platz in der deutschen Revolutionsgeschichtegefunden. Nach Öffnung der Archive, durch eine beachtliche For-schungsarbeit und zahlreiche Zeitzeugenberichte wurde dieseumfassende Einordnung und teilweise Neubewertung erst mög-lich. Das 14. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung wolltedazu eine Betrag leisten. Mit der hier vorgelegten Dokumentationmöchte ich mich bei allen Beteiligten sehr herzlich bedanken. Der Historiker Bernd Faulenbach sagte zu Beginn des Forums, spä-testens seit den Junitagen 1953 hatte die DDR ihre historischeLegitimation verloren, denn der Machtanspruch der SED konntenur mithilfe russischer Panzer brutal gesichert werdenIm ganzen Land, auch außerhalb Berlins, bei Streiks und Erhebun-gen in über 500 Städten und Gemeinden, wurden neben verbes-serten Lebensbedingungen durchweg politische Ziele artikuliert:Sturz der Regierung, Zulassung weiterer Parteien, freie Wahlenund Freilassung aller politischen Gefangenen. Viele mussten dafüreinen hohen Preis bezahlen. Nach aktuellen Forschungen hat esauf Geheiß der SED wahrscheinlich 18 standrechtliche Erschießun-gen gegeben, zwischen 75 und 150 Todesfälle, über 13000 Verhaf-tungen und etwa 2000 Urteile mit meist jahrelangen Zuchthaus-strafen.

Matthias Eisel 7

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Günter Mühle

Grußwort

Meine Damen und Herren,

das Bautzen-Komitee hat sich gestern einen neuen Vorstand undauch einen neuen Ersten Vorsitzenden gewählt. Der alte war dochein bisschen alt geworden. Er will aber trotzdem die Gelegenheitwahrnehmen, Sie alle herzlich zu begrüßen – Gäste, die ehemali-gen Schicksalsgefährten. Mein ganz besonderer Dank gilt der Frie-drich-Ebert-Stiftung für die hervorragende Zusammenarbeit inden vergangenen Jahren. Das Gleiche betrifft die Stadt Bautzen.Nicht nur den Oberbürgermeister, besonders hervorheben möchteich auch Frau Fischer von der Friedhofsverwaltung, die hier nichtunerwähnt bleiben sollte.Ich will mich ansonsten mit dem heutigen Thema nicht zu sehrbeschäftigen, weil ich zu dieser Zeit, am 17. Juni 1953, in großer

8 Grußwort

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Sicherheit in Bautzen im Gelben Elend war. Mir konnte also nichtspassieren. Dagegen bin ich aber verpflichtet etwas dazu zu sagen,wie es den ehemaligen Opfern vom 17. Juni geht. Die Antwortkönnte ganz kurz sein: genauso bescheiden wie den anderen.Das hat verschiedene Gründe. Wir ehemaligen Häftlinge leben mitunserer Vergangenheit und versuchen, sie aufzuarbeiten. Wir set-zen dafür Zeit, Gesundheit und materielle Mittel ein. Zudem gibtes Historiker, die wir dringend brauchen, und Institutionen, diesich mit eben dieser Vergangenheit beschäftigen. Und ich warimmer der Meinung, dass diese Institutionen dazu da wären, denOpferverbänden behilflich zu sein. Leider ist das nicht immer derFall. Manchmal habe ich das Gefühl, man will uns die Macht desanderen beweisen.Dann haben wir natürlich noch die Schwierigkeit, dass auch dieOpfer der zweiten deutschen Diktatur Ansprüche stellen. Sie wol-len gleichberechtigt sein. Ich wiederhole das – jeder kennt das seitJahren – aus dem einfachen Grund, weil die roten Knüppel genau-so hart waren wie die braunen. Und das gelingt uns leider nicht,das hat natürlich auch viele Gründe. Ich hoffe, dass es uns in die-sem Jahr nicht so geht, wie es uns 1992 gegangen ist, als derBundestag – aufgefordert von der Bundestagspräsidentin – sicherhob und der Opfer gedachte, um am gleichen Tag das ersteGesetz zur Verbesserung der Lage der ehemaligen Häftlinge abzu-lehnen. Ich muss dazu sagen, dass damals fünf Abgeordnete derCDU/CSU und zwei der FDP – der damaligen Regierungsfraktionen– für das Gesetz gestimmt haben. Die Opposition hat geschlossendafür gestimmt. Das Gesetz wurde dann aber abgelehnt. Jetzthaben wir zwar regierungsmäßig andere Verhältnisse, aber dasSpiel ist das gleiche geblieben. Die Opposition stellt Anträge füruns, die Regierung lehnt sie ab. Und wenn ich mit dem Bundesprä-sidenten spreche, sagt er, das habe fiskalische Gründe. Da kom-men mir wieder meine Zweifel. Ich glaube nicht daran, dass die Mittel dafür nicht vorhanden sind.Zugegebenermaßen ist für die Länder, die ja die Last mit zu tragenhätten, durch das Gerichtsurteil vom letzten Jahr eine erheblicheBelastung dazugekommen. Denn unsere ehemaligen Peiniger,oder die, die den Staat zugrunde gerichtet haben, die uns einge-sperrt haben, die uns zum Teil umgebracht haben, die nutzen jetztdie Zeit des Rechtsstaates. Ein großer deutscher Dichter hat einmalgesagt: „Wer über Nacht sich umgestellt und sich zu jedem Staatbekennt, das sind die wahren Praktiker.“ Man könnte sie auch

Günter Mühle 9

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Lumpen nennen; ich finde aber, Lumpen ist zu harmlos, es sindVerbrecher gewesen. Und jetzt werden sie dafür belohnt. Ich kanndie Juristerei wirklich nicht begreifen. Wenn ich mir überlege, dass das alleine für das Land Sachsen min-destens 754 Millionen Euro pro Jahr ausmacht, die dafür zu zahlensind. In Brandenburg sind es 489, in Sachsen-Anhalt 426, in Thürin-gen 385, Mecklenburg-Vorpommern 274, Berlin 232; insgesamtalso 2 560 Millionen Euro. Die Beträge lasten auf den Ländern, nurweil einige Juristen der Meinung sind, man müsste Verbrecherbelohnen. Und das ist natürlich für uns absolut unverständlich. Ichhoffe aber, dass sich eine Änderung einstellt. Ich habe geradegelesen, dass ein Berliner Gericht einen Antrag abgelehnt hat,trotz dieses Urteils. Das geht also offensichtlich auch.Ich hoffe also, dass wir als ehemalige Häftlinge und auch die vom17. Juni besseren Zeiten entgegengehen. Es kann nicht sein, dassdie Massenmedien sich nur an den alten Garden hochziehen. Viel-leicht bringen die höhere Leser- oder Einschaltquoten als wir, dasweiß ich nicht. Trotzdem meine ich, hätten wir es verdient, dasswir auch in den Medien mit vertreten sind. Das ist zum Teil aberauch unsere Schuld. Ich muss unsere Kameraden darauf hinwei-sen, wie wenig bekannt die Materie im Westen ist, und das liegtan uns. Wir sind viele, die im Westen wohnen. Wenn wir nichtaktiv sind, kann es der Westen und können es auch die westlichenPolitiker nicht erfahren. Wenn mir ein Politiker über den Wegläuft, versuche ich, mich mit ihm zu unterhalten. Und es isterstaunlich, welche Unkenntnis da herrscht. Was für mich dannauch wieder der Beweis dafür ist, dass die Leute, die Gesetze ent-scheiden sollen, falsche Entscheidungen treffen, wenn sie nichtswissen über uns. Also auch das müssen wir mit ändern.Ich bin der Friedrich-Ebert-Stiftung für solche Foren außerordent-lich dankbar. Davon müssten wir mehr haben. Dann würde sichauch das Verhältnis zu uns ändern. Und ich hoffe also, dass auchdie heutige Tagung einiges dazu beitragen wird, und wünsche ihreinen recht guten Verlauf.

10 Grußwort

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Harald Möller

Grußwort

Sehr verehrte Damen und Herren,verehrte Gäste,liebe Kameradinnen und Kameraden,

als neu gewählter Vorsitzender des Bautzen-Komitees habe ich dieEhre, Sie heute hier im Namen des Bautzen-Komitees begrüßen zudürfen.Seit vierzehn Jahren richtet die Friedrich-Ebert-Stiftung das Baut-zen-Forum aus. In diesem Jahr beschäftigt sich das Forum mit demWiderstand des 17. Juni 1953 in der DDR. Zu diesem Zeitpunkt wareine ganze Reihe von ehemaligen Häftlingen schon etliche Jahrehinter den Mauern des Gelben Elends, sodass wir von diesenTagen des Widerstandes wenig oder gar nichts mitbekommenhaben. Erst die Einlieferung der ersten Widerständler aus dieser

Harald Möller 11

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Zeit in die Isolierzellen des Gelben Elends brachte einige Erkennt-nisse für uns. Insofern sind wir dankbar, dass wir heute unsereKenntnisse vertiefen können.Und jetzt wiederhole ich mich, bzw. das, was mein Vorgängergesagt hat. Entschuldigen Sie bitte, aber bei uns kommt Verbitte-rung auf, wenn wir immer wieder ansehen und lesen müssen, wiedie SED-Nomenklatura, die Stasi-Obristen gut versorgt sind, wäh-rend unsere Leute kämpfen müssen um die einfachsten Dinge. Esist kaum jemandem heute zu vermitteln, wenn sich in den neuenBundesländern Kameraden von uns seit über zehn Jahren nachder Einheit Deutschlands mit der Versorgungsverwaltung und mitden Sozialgerichten herumschlagen müssen. Das ist wirklich trau-rig. Und diese Kameraden sind bereits in die Resignation abge-wandert. Ihre Wut ist verständlich, gerade wenn ehemalige SEDlerimmer wieder in den Medien präsent sind. Und ganz schlimm istes, wenn sich diese Typen – ich sage es ganz bewusst – der Stasiund der SED heute noch in den Medien präsentieren als sogenannte Gutmenschen. Es ist unerträglich und es kann in diesemSinne nicht weitergehen, denn eines dürfte klar sein. Diese Leutewerden in ihrem Leben nie auf den Boden des Grundgesetzeszurückfinden – auf dem sie noch nie gestanden haben.Das Bautzen-Komitee wird sich unter dem Dach der Union derOpferverbände der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft ganzmassiv auch in Zukunft dafür einsetzen, dass uns endlich Gerech-tigkeit widerfährt.Hoffnungsfroh stimmt uns die Tatsache, dass eine Reihe von jun-gen Menschen hier unter uns ist, die in Schülerprojekten mithilfeihrer Lehrkräfte den Widerstand in der ehemaligen DDR aufarbei-ten wollen. Wir hoffen und bitten Sie, die Gelegenheit und dieZeit zu nutzen, um mit vielen Zeitzeugen, die hier anwesend sind,zu sprechen. Versuchen Sie die subjektiven Erlebnisberichte dieserMenschen in die objektive Wirklichkeit der kommunistischenGewaltherrschaft einzuordnen.

12 Grußwort

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Cornelius Weiss

Grußwort

Herr Vorsitzender Möller,Herr Vorsitzender a.D. Mühle,Herr Bürgermeister,lieber Kollege Schiemann,lieber Matthias Eisel,meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist für mich eine große Ehre und auch Freude, zur Eröffnungdes 14. Bautzen-Forums ein Grußwort sprechen zu dürfen. Zualler-erst möchte ich Ihnen die herzlichen Grüße der SPD-Fraktion imsächsischen Landtag übermitteln und deren guten Wünsche fürein erfolgreiches Gelingen dieser wichtigen Veranstaltungen. Wieernst meine Fraktion die Arbeit des Bautzen-Forums nimmt, kön-nen Sie daran ermessen, dass mein Chef, der Fraktionsvorsitzende

Cornelius Weiss 13

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der SPD-Fraktion im sächsischen Landtag, Thomas Jurk, es sichnicht wird nehmen lassen, mittags ebenfalls hierher zu kommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Thema des diesjäh-rigen Bautzen-Forums ist der demokratische Volksaufstand vom17. Juni 1953 und sein Vermächtnis für uns und die nachfolgendenGenerationen. Die Tagung will dazu beitragen, ein korrektes Bildvon den Ereignissen vor 50 Jahren zu zeichnen, und daraus Lehrenfür die Gegenwart und vor allem für die Zukunft zu ziehen.Ich lebte zu jener Zeit – und entschuldigen Sie, dass ich jetzt etwasaus meinem eigenen Leben erzähle, es passt nämlich hierher –weit, sehr weit von der Heimat entfernt, als Verschleppter, ohnePass und ohne Rechte, und weitgehend auch ohne Information inder Sowjetunion, genauer gesagt, in Minsk.Im Jahre 1933 geboren, hatte ich schon die Nazidiktatur und denvon ihr angezettelten verheerenden Weltkrieg halbwegs bewussterlebt. Meine Eltern, als religiöse Sozialisten von Anfang an über-zeugte Anti-Nationalsozialisten und selbst aktiv im Widerstand,sahen in der militärischen Niederlage Nazideutschlands eine histo-rische Chance zum Aufbau eines freiheitlichen demokratischenStaatswesens, und wollten sich in den damals wieder gegründetenoder in Gründung befindlichen politischen Parteien dafür enga-gieren. Diese Hoffnungsphase dauerte jedoch nur sehr kurze Zeit,denn es zeichnete sich ja sehr bald ab, dass die von den Elternzunächst als Befreier von der NS-Diktatur begrüßte Rote Armeezum Zwangsapparat zur Errichtung einer zweiten, der kommuni-stischen Diktatur bestimmt war.Im Frühsommer 1946 verschwand plötzlich mein Vater und bliebwochenlang unauffindbar. Wie sich dann später herausstellte,hatte die SMAD ihn im Keller von Schloss Albrechtsberg in Dres-den eingesperrt, das war die damalige Kommandantura. Er hattenämlich das Pech, Kernphysiker zu sein, und damit war er vonInteresse für das sowjetische Atomrüstungsprogramm.Noch im gleichen Jahr wurde die ganze Familie in eine Scharasch-ka, das ist ein von Truppen des MWD, also des Nachfolgers desNKWD, hermetisch abgeschlossenes Lager für so genannte „Spezi-alisten“ unter der Oberhoheit des berüchtigten GULAG ver-schleppt. Solschenizyn hat ein solches Speziallager für missliebige,aber irgendwie fachlich unentbehrliche Wissenschaftler und Tech-niker in seinem Roman „Vorhof der Hölle“ sehr gut und drastischbeschrieben. Und dort, im Lager Obninsk, habe ich hinter doppel-tem Stacheldraht und Wachtürmen meine Jugend verbracht. Dort

14 Grußwort

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habe ich auch, da wir nur durch einen ganz einfachen Zaun vondem richtigen Straflager getrennt waren, gesehen, was Stalin undBerija und eine Armee von Helfershelfern mit echten oder ver-meintlichen politischen Gegnern ihres Regimes machten.Ich habe gesehen, was viele von Ihnen, den Tagungsteilnehmern,am eigenen Leibe erfahren mussten. Ich habe gesehen, wie dieseHäftlinge morgens halb verhungert und in Lumpen gehüllt zurArbeit auf den Bau getrieben wurden und abends völlig erschöpftin ihre Baracken zurückwankten. Bei Gesprächen durch den Zaunund auch Tauschgeschäften – Brot, Wodka und Zigaretten gegenHolzschnitzereien oder auch Werkzeug – mit den zum Teil blutjun-gen Häftlingen habe ich erfahren, auf welch tönernen Füßen inden meisten Fällen die Anklage stand und wie extrem hoch dieStrafmaße für die frei erfundenen Vergehen waren. In der Regellauteten die Urteile auf 15, 20 oder 25 Jahre Arbeitslager. Diesenarmen Menschen war nicht nur willkürlich die Jugend geraubtworden, sondern auch die Zukunft. Ich wurde übrigens auch mehrfach Zeuge von Misshandlungender Häftlinge durch die NKWD-Wachsoldaten bzw. durch die –und das war eine besondere Perfidie dieses GULAG-Systems – ton-angebenden und herrschenden und ihre Mitgefangenen skrupel-los ausbeutenden Kriminellen, unter Duldung der Lagerleitung.Diese Erfahrungen der Jugendzeit haben sich mir tief einge-brannt.Anfang 1953 durfte ich nach Abschluss der Lagerschule nachMinsk zum Chemiestudium. Das Wenige, was wir fünf Deutschendort über den Aufstand des 17. Juni im Staatsradio zu hören bzw.in der Prawda, zu deutsch Wahrheit, zu lesen bekamen, war völligverzerrt. Sie kennen diese Dinge: Ein Häuflein Westberliner Agen-ten und Saboteure sowie Altnazis sind in den Osten gekommenund haben die Werktätigen – so hieß es damals – aufgehetzt. Erstnachdem die Familien 1955 in die Heimat entlassen worden war,erfuhren wir von den wahren Hintergründen und Abläufen des17. Juni 1953. Und erst hier, in Deutschland, wurde uns auch durchdie Bücher von Solschenizyn oder Natalia Ginzburg bewusst, wiegroß das Ausmaß des Terrors und des menschlichen Leidens in derLagerwelt der stalinistischen Sowjetunion gewesen war.Heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, wissen wir allesehr genau, was die zwei Diktaturen verschiedener Couleur, dieunser Land innerhalb von nur 56 Jahren erleben musste, für alleBereiche menschlichen Seins angerichtet haben. Es ist daher die

Cornelius Weiss 15

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Pflicht unserer und der nachfolgenden Generationen, dafür zusorgen, dass sich Derartiges nie wiederholen kann. Ich sagte es schon bei der Behandlung des Gedenkstättengesetzesim Landtag, dass dazu natürlich auch und vor allem das Erinnerngehört. Das schonungslos sachliche, wissenschaftliche Erinnern andie angewandten staatlichen Repressionsmechanismen und an dasmit deren Hilfe verursachte massenhafte menschliche Unrecht,ebenso wie das emotional getragene Erinnern an das Leid derOpfer. Ebenso wichtig aber ist es auch, die Erinnerung an die Men-schen zu bewahren, die Widerstand geleistet haben, die in dunk-ler Zeit trotz aller Anfechtungen aufrecht den ihnen vom Gewis-sen diktierten Weg gegangen sind, oft genug bis zum Tod, diedem Ungeist den Geist entgegenstellten, die politische Gewal-therrschaft mit Moral und Mut beantworteten. Dazu gehörten dieAufständischen des 17. Juni 1953 selbstverständlich ebenso wiedie Frauen und Männer des 20. Juli 1944 oder der Weißen Rose.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Namen, die Schik-ksale all dieser mutigen Menschen müssen sorgfältig bewahrt blei-ben. Denn wenn sie zu Vergessenen würden, zu Unpersonen wür-den, dann hätte die Diktatur noch nachträglich gesiegt.Ich bin sehr froh, dass sich die Friedrich-Ebert-Stiftung dieser wich-tigen Aufgabe verpflichtet fühlt und mit der Ausrichtung derinzwischen traditionsreichen Bautzen-Foren bereits signifikant zurehrlichen Vergangenheitsbefragung und -beschreibung beigetra-gen hat.Ich wünsche dem diesjährigen 14. Bautzen-Forum und allen hof-fentlich noch folgenden Veranstaltungen dieser Reihe viel Erfolgund ich wünsche dieser Veranstaltung vor allem viel Resonanz,besonders bei der Jugend. Denn die geht es hauptsächlich an, diemuss dieses Wissen weiter tragen, wenn wir in Zukunft eineWiederholung ausschließen wollen.

16 Grußwort

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Marko Schiemann

Grußwort

Sehr geehrte Herren Vorsitzende,sehr geehrter Herr Kollege Professor Weiss,sehr geehrter Herr Bürgermeister Böhmer,meine sehr geehrten Damen und Herren,liebe Kameradinnen, liebe Kameraden,

das 14. Bautzen-Forum wurde wie all die vorangegangenen Jahreumsichtig mit viel Fleiß und Hingabe vorbereitet. Da es nunbereits das 14. ist, frage ich mich, wo die Jahre geblieben sind.Einen Mai in Bautzen ohne das Forum der Friedrich-Ebert-Stiftungkann ich mir auch für die nächsten Jahre nicht vorstellen. Dafürdanke ich Ihnen, Herr Eisel, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern und denen, die in der Vorbereitung mitwirkten, und natürlichdem Ausrichter, der Friedrich-Ebert-Stiftung, auf das Herzlichste.

Marko Schiemann 17

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Die Arbeit, die vom Bautzen-Forum geleistet wird, ist ein verläss-licher Beitrag zur Geschichtsschreibung. Ich spreche dabei jedesMal das gleiche Thema an. Wenn Sie Geschichte aufschreiben,werden manche Personen weniger Spielraum haben, das, was Siean Argumenten vorgetragen haben, zu widerlegen. Deshalbmöchte ich Sie ermutigen: Nutzen Sie diese Form der Geschichts-schreibung auch weiterhin, auch wenn es Ihnen im Einzelfallmanchmal sehr weh tut. Denn Geschichte, die von und mit Opferngeschrieben wird, bleibt Geschichte, die man nicht mehr wegwi-schen kann.Ich möchte an dieser Stelle nochmals allen Vorsitzenden danken.Ich danke aber auch den Schulen, den Lehrern, die sich in den letz-ten Jahren so intensiv darum bemühen, diese Form der Geschich-te, dieses erlebte Wissen, das hier transportiert wird, an die jungeGeneration weiterzugeben. Und es ist in deutschen Ländern nichtselbstverständlich, dass sich Lehrer für dieses Thema so stark enga-gieren, wie das hier der Fall ist.Das diesjährige Bautzen-Forum ist dem 17. Juni 1953 gewidmet.Ich muss auch als Nachgeborener die Übermittlung der Geschichtebemühen, nachlesen, nachblättern. Und Sie wissen, wenn manhier gelebt hat, dann ist man mit nur der einen Seite der Medaillekonfrontiert worden, ich sage es einmal plakativ, mit dem „NeuenDeutschland“. War es ein neues Deutschland, was das Zentralor-gan der SED verkündet hat? War es wirklich das neue Deutsch-land?Deshalb bin ich froh, dass ich in der Zeit vor 1989 viele in meinemUmfeld hatte, bis hin zu meinem Vater, der wenigstens ein bis-schen aus der erlebten Zeit weitergegeben hat. Durch die Gesprä-che hier bei Ihnen, bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, aber auchdurch die Gespräche mit vielen hier im Saal, ist mir die Zeit nähergekommen, aber dennoch muss ich sagen, ich weiß sehr wenig,sodass ich jetzt noch einmal die Chance genutzt habe, um nachzu-lesen, um wenigstens zu begreifen, wie es denn zum 17. Juni 1953gekommen ist.Die offizielle Version der SED liegt in den Archiven, und die brau-che ich Ihnen hier nicht darzulegen. Am 16. Juni 1953 begrüßt einführender Funktionär die Preis- und Normerhöhungen, die erstenDemonstrationszüge formieren sich in der Berliner Stalin-Allee,die Bauarbeiter fordern die Senkung der Normen und Preise undrufen: „Kollegen, reiht euch ein! Wir wollen freie Menschensein!“ Die SED spricht vom faschistischen Putsch und von konterre-

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volutionären Elementen. Die westliche Welt spricht vom Wider-stand gegen die kommunistische Herrschaft. Der Wunsch nachFreiheit und Demokratie wird mit Panzern niedergewalzt. Frauenund Männer werden getötet oder verschwinden in den Gefängnis-sen.Und dennoch ist das Aufbäumen der Arbeiterschaft nicht auf Ber-lin begrenzt. In vielen Städten wie Ilsenburg, Halle, Erfurt, Frei-berg, Dresden, Leipzig, Lauchhammer, aber auch Weißwasser, umnur einige wenige Städte zu nennen, leistet das Volk Widerstand.Auch in Görlitz und meiner Vaterstadt Bautzen widersetzt sich dieArbeiterschaft den Machenschaften der SED-Diktatur. DieAbschaffung der Normen und Preiserhöhungen steht zunächst anerster Stelle. In den Belegschaftsversammlungen der Unterneh-men will man aber weit andere Forderungen in die Diskussionbringen: freie Wahlen für ganz Deutschland, einen sofortigenFriedensvertrag für ganz Deutschland, Abzug der Besatzungstrup-pen in ganz Deutschland, Presse- und Rundfunkfreiheit, strengsteBestrafung der Schuldigen für diese Fehler, Preissenkung sämt-licher HO-Waren um 40 Prozent, Mitbestimmung an den politi-schen Ereignissen, die unschuldig in den Zuchthäusern Sitzendensollen freigelassen werden, die Zeitungen sollen über alleGeschehnisse berichten. Es soll keine Repressalien gegenüber denKollegen geben, das Schicksal der Vermissten des Zweiten Welt-krieges soll aufgeklärt werden, die Klassenunterschiede sollenwegfallen. Die Forderung des 17. Juni war also nicht nur der Kampf um dastägliche Brot. Nein, er war das Aufbegehren des Volkes nach Frei-heit, nach Recht und Demokratie. Und ich glaube, das ist weitmehr, als in meiner Überlieferung vom 17. Juni übrig gebliebenist, wohlgemerkt mit meiner Zeit, die ich hier in der DDR erlebthabe.Geschichte wird geschrieben mit Taten, guten, schlechten. AberGeschichte wird auch geschrieben mit Namen. Und ich schließemich Professor Weiss an: Bringen Sie die Namen, die die Stützpfei-ler der Geschichte, der Bewegungen sind, bringen Sie die Namenunter die Leute. Erinnern Sie sich an viele Namen, damit vieleNamen in das Erinnerungsbuch der Geschichte geschrieben wer-den können. Und ich glaube, jede kleine Tat, die von jemandemfür die Demokratie getan worden ist, sollte mit einbezogen wer-den. Ich bitte Sie ganz herzlich, vergessen Sie keinen Namen, derIhnen noch bekannt ist.

Marko Schiemann 19

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Wir brauchen die Erinnerung an die geschichtlichen Ereignisse des17. Juni. Dazu muss die Erlebnisgeneration am meisten beitragen.Und ich wünsche mir, dass Schulen dieses Wissen weitergeben. DieZeit des erlebten Sozialismus in der DDR soll uns vor künftigenExperimenten warnen. Sie muss gleichzeitig daran erinnern, dasses ein Gleichgewicht in der Gesellschaft geben muss. Die Mah-nung gebietet uns eine bessere Beachtung der Würde der Opfer.Der Widerstand von damals darf in den deutschen Ländern nievergessen werden. Die Ereignisse und der Widerstand muss derjungen Generation in fairer und offener Form zugänglich gemachtwerden. Wir sind aufgefordert, das Vermächtnis des Widerstandesin unserem Leben weiterzutragen. Die Erinnerung an die Leidender Opfer muss uns Kraft geben, Diktaturen für immer zu verhin-dern. Freiheit, Recht und Demokratie sind die wichtigsten Garan-ten, das Vermächtnis des 17. Juni des Jahres 1953 weiterleben zulassen.Dafür wünsche ich Ihnen eine sehr gute Veranstaltung.

20 Grußwort

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Michael Böhmer

Grußwort

Sehr geehrte Herren Vorsitzende,sehr geehrte Herren Landtagsabgeordnete,Professor Weiss und Herr Schiemann,sehr geehrter Herr Eisel,sehr geehrte Mitglieder des Bautzen-Komitees,liebe ehemalige Häftlinge,liebe weitere Gäste, und vor allem möchte ich die Schüler nennen, die zum Teil schonda sind,

ich heiße Sie herzlich willkommen in Bautzen und überbringe dieGrüße des Oberbürgermeisters, der sehr gerne heute wieder dagewesen wäre. Aber wie Sie ja wissen, ist er Präsident des Deut-schen Städte- und Gemeindebundes und leitet für einige Tage

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eine wichtige Ausschusssitzung in Nordrhein-Westfalen. VieleGrüße von ihm an dieser Stelle.Ich habe sehr gerne die Vertretung übernommen, weil ich michIhrem Anliegen sehr verbunden fühle. Der Grundtenor des Baut-zen-Forums war und ist die Frage, wie man Erfahrungen undErinnerungen der Betroffenen weitergeben kann, vor allem anjunge Leute, so dass sie nicht nur begreifen können, was gesche-hen ist, sondern selbst auch emotional davon berührt werden.Denn nur, wenn Wissen und Gefühl angesprochen worden sind, istein wirkliches Verstehen der Ereignisse, die eingetreten sind, mög-lich.Ich habe selbst als Kind – ich bin Ur-Bautzener – so eine Erfahrunggemacht, und zwar wohnten meine Tante und mein Onkel in derJohannes-R.-Becher-Straße. Meine Eltern besuchten relativ häufigsonntags diese Tante und diesen Onkel. Mein Vater zog immer inHöhe der Weigandstraße, in der Höhe, wo das Gefängnis hier ist,seinen Hut. Als wir hingingen und auch, als wir wieder zurückgin-gen. Ich habe mich immer gewundert – ich war vielleicht sechsoder acht Jahre –, und irgendwann habe ich die Frage gestellt:Vati, warum machst du das? Und da hat er mir erklärt, dass hierGeorg Dertinger, unser ehemaliger Außenminister und ein führen-des CDU-Mitglied, inhaftiert ist, und auch viele seiner Mitstreiter,viele der Leute, die 1953 diesen Volksaufstand vorangetriebenhaben. Durch das Ziehen des Hutes wollte er Ihnen seine Ehreerweisen. Danach konnte mir in der Schule niemand mehr etwaserzählen von Verbrechern, die dort sitzen. Sie wissen ja, wennman so etwas aus dem Mund des Vaters hört, dann ist das vielmehr, als wenn ein Lehrer oder andere Leute schlecht über dieLeute berichten, die in den Gefängnissen Deutschlands gesessenhaben.Ich glaube, dass solche Geschichten einen Menschen richtig prä-gen können. Deshalb ist es wichtig, dass junge Leute, Schüler, mitIhnen ins Gespräche kommen, damit sie Ihre Geschichten weiter-geben können, wie Sie gelitten haben, wie Ihre Familien gelittenhaben und welche, auch dauerhaften Schäden eingetreten sind,seien sie körperlicher Natur, seien sie auch seelischer Natur. Undich freue mich deshalb besonders, dass sich in diesem Jahr Schüle-rinnen und Schüler des Schiller-Gymnasiums Bautzen und derMittelschule Doberschau mit einem Projekt am Bautzen-Forumbeteiligen. Sie haben sich mit Zeitzeugen unterhalten, haben ihreGeschichten aufgeschrieben und als Zeitdokumente studiert und

22 Grußwort

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dokumentiert. So ist sicher auch bei ihnen ein lebendiges Bild des17. Juni 1953 und seiner Folgen entstanden. Die Schülerinnen und Schüler, die dies gemacht haben, werdensich übrigens auch beteiligen und uns unterstützen, wenn dieGedenkstätte Bautzen und die Stadtverwaltung am 17. Juni den50. Jahrestag der Wiederkehr des Volksaufstandes feiern. Wirladen an diesem Tag zu einer Gedenkveranstaltung und Kranznie-derlegung auf dem Karnickelberg in Bautzen ein. Am Abend wirdein Vortrag zum Thema 17. Juni 1953 in Bautzen gehalten wer-den. An dem dann folgenden Podiumsgespräch werden sich auchSchülerinnen und Schüler beteiligen. Ich denke, dass sich auchviele Bautzener daran beteiligen, denn auch die Bautzener habeneine Verpflichtung, zu ihrer Geschichte zu stehen, und das kannman nicht einfach so wegweisen.Ich denke, dass dieser 17. Juni ein unvergessliches Gesicht in derGeschichte erhalten wird, wenn diese Dinge zusammengefasstund mit konkreten Schicksalen und Erfahrungen verknüpft wer-den. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine angenehme undinformative Veranstaltung zum diesjährigen Bautzen-Forum.

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Bernd Faulenbach

Der 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte

Der 17. Juni 1953 ist vielen, vor allem jüngeren Menschen mehroder weniger unbekannt. Und bei den Älteren gehen die Urteileüber dieses Ereignis immer noch ziemlich weit auseinander. Fünf-zig Jahre ist das Geschehen jetzt her. Die Distanz sollte jedoch aus-reichen, den 17. Juni 1953 umfassend zu würdigen, ihn in diedeutsche und europäische Geschichte einzuordnen und seineBedeutung für die Gegenwart zu bestimmen.Wir verfügen über eine Vielzahl von Quellen. Zu nennen sind hierdie zahlreichen Zeitzeugenberichte: Unter uns sind viele, die den17. Juni 1953 als Zeitzeugen, einige auch als Beteiligte erlebthaben. Sie sind teilweise in den letzten Jahren erneut befragtworden oder haben von sich aus berichtet. Außerdem sind dieAkten der früheren DDR, die der Staatssicherheit, anderer staat-licher Stellen und die Parteiarchive, auch die auf der Ebene derBezirke zugänglich und in den letzten Jahren ebenso wie die

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Medienarchive des Westens eingehend ausgewertet worden. Sohat sich inzwischen für die zeithistorische Forschung ein Bild des17. Juni 1953 herausgebildet, das die lange vorherrschende Blik-kverengung auf die Ereignisse in Ost-Berlin überwunden hat.Sichtbar ist ein Geschehen, das fast die gesamt DDR umfasst hat,das – ich sage dies gleich eingangs und werde dies näher begrün-den – nichts weniger als eine gewaltsam abgebrochene Revolu-tion war, die Bedeutung sowohl in der deutschen wie in der euro-päischen Geschichte hat. Ich denke, es ist an der Zeit, dass auch diebreitere Öffentlichkeit dieses neue Bild des 17. Juni 1953 zurKenntnis nimmt und dass der 17. Juni 1953 in der deutschenErinnerungskultur verankert und auch in seiner europäischenBedeutung gesehen wird.Ich möchte zunächst die Konstellation des Jahres 1953 beleuchtenund nach Ursachen des Geschehens im Juni 1953 fragen. Dannwerde ich in einem zweiten Schritt das Geschehen am 16. und 17.Juni (und die Folgen) beleuchten, indem ich insbesondere nachden Forderungen der Aufstandsbewegung, nach ihren Trägernund nach den Formen der Auseinandersetzung frage. In einemdritten Schritt möchte ich den Charakter des Geschehens bestim-men und historisch einordnen, in einem vierten Schritt die Folgenfür die DDR und die Bundesrepublik thematisieren, dabei denUmgang mit der Erinnerung an den 17. Juni 1953 knapp charakte-risieren. Abschließend ist zu resümieren, welche Bedeutung der17. Juni 1953 für unser heutiges Selbstverständnis hat.

I) Zur politischen Konstellation 1953Im Juni 1953 lag das Ende des Krieges und des Dritten Reiches erstacht Jahre zurück; NS-Zeit und Krieg sind die Vorgeschichte, dieVoraussetzung der Nachkriegsentwicklung. In diesen acht Jahrenseit dem Ende des „Tausendjährigen Reiches“ war freilich vielgeschehen. Es hatte sich ein Ost-West-Gegensatz herausgebildet,zwei deutsche Staaten waren entstanden, die höchst gegensätz-lich waren und zunehmend zu Vorposten zweier Bündnissystemeausgebaut wurden.Im Westen war eine parlamentarische Demokratie etabliert wor-den, ein Rechtsstaat mit föderalistischer Struktur, in dem eine sozi-ale Marktwirtschaft eingeführt worden war. Der wirtschaftlicheAufschwung und rasante Wiederaufbau waren unübersehbar. Diedemokratische politische Kultur musste sich noch entwickeln bzw.festigen. Dennoch handelte es sich bei der Bundesrepublik un-

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übersehbar um eine Demokratie, die einen klaren Trennungsstrichzum Dritten Reich zog, auch wenn sie sich als dessen Rechtsnach-folgerin begriff und die Auseinandersetzung mit der gesellschaft-lichen Verantwortlichkeit für den NS und seine Politik – nach derumstrittenen Entnazifizierung und den Nürnberger Prozessen –nicht gerade konsequent betrieben wurde, was insbesondere fürdas Bürgertum und die bürgerlichen Parteien galt. Diese Bundes-republik schickte sich an, ein Teil der westlichen Welt, d. h. in diewestlichen Organisationen integriert zu werden. Wie dies miteiner Wiedervereinigung vereinbar war, darüber ging der Streitzwischen Sozial- und Christdemokraten.Die Entwicklung in der SBZ/DDR verlief sehr unterschiedlich zu derin Westdeutschland. Nach der frühen Zwangsvereinigung von SPDund KPD, der Durchsetzung der Blockpolitik und dem Übergangzu einer „Partei neuen Typs“ war mit der Errichtung einer kommu-nistischen Diktatur begonnen worden, die sehr eng mit der Besat-zungsherrschaft der Sowjets verbunden war und durch dieseabgestützt wurde. Die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ diente keines-wegs nur der Ausschaltung der Nazis, die auch hier nicht in jederHinsicht konsequent war, sondern auch der – teilweise mit sehrrabiaten Methoden durchgeführten – gesellschaftlichen Umwäl-zung, was freilich beides durch einen spezifischen ökonomistisch-gesellschaftlichen Faschismusbegriff zusammen gesehen undgerechtfertigt wurde. Die „antifaschistisch-demokratische Umwäl-zung“ war gleichsam die Basis für den Aufbau einer sozialistischenGesellschaftsordnung, der mit der zweiten Parteikonferenz im Juli1952 auch offiziell als Ziel proklamiert wurde. Anders formuliert:Die Politik der SED und der Besatzungsmacht wandte sichzunächst gegen die Junker, dann auch gegen Beamte und das Bür-gertum, auch gegen die Bauern, was zu erheblichen Widerstän-den der Bevölkerung je länger desto mehr gegen das Regimeführte. Es entstand geradezu eine flächendeckende Distanz zumSED-System, die auch von wesentlichen Teilen der Arbeiterschaftgeteilt wurde.Die Unzufriedenheit wurde durch die schlechte Versorgungslageverstärkt, die sich u. a. infolge der forcierten Militarisierung ver-schärfte. Auch der Kampf gegen die Kirche, insbesondere gegendie jungen Gemeinden oder auch Aktionen wie die Aktion „Unge-ziefer“, in der zahlreiche Menschen über Nacht aus den Zonen-randgebieten umgesiedelt wurden, förderten den Gegensatz zum

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System. 1952/53 baute sich eine enorme Unzufriedenheit in derBevölkerung auf.Auch das Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht schwächtedas Ansehen des Regimes: Die Reparationen aus laufender Pro-duktion, die Sowjetischen Aktiengesellschaften, die der Ausbeu-tung des Landes dienten, und die Härte, mit der die Besatzungs-macht Widerstände verfolgte, sind hier zu nennen.Stalins Tod im März 1953 wurde zwar auch in der DDR von denAnhängern des Systems beweint, zugleich aber entwickelten sichSpekulationen über die weitere sowjetische Deutschlandpolitik.Jedenfalls zwang Anfang Juni die neue sowjetische Führung dieSED-Führung, ihren Kurs zum Aufbau des Sozialismus zu mäßigen.Allerdings wurde die Heraufsetzung der Arbeitsnormen dabeinicht korrigiert.Eine unübersichtliche internationale Konstellation, ein unbelieb-tes Regime, das die Menschen als Objekte seiner Politik betrachte-te, erst spät seinen Kurs teilweise korrigierte, dabei freilich nichtkonsequent war, die Teilung Deutschlands, die weithin als unhalt-bar und unerträglich galt, eine Bundesrepublik, die sich unver-kennbar besser entwickelte als die DDR – dies alles sind Stichwor-te, die die Konstellation charakterisieren, in der sich aus einerStreikbewegung innerhalb weniger Stunden ein Aufstand entwik-kelte.

II) Das Geschehen am 16./17. Juni 1953 in seinen verschiedenenDimensionenDas Geschehen des 17. Juni 1953 hatte tiefere Ursachen, die teilsauf die sowjetische Politik, teils auf die SED-Politik, die auf derzweiten Parteikonferenz den systematischen Aufbau des Sozia-lismus beschlossen hatte, zurückzuführen sind. Schon in denWochen, insbesondere in den letzten Tagen vor dem 17. Juni,hatte es vielfältige Proteste gegeben, die auf große Unzufrieden-heit hindeuteten, die aber ignoriert worden waren. Dennochüberrascht die Vehemenz, mit der der Aufstand, den wohl kaumjemand im Osten (auch nicht die Stasi) und erst recht nicht imWesten vorhergesehen hatte, losbrach. Das eigentliche revolutio-näre Geschehen war zeitlich gesehen kurz, auch wenn keineswegsdie Proteste am 18. Juni schon überall zu Ende waren. Das Gesche-hen setzte am 16. Juni ein. Am Anfang stand die Arbeitsniederle-gung der Bauarbeiter an der Stalinallee, einer Baustelle, an derein ausgesprochenes Prestigeobjekt des neuen Systems hochgezo-

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gen wurde. Darüber war im RIAS berichtet worden. Am nächstenTag, an dessen Morgen der Berliner DGB-Vorsitzende Scharnowskizur Unterstützung der Streikenden aufgerufen hatte, kam esjedoch zu Aufständen in zahlreichen Städten der DDR (Sascha-IlkoKowalczuk geht inzwischen von Aktionen in ca. 700 Orten aus).Gerhard Beier hat die Ansicht vertreten, dass sich innerhalb einesTages eine revolutionäre Energie wie kaum sonst in der Geschichteentladen habe: „Der schlagartige, flächendeckende, massenhafteAufstand dürfte in dieser Form und mit dieser spontanen Wuchteinmalig sein.“ Weder der Matrosenaufstand in Kiel 1918 noch dieBerliner Kämpfe vom 18./19. März 1848 hätten in so kurzer Zeiteine vergleichbare Intensität entwickelt.

1. Zu den AbläufenWas die Formen und die Abläufe am 17. Juni angeht, so lassen siesich in vielen Städten typisiert wie folgt beschreiben:- die Arbeiter größerer Betriebe legten morgens ihre Arbeit nie-der,- sie machten ihrem Unmut Luft, erhoben Forderungen an dieRegierung, ein Streikkomitee wurde gebildet,- dann zogen sie – meist Forderungen skandierend, unterwegsSED-Spruchbänder etc. beseitigend – in die Stadtzentren,- sie versuchten gleichzeitig die Arbeitnehmer anderer Betriebe zubewegen, sich zu solidarisieren,- in einer ganzen Reihe von Städten zogen die Demonstranten vordie Gebäude der Partei, des Staates und seiner Organe undbesetzten diese nicht selten; zudem suchten Demonstranten dieGefängnisse zu stürmen und die politischen Gefangenen zubefreien; dies waren bedeutsame, hochsymbolische Aktionen, dievielerorts erfolgreich waren, doch auch auf Widerstand stießen;generell richteten sich die Angriffe vorrangig gegen Symbole derMacht,- im Zentrum der Städte traf man sich zu Massenveranstaltungen,zu denen neben den Arbeitern auch andere Bevölkerungsgruppengestoßen waren; auf diesen Kundgebungen wurden die Forderun-gen der Streikenden, der Demonstrierenden und der Aufständi-schen vorgetragen,- in einigen Orten kam es zur Absetzung des Bürgermeisters, so inGörlitz,- den Streikenden stellten sich anfangs mehr oder weniger ent-schieden Werksschutz, Parteifunktionäre oder auch Volkspolizei

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entgegen, doch wich ein Teil von diesen angesichts der Massener-hebung zurück, manche zogen die Uniformen aus, auch ein Teilder SED-Mitglieder schloss sich gar den Streikenden und Demon-strierenden an, in einigen Fällen kam es zu schweren Übergriffender Aufständischen gegenüber Repräsentanten des verhasstenRepressionsapparats,- auseinander getrieben wurden die Demonstranten und dieBesetzer vertrieben durch den massiven Einsatz von Panzern undSoldaten der Sowjetarmee, auch durch die unter dem Schutz derSowjetarmee vorgehende Volkspolizei – ein Einsatz, der einebeträchtliche Zahl von Menschenleben kostete,- die sowjetischen Truppen und die Ordnungskräfte des Regimesbegannen mit der Verhaftung der Streikführer, doch auch mitMassenverhaftungen.Zur Herausbildung einer DDR-weiten Leitung der Aktionen kam esangesichts der Kürze des Ablaufs nicht mehr. Allerdings hatten z.B. in Halle die Arbeiter das „Nationale Komitee freies Deutsch-land“ als Koordinationsgremium gegründet, von dem aus die Ver-bindung mit den anderen Zentren des Aufstandes in Mittel-deutschland aufgenommen werden sollte. Sehe ich es recht, so istdies einer der wenigen Versuche, den Volksaufstand überregionalzu organisieren, den wir als Historiker nachweisen können. Aller-dings brachte man in den Bezirken die Solidarität mit den BerlinerArbeitern zum Ausdruck. Der rasche gewaltsame Abbruch desGeschehens ist im Übrigen einer der Gründe dafür, dass sich Bildervon herausragenden Führungspersönlichkeiten des 17. Juni 1953in der Erinnerung kaum festgesetzt haben.

2. Zu den Trägern des AufstandesWer waren die Streikenden und Demonstrierenden? Offensichtlichhandelte es sich vor allem um Arbeiter aller Industrien. Ein Teilvon ihnen nahm – wie die Ostberliner Bilder zeigen – in Arbeits-kleidung an den Demonstrationen teil; ich erinnere an die Bildervon Maurern und Zimmerleuten oder an die Arbeiter des Stahl-werks Hennigsdorf, die zu Tausenden nach Berlin Mitte marschiertwaren.Unter den verhafteten Demonstranten, so lassen die Akten desInnenministeriums der DDR erkennen, waren 65,2 Prozent, alsofast zwei Drittel Arbeiter, 13 Prozent Angestellte, 4,2 Prozentselbstständige Handwerker, 1,9 Prozent Klein- und Mittelbauern,0,3 Prozent LPG-Bauern, 0,4 Prozent Großbauern, 0,4 Prozent

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Unternehmer, 1,7 Prozent Arbeitslose. 12,6 Prozent wurden unterSonstigen rubriziert, wobei unklar ist, inwieweit sich darunterAngehörige der Intelligenz und des Kulturbetriebes verbargen,die freilich das Handeln an diesem Tag kaum irgendwo sichtbarbestimmt haben. Offensichtlich dominierten die städtischenSchichten, obgleich wir heute wissen, dass auch die Landbevölke-rung in Aufruhr war. Unter den Demonstranten spielten jungeLeute eine wesentliche Rolle, wie die Bilder der Straßenauseinan-dersetzungen zeigen – die meisten Toten waren junge Leute –,doch handelte es sich keineswegs bei den Demonstranten nur umJugendliche, um „Rowdys“ und „Halbstarke“, wie es dann späterin der SED-Propaganda hieß.Gemessen an Ansprüchen und Selbstverständnis des SED-Regimeswar nicht nur der Aufstand, sondern auch das Profil der Aufständi-schen niederschmetternd. Es handelte sich gerade um die Arbei-terklasse und jene Schichten, für die die neue Ordnung errichtetworden war oder errichtet werden sollte. Die Arbeiter hatten sichgegen den Staat der Arbeiterklasse erhoben.Arbeiteraufstand oder Volksaufstand? Dies war eine der langestreitigen Fragen bei der Beurteilung des 17. Juni 1953. DieserStreit scheint heute obsolet. Es kann kein Zweifel bestehen, dassder Aufstand von den Baustellen und Betrieben ausging und dieArbeiter die weitaus größte Gruppe der Demonstranten, auch derOpfer und später der Repressierten stellten. Dennoch ist festzu-stellen, dass die Protestwelle fast die gesamte Bevölkerung ergriff.Klaus Harpprecht und Klaus Bölling haben wenige Jahre später inAnbetracht dieses Tatbestandes, doch auch angesichts der Wen-dung der Arbeiter gegen die Diktatur der Arbeiterklasse, für denAufstand, der sich so gänzlich dem marxistischen Revolutionssche-ma entzog, den Begriff einer „klassenlosen Revolution“ geprägt.Dass der Aufstand vom Westen aus geplant und durchgeführtworden sei, war eine nachträgliche Propagandathese der SED, fürdie es – ungeachtet der Beteiligung auch von jungen Leuten ausWest-Berlin – keinerlei Anhaltspunkte gibt.

3. Zu den Forderungen der Streikenden und DemonstrantenZur richtigen Erfassung des Geschehens haben wir auch die Forde-rungen und Parolen der Streikenden, der Demonstrierenden undAufständischen zu beleuchten. Dabei stehen sehr unterschiedlicheForderungen nebeneinander. Die Arbeiterdelegation, die am 16. Juni den RIAS besuchte, stellte

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vier schlichte Forderungen auf:1. Auszahlung der Löhne bei der nächsten Lohnzahlung bereitswieder nach den alten Normen (also die Rücknahme der Normen-erhöhung);2. Rücktritt der Regierung;3. Freie, geheime Wahlen;4. Keine Maßregelungen von Streikenden und Streiksprechern.

Aus der Sicht von Gerhard Beier ist der „sozialdemokratische undfreigewerkschaftliche Tenor“ der Parolen eindeutig, wobei dasFreiheitsmotiv das Hauptmotiv des Volksaufstandes gewesen sei.Gegangen sei es zunächst um „Freiheit als elementares Bedürfnisdes arbeitenden Menschen“, wozu die Forderung nach Normen-senkung und Kampf gegen willkürliche Normfestlegungen, d. h.die Forderung nach Freiheit am Arbeitsplatz und Freiheit vonAkkordtreiberei, zu rechnen war. Des Weiteren sei es um freieWahlen, d. h. die Kernfrage der politischen Freiheit gegangen.„Wir wollen freie Menschen sein“ – in dieser umfassenden Parole(teilweise auch in der Variante „Wir wollen keine Sklaven sein“vertreten) drückte sich demnach die Forderung nach politischerund wirtschaftlicher Freiheit gleichermaßen aus.Wir kennen heute die Vielzahl der Forderungen, die meist ziem-lich willkürlich aneinander gereiht wurden. Man kann die Forde-rungen in Gruppen zusammenfassen. Die erste Gruppe betraf dieArbeits- und Lebensbedingungen: die Korrektur der Normenerhö-hungen, die Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesonderedie Senkung der Preise in den HO-Läden usw. („HO macht uns k. o.“). Die zweite Gruppe, die praktisch nirgendwo fehlte, zielteauf den Sturz der Regierung. Formulierungen wie „Der Spitzbartmuss weg“ (gemeint war Ulbricht) oder „Spitzbart, Bauch undBrille sind nicht des Volkes Wille“ oder „Von Ulbricht, Pieck undGrotewohl haben wir die Schnauze voll“ waren verbreitet. Damitverbunden war die dritte Gruppe: die Forderung nach freien,geheimen Wahlen, teilweise verbunden mit der Forderung nachZulassung aller westdeutschen Parteien. Die Forderung nachfreien geheimen Wahlen war die Forderung, die Adenauer undOllenhauer, Christdemokraten wie Sozialdemokraten und dieanderen Parteien in Westdeutschland erhoben. Sie zielte auf poli-tischen Pluralismus, freien Wettbewerb der Parteien, implizit aberauch auf die Wiedervereinigung. Die Wiedervereinigung war eineselbstverständliche Forderung, die mancherorts am 17. Juni aber

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auch explizit erhoben wurde. Die vierte Gruppe von Forderungenhatte die Freilassung politischer Gefangener zum Ziel. In die fünf-te Gruppe kann man Forderungen nach einem Abzug der Besat-zungstruppen fassen. Insbesondere im Norden der DDR, aber nichtnur hier, teilweise in Reaktion auf die Meldungen über den Ein-satz von Panzern in Berlin ist eine antisowjetische Komponenteerkennbar. Es ging eben letztlich auch um Befreiung von dersowjetischen Vorherrschaft, so illusionär diese Forderung war.Dass es keineswegs nur um Fragen der Lebens- und Arbeitsbedin-gungen ging, macht z. B. ein Telegramm der Werktätigen desKreises Bitterfeld an die Regierung in Berlin-Pankow deutlich, dasam 17. Juni um 15.30 Uhr aufgegeben wurde. Hier wurden 9Punkte genannt:1. Rücktritt der sog. Deutschen Demokratischen Regierung, diesich durch Wahlmanöver an die Macht gebracht hat;2. Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschritt-lichen Werktätigen;3. Zulassung sämtlicher großen demokratischen Parteien West-deutschlands [dies zielte vor allem auf die Wiederzulassung derSPD];4. Freie, geheime, direkte Wahlen in vier Monaten;5. Freilassung sämtlicher politischen Gefangenen (direkt politi-

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scher, so genannter „Wirtschaftsverbrecher“ und konfessionellVerfolgter);6. Sofortige Abschaffung der Zonengrenzen und Zurückziehungder Vopo;7. Sofortige Normalisierung des sozialen Lebensstandards;8. Sofortige Ablösung der Nationalarmee;9. Keine Repressalien gegen Streikende.

Es lassen sich auch noch längere Forderungskataloge finden, diespontan – ohne große Vorbereitung – zusammengestellt wurden.Sie alle verzichteten auf jede Ideologie oder ideologische Einklei-dung. Sie zielten unmittelbar auf die Gegenwart. An ihrer Abfas-sung waren offensichtlich kaum Vertreter der Intelligenz, Wissen-schaftler oder Lehrer oder ähnliche Professionen beteiligt. Unver-kennbar herrschten Gegenwartsforderungen ökonomisch-sozialerund politischer Art vor.

4. Ein nationaler Grundzug?Was die Symbole angeht, die die Aufständischen verwandten, sowaren sie teilweise eher nationaler Art. An verschiedenen Stellenwurde – etwa am Vormittag des 17. Juni 1953 vor dem Haus derMinisterien in Ost-Berlin – das Deutschlandlied gesungen; auchspielte die schwarz-rot-goldene Fahne eine Rolle, die statt derroten auf dem Brandenburger Tor gehisst wurde. Die schwarz-rot-goldene Symbolik bot sich als Kontrast zum Rot an. Ein Momentder Wendung gegen die Fremdherrschaft, so wurde das SED-System in Verbindung mit der sowjetischen Besatzungsmachtgesehen, deutet sich dabei an. Daraus freilich Hinweise auf einenNationalismus der Demonstranten sehen zu wollen, wäre gewissfalsch. Willy Brandt schrieb 1954 in der Broschüre „Arbeiter undNation“: „Der 17. Juni war der eindringlichste Appell an das eige-ne Volk und die ganze Welt, dass es mit der Spaltung Deutsch-lands auf die Dauer nicht weitergehen kann.“ Brandt meinte indiesem Kontext, dem Deutschlandlied sei am 17. Juni „ein neuerKlang verliehen worden: Einigkeit und Recht und Freiheit für dasdeutsche Vaterland“. Fahnen der SED seien zerrissen worden,überall hätten sich die Arbeiter zu Schwarz-Rot-Gold bekannt. Diedeutsche Trikolore habe in einer Kampfsituation „eine neue Weiteerhalten“ – eine Einschätzung, die im Kontext der Zeit zu sehenist.

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5. Zur Niederschlagung des AufstandesZu den Charakteristika des Aufstandes gehörten eben auch diespezifischen Formen der Niederschlagung. Der Einsatz sowjet-ischer Truppen erfolgte nach sehr kurzer Zeit und er erfolgte insehr massiver Form, durch den Einsatz von Panzern – wie es ihn indieser Form bei der Niederschlagung von Aufständen noch nichtgegeben hatte. Die Härte des Vorgehens war dabei unterschied-lich. An der Niederschlagung war allerdings auch die Volkspolizeibeteiligt. Dass gleichwohl wichtige Teile von ihr, aus der Sicht desSystems, am 17. Juni versagt hatten, diese Einschätzung findet sichvielfach in den Akten und hatte in der Regel strafrechtliche oderdisziplinarische Maßnahmen zur Konsequenz.Zur Niederschlagung gehörten auch die Verhängung des Ausnah-mezustandes und die standrechtliche Erschießung von Demon-stranten (wir kennen heute 18 Fälle). Zwischen 75 und 150 Men-schen wurden – einschließlich der 18 standrechtlichen Erschießun-gen – getötet. Bedeutsam war auch, dass Tausende verhaftetwurden, von denen ein Teil, insbesondere die so genannten„Rädelsführer“, Haftstrafen erhielt. In der Literatur ist von 13 000Verhaftungen, von ca. 2 000 Verurteilungen die Rede. Eine größe-re Zahl von Beteiligten hatte sich der Verfolgung durch Flucht inden Westen entziehen können.Aufs Ganze gesehen kam es – wie Edgar Wolfrum formuliert hat –nach der Niederschlagung des Aufstands 1953/54 in der DDR zueiner „inneren Staatsgründung unter repressiven Vorzeichen“,wodurch sich die Spaltung Deutschlands vertiefte. Das SED-Systemversuchte in der Folgezeit zwar, die Fehler vor dem 17. Juni zu ver-meiden, stieß dabei aber an die systemischen Grenzen. Die histori-sche Legitimation des Regimes jedenfalls war auf Jahre nachhaltigerschüttert – in den Augen der Bürgerinnen und Bürger wie derinternationalen Öffentlichkeit.

III) Zur Charakterisierung des 17. Juni 1953„Wie ein erratischer Block“ – so hat der inzwischen verstorbeneHistoriker Gerhard Beier 1993 in seinem Buch „Wir wollen freieMenschen sein“ formuliert – „steht dieser Aufstand in der Tiefebe-ne der deutschen Geschichte. Seine Einmaligkeit, seine Größe undHärte, die explosionsartige Entfaltung und die schlagartige Unter-drückung behindern die Integration in das Kontinuum histori-schen Bewusstseins“. Der bisherige Umgang mit dem 17. Juni 1953scheint diese Charakterisierung seines Ortes in der Geschichte zu

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bestätigen. Gleichwohl sind einige Aussagen zur historischen undbegrifflichen Einordnung nach dem bisher Ausgeführten möglich.

1. Eine deutsche Revolution?Vieles spricht tatsächlich dafür, den 17. Juni 1953 als eine gewalt-sam abgebrochene Revolution zu bezeichnen: Die Volksbewegungzielte auf einen Umsturz der Verhältnisse, konnte sich aber nichtvoll entwickeln, weil die Sowjetmacht sie unterdrückte. EineWoche nach der blutigen Niederschlagung der Volksbewegung inder DDR am 17. Juni 1953 schrieb Marion Gräfin Dönhoff in derWochenzeitung ‚Die Zeit’: „Der 17. Juni wird einst und vielleichtnicht nur in die deutsche Geschichte eingehen als ein großer, einsymbolischer Tag. Er sollte bei uns jetzt schon zum Nationalfeier-tag des vereinigten Deutschland proklamiert werden. Denn andiesem 17. Juni hat sich etwas vollzogen, was wir alle für unmög-lich hielten [...] Als Demonstration begann’s und ist eine Revolu-tion geworden. Die erste wirkliche deutsche Revolution, ausgetra-gen von Arbeitern, die sich gegen das kommunistische Herr-schaftssystem empörten [...]“Gräfin Dönhoff misst dem Geschehen eine enorme historischeBedeutung bei, die womöglich über die deutsche Geschichte hin-

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ausgehe. Sie sieht in ihm eine „wirkliche deutsche Revolution“,was auf den Tatbestand verweist, dass Deutschland damals häufigals „Land ohne Revolution“ bezeichnet worden ist, was allerdingsso nicht zutreffend ist; ich erinnere nur an die Revolutionen von1848/49 und 1918/19. Allerdings gab es zweifellos in Deutschlandstarke autoritäre, obrigkeitsstaatliche Traditionen, auf derenHintergrund der 17. Juni 1953 eine erstaunliche demokratischeManifestation war. Sie wird verständlicher, wenn man sich ver-gegenwärtigt, dass Deutschland eben auch eine starke Traditionder Arbeiterbewegung besaß, die durch das Dritte Reich wohlnicht völlig ausgelöscht worden war und die beim 17. Juni 1953wieder hervorbrach. Der Aufstand lag gleichsam in der Traditions-linie der deutschen Arbeiterbewegung.

2. Schwierigkeiten marxistischer InterpretationDie Kennzeichnung als abgebrochene Revolution enthält freilichfür einen marxistischen Standpunkt, der von einer bestimmtenFolge von Revolutionen ausgeht, bei denen es jeweils eine an dieMacht drängende Klasse als Träger der Revolution gibt, Schwierig-keiten. Harpprecht und Bölling haben – wie angedeutet – voneiner „klassenlosen Revolution“ gesprochen, Baring und Beierhaben den „proletarischen Grundzug“ betont. Die SED konntesich das Geschehen nur als faschistischen Putschversuch, als Werkvon westlichen Agenten oder als Konterrevolution oder alsMischung von allen drei Komponenten erklären, eine Sicht, dieletztlich bis zum Ende der DDR vorherrschte. Doch sind alle dreiKennzeichnungen mehr als fragwürdig:- Von faschistischen Aktivitäten kann der Historiker nichts erken-nen. Die frühere KZ-Aufseherin Erna Dorn, die von der SED zur KZ-Kommandeuse emporstilisiert wurde (sie kam am 17. Juni frei,belastete sich durch wirre Reden und wurde nach äußerst frag-würdigem Verfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet), istganz ungeeignet, diese Interpretation zu belegen.- Der Begriff Konterrevolution trifft das Geschehen allenfalls inso-fern, als die Aufständischen nicht das SED-System wollten. Amehesten wird man ihr Ziel als soziale Demokratie bezeichnen kön-nen.- Die Rolle westlicher Agenten kann das flächendeckende Gesche-hen in der DDR nicht erklären. Gewiss gab es junge Leute ausWest-Berlin, die in Ost-Berlin dabei waren. Doch wie die Namenund Herkunft der Todesopfer zeigen: Es war eine kleine Minder-

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heit und um Agenten handelte es sich dabei offensichtlich nicht.Sicherlich sollte man auch das Geschehen am 17. Juni 1953 nichtidealisieren. Keine Frage, es gab Gewaltanwendung auch seitensder Demonstranten, hier und da auch gegen einzelne Personen,die als Verkörperung des Systems galten. Dies ist nicht wegzueska-motieren. Derartiges ist jedoch mit Revolutionen in der Regel ver-bunden gewesen.In der Bewegung des 17. Juni 1953 kam vorrangig ein elementaresFreiheitsstreben zum Ausdruck, das praktisch völlig auf ideologi-sche Begründungen verzichtete. Harpprecht und Bölling habenauf dem Hintergrund der konkreten Forderungskataloge denCharakter des Aufstandes etwas pathetisch wie folgt charakteri-siert: „Die Revolution des 17. Juni [...] brachte den Aufstand gegendie Utopien, die den Himmel auf die Erde verpflanzen wolltenund in Wirklichkeit die Pforten der Hölle öffneten. Die Revolutiondes 17. Juni – sie meinte das Hier und Heute und das Morgen. Siemeinte die Gegenwart und nicht die Zukunft, sie meinte das Glückder Stunde und den Segen des Augenblicks, sie meinte das Seinund nicht das Werden. Sie meinte das Mögliche und nicht das Voll-kommene, sie meinte das Leben und nicht die Ideologie.“

3. Der „erste Massenaufstand im Zeitalter des Totalitarismus“Wir haben bei der Kennzeichnung des Geschehens den Zeithinter-grund mit zu sehen. Keine Frage, dass die SED und die Sowjetu-nion – jedenfalls von ihrem ideologischen Anspruch her – späte-stens seit Ende der Vierzigerjahre versuchten, auf der Basis desMarxismus-Leninismus ein totalitäres System zu errichten, gegenden – im Einzelnen unterschiedlich motivierten – Widerstandbeträchtlicher Teile der Bevölkerung. Diesen Tatbestand hatte MaxDiamant vor Augen, ein alter Freund Willy Brandts aus der Emi-gration, als er 1956 in Mexiko, wo er zu diesem Zeitpunkt nochlebte, schrieb: „Die historische Bedeutung des 17. Juni 1953 liegtdarin, dass er der erste Massenaufstand im Zeitalter des Totalita-rismus war.“ In der Tat war der Aufstand der erste einer Reihe von Aufständenund Bewegungen, die sich gegen die kommunistische Herrschaftin Osteuropa richteten. Ich nenne den ebenfalls blutig niederge-schlagenen Ungarn-Aufstand 1956, die durch den Einmarsch derWarschauer-Pakt-Staaten beendete Bewegung des Prager Früh-lings (die das gleiche Ziel, die Überwindung des bürokratischenkommunistischen Systems hatte, wenn sie auch stärker von der

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Intelligenz und Teilen der Partei getragen war), die Solidarnosc-Bewegung (die wiederum eine Basisbewegung war, jedoch einegewisse Abstützung bei der katholischen Kirche fand), nichtzuletzt die Bewegung des Herbstes 1989 in der DDR, die anders alsdie genannten anderen Bewegungen, nicht zuletzt auch wegentief greifender mit dem Namen Gorbatschow verbundenen Verän-derungen in der Sowjetunion, erfolgreich war. Sicherlich unter-schieden sich die Abläufe des Herbstes 1989 von denen des 17.Juni 1953 nicht zuletzt in der Gewaltfrage. Am Anfang jedenfallshandelte es sich 1989 auch nicht um eine Bewegung der Arbeiter;nach der „Wende in der Wende“, d. h. nach dem 9. November1989, spielten allerdings die Arbeiter der Betriebe durchaus eineRolle. Ehrhart Neubert sieht die Revolution 1989 als „Vollendung desAufstandes“ vom 17. Juni 1953, eine interessante, doch diskus-sionsbedürftige Interpretation, die auf Übereinstimmungen in Zie-len abhebt, doch von der großen zeitlichen Distanz und denunterschiedlichen Konstellationen absieht.Resümierend ist festzustellen, dass der 17. Juni 1953 – hier ist MaxDiamant zuzustimmen – die erste einer ganzen Reihe von Bewe-gungen in Zentral- und Osteuropa war, die den Totalitarismus

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überwinden wollten. Insofern ist der 17. Juni 1953 auch ein Ereig-nis von europäischem Rang. Und er verweist auf die großen säku-laren Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts zwischenDemokratie und Totalitarismus.

IV) Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 in den beiden deutschenStaaten

1. Ostdeutsche TraumataFür die DDR, für das SED-System wie für breiteste Bevölkerungs-schichten, war – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – der17. Juni 1953 eine traumatische Erfahrung.Die Beteiligten – und dies waren Hunderttausende – hatten erle-ben müssen, dass die Bewegung innerhalb weniger Stunden mitbrutaler Macht, insbesondere von der sowjetischen Besatzungs-macht, teilweise aber auch von der Volkspolizei niedergeschlagenworden war. Der Westen hatte dabei nicht eingegriffen, woraufmanche gehofft hatten, was zu Enttäuschung führte. Und in derFolgezeit waren Tausende verhaftet und verurteilt worden. Siebüßten ihr politisches Engagement auf bitterste Weise, eine Erfah-rung, die zweifellos für viele Menschen geradezu prägend war.Die Beteiligten konnten später nicht einmal offen über ihre Erfah-rungen reden, jedenfalls wenn man in der DDR geblieben war,und das Interesse im Westen, in den manche geflohen waren, gingauf die Dauer zurück – ohnehin bildete sich hier ein bestimmtesetwas klischiertes Bild der Geschehnisse heraus, das zur verblas-senden Erinnerung passte. Erst nach 1989 gab es für viele dieMöglichkeit und das Bedürfnis, über die Erfahrungen offen zureden.Nicht wenige Menschen in der DDR wie im Westen, auch die west-liche Politik, folgerten aus der Niederschlagung durch eine massi-ve Militärintervention der sowjetischen Streitkräfte, dass ein Sturzdes SED-Systems durch Aktionen von unten unmöglich sei, eineAnnahme, die durch die Ereignisse von 1956, 1968 und 1980 inOsteuropa noch gefördert wurden. So blieb kein anderer Weg – soglaubte man –, als das System und die Verhältnisse allmählich zuverändern.Doch auch für die SED-Führung bildete der 17. Juni 1953 ein blei-bendes Trauma, das ihr Misstrauen gegen das Volk verstärkte undzum Ausbau eines immer perfekteren Sicherheitssystems und sei-ner Herrschaftsmethoden führte. Das Ministerium für Staatssicher-

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heit ist dabei ebenso zu nennen wie die Schaffung von „Kampf-truppen der Arbeiterklasse“. Es war charakteristisch für das SED-System, dass bis in die Siebzigerjahre die Sicherheitskräfte am 17.Juni in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Und Ende August 1989fragte Erich Mielke die versammelten hohen Stasi-Offiziere, ob dieSituation so zu beschreiben sei, dass ein neuer 17. Juni bevorstehe.Die Frage war, wie wir wissen, nicht unberechtigt, doch war dieKonstellation eine andere; jetzt war kein Verlass mehr auf diesowjetischen Freunde. Die Demonstranten vermieden zudem sorg-sam, Gewalt anzuwenden.Dass eine offene ehrliche Auseinandersetzung mit dem 17. Juni1953, selbst in der Literatur, bis zum Ende der DDR kaum statt-fand, charakterisiert das SED-System und seine mangelnde Fähig-keit zu lernen.

2. Die Erinnerung im WestenAus der Sicht praktisch aller politischen Kräfte in der Bundesrepu-blik – abgesehen von der KPD – war der 17. Juni 1953 ein national-politisch gravierendes Ereignis, was in den Trauerveranstaltungenfür die Opfer des Aufstandes in Bonn und vor allem in West-Berlinwenige Tage später ebenso zum Ausdruck kam wie in der –Anfang Juli durch Bundestagsbeschluss erfolgenden – Erhebungdes 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag, an dem ebenso an denAufstand zu erinnern war wie an die Verpflichtung, die deutscheEinheit in Freiheit zu schaffen.In der Interpretation durch Christdemokraten und Sozialdemokra-ten gab es dabei durchaus in der Akzentsetzung Unterschiede. DieSozialdemokraten hoben nicht nur den proletarischen, aus ihrerSicht im Grunde sozialdemokratischen Charakter des Aufstandeshervor (Willy Brandt etwa sprach im Bundestag von „Arbeiternmit sozialdemokratischen Anschauungen“, die nicht den „Nackenunter das Joch der zweiten Diktatur gebeugt hatten“), sondernsahen in ihm eine doppelte Stoßrichtung, die unmittelbar gegendas SED-System, mittelbar gegen die Westintegrationspolitikunter bürgerlichen Vorzeichen gerichtet war. Demgegenüberbetonten Konrad Adenauer und die CDU stärker den antikommu-nistischen Charakter des Aufstandes. Sie folgerten aus der anti-kommunistischen Komponente gleichsam ein Plebiszit für dieWestintegrationspolitik, was gewiss anfechtbar war. Doch sahenbeträchtliche Teile der westdeutschen Bevölkerung den 17. Junials Bestätigung der Legitimation einer Politik, die sich an die west-

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lichen Demokratien anlehnte und den Kommunismus bekämpfte.Einig waren sich jedoch die westdeutschen Parteien während derFünfzigerjahre darin, dass der 17. Juni das Fehlen jeder demokrati-schen Legitimation des SED-Systems bewiesen habe. Zweifellostrug er zur Delegitimation des SED-Systems bei und stützte mittel-bar im Zeichen der Ost-West-Konfrontation die Legitimation derBundesrepublik und die Überlegenheit westlicher Ideen. Ein Stückweit wurde die Erinnerung an den 17. Juni 1953 gegen das SED-System instrumentalisiert. Hier ist das allmähliche Verblassen der Erinnerung an den 17. Juniim Einzelnen nicht nachzuzeichnen (ich habe dies vor Jahren beieinem früheren Bautzen-Forum versucht). Doch einige Stichwortemöchte ich nennen:- Der Bau der Mauer am 13. August 1961 aktualisierte im Westenzwar die Kritik am SED-System und seiner Politik, überlagerte undverdrängte aber auch die Erinnerung an den 17. Juni 1953.- Die beiden deutschen Staaten begannen sich auseinander zuentwickeln. Vielen Bundesbürgern bedeutete die DDR zunehmendnicht mehr viel. Der 17. Juni 1953, in bester Jahreszeit, wurde zueinem Tag der Ausflüge, deshalb galt er – angesichts des Zurück-tretens des Gedenkaspektes – sensibleren Zeitgenossen als „Tagder Verlegenheit“. Es entwickelten sich Tendenzen, ihn abzuschaf-fen, ohne jedoch durchzudringen, weil der Tag geradezu als sozia-ler Besitzstand aufgefasst wurde und so recht keine konsensualeAlternative erkennbar war.- Der 17. Juni 1953 ließ sich mit der Gegenwart der 60er-Jahre, diein wachsendem Maße durch die Entspannungspolitik bestimmtwurde, nicht mehr kurzschließen. Das Scheitern der Bewegung des17. Juni 1953 wurde freilich von Willy Brandt u. a. in der Zeit derNeuen Ostpolitik mit einiger Plausibilität als Argument benutzt,um eine Politik zu begründen, die nicht durch Konfrontation, son-dern durch Vereinbarungen die Verhältnisse zu modifizieren undlangfristig zu überwinden suchte.- Seit den Siebzigerjahren wurde der 17. Juni 1953 zunehmendhistorisiert, d. h. in eine historische Distanz gerückt. In zutreffen-der Weise wurde dabei von einigen Historikern der Grundimpuls,das Streben nach Freiheit gesehen, doch gleichzeitig die auch vor-handene auf die Einheit zielende Dimension unterschätzt. FritzStern etwa formulierte bei der Gedenkfeier des deutschenBundestages 1987, der 17. Juni 1953 sei ein Aufstand für „ein bes-seres, für ein freieres Leben“ gewesen, „kein Aufstand für die

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Wiedervereinigung“, was zwar partiell richtig ist, doch die im 17.Juni 1953 angelegte Dynamik unterschätzt.1990 setzte sich merkwürdigerweise niemand für die Erhaltungdes 17. Juni 1953 als Feiertag ein. In Westdeutschland war der Tagzunehmend inhaltlich entleert worden, galt irgendwie als Relikteiner anderen Zeit – trotz der von Historikern entwickelten inter-pretatorischen Neuansätze, die das Bild des 17. Juni 1953 von sei-nen Einseitigkeiten und Zuspitzungen der Nachkriegszeit befreithatten. Merkwürdigerweise setzten sich auch die Bürgerrechtlerder DDR nicht für die Erhaltung des Feiertages ein. In der DDR gabes keine sich von 1953 herleitende oppositionelle demokratischeTradition. Hier machte sich bemerkbar, dass sich – zumal ange-sichts der Verfolgungen auf der einen Seite, der Fluchtmöglichkeitfür Oppositionelle auf der anderen Seite – keine Kontinuität derOpposition mit einem entwickelten Gedächtnis hatte herausbildenkönnen. Und die Denunziation des 17. Juni 1953 als faschistischerPutschversuch, als Konterrevolution, als Werk von westlichenAgenten war an vielen, die in der DDR sozialisiert waren, nichtspurlos vorübergegangen, abgesehen davon, dass der 17. Juni1953 aus ostdeutscher Sicht geradezu zu einem westdeutschenTraditionsbestand geworden war. Marianne Birthler hat jüngst – diese Einschätzung bestätigend – ineinem Interview mit dem Tagesspiegel erklärt, dass sie sich dafürschäme, dass selbst die Opposition der Achtzigerjahre in der DDRdie Erinnerung an den 17. Juni 1953 nicht geachtet habe: „Ichkann mir das nur so erklären“ – so formulierte die heutigeBundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen – „dass die Legenden-bildung der SED auch in meiner Generation wirkte. In der Schulewurde uns gesagt, es sei ein faschistischer, reaktionärer Putschgewesen. Und im Westen wurde dieser Feiertag während des Kal-ten Krieges auch instrumentalisiert. Die Bürgerbewegung der spä-ten DDR stand außerdem in engem Kontakt mit der linken Oppo-sition im Westen – und für die war der 17. Juni ein reaktionäresDatum.“ So weit eine nicht unmaßgebliche Stimme aus der frühe-ren DDR, die heute zu einer Neubewertung des 17. Juni 1953 auf-ruft.

V) Zur Gegenwartsbedeutung des 17. Juni 1953Ich denke, es ist an der Zeit, den 17. Juni 1953 neu zu sehen undihm im deutschen Geschichtsbewusstsein eine größere Bedeutungeinzuräumen. Er sollte eine größere Rolle im kollektiven Gedächt-

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nis und in der Geschichtskultur des vereinigten Deutschland ein-nehmen.Gewiss gibt es auch beim 17. Juni 1953 ambivalente Züge; dochdominant ist in einem redlichen Bild der demokratische Grundim-puls. Menschen wollten nicht nur Objekte der Politik sein. „Wirwollen freie Menschen sein“, skandierten die Ostberliner Arbeiter;sie wollten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: „Wir wollenuns selbst regieren“ – war der Tenor vieler Forderungen. Vielesspricht deshalb für die von den Historikern Christoph Kleßmannund Fritz Stern formulierte These, die Bewegung des 17. Juni 1953zu den demokratischen Bewegungen der deutschen Geschichte zuzählen, die im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft als Traditio-nen des Kampfes gegen Obrigkeitsstaat, gegen Diktatur und Tota-litarismus, d. h. für Menschen- und Bürgerrechte, aufzufassensind. Gerade der 50. Jahrestag des Aufstandes sollte – so meine ich– Anlass sein, sich erneut mit dem 17. Juni 1953 zu beschäftigen.Der 17. Juni 1953 gehört aus meiner Sicht – wie die Revolution1848, wie bestimmte liberale Traditionen und die demokratischeArbeiterbewegung, wie der Widerstand gegen Hitler oder derHerbst 1989 – zu den historischen Komplexen, die der frühereBundespräsident Gustav Heinemann als Freiheitstraditionen derdeutschen Geschichte bezeichnet hat. Zugleich ist der 17. Juni1953 – als erster Massenaufstand gegen den Totalitarismus – auchein europäisches Ereignis. Als Ereignis der deutschen und dereuropäischen Geschichte sollte der 17. Juni 1953 uns erinnerungs-würdig bleiben. Es gilt ihn dauerhaft im kollektiven Gedächtnisund in der Erinnerungskultur zu verankern.

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Podiumsgespräch

Der 17. Juni 1953 – Widerstand als Vermächtnismit Hans-Jochen Vogel, Erik Bettermann und Ronald Lässig(Moderation)

Lässig: Es ist mir persönlich ein großes Anliegen, hier zu sein, weil ichdenke, dass der 17. Juni oft unterbelichtet ist. Insofern ist es sehrschön, dass Erik Bettermann auch hier ist, der sich sicherlich imVerlaufe unserer Diskussion dazu äußern kann, welche Dimensio-nen der 17. Juni im Ausland hat, und darauf eingehen kann, wieer dort wahrgenommen wird, welche Möglichkeiten die DeutscheWelle hat, diese Problematik zu transportieren.Ich möchte das Podiumsgespräch aber mit Hans-Jochen Vogelbeginnen, der Gründungsvorsitzender des Vereins „Gegen Verges-sen – Für Demokratie“ ist, was ja im Grunde dieser Thematik des17. Juni und der Frage Widerstand als Vermächtnis gerecht wer-den kann.Hans-Jochen Vogel, welche Bilanz kann der Verein kurz vor dem

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50. Jahrestag dieses Datums ziehen?

Vogel:Wenn Sie erlauben, möchte ich aber zunächst noch einmal sagen,dass ich gerne wieder hierher gekommen bin. Es ist das vierte oderfünfte Mal, dass ich an einem Bautzen-Forum teilnehme. Und fürmich ist es immer auch eine willkommene Gelegenheit, den Men-schen, die in der DDR verfolgt worden sind, die gelitten haben,meinen Respekt zu erweisen, indem ich da bin und indem ich anden Diskussionen hier teilnehme.Zu Ihrer Frage: die Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokra-tie“ ist vor zehn Jahren, 1993, ins Leben getreten. Unter den 19Gründern waren von Anfang an Frauen und Männer – ich nennenur Herrn Fricke, der ja hier oft zugegen war –, die unter derzweiten Diktatur auf deutschem Boden gelitten haben. Wir wol-len erinnern, nicht um Schuldkomplexe zu konservieren. Men-schen, die damals noch gar nicht gelebt haben, kann man nichtmit dem Begriff Schuld konfrontieren. Wir wollen auch nicht, dassgelegentlich an Gedenktagen ein Betroffenheitsritual zelebriertwird. Nein, wir wollen die Verbrechen, die Opfer, die Täter, denWiderstand und vor allem die Ursachen, die zu der Katastrophegeführt haben, für die nachwachsende Generation – wobei dasheute ja auch schon 50-Jährige sind – in Erinnerung halten, damitsie vor Augen haben und als ständige Mahnung empfinden,wohin es führen kann, wenn die Menschenwürde missachtet undmit Füßen getreten wird, wenn die Freiheit dem Zwang Platzmacht. Wir wollen darauf hinweisen, wohin es führen kann, wenn Führerals allmächtig und allwissend akzeptiert und bejubelt werden. AnWarnzeichen ist ja bis in die Gegenwart hinein kein Mangel, 1993war dies besonders lebhaft. Von Anfang an haben wir gesagt, dassdas Erinnern dem NS-Regime, aber auch der zweiten Diktatur aufdeutschem Boden gilt. Ich füge hinzu, wir wollten nicht einfachgleichsetzen. Natürlich gab es Unterschiede zwischen den Diktatu-ren. Aber es darf auf keinen Fall der Vergessenheit anheim fallen,dass auch das stalinistische System und die zweite Diktatur aufdeutschem Boden die Menschenrechte mit Füßen getreten hatund dass Tausende von Menschen, die sich widersetzt haben, dieWiderstand geleistet haben, verfolgt wurden und ihr Leben, ihreFreiheit, ihre Gesundheit verloren haben.Der 17. Juni ist in diesem Zusammenhang immer ein ganz wichti-

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ger Termin. Und zwar als Mahnung, nicht einfach alles gleichgül-tig hinzunehmen. Ich war damals schon 27 Jahre alt. Ich erinneremich, dass wir dieses Ereignis acht Jahre nach Kriegsende wirklichals ein Beispiel dafür empfunden haben, dass Menschen sich nichtducken, nicht gleichgültig bleiben – es ging ja damals wohl inerster Linie um die Erhöhung der Normen für die Bauarbeiter,aber auch für andere –, sondern dass sie ihren Protest artikulieren,dass sie sich engagiert haben und dass sie dafür auch Gefahren inKauf genommen und später auch Opfer gebracht haben. Das,glaube ich, muss in der Erinnerung behalten werden.Ich kann mich durchaus denen anschließen, die sagen, die deut-sche Geschichte ist an freiheitlich motivierten Aufständen – mehrFreiheit, sich selber zu engagieren und einbringen zu können –nicht so reich gesegnet. Da fällt einem 1848 ein, der südbadischeAufstand von 1849, unter gewissen Aspekten 1918 und dannnatürlich 1989/90, wobei die Erinnerung daran leider auch gele-gentlich ein bisschen zu verblassen droht, und dann eben der 17.Juni 1953.Soweit unsere Vereinigung das kann – sie hat regionale Arbeits-gruppen auch in den neuen Bundesländern –, wollen wir unsdaran beteiligen, dass der 17. Juni in seiner geschichtlichen Bedeu-tung weiterhin wahrgenommen und nicht einfach nur an dieHistoriker abgegeben wird, so wichtig das auch ist.Ich freue mich übrigens, dass mehrere öffentlich-rechtliche Anstal-ten den 17. Juni 1953 auch zum Gegenstand von Dokumentar-und anderen Filmen machen. Es ist schade, dass Herr Sodannheute nicht da sein kann, der ja in einem der Filme eine Hauptrol-le gespielt hat. Das ist gut, weil auch das dazu beiträgt, die Erinne-rung wach zu halten.

Lässig:Sie haben schon den Bogen gespannt zu den öffentlich-recht-lichen Medien. Das macht mir den Übergang zu Erik Bettermannrecht leicht. Oftmals hört man, dass zu wenig gemahnt, die Erin-nerung nicht genügend wach gehalten wird. Wie stellt sich dies inden Medien heutzutage dar? Welche Möglichkeiten gibt es, auchüber die Grenzen von Deutschland hinaus, diesen 17. Juni nochdazu im Jahr der 50. Wiederkehr wach zu halten und vor allemauch daran in den verschiedensten Arten und Weisen im Auslandzu erinnern?Bettermann:

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Lassen Sie auch mich eine persönliche Vorbemerkung machen. Ichwill Ihnen ganz bewusst sagen, dass es heute, am 8. Mai, an mei-nem Geburtstag, eine ganz besondere Bedeutung hatte, hierhernach Bautzen zu kommen. Ich will Ihnen auch sagen, warum, undbin damit eigentlich beim 17. Juni 1953.Ich bin heute vor 59 Jahren gar nicht weit weg von hier zur Weltgekommen. Also, das war noch zur Nazi-Zeit. Ich habe dann dieersten Jahre in der Sowjetischen Besatzungszone gelebt. Für michist die Entscheidung meiner Eltern ein Glücksfall der Geschichtegewesen, dass wir exakt am 1. Oktober 1949 aus der Nähe vonLeipzig zurückgegangen sind ins Rheinland, von wo mein Vaterstammte. Meine Mutter kam aus Thüringen, und das ist derGrund, warum ich dort zur Welt gekommen bin.Wenn ich also am 8. Mai, den dieser Staat früher immer als Tagder Befreiung bezeichnet hat, hier nach Bautzen komme, dannsage ich ganz persönlich – ich war immerhin schon neun Jahre am17. Juni 1953 –, dass das für die eigene Reflexion, für das, was daseigene Leben ausmacht, das Glück, das ich gehabt habe, nicht indem Regime aufwachsen zu müssen, dass das wichtig ist, dass mandarüber immer wieder reflektiert. Denn es ist leider so, dass in dentäglichen Abläufen, durch die Überflutung auch durch die Medien– ich komme zu ihrem Punkt – man ja oft in eine gewisse Heile-Welt-Duselei hineinkommt und sich über das, was eigentlich dieeigene Geschichte ausmacht, die ganz individuelle Geschichte,sehr wenige Gedanken macht.Lassen Sie mich noch ein zweites Erlebnis anfügen, warum ichtrotz meines damaligen Alters von neun Jahren diesen 17. Juni1953 durchaus in Erinnerung habe. Als wir 1949 aus Leipzig nachWestdeutschland in den Raum Köln gegangen sind, glaubtenmeine Eltern, dass die Einheit unmittelbar vor der Tür steht. Vielevon Ihnen und alle diejenigen in Westdeutschland, die die ganzeZeit der Mauer bewusst miterlebt haben, halten das, was ich Ihnenjetzt erzähle, wahrscheinlich für undenkbar.In dem Haus, in dem wir wohnten, haben meine Eltern damals,weil sie dachten, wir kämen bald zurück, meine Eisenbahn aufdem Speicher eingeschlossen. Meine Mutter und ich sind 1952 miteinem Messeausweis zur Herbstmesse nach Leipzig gefahren undhaben die Eisenbahn geholt. Wenn Sie mal an die Zeit nicht nurvon 1961 bis 1989 denken, sondern auch an die Zeit davor, ist daseigentlich unvorstellbar. Ich war also als kleines Kind ein knappesdreiviertel Jahr vor dem 17. Juni in Leipzig bei meiner Großmutter,

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bei meiner Cousine. Und das hat schon dazu geführt, dass an dem17. Juni selbst, als es dann die Medien in Westdeutschland berich-teten, sie auch als Acht-, Neunjähriger vielleicht sehr egoistischdachten, da kommst du nie wieder in deinen Kindergarten und zudeinen Freunden zurück. Das heißt anders ausgedrückt für mich:Ich habe das damals mit der deutschen Einheit sicherlich nochnicht begriffen. War das etwas, von dem ich als kleines Kind davonausging, was mir vielleicht ermöglicht, meine Sandkastenfreundewieder regelmäßig zu besuchen, ohne Messeausweis und solchenTricks? Daran kann ich mich noch gut entsinnen.Das soll Ihnen deutlich machen, dass ich in der Verantwortung alsIntendant dieses deutschen Auslandrundfunks meinen Beitragdazu leisten werde, dass der 17. Juni 1953 genauso auch wie dieandere Zeit der Diktatur auf deutschem Boden, also die Nazi-Zeit,nicht in Vergessenheit gerät.Ich muss Ihnen auch sagen, dass ich aus vielen Gesprächen undBesuchen in meinem Sendegebiet – das ist der Globus – weiß, dassdie Wahrnehmung dessen, was in Deutschland an totalitären Regi-men war, die überwunden worden sind, im Ausland viel größer istals in Deutschland selbst. Man darf auch nicht vergessen, dass zweiDrittel der Menschheit in nicht liberalisierten Medienmärktenleben. Die meisten von ihnen leben in Einparteiensystemen, inDiktaturen mit den dazugehörigen Medien. Insofern ist die Deut-sche Welle in diesen Regionen der Welt ein Stückchen Stimme derFreiheit. Und damit meine ich nicht, missionarisch zu erzählen, woes jetzt hingehen muss, sondern die individuelle Freiheit als Zielhervorzuheben. Dieser Aspekt war sicherlich für viele derjenigen,die nach dem 17. Juni verfolgt wurden und es nicht geschaffthaben, über die Grenze nach Westdeutschland zu kommen, ganzwichtig. Wir nehmen diese Rolle im Ausland wahr und werden im Auslandauch gefragt: Wie habt ihr Deutschen das denn eigentlichgemacht? Wie war die Situation der einzelnen Menschen? Des-wegen sind meine Kollegen mit der Fernsehkamera nicht hier, umihren Intendanten aufzunehmen, sondern um möglichst viel vonIhnen, von den Zeitzeugen, zu erfahren, Ihre Lebensschicksale mit-zunehmen, um diese beispielhaft dafür zu zeigen, wie in Deutsch-land die Abläufe – sei es am 17. Juni 1953 oder sei es 1989 oder seies in der Nazidiktatur – gewesen sind. Ich finde, dass ich aufgrund meines Lebensalters Schuld weder fürdas eine noch für das andere empfinden kann. Aber Verantwor-

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tung empfinde ich schon. Verantwortung dafür, dass die Deut-schen aus ihrer Geschichte, aus diesen zwei unsäglichen Diktatu-ren, bestimmte Lehren gezogen haben. Und dieses weiter-zugeben, zu sagen, nicht alles hinzunehmen, sondern auch zuopponieren, auch wenn es im Zweifelsfalle um Leib und Lebengeht, das heißt persönliche Zivilcourage. Dies gilt vielleicht alsAntwort auf die Situation im Ausland. Ihre Frage bezog sich aberauch auf das Inland. Ich glaube, dass wir viel mehr von diesen Programmgenres aufle-gen müssen, die die Vergangenheit und die Verantwortung, dieErfahrung aus der Vergangenheit auch weitergeben können. Siewissen von dieser Notwendigkeit. Wir sitzen hier zusammen, lau-schen Podiumsdiskussionen, stellen Fragen, halten Vorträge. Aberwir wissen, dass wir nicht die Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-ger der Bundesrepublik sind. Deswegen stellt sich die Frage, wieman mit den Methoden heutiger Kommunikation diese Erfah-rung, diese Verantwortung, diese Einzelschicksale – dennGeschichte steht immer durch Menschen und deren Schicksale –weitertransportieren kann.Filme wie gestern Abend sind vielleicht für den einen oder ande-ren Betroffenen von Ihnen, der unter den Folgen seines Engage-

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ments am 17. Juni 1953 persönlich sehr gelitten hat, etwas zu spie-lerisch. Aber ich bitte um Verständnis dafür, dass kommendeGenerationen, die heute 15-20-Jährigen eben ein bestimmtesRezeptionsverhalten haben, und das ist nicht mehr nur allein, denZeitzeugen zu lauschen. Wirken Sie mit, solange Sie das können,an Formen, vielleicht spielerischen Formen, um dieses Schicksal,die Bedeutung, die Revolution – und für mich war der 17. Juni1953 ein Stück deutscher Revolution – weiterzutragen an jungeMenschen heute.Lassen Sie mich schließen mit einer nochmaligen persönlichenErfahrung. Als die Mauer gefallen war, am 9. November 1989, warich – im Februar hatte die SPD ihren Parteitag in Leipzig-Markklee-berg gemacht – in Markkleeberg, und habe meinen damals 14-jährigen Sohn mitgenommen, der in Köln aufgewachsen ist. Alswir zurückgefahren sind, war der Strom von Ost nach West in Eise-nach so groß, dass der Grenzübergang praktisch zu war. Es gabeinen Notübergang, etwas weiter nördlich von Wartha-Herleshau-sen. In diesen Grenzzaun waren Betonblöcke hineingelegt. Dasging immer Stop-and-go. Ich habe versucht, meinem Sohn meinWissen weiterzugeben, und habe gesagt, dass hier die Hundeangekettet waren, die auf Menschen gehetzt wurden, die nur vondem einen Teil Deutschlands in den anderen Teil wollten. Wie mandas eben so erklärt. Da kamen wir ganz vorne an den Grenzzaun,wo ein Container stand, wo der Grenzpolizist der NVA saß. Undweil das alles ein bisschen viel war, winkte er uns aus dem Fensterheraus mit dem kleinen Finger einfach vorbei. Da sagte mein 14-jähriger Sohn: Also Vater, du kannst mir ja viel erzählen, aber wirfahren ja hier drüber wie in Aachen-Lichtenbusch von Deutsch-land nach Belgien.Meine Damen und Herren, ich sage das deshalb als abschließendesBeispiel, um deutlich zu machen, dass wir alle eine Verantwortunghaben, diese Vergangenheit kommenden Generationen in einerWeise weiterzugeben, dass etwas nicht nur glorifiziert wird, son-dern dass man die eigene Betroffenheit dabei erfährt. Und dasgeht eben heute teilweise über Spielfilme, das geht über Doku-mentationen. Ich würde mir wünschen, dass meine Kollegen vonden Landesrundfunkanstalten etwas mehr tun, als das bishergewesen ist. Und dabei geht es nicht nur um den 17. Juni 1953.Lässig:Erik Bettermann hat gerade den Herbst 1989 angesprochen. Dasspannt den Bogen zu einer Frage, die Hans-Jochen Vogel aus sei-

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ner Vielzahl politischer Funktionen, nicht zuletzt auch als regie-render Bürgermeister in Berlin, sicherlich beantworten kann.Inwieweit war denn der 17. Juni 1953 ein Vorläufer für den Herbst1989? Welche Bedeutung kommt ihm zu, womöglich als Ursachefür die Wende überhaupt?

Vogel:Das ist eine Frage, die sich wohl in erster Linie an die Menschen inder ehemaligen DDR richtet, die im Herbst 1989 ihre eigenenAngelegenheiten in die eigenen Hände genommen haben, diedemonstriert haben, die zunächst „Wir sind das Volk!“ und dann„Wir sind ein Volk!“ gesagt haben. Hier stehen mir die LeipzigerDemonstrationen immer ganz besonders vor Augen. Da müssteman also fragen, was für diese Menschen speziell die Erinnerungan den 17. Juni 1953 bedeutet hat. Ich kann mir vorstellen, dassman am Anfang ja auch vor Augen hatte, dass dann am 17. Juninachmittags und am 18. Juni die Panzer auffuhren, dass geschos-sen wurde, dass das Standrecht verhängt wurde. Ich sehe noch dasPlakat vor mir mit der Unterschrift eines Generals – Kotikov hießer, glaube ich –, dass das Standrecht verhängt sei. Aber das hat jadie Menschen in der anderen Situation des November oder schonOktober 1989 nicht gehindert, sich zu engagieren, ihre Meinungzu bekunden und Protest zum Ausdruck zu bringen.Im Westen war das mit dem 17. Juni 1953 eine Sache, die ich nichtbeschönigen will. Es gab spätestens ab den Siebzigerjahreneigentlich mehr die Vorstellung, dies sei ein zusätzlicher Feiertag.Warum es eigentlich diesen Feiertag gab, das war, glaube ich,nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein. Aber der DeutscheBundestag, das sei zu seiner Ehre gesagt, hat auch in den Siebzi-ger- und Achtzigerjahren jeweils am 17. Juni eine Gedenkveran-staltung abgehalten. Und mir sind noch einige Reden dieserGedenkveranstaltungen in Erinnerung, darunter eine von FritzStern aus dem Jahr 1987. Es war so, dass die Fraktionen immerreihum den Redner vorschlagen konnten. Wir hatten Stern vorge-schlagen, der übrigens in dieser Rede in ganz eindrucksvollerWeise den 17. Juni 1953 in die Freiheits- und Revolutionsgeschich-te Deutschlands eingeordnet hat. Und dann ist mir vor allem noch die Rede in Erinnerung, dieErhard Eppler am 17. Juni 1989 gehalten hat. Er war der Erste, derim Bundestag mit völliger Klarheit die Möglichkeit angesprochenhat, dass das Regime in der DDR an sein Ende kommen könnte. Er

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hat sinngemäß gesagt: Wir wollen die DDR nicht destabilisieren,aber man kann kein System daran hindern, sich selbst zu ruinie-ren. Und er hat weiter gesagt: Wenn einer auf einer schmelzen-den Eisscholle steht und nicht merkt, dass sie schmilzt, und nichtsunternimmt, dann muss er sich nicht wundern, wenn er in abseh-barer Zeit versinkt. Das war das erste Mal, dass einer bei einer sol-chen Gelegenheit diese Möglichkeit so deutlich angesprochen hat. Es muss hinzugefügt werden, dass die Zahl derer, die im Sommer1989 genau vorausgesehen haben, was dann in den nächstenMonaten passieren würde, erst hinterher sprunghaft gewachsenist. Damals hat sie sich sehr im Rahmen gehalten. Ich bekenneauch von mir aus ganz freimütig, dass ich zwar immer geglaubthabe, dass wir schrittweise zu einer deutschen Einigung im Rah-men einer europäischen Einigung kommen. Deshalb habe ich dieReformen von Gorbatschow als ermutigende Schritte in dieseRichtung angesehen. Aber dass die Menschen eine Situation vor-finden würden, wo sie friedlich und ohne einen Tropfen Blut ihrenWillen so bekunden können und dann die Einheit so zustandekommt, das habe ich im Sommer 1989 auch nicht vorausgesehen.Nun noch einmal zu Ihrer Frage: Der 17. Juni war, glaube ich, fürdie Menschen in der DDR, die sich dann 1987/88/89 schon in derBürgerbewegung engagiert haben, präsent. Im Westen hat seineFunktion gewechselt. Aber er hat jedenfalls im Deutschen Bundes-tag bis zuletzt die bedeutsame Rolle gespielt, die ich Ihnen geradedargelegt habe.

Lässig:In diesem Zusammenhang spielt sicher auch die Entspannungspoli-tik eine große Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung. Wiesehen Sie das?

Vogel:Der 17. Juni 1953 hat insofern eine Rolle gespielt, als er denGedanken, dass die deutsche Teilung nicht die endgültige Antwortder Geschichte sei, immer wieder wachgerufen hat. Aber da mussman sagen, dass für die deutsche Einigung und die Ostpolitik der13. August 1961 eine noch größere Rolle gespielt hat. Denn der13. August 1961 hat gezeigt, dass die bis dahin praktizierte Politikder Nicht-Anerkennung der Existenz der DDR oder auch der Oder-Neiße-Grenze an ihr Ende gekommen war, weil die Westmächte –was ich ihnen gar nicht vorwerfe – sehr rasch haben erkennen las-

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sen, dass sie zwar die Anwesenheit ihrer Truppen in West-Berlinverteidigen, aber im Übrigen die Mauer und diese Teilung hinneh-men würden. Und das war für Willy Brandt, Egon Bahr und andereder Anstoß, darüber nachzudenken, wie man denn auf dieser ver-änderten Grundlage eine Politik treiben würde, die eines Tagesdort münden kann, wo sie auch wirklich mündete. Dafür war alsoder 13. August 1961 eigentlich ein noch wichtigerer Tag. Dasheißt, es war eine Kette. Wir haben lernen müssen, dass auf die Gewaltanwendungengegen die Demonstranten am 17. Juni seitens des Westens nichtspassierte. Wobei ich auch ehrlicherweise sagen muss, dass mannicht weiß, was der Westen denn hätte machen sollen. Sollten sieeinmarschieren oder Bomben werfen? Das hat wohl im Ernst kei-ner haben wollen. Auf den ungarischen Aufstand 1956 passiertenichts, obwohl es da Stimmen gab – und ich glaube, die habenhinterher auch selbst Gewissensbisse bekommen –, die die Auf-ständischen ermutigt haben und ihnen zugeredet haben. Aber siehätten besser sagen müssen, dass sie – was immer auch passiert –

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an der Grenze stehen bleiben. Dann kam der 13. August 1961, unddas hat dann dazu geführt, dass eine neue, und ich glaube, besse-re Politik in Bezug auf die friedliche Entwicklung und auf die Eini-gung Platz gegriffen hat.

Lässig:Erik Bettermann, wie schätzen Sie den Kenntnisstand im Auslandzur Thematik 17. Juni 1953, DDR und friedliche Revolution ein?Wir, die wir hier im Saal sitzen, kennen uns sicherlich alle recht gutdamit aus. Wir haben es z. T. selber erlebt bzw. auch durchGeschichtsunterricht etc. davon erfahren. Aber wie ist der Kennt-nisstand im Ausland?

Bettermann:Da muss man auch ehrlich zu sich selbst sein. Der Kenntnisstandüber solch einzelne Ereignisse und Daten, sei es der 17. Juni oder1961 usw., ist natürlich auch im Ausland bei der kommenden oderjüngeren Generation relativ niedrig. Wenn ich vorhin gesagt habe,dass das Interesse und das Wissen um Deutschland, um das, washier passiert ist, im Ausland teilweise größer ist als im Inland, dameinte ich damit Folgendes. Dort wird immer noch die Fragegestellt, wie die Deutschen das eigentlich mit dieser Wiederverei-nigung machen – ökonomisch, politisch, wie auch immer. Die Ant-wort im Ausland lautet, dass die Probleme scheinbar ganz gutgemeistert werden. Ich will damit sagen, dass vom Ausland hergesehen die Anstrengungen und die Erfolge der Deutschen insge-samt seit 1989 oder seit der staatlichen Einheit 1990 viel höhereingeschätzt werden als manchmal von uns selbst. Damit meineich nicht, die einzelnen ökonomischen Schwierigkeiten zu ver-schweigen, und auch nicht, es schönzureden. Ich wiederhole, was ich vorhin gesagt habe: Zwei Drittel derMenschheit leben in Einparteiensystemen, Diktaturen und nichtliberalisierten Medienmärkten. Dort besteht natürlich ein hohesInteresse daran, zu erfahren, wie die friedliche Revolution von1989 mitsamt ihrer Vorgeschichte abgelaufen ist. Also das, wasBernd Faulenbach hier heute sozusagen als Zeitachse dargestellthat, das, was Hans-Jochen Vogel eben gesagt hat, das findet Inter-esse, ohne dass ich jetzt unterstellen kann, dass jeder – da mussman überlegen, über welches Ausland wir reden – nun jeden ein-zelnen Schritt weiß. Wenn ich über das Ausland rede, dann meine ich zunächst einmal

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Länder außerhalb Europas. Wir haben aber auch innerhalb Euro-pas, gar nicht mal so weit weg, Staaten, die durchaus noch ineiner Art Transformation sind. Da meine ich nicht diejenigen, diejetzt Mitglied in der EU werden im nächsten Jahr, sondern zumBeispiel die Ukraine oder andere Republiken der ehemaligenSowjetunion. Dort gibt es Info-Eliten, die kommenden Generatio-nen, die sagen, dass es dort so nicht weitergehen kann. Diese Per-sonen empfinden Medienunfreiheit – die gibt es dort wie es sie inder DDR gegeben hat – auch als etwas Unnatürliches und etwas zuVeränderndes, ohne die Alternativen zu kennen, es sei denn, siehören den Auslandsrundfunk; nicht nur Deutsche Welle, sondernauch die BBC und andere.In diesen Staaten gibt es bei kommenden Generationen, die mor-gen Verantwortung übernehmen, ein großes Interesse, zu erfah-ren, wie die Transformation Deutschlands eigentlich abgelaufenist. Da genügt es nicht, dass man nur den 9. November 1989 deut-lich macht, sondern man muss die Vorgeschichte erwähnen. Essollte aber auch klargestellt werden, dass es nicht alle so machenmüssen, wie wir Deutschen es gemacht haben. Bei denen im Aus-land, die Erfahrungen sammeln wollen, ist das Interesse aber oftgrößer als im Inland. Ich sage noch einmal: es ist vor unserer Haustür. Gehen Sie in Teiledes Balkans, die jetzt nicht gleich vor der Tür der EU stehen, dannwissen Sie alle, dass es dort nicht nur bis vor kurzem erheblicheMenschenrechtsverletzungen gab, sondern dass es dort Transfor-mationsprozesse gibt. Darüber reden wir heutzutage ja schon garnicht mehr. Das Problem ist ja auch die Halbwertzeit der öffent-lichen Berichterstattung, das sage ich auch durchaus selbstkritischzu Journalisten. Wer redet heute noch über die Krise in Bosnien-Herzegowina? Dort ist gleichwohl noch eine Krise. Über den Koso-vo reden wir auch nicht mehr. Über Afghanistan reden wir jaschon nicht mehr. Wir reden jetzt natürlich logischerweise überden Irak und sein Umfeld.Aber das ist nicht so, dass dort sozusagen die ganzen Transforma-tionen im Sinne dessen, was wir in Deutschland erlebt haben,abgeschlossen sind. Diese Länder stehen erst am Anfang. Des-wegen gibt es das Interesse daran, Informationen zu bekommen,wie die Transformation in Deutschland abgelaufen ist – unterunvergleichlich günstigeren Bedingungen als in irgendeinem die-ser Länder. Da würde ich mir manchmal wünschen, dass das Inter-esse an der eigenen Geschichte in Deutschland genauso groß wäre

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wie das des Auslands an Deutschland. Wir können da viel leisten,die Medien, die Journalisten. Teilweise ist sogar schon der 3. Okt-ober 1990 in der Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Und der 3.Oktober degeneriert – so wie es in Westdeutschland schon in derTat der Fall ist – zu einem arbeitsfreien Tag. Ich kann mich noch gut an die Debatte heute Morgen über den17. Juni als Staatsfeiertag entsinnen. Angelika Barbe hat vorhinangesprochen, dass ein Staatsfeiertag positiv besetzt sein muss.Aus diesem Satz heraus merkt man, dass eigentlich der 17. Juni inWestdeutschland zu einem freien Tag geworden ist, der nichtpositiv besetzt war. Im Sinne einer deutschen Revolutionsgeschich-te war das Ereignis aber eigentlich etwas Positives und nichtsNegatives. Nur der Ausgang ist negativ gewesen.Deswegen sage ich, dass es die Aufgabe der Journalisten, der Poli-tik, aller gesellschaftlichen Gruppen ist, das Bewusstsein über dieeigene Geschichte wach zu halten. Nur dann sind wir glaubwürdigund können die Erwartungen, die das Ausland an uns hat, auchentsprechend erfüllen. Nur dann können wir auch ehrlicher mitdem Finger auf die Wunde zeigen, wenn in der Ukraine oder inWeißrussland bestimmte Menschenrechtsverletzungen nach wievor gang und gäbe sind. Dann haben wir auch noch mehr Berech-tigung, darüber zu reden. Meine Sorge ist, dass die Diskussion

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über die eigene Geschichte zu sehr in kleinen Zirkeln bleibt. Jeder,der hier sitzt – einschließlich meiner Person –, muss dafür sorgen,dass wir sie hinaustragen.

Vogel:Ich würde gerne auch noch einige kurze Bemerkungen zur Feier-tagsfrage machen, von der ich höre, dass sie heute Morgen erör-tert wurde. Erstens: derjenige, der den Antrag im Bundestag veranlasst undeingebracht hat, dass der 17. Juni zu einem nationalen Feiertagwird, das war damals im Jahr 1953 Herbert Wehner. Das darf nichtganz vergessen werden: Herbert Wehner und ihm folgend dieSPD-Fraktion. Der Antrag war nicht ganz unstrittig im Parlament,aber es ist dann sehr rasch beschlossen worden.Zweitens: im Zuge der Verhandlungen über den deutschen Ein-igungsvertrag hat – das hat Erik Bettermann gerade erwähnt – dieFeiertagsfrage auch eine Rolle gespielt. Die damalige Bundesre-gierung hat gesagt: Wir wollen die Frage im Einigungsvertrag miterledigen und wir wollen den Tag nehmen, an dem sie vollzogenwird, also den 3. Oktober 1990. Wir – und ich war ja damals Frak-tionsvorsitzender der SPD – haben gesagt, es wäre eigentlich bes-ser, wenn über die Frage zunächst eine breitere Diskussion statt-findet. Doch dies war im Zuge des Einigungsvertrags gar nichtmehr möglich, denn da ging es ja immer nur um Tage, bestenfallsum zwei, drei Wochen, aber manchmal auch nur um Stunden. Wir hatten zwei Vorschläge, die eine weitere Debatte gelohnthätten. Das war zum einen der 17. Juni und zum anderen der 9.November. Wenn man bedenkt, welche Rolle der 9. November inder Geschichte unseres Volkes gespielt hat: der 9. November 1918,der Hitler-Putsch am 9. November 1923, die Reichspogromnachtam 9. November 1938 und das leider missglückte Attentat vonGeorg Elser gegen Hitler im Bürgerbräukeller in München am 9.November 1939. Und dann natürlich der 9. November 1989. Eswäre gut gewesen, darüber länger zu diskutieren. Aber die Regie-rung und die Koalition waren der Meinung, dass die Frage im Ein-igungsvertrag entschieden werden muss. Man wird verstehen,dass wir Sozialdemokraten nicht etwa auf den wahnwitzigenGedanken gekommen sind, den Einigungsvertrag an dieser Fragescheitern zu lassen. Deswegen, weil das ja doch schon eine Frage der nationalen Iden-tität ist, was man als feierungswürdig in Erinnerung hat, wollte ich

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diese kurzen – durch Bettermann angeregten – Ergänzungenmachen.

Lässig:Ich möchte den Bogen in die Gegenwart spannen. Wir haben jadas Thema „Widerstand als Vermächtnis“, und es kommt nicht sel-ten auch Kritik an die Adresse der SPD in Bezug auf die SPD/PDS-Koalition, die wir nun ja doch seit einigen Jahren in Deutschlandhaben. Hans-Jochen Vogel, ist es denn überhaupt machbar, dassdie SPD eine Koalition betreibt mit einer Partei, die doch nicht soganz im Verdacht steht, demokratische Wurzeln zu haben?

Vogel:Der Zusammenhang mit dem 17. Juni lässt sich sicherlich herstel-len, und deswegen will ich gerne Ihre Frage beantworten. Es hathinsichtlich der Bundesebene klare und glaubwürdige Äußerun-gen gegeben und denen habe ich nichts hinzuzufügen. Was dieLänderkoalitionen angeht, und die erste Koalition dieser Art – inSachsen-Anhalt war es ein bisschen anders – hat es in Mecklen-burg-Vorpommern gegeben, da gestehe ich ganz offen, dass icherhebliches Bauchweh gehabt habe, als sie eingegangen wurde.Dass ich damit allerlei Befürchtungen verbunden habe. Späterkam die Berliner Koalition.Heute muss ich als Realist sagen, dass viele meiner Befürchtungennicht eingetreten sind, sondern dass diese Koalitionen – im Ergeb-nis jedenfalls – zum Bedeutungsverlust der PDS wesentlich beige-tragen haben. Die Wahlergebnisse etwa in Mecklenburg zeigendas ganz deutlich und auch die Bundestagswahl hat das deutlichgezeigt.Ein Phänomen verwundert so einen älteren Menschen wie michaufs Höchste: Es gibt ja auf dem rechten Spektrum rechtspopulisti-sche bis rechtsdemagogische politische Gruppen – nicht nur inDeutschland, sondern es gibt sie in Österreich, in Holland und miteiner gewissen Einschränkung in Dänemark. Ich hätte nichtgeglaubt, aber ich muss es heute konstatieren, dass die FPÖ vonHerrn Haider durch die Regierungsbeteiligung in Österreich ineiner Art und Weise demaskiert worden ist, dass sie bei der letztenWahl nur noch ein Drittel ihres ursprünglichen Stimmenpotenzialshatte. Und in Holland – wobei ich den Pim Fortyn nicht genausoeinordne wie den Haider – war es ähnlich; da hat eine Regierungs-beteiligung von einem halben Jahr ausgereicht. Wenn ich nach

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Deutschland schaue, glaube ich, dass die Tatsache, dass Herr Schillbei der Bundestagswahl überhaupt keine Chance hatte, auch mitdem zusammenhängt, was er sich in Hamburg geleistet hat, insbe-sondere mit dieser unglaublichen Rede im Deutschen Bundestag.Nun bitte ich um Gottes willen, nicht daraus den Schluss zu zie-hen, alle gefährlichen Parteien könne man dadurch unschädlichmachen, dass man sie an der Regierung beteiligt. Das wäre dieverkehrte Konsequenz. Aber die Realität sehe ich, und die PDS hatdurch ihre Regierungsbeteiligung keine von ihren bedenklichenZielsetzungen auch nur annähernd weiterbringen können. Und eserstaunt mich, dass sich in Berlin die PDS an notwendigen Einspar-maßnahmen beteiligt, denen andere in der Opposition befindli-che Parteien in Berlin ständig widersprechen. Von daher sage ich,ein Bauchweh bleibt, aber die Befürchtungen, die ich damit ver-bunden habe, die sind, wenn überhaupt, nur in einem geringenMaß eingetreten.

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Spurensuche – Ein Schülerprojekt der Mittelschule Doberschauund des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Bautzen

Marion Karbe:Die AG Schul- und Regionalgeschichte des Schiller-Gymnasiumsgibt es erst seit diesem Schuljahr. Sie besteht aus vier Schülern derKlassenstufe 11: Susanne Poick, Ina Koban, Carsten Conrad undChristoph Casper. Ihr Interesse an der Geschichte unserer Heimat-region bekundeten sie bereits mit ihrer Teilnahme an der Gestal-tung und Durchführung unseres Beitrages im Rahmen des Festum-zuges zur 1000-Jahr-Feier der Stadt Bautzen. Anlässlich derAbschlussfeier unseres Bildes konnte ich diese Schüler für die AGund ein langfristiges Projekt zum Thema: „Der 17. Juni 1953 inBautzen und Umgebung“ gewinnen.Anfang Dezember 2002 begannen wir mit der Arbeit; entwickel-ten gemeinsam ein Konzept und begaben uns auf Spurensuche.Dabei stellten wir zu sechs Zeitzeugen einen persönlichen Kontakther, arbeiteten im Stadtarchiv, studierten vorhandene Literaturbzw. Dokumentationen, führten mehrere Umfragen in der Stadt

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17. Juni 1953 aus Bautzener Sicht

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Bautzen durch und erarbeiteten gemeinsam eine Präsentation.Mit Unterstützung der Videogruppe bzw. Axel Lorz und SebastianSeibt aus der 12 entstand ein Kurzfilm. Von der technischen Seiteher fanden wir in den Kollegen Samuel und Grebedünkel tatkräf-tige Mitstreiter, welche uns gerade in der Endphase des Projektessehr unterstützten.Das große Ziel hieß: XIV. Bautzen-Forum 8./9. Mai 2003. Gemein-sam mit Schülern der 10. Klasse der Mittelschule Doberschau, wel-che sich unter der Leitung ihrer Geschichtslehrerin Frau Domschkevorrangig auf die Bautzener Umgebung – Beispiel Göda – konzen-trierten, sollten wir hier unser Projekt präsentieren. Hier einige Ausschnitte aus unserer Arbeit:

Carsten Conrad zu Zeitzeugen unserer Stadt:Die Bevölkerung Bautzens verband mit dem 17. Juni 1953 einegroße Hoffnung, die aber im Angesicht der großen Militärpräsenzlangsam starb. Mein Teil der Präsentation handelt von den Zeit-zeugen unserer Stadt.Herr Flügel arbeitete vor dem Krieg als Lehrer und musste dannvier Jahre an die Front. In der DDR war er als Anzeigenvertretertätig, da er als ehemaliger Soldat nicht mehr als Lehrer arbeitendurfte. Am 17. Juni 1953 war er in seiner Wohnung. Diese lag ander Löbauer Straße. Im Laufe des Tages hörte er, wie Panzer dieStraße passierten und dabei Warnschüsse in die Luft abgaben.Daraufhin ging Herr Flügel mit seiner Frau und seiner Tochterunter dem Fenster in Deckung, um nicht von Fehlschüssen getrof-fen zu werden. Zur gleichen Zeit war sein Sohn auf dem Nach-hauseweg von der Lutherschule. Als er die Schüsse hörte, ergriffihn tiefe Angst und er beeilte sich nach Haus zu kommen. Diesgelang ihm auch sicher. Dennoch war der 17. Juni für alle ein Tag,der sie prägte, denn es war klar, dass Militär einen Aufstand ver-hindern würde.Frau Hollendunter wurde am 10. Dezember 1943 geboren underlebte den 17. Juni als neunjähriges Mädchen. Ihre Mutter arbei-tete beim SVK und begleitete Kurfahrten. Ihr Vater arbeitete alsMaler. Sie wohnte mit ihrer Familie auf der Grollmussstraße ineinem Haus gegenüber der heutigen Frauenklinik, die damals alssowjetische Militäragentur diente. Diese Soldaten begegnetenden Kindern immer freundlich und nahmen Rücksicht auf sie. Soentstand eine entspannte Beziehung.Aus dem Haus konnte Frau Hollendunter den großen Torbogen

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vor der Kaserne sehen, der als Eingang für Personen und Fahrzeu-ge diente. Am 17. Juni war erstaunlich viel Verkehr in der Stadt.Viele Truppentransporter mit russischen Soldaten kamen in dieKaserne, und wenn diese bemerkten, dass sie aus den Häusernbeobachtet wurden, zielten sie mit ihren Sturmgewehren auf dieFenster. Die neu ankommenden Truppen errichteten ein Zeltlagerin den Parkanlagen des Stadtwalls. Außerdem wurde ein Panzer-spähwagen vor der Kaserne postiert, der auf die Häuser zielte.Diese Tatsache wirkte sehr einschüchternd auf Frau Hollendunter.Zudem verhielten sich die Soldaten nun sehr zurückhaltend undmieden Kontakte mit der Zivilbevölkerung. Nachdem der Ausnah-mezustand verhängt wurde, bekam ihre Mutter einen Passier-schein, um während der Ausgangssperre ihrer Tätigkeit als Kurbe-gleiterin nachzukommen. Trotz des Passierscheins war es sehrgefährlich, weshalb sie ihr Mann oft begleitete. Während dieserZeit versuchte man oft den Radiosender „RIAS“ zu hören, wasaber durch den Störsender auf dem Czorneboh sehr erschwertwurde und man sehr vorsichtig sein musste, dass es niemandbemerkte. Nachdem keine Gefahr mehr durch einen Aufstanddrohte, wurden die Soldaten wieder abgezogen.Ina Koban zu Zeitzeugen unserer Schule:

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Herr Richter und Herr NebelWir unterhielten uns mit Herrn Werner Richter. Er war 1953 jungerLehrer an der EOS Schiller. Außerdem sprachen wir mit HerrnNebel. Er war 1953 Schüler von Herrn Richter und Schüler der 9.Klasse. Herr Richter erzählte uns von der Einteilung der Schüler, jenachdem was die Eltern von Beruf waren: nach Arbeitern, Selbst-ständigen, Bauern und Sonstigen. Ab März 1953 bekamen dieSonstigen keine Lebensmittelkarten und mussten Bus und Bahnvoll bezahlen, wobei die anderen Buskarten bekamen. Also auchdie Schüler bekamen viel von den Problemen außen mit.

Anekdoten 1950–19531953 hielt der Direktor Weigel eine Trauerrede für Stalin, wobei erihn mit Rockefeller (so Herr Richter) bzw. mit Michael Kohlhaas (soHerr Nebel) verglich. Der Direktor wurde daraufhin entlassen.

Zwei Schüler waren für den Schulfunk verantwortlich. Einmal sag-ten sie: „Der Vormarsch des Sozialismus ist nicht mehr auszuhal-ten.“ Sie flohen nachher in den Westen.

Ein Unterrichtsgespräch:Lehrer: Wer hat das Halbe-Winkel-Gesetz erfunden?Schüler: HalbowinklerowitschKlasse: Der große Stalin

Oft sind wir auf den Namen Sulla gestoßen. Er war 1950 jungerLehrer unserer Schule und hatte eine Art Arbeitsgemeinschaft fürpolitische Aufklärung oder, wie man sagte, für Hetzpropaganda.Er wurde daraufhin eingesperrt und kam da auf bisher mysteriöseArt und Weise ums Leben. Es wurde gesagt, er brachte sich um. Erblieb vielen als guter Lehrer in Erinnerung.

Zwei Schüler wurden vor Gericht gestellt, da sie ein Plakat vonWilhelm Pieck anzündeten.

Ein weiteres Unterrichtsgespräch (über die Reichskristallnacht):Lehrer Weigel: Die Nacht der langen Messer kam nicht...Schüler: ... aber sie kommt noch!

Lehrer Schröder wurde bereits zu Nazizeiten entlassen, da erRadio London hörte. Nachher wurde er wieder eingestellt und

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1953 wurde er erneut entlassen, da er den Schülern den RIAS emp-fahl.Der 17. Juni 1953 an unserer SchuleEs ist nicht hundertprozentig klar, ob an unserer Schule am 17.Juni schulfrei war, einige sagen ja, andere nein. Herr Richter mein-te, er habe die Schule mit Kollegen sogar nachts mit Luftgeweh-ren bewacht und die paar Schüler, die kamen, heimgeschickt. EinEhepaar, welches wir auf der Straße trafen, erinnerte sich daran,dass der Abiball fast ausgefallen wäre. Eine weitere Dame sagteuns, dass ihr Schulausflug entfallen musste, wegen der Ausgangs-sperre.

Herr Marczinski Biographisches wurde bereits im Einführungsfilm angesprochen.Er war Bautzener, besuchte die Schillerschule und fuhr 1951 mitnach Berlin zu den Weltfestspielen. Illegalerweise ging er nachWestberlin, kam da zu einer Jugendherberge und traf da GiselaReckwald. Sie war eine ehemalige Schulkollegin und laut einemZeitungsartikel amerikanische Geheimagentin. Sie führte HerrnMarczinski zum RIAS, wo er Interviews für englische Radiosendergab. Er traf auf Leute, die ihn überredeten für den Westen tätigzu sein. Er verteilte in Bautzen also Flugblätter und warnte Leute,die verhaftet werden sollten. Immer wieder sagte er Gisela R.Bescheid. Bald wurde es ihm aber zu gefährlich. Er machte seinAbi und besuchte eine Abendschule. Eines Abends, als er heim-kam, wurde er vor dem Haseneck auf der Steinstraße in Bautzenverhaftet. Später erfuhr er, dass Gisela keine amerikanische Agen-tin, sondern eine IM der Stasi war und dieser alles mitteilte.

Susanne Poick und die Sicht der damaligen Presse: Um mehr über die Presse aus dieser Zeit zu erfahren, haben wirdas Stadtarchiv in Bautzen besucht. Die Arbeit dort hat uns sehrviel Spaß gemacht, da wir neue Eindrücke – nämlich über die Pres-se von vor 50 Jahren – erhalten konnten.

17. Juni 1953Obwohl der Aufstand bereits am 16. Juni in Berlin begonnenhatte, konnten wir am 17. Juni nichts darüber in der SächsischenZeitung finden. Stattdessen wurde in der Rubrik „Rund um denReichenturm“ die große Hitze beklagt und darüber zum Nachden-ken angeregt, warum ein Weißenberger Konsum HO-Fleisch ver-

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kaufen konnte, obwohl er keine Kühlanlage besaß.Außerdem fanden am 17. Juni die Verkäuferinnen der Schuhver-kaufsstelle 5 der HO Industriewaren in der Sächsischen Zeitungbesondere Beachtung, da sie sich ab dem 1. Juni verpflichtetennach einem Ausspruch Stalins zu arbeiten. Dieser sagte nämlich:„Die einen arbeiten schlecht, andere gut, noch andere am besten.Hole den Besten ein und erziele damit einen allgemeinen Auf-schwung.“

18. Juni 1953Sowohl in der Sächsischen Zeitung als auch in der Jungen Weltkonnte man am 18. Juni ein und denselben Artikel lesen. Dieserberichtete ausführlich über die Parteiaktivtagung der SED in Ber-lin. Außerdem befand sich in beiden Zeitungen eine Bekanntma-

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chung der Regierung. Am 18. Juni konnte man des Weiteren einenArtikel über die Werktätigen der LOWA lesen. Diese unterstütztendie werktätigen Bauern in Bolbritz, Prischwitz und Salzenforst,indem sie tausende freiwillige Arbeitstunden leisteten.

20. Juni 1953Am 20. Juni war der Befehl des Militärkommandanten abge-druckt. Dabei wird im ersten Punkt der Ausnahmezustand im KreisBautzen erklärt. Im zweiten Punkt heißt es, dass ab sofort Ver-sammlungen und Demonstrationen verboten sind. Außerdemmussten Kinos, Theater und Gaststätten ihre Tätigkeit von 21 Uhrabends bis 3 Uhr morgens einstellen. Im dritten Punkt wurdeerklärt, dass Verkehr jeglicher Art nur von 6 Uhr morgens bis 21Uhr abends erlaubt ist. Wer gegen diesen Befehl des Militärkom-mandanten verstieß, musste damit rechnen, streng bestraft zuwerden nach den Gesetzen des Ausnahmezustandes.

27. Juni 1953Am 27. Juni waren in der Sächsischen Zeitung mehrere Artikelabgedruckt mit Überschriften, die eine bessere Lebenslage ver-

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Zeitungsartikel vom 18. Juni 1953

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sprachen. So sollte es zum Beispiel Verbesserungen in der Versor-gung beispielsweise mit Nahrungsgütern oder Arbeitsschutzmit-teln geben. Unter anderem sollten sofort 5 000 Tonnen Fischkon-serven aus staatlichen Fonds dem Ministerium für Handel und Ver-sorgung übergeben werden. Dieses Ministerium konnte dannselbst entscheiden, ob es die Konserven zur Abdeckung von Kar-tenansprüchen oder für den HO-Verkauf einsetzen wollte. Außer-dem wurde beschlossen, dass die Erhöhung der Arbeitsnormenaufgehoben werden sollte. Dagegen verordnete man, dass Rentenund Sozialfürsorgeunterstützung erhöht werden sollen. Auch diePflichtablieferung sollte erleichtert werden, damit sich die bäuer-lichen Wirtschaften weiterentwickeln konnten.Am gleichen Tag konnte man einen Artikel mit der Überschrift„Wie die Adenauer-Clique den Tag X vorbereitete“ lesen. In die-sem werden die Verursacher des 17. Juni unter anderem als Agen-ten und Spione bezeichnet. Sie sollen sich, verkleidet in Bauarbei-terkleidung, in den demokratischen Sektor von Berlin aufgemachthaben, um dort ihr Unwesen zu treiben. Ihr einziges Ziel war, dieWiedervereinigung Deutschlands zu verhindern und Ruhe undOrdnung zu stören. In diesem Artikel steht auch, dass man dieseProvokateure dingfest machen und der Regierung übergeben soll,damit sie entsprechend bestraft werden können.

Christian Melcher:Ich bin der Christian Melcher und vertrete zusammen mit ChristinFuhrmann die am Projekt „17. Juni 1953“ teilnehmenden Schülerder Mittelschule Doberschau. Wir sind auf das Projekt aufmerksamgeworden, weil unsere Geschichtslehrerin Frau Domschke unsdavon erzählte und wir zuerst nichts mit diesem Datum anfangenkonnten. Daraufhin entschieden wir uns, am Projekt mitzuwirken,um in Erfahrung zu bringen, was wirklich an diesem Tag gesche-hen war.Wir, die Mittelschule Doberschau, stellten uns die Aufgabe ausdem Kreis Bautzen betroffene Personen ausfindig zu machen undsie anschließend zu interviewen. Wir konnten einige betroffenePersonen aus Birkau einem kleinem Dorf nahe Göda finden. Voninsgesamt sechs wollten nur zwei nähere Angaben über den Ver-lauf des 17. Juni 1953 machen. Das, was Herr Markwirt und HerrMichel genau an diesem Tag erlebten, wird ihnen die Christingleich noch berichten.Christin Fuhrmann:

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Interview mit Karl Michel und Günter Markwirth aus BirkauGünther Markwirth, im Juni 1953 noch 19 Jahre alt, arbeitete alsBauarbeiter auf Montage in Lauchhammer und nahm dort amAufstand teil. Er kam am 17. Juni 1953 wieder nach Birkau nachHause und berichtete dort auch von den Ereignissen in Lauchham-mer.Karl Michel war im Juni 1953 ebenfalls 19 Jahre alt und war aufdem elterlichen Bauernhof in Birkau tätig.

Herr Markwirth und Herr Michel erzählten uns folgendes:Am Abend des 18. Juni 1953 waren beide mit anderen Jugend-lichen in der Dorfgaststätte Birkau. Es wurde vor allem über dieEreignisse des Vortags gesprochen und das umgedichtete Lied„Wir wollen eine neue Regierung (statt Vereinsfahne) haben“gesungen. Im Verlauf des Abends beschlossen sechs Jugendliche,den Nachtwächter des Teilbetriebs des Volksgutes Gaußig zuerschrecken. Die Jugendlichen zogen mit Knüppeln und Stangengrölend zum abgesperrten Gebiet des Volksgutes und jagten demNachtwächter lautstark einen Schrecken ein, so dass dieser sichängstlich zurückzog. Herr Michel und Herr Markwirth betontenaber, dass die Jugendlichen keinerlei Gewalt gegen den Nacht-wächter anwandten. Als sich dieser zurückgezogen hatte, gingendie sechs Jugendlichen schlafen.Sie wunderten sich, dass am anderen Tag auffallend viele PKWund Motorräder aus Berlin auftauchten, beachteten aber auchWarnungen von Birkauer Einwohnern nicht. In der Nacht vom 19.Juni wurden Willy Kirchhoff, Gottfried Lange, Christian Lehmann,Günter Markwirth, Karl Michel und Karl Wätzlich von der Volkspo-lizei abgeholt und zum Verhör nach Bautzen gebracht.Herr Michel schilderte, dass er sich nackt an die Wand stellen mus-ste, dass ihm sämtliche persönliche Dinge abgenommen wurdenund dass er fünf Tage in einer Einzelzelle in der U-Haft in Bautzen,Paulistraße, untergebracht war. Am 24. Juni 1953 wurde er in denMittagsstunden mit anderen Jugendlichen – außer Herrn Mark-wirth – nach Hause entlassen. Ihnen konnten keine Rechtsverlet-zungen nachgewiesen werden.Anders verfuhren die Staatsorgane der DDR mit Herrn Markwirth.Da er am Aufstand in Lauchhammer am 17. Juni teilgenommenhatte und sich auch an der Aktion in Birkau beteiligte, wurde erals „Rädelsführer und Handlanger faschistischer Elemente“ zueinem Jahr Gefängnis verurteilt. Diese Strafe saß er in Dresden,

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dann im „Gelben Elend“ in Bautzen und schließlich in Waldheimab.Auf den Tag genau nach einem Jahr wurde er aus der Haft inWaldheim entlassen. Herr Markwirth denkt nicht gern an die Zeitseiner Inhaftierung zurück, da ihn dieses Jahr ein Leben langnegativ begleitete. Er kann sich aber noch gut daran erinnern,dass er nach der Haftentlassung die Haftkosten von 602,- Markneben den Rechtsanwaltskosten zu begleichen hatte. Herr Michel und Herr Markwirth betonten im Gespräch, dass sienichts bereuen, sich keiner Schuld bewusst sind, da ihr Handelnam 18. Juni 1953 nichts weiter als ein „Dummerjungenstreich“gewesen war und nichts mit Spionage oder Ähnlichem zu tunhatte.

Christoph Casper mit einem kurzen Resümee:Unserem Projekt waren aber auch Grenzen gesetzt, so beziehenwir uns auf subjektive Berichte, sodass es nahezu unmöglich ist,ein umfassendes Bild der Zeit um den 17. Juni 1953 geben zu kön-nen, doch wollen wir versuchen, die Stimmung dieser Zeit wiederin Erinnerung zu rufen bzw. denjenigen näher zu bringen, die sienicht erlebten.Im Großen und Ganzen können die Geschehnisse in Bautzen nicht

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mit denen in Berlin verglichen werden. Herr Marczinsky bezeich-nete sie sogar als „Peanuts“. Dafür sind aber schon einige Gründegenannt worden, die ich hier noch einmal erwähnen möchte. Sowar damals die sowjetische Besatzungsmacht noch in der ganzenRegion stark vertreten. Des Weiteren galt Bautzen als Gefängnis-stadt sowieso eine größere Aufmerksamkeit. Außerdem war inder Region die Konzentration an Staatsinstitutionen sehr hoch, sowaren in Bautzen die Militärkommandantur, das Ministerium fürStaatssicherheit und zahlreiche weitere Organe, wie Grenztrup-pen und Luftstreitkräfte, vertreten.Außerdem gibt es Zeitzeugen, die schweigen wollen, und ihreErlebnisse nicht mitteilen, was wir traurig finden. Da sie sicherlichnoch einige Lücken schließen könnten, so z. B. Fragen, welche sichnach dem Studium der Akten des MfS und des SED-Bezirkspartei-archives stellten.Doch hat es uns allen Spaß gemacht, die Heimat neu kennen zulernen, Geschichte, die so nicht in Geschichtsbüchern steht, dasswir der Geschichte ein Gesicht geben konnten. So ist mir z. B.bewusster geworden, dass wir alle an der Demokratie mitwirkenmüssen und dass wir froh sein können, dass wir sie haben. Ambesten kann man das aus der Geschichte lernen, und da ist Regio-

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nalgeschichte doch um einiges ansprechender, da sie ja direkt vorder Haustür stattgefunden hat.Zum Abschluss:Am 5. Juni 2003 trafen wir uns noch einmal mit unseren Zeitzeu-gen, um ihnen das Ergebnis unserer Arbeit vorzustellen. Für dieSchüler war es sehr beeindruckend, wie fasziniert die älteren Men-schen waren und es wurden noch einmal hochinteressante Ge-spräche geführt. Außerdem begrüßten wir ein Fernsehteam vomMDR, welches für den Sachsenspiegel einen Beitrag drehte. Insge-samt also ein gelungener Abschluss unserer Projektarbeit.Jetzt arbeiten wir das gewonnene Material auf, um es imGeschichtsunterricht der Klassen 10 bzw. 12 einsetzen zu können.

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Heidi Roth

Bemerkungen zur Ergänzung des Schülerprojekts

Nachdem ich bereits in Vorbereitung des 45.Jubiläums des 17. Juni1953 gute Erfahrungen mit einer Projektarbeit von Schülern desGymnasiums Augustum in Görlitz sammeln konnte, wollte ichdiese Art der Aufarbeitung des Aufstandes fortsetzen.1 Der 50.Jahrestag schien dafür besonders geeignet zu sein. Dabei ging esmir u. a. auch darum, die Behauptung ad absurdum zu führen,dass Schüler(innen) und Lehrer(innen) kein sonderliches Interessean der Aufarbeitung der DDR-Geschichte, und in Sonderheit desAufstandes von 1953, hätten. Außerdem wollte ich mithilfe inter-essierter Schüler(innen) und Lehrer(innen) vor Ort Fragen klären,die in meinen langjährigen Forschungen zum 17. Juni 1953 inSachsen offen geblieben waren und die sich mittels einschlägigerArchive kaum noch klären lassen würden. U. a. galt mein besonde-res Interesse dem Geschehen in Bautzen. In meiner 1999 erschie-

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nenen Publikation „Der 17. Juni 1953 in Sachsen“ konnte ich nach-weisen, dass die Stadt und der Landkreis Bautzen zwar nicht zuden Schwerpunkten des Aufstandes 1953 zu rechnen sind, jedochauch hier mehr passierte als bisher bekannt war.2

Anlässlich des XIII. Bautzen-Forums im Mai 2002 unterbreitete ichBärbel Domschke, Geschichtslehrerin an der Mittelschule Dober-schau und Fachberaterin Geschichte, mein Vorhaben. Sie erklärtesich sofort bereit, gemeinsam ein Schülerprojekt zum Rahmenthe-ma „Der 17. Juni 1953 in Bautzen“ auf den Weg zu bringen. Bisherwaren in der Regel Gymnasiasten in derartige Projekte eingebun-den. Auch aus dieser Sicht reizte mich die Zusammenarbeit mitSchülern einer Mittelschule. Die Leiterin der Gedenkstätte Baut-zen, Silke Klewin, unterstützte unser Projekt von Anfang an.Gemeinsam planten wir, die Arbeitsergebnisse in der Öffentlich-keit vorzustellen. Das XIV. Bautzen-Forum schien uns dazubesonders geeignet. Matthias Eisel, Leiter des Leipziger Büros derFriedrich-Ebert-Stiftung, nahm unser Angebot, den Schülern dieMöglichkeit einzuräumen, die Arbeitsergebnisse auf dem Baut-zen-Forum 2003 vorzustellen, gerne an. Nun mussten nur nochSchüler(innen) gewonnen werden, um unsere Idee umsetzen zukönnen.Anfang Juli 2002 trafen wir bereits die ersten Absprachen. Siebasierten auf einer Projektskizze, die Vorschläge für möglicheSchüleraufträge enthielt. Den Schülern musste auch deutlich wer-den, dass sie nicht einfach bereits bekannte Fakten aus der Litera-tur zusammenstellen sollten. Angesichts des verschärften Daten-schutzes in den Archiven – als Folge des Kohl-Urteils – konnten siemit ihren Recherchen vor Ort tatsächlich einen spezifischen Bei-trag zur Aufarbeitung dieses Kapitels der DDR-Geschichte leisten.Damals schlug ich drei Arbeitsfelder vor:1. Interviews von Bautzener Einwohnern unterschiedlicher Alters-gruppen nach ihren Kenntnissen bzw. Erinnerungen über den 17.Juni 1953 in ihrer Stadt. Das sollte als Ausgangspunkt dienen, umdie Aussagen später mit den Ergebnissen der Schülerarbeit zukonfrontieren.2. Spurensuche nach jenen inhaftierten Aufständischen aus Baut-zen und Umgebung, die in den SED-Akten namentlich erwähnt

Heidi Roth 73

1 Vgl. Heidi Roth: Projektarbeit von Schülern des Gymnasiums Augustum Görlitz zum „17. Juni1953“, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, Heft 56/1998,S. 80f.

2 Vgl. Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 238-244.

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wurden, deren weiteres Schicksal sich aber bis dato nicht klärenließ. Dabei handelte es sich einmal um Frauen und Männer, die am17. und 18. Juni 1953 in Bautzener Betrieben einen Streik organi-sierten bzw. an einer abendlichen Kundgebung auf dem „Platzder Roten Armee“ teilnahmen und deswegen verhaftet wurden.Außerdem sollte das Schicksal jener sechs jungen Männer aus Bir-kau geklärt werden, die vorübergehend festgenommen wordenwaren. Auch von ihnen waren lediglich die Namen bekannt. 3. Spurensuche in den Bautzener Schulen im Zusammenhang mitder Verfolgung der Jungen Gemeinde im Vorfeld des 17. Juni1953. Aus SED-Führungsdokumenten wissen wir lediglich, dass inBautzen der Einfluss der Jungen Gemeinde auf die Jugendbesonders groß gewesen sein soll. Aktenkundig überliefert istauch, dass im Zusammenhang mit der Kampagne gegen die JungeGemeinde zwei Lehrer der Schiller-Oberschule die Kündigungerhalten hatten und vier Schüler relegiert wurden. Außerdem war angestrebt, nach Sachzeugnissen aus der damali-gen Zeit, nach Plakaten, dem Ausnahmebefehl von Bautzen, Bil-dern von Personen und authentischen Orten (Betrieben, wichtigenGebäude u. Ä.), Erlebnisberichten, Gerichtsurteilen, Zeitungsaus-schnitten u. Ä. zu suchen, um für die weitere Arbeit im Geschichts-unterricht Unterrichtsmaterialien bereitzustellen.Bei der konkreten Planung des Schülerprojekts musste berücksich-

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tigt werden, dass der 17. Juni 1953 im Geschichtsunterricht erst zueinem späteren Zeitpunkt behandelt wurde. Aus diesem Grundebegann die Projektarbeit für die interessierten Schüler mit einergemeinsamen Veranstaltung in der Gedenkstätte Bautzen.Anfang November 2002 wurden Schüler(innen) der 10. Klassen derMittelschule Doberschau von mir in die Thematik eingeführt.Inzwischen war Marion Karbe, Geschichtslehrerin und Leiterin derAG Schul- und Regionalgeschichte des Schiller-Gymnasiums Baut-zen, zur Projektgruppe gestoßen. Im Nachhinein war diese Erwei-terung der Projektgruppe eine ganz wichtige Entscheidung, weilnatürlich im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft andere Mög-lichkeiten für Projektarbeit bestanden als im normalen Ge-schichtsunterricht einer Mittelschule. Auch die Zusammenarbeitvon Schülern des Gymnasiums und der Mittelschule, besonders inder Endphase des Projekts wirksam, war für den Erfolg des Schü-lerprojektes ganz wichtig. Neben der mündlichen Einführung in die Thematik „Der 17. Juni1953“ stellte ich den beteiligten Lehrerinnen eine unveröffentlich-te Studie „Der 17. Juni 1953 in Bautzen und seine Wechselwirkun-gen mit den Bautzener Haftanstalten“ (41 S.), die im Auftrag derGedenkstätte Bautzen entstanden war, zur Verfügung. Anhanddieser Studie konnten die Projektbeteiligten auch nachvollziehen,welche Fragen, trotz intensiver Archivstudien, noch offen waren,und welchen Beitrag sie zur Klärung dieser Fragen leisten könn-ten. Unser ursprüngliches Konzept musste im Verlaufe der Arbeit teil-weise korrigiert werden, als sich beispielsweise herausstellte, dassdie einschlägigen Unterlagen, die die Kampagne gegen die JungeGemeinde an der damaligen Schiller-Oberschule dokumentierenund präzisieren konnten, nicht mehr vorhanden waren. In dieserPhase entschied Marion Karbe kurzfristig, sich mit anderen Proble-men zu beschäftigen. Ihrer engagierten Arbeit ist es vor allem zuverdanken, dass das Projekt erfolgreich zu Ende gebracht und aufdem XIV. Bautzen-Forum wirkungsvoll präsentiert werden konnte.

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Ilko-Sascha Kowalczuk

Der 17. Juni 1953 in den Akten der Staatssicherheit

Sehr geehrte Damen und Herren,

ehe ich mich meinem Thema zuwende, möchte ich Ihnen herzlicheGrüße von der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats-sicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Frau Marianne Birthler,ausrichten. Leider war es ihr wegen eines anderen Termins – sie

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eröffnet die Wanderausstellung „Staatssicherheit – Garant derSED-Diktatur“ der Behörde in Krefeld – nicht möglich, in diesemJahr am Bautzen-Forum teilzunehmen. Wie die meisten von Ihnengewiss wissen, liegt die mittlerweile traditionsreiche Veranstal-tung „Bautzen-Forum“ Frau Birthler persönlich besonders am Her-zen. Hat sich doch das „Bautzen-Forum“ als ein Ort herauskristalli-siert, an dem Widerständler und Oppositionelle, Opfer, Wissen-schaftler und Multiplikatoren der historisch-politischen Bildungbuchstäblich ein gemeinsames Forum gefunden haben, das ausder Aufarbeitungslandschaft kaum mehr wegzudenken ist. Zu die-ser Landschaft gehören aber nicht nur Veranstaltungsreihen, Auf-arbeitungsinitiativen und wissenschaftliche Forschungseinrichtun-gen, sondern im speziellen Fall auch die Behörde der Bundesbe-auftragten. Im Rahmen dieser Veranstaltung ist es wohl kaumnotwendig, auf den speziellen Beitrag dieser Behörde näher ein-zugehen. Es sei aber daran erinnert, dass unter dem Dach dieserBehörde die Abteilung „Bildung und Forschung“ beheimatet ist,deren vordringlichste Aufgabe darin besteht, die Öffentlichkeitüber die Geschichte und Wirkungsweise des Ministeriums fürStaatssicherheit zu informieren. Dabei kann es nicht nur um diereine Institutionengeschichte des MfS gehen, sondern ebenso umdie Wirkungen des „Schildes und Schwertes“ der führenden Par-tei, der SED. Im Prinzip steht für uns als wissenschaftliche Mitar-beiter dieser Abteilung die Aufgabe, die Geschichte des Kommu-nismus an der Macht zu erforschen und diese insbesondere unterder Perspektive von Einfluss, Absichten und Wirkungen des MfS zuuntersuchen. Dass wir dabei die Geschichte der DDR nicht alleinund isoliert auf der Grundlage von MfS-Akten schreiben, verstehtsich von selbst. Nur im Ensemble mit anderen Überlieferungenund unter Einschluss von Zeitzeugenerfahrungen kann es gelin-gen, wissenschaftlich abgesicherte und für die Forschung und poli-tische Bildung verwertbare Ergebnisse zu publizieren. Seit längerer Zeit bilden Ursachen, Geschichte und Folgen desVolksaufstandes in der DDR einen Forschungsschwerpunkt in derBehörde der Bundesbeauftragten. Viele Vorträge und Veranstal-tungen, darunter eine große internationale Konferenz vom 11. bis13. Juni 2003 in Berlin sowie ein gemeinsam mit dem BerlinerAbgeordnetenhaus und der Hamburger Körber-Stiftung organi-sierter Festakt am 11. Juni 2003 in Berlin, sowie Dutzende Publika-tionen zeugen von diesen Aktivitäten. Ich darf in diesemZusammenhang darauf hinweisen, dass bei der BStU allein vier

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Bücher zum Volksaufstand in diesen Wochen publiziert werdenbzw. bereits veröffentlicht worden sind. An einem fünften, einerQuellenedition von Burghard Ciesla (Hg.): Freiheit wollen wir. Der17. Juni 1953 in Brandenburg. Ch. Links Verlag Berlin 2003 – wardie BStU, Außenstelle Potsdam als Kooperationspartner beteiligt.Bei den anderen Büchern, alle verlegt im Temmen-Verlag Bremen,handelt es sich um:

1. Hans-Peter Löhn: Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht desVolkes Wille! Der Volksaufstand am 17. Juni in Halle an der Saale.Bremen 2003In diesem Buch rekonstruiert der Autor anschaulich und minuziösdie Vorgänge in der Stadt an der Saale. Zu kaum einer anderenStadt existiert bisher ein so dichtes Bild über die Vorgänge. Löhnzeigt plastisch, wie sich der Aufstand von Arbeitern in Ammendorfgeradezu rasend schnell in einen Volksaufstand, ja, in eine – derAutor benutzt das Wort nicht – Revolution innerhalb wenigerStunden verwandelte.

2. Karl Wilhelm Fricke/Roger Engelmann: Der „Tag X“ und dieStaatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen imDDR-Machtapparat. Bremen 2003Die beiden einschlägig ausgewiesenen Wissenschaftler und Publi-zisten – Karl Wilhelm Fricke ist überdies Zeitzeuge – rekonstruie-ren das Verhalten und die Tätigkeit des MfS am 17. Juni und inden Monaten danach. Sie können auf der Grundlage neuer Akten-funde zeigen, dass das MfS, entgegen seit Jahrzehnten kursieren-den Auffassungen, am 17. Juni nicht vollständig versagte, sondernin erstaunlicher Schnelligkeit lernte und entscheidend dazu bei-trug, den Aufstand niederzuschlagen und eine Neuauflage zu ver-hindern. Außerdem arbeiten sie heraus, dass die verordnete Inter-pretation des Geschehens als „faschistischem Putsch“ bei den MfS-Mitarbeitern Wahrnehmungsblockaden beförderte. Obwohl dieStaatssicherheit über unzählige Befunde verfügte, die der offiziel-len Interpretation der Ereignisse zuwiderliefen, hielt sie aus ideo-logischen Gründen an der Deutung als „faschistischer Putsch“ festund interpretierte demzufolge vorliegende Erkenntnisse falschund suchte zwanghaft, aber erfolglos nach den Westverbindun-gen und dem westlichen Einfluss auf die Geschehnisse.

3. Bernd Eisenfeld/Ilko-Sascha Kowalczuk/Ehrhart Neubert: Die

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verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deut-schen Geschichte. Bremen 2003.In diesem Buch, das noch erscheinen wird, diskutieren die Autorendie Folgen des 17. Juni für die gesamte deutsche Gesellschaft.Dabei richten sie ihr Augenmerk sowohl auf die BundesrepublikDeutschland wie auch auf die DDR. Sie fragen nach der geschichts-politischen Bedeutung des Aufstands: Wie wurde in Ost und Westvon 1953 bis zur Gegenwart mit dem 17. Juni umgegangen? Wel-chen Stellenwert hatte der 17. Juni für die Opposition und fürwiderständiges Verhalten in der DDR? Wo reiht sich der 17. Juniim deutschen und europäischen Geschichtskonzert ein? Wie ist der17. Juni literarisch verarbeitet worden, welche Deutungsmusterexistierten und existieren? Diesen und vielen weiteren Fragengeht der Band nach. Sein Ziel ist es, dabei mitzuhelfen, dem 17.Juni einen festen Platz im Erinnerungsdiskurs der Deutschen undder Europäer zu verschaffen.

4. Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in derDDR. Ursachen – Abläufe – Folgen. Bremen 2003.Dieses Buch bildet einen Versuch, den Volksaufstand in seinerGesamtheit darzustellen. Es geht dabei sowohl um die Ursachen,das Aufstandsgeschehen selbst wie auch um die kurzfristigen undlangfristigen Folgen. Es ist reich bebildert und schöpft sowohl ausden Quellen, wie es auch auf der vorhandenen Forschungslitera-tur und Erinnerungsberichten aufbaut. Dieses Buch will nicht denEindruck vermitteln, als hätte es davor publizistisch und wissen-schaftlich bezogen auf den 17. Juni nur eine Leerstelle gegeben.Ich sage das an dieser Stelle deshalb, weil in den letzten Wochenzwei, drei, vier Bücher erschienen sind, die genau diesen Eindruckvermitteln möchten. Dieser Band, der für meine folgenden Aus-führungen die Grundlage bildet, fußt auf Arbeiten und Recher-chen, die in den letzten fünfzig Jahren erfolgten. Es sei mir an die-ser Stelle gestattet, darauf hinzuweisen, dass die aus so unter-schiedlichen Jahren stammenden Bücher und Studien von KlausHarpprecht (Pseudonym: Stefan Brant), Arno Scholz, Joachim G.Leithäuser, Arnulf Baring, Gerhard Beier, Torsten Diedrich, KarlWilhelm Fricke, Manfred Hagen, Rainer Hildebrandt, Armin Mit-ter, Christian F. Ostermann, Heidi Roth, Falco Werkentin und ande-ren geradezu unverzichtbar sind, wenn man sich mit dem „17.Juni 1953“ beschäftigen will. Zugleich sei mir der Hinweis erlaubt,dass ich mich selbst seit 1990, also seitdem die Archive der DDR

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dies erlaubten, mit dem „17. Juni“ beschäftige. Insofern bildetdieser Band eine Art Bilanz eigener Forschungen, wie er auch diegesamte Forschungsliteratur einbezieht und berücksichtigt.Diese Vorrede war notwendig, um so zu verdeutlichen, warum derTitel meines Vortrages im Prinzip Erwartungen weckt, die kaumerfüllbar sind. In der wissenschaftlichen Arbeit über ein gesell-schaftliches Ereignis lässt sich nicht klar bestimmen, ob einer Über-lieferung eine dominante Rolle zukommt. Den Forscher interes-siert das in der Regel überhaupt nicht. Ihm geht es um Erkenntnis-ziele und Fragen, für die er die Quellen heranzieht, die aus seinerSicht substanziell sind. Wenn ich im folgenden dennoch versuche,den speziellen Wert der MfS-Akten für die Erforschung und Dar-stellung des Volksaufstandes im Juni 1953 zu bestimmen, sogeschieht dies letztlich vor dem Hintergrund der Debatte, welchenhistorischen und wissenschaftlichen Aussagewert so genannteHerrschaftsakten eigentlich besitzen.Ich beginne mit einem konkreten und zugleich außergewöhn-lichen Beispiel. Durch glückliche historische Umstände ist ein etwa80-minütiger Mitschnitt von einer Belegschaftsversammlung auseinem Betrieb in Wernigerode in den MfS-Archiven überliefert.Das ist kein MfS-Dokument, sondern eine im MfS-Archiv überlie-ferte Quelle. Soweit ich das einschätzen kann, stellt diese Überlie-ferung eine einmalige dar und ist bislang auch weithin unbe-kannt. Ehe ich Ihnen einen knapp dreiminütigen Ausschnitt vor-spiele – die gesamte Versammlung ist nachhörbar auf einer CD,die meinem erwähnten Buch beigelegt ist – seien mir kurze Vorbe-merkungen zum Verständnis gestattet.In der am Nordrand des Harzes in Sachsen-Anhalt gelegenenKreisstadt Wernigerode wohnten 1953 etwa 33.000 Menschen.Anfang der 1950er-Jahre war die Stadt industriell u. a. vom Füll-halterwerk „Heiko“, dem Arzneimittelhersteller „Ysat“, der Hasse-röder Bierbrauerei sowie Betrieben des Fahrzeugbaus, der Möbel-herstellung und der Schokoladenherstellung geprägt. Als eine derwichtigsten Fabriken nahm das Elektromotorenwerk (ELMO)einen zentralen Platz in der Stadt ein. 1953 arbeiteten in dem am31. Januar 1947 gegründeten Werk etwa 2.500 Beschäftigte.In Wernigerode kam es am 16. und 17. Juni zu heftigen Diskussio-nen und Unruhen. Demonstrationen und Streiks blieben abernoch weitgehend aus. Erst am Morgen des 18. Juni entbranntenunter dem Eindruck der Ereignisse in Berlin und MagdeburgStreiks in den wichtigsten Betrieben der Harzstadt. Dass „der“ 17.

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Juni in Wernigerode erst am 18. Juni stattfand, war für vieleRegionen in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen geradezutypisch. Das ELMO war in Wernigerode eines der Zentren dieserBewegung.Am 17. Juni hatte ein neuer Werkleiter die Verantwortung für denBetrieb übernommen. Um die Unruhe in der Belegschaft zu kana-lisieren, berief der Werkleiter für 7.30 Uhr am 18. Juni eine Beleg-schaftsversammlung ein. Er wollte verhindern, dass die Arbeiterihre Ankündigung wahr machten und auf den Straßen Wernigero-des demonstrierten. Das gesamte Werk befand sich mittlerweileim Ausstand. Über den Betriebsfunk gaben Sprecher bekannt, wodie Versammlung stattfand und warnten zugleich davor, auf derStraße zu demonstrieren.Kurz nach Beginn der Belegschaftsversammlung marschierte eineetwa vierzigköpfige Gruppe von Arbeitern des ELMO-Werks inden Versammlungssaal ein. Die Gruppe führte ein Schild mit sich.Darauf stand: „Wir Arbeiter des Elektromotoren-Werkes Wernige-rode erklären uns mit den Arbeitern Berlins solidarisch“. DieBelegschaft begrüßte die Gruppe mit tosendem Beifall. Ursprüng-lich war vorgesehen, mit diesem Schild auf den Straßen zu demon-strieren. Nun nahm die Gruppe zunächst an der Versammlung teil.Zuvor hatten sie sich bereits mit Arbeitern anderer Betriebe Wer-nigerodes verständigt sowie Kontakt mit Belegschaften umliegen-der Städte wie Ilsenburg aufgenommen. Sie planten einen etwa20 Kilometer langen Marsch zur innerdeutschen Grenze nach BadHarzburg. Die Arbeiter wollten die Grenzbefestigungen gemein-sam mit anderen streikenden Arbeitern aus der Region beseitigen.Dazu kam es jedoch nicht.Als die Arbeiter in den Saal einmarschierten, sprach gerade derBetriebsdirektor. Nach dessen kurzer Ansprache ergriff ein Arbei-ter aus der erwähnten Gruppe das Wort und führte aus: (Tonband-mitschnitt, 2:47)„Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wickelei hat einen Beschluss gefasst, und ich bitte nachher umZustimmung oder Ablehnung des Beschlusses der Wickelei. Ichlese den Beschluss hiermit vor: Beschluss: Die Belegschaft des ELMO-Werks erklärt sich solidarisch mit denArbeitern Berlins und fordert Rechenschaft über die Schüsse undOpfer von Berlin und den anderen Städten. (Jubel und tosenderBeifall)

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Wir fordern folgende Punkte:1. Freie und geheime Wahlen in ganz Deutschland. (lang anhal-tender, tosender Beifall und Jubel)2. Aufhebung der Zonengrenzen und Abschluss eines Friedensver-trages mit ganz Deutschland. (lang anhaltender, tosender Beifallund Jubel)Einen Zusatz zu unseren Forderungen: Sollten sich durch unsereArbeitsniederlegungen Verhaftungen oder Repressalien ergeben,ruht die Arbeit so lange, bis die Kollegen wieder in Freiheit sind.(lang anhaltender, tosender Beifall und Jubel)Das ist der Wille der Belegschaft der Wickelei und an euerm Beifallmerk‘ ich, dass es der Wille der ganzen Belegschaft des Elektromo-torenwerkes ist.“ (Beifall)Die Belegschaftsversammlung legt ein beredtes Zeugnis von denhitzigen Debatten, den Emotionen und den Forderungen derArbeiter ab. Mitten in die Versammlung hinein kam die Nachricht,dass auch über Wernigerode der Ausnahmezustand verhängt wor-den war. Eine Demonstration auf den Straßen war unmöglichgeworden. Als die Arbeiter nach der Versammlung das Karl-Marx-Haus, den Versammlungsort, verließen, mussten sie zur Kenntnisnehmen, dass ihr Werk mittlerweile von sowjetischen Armeeein-heiten umstellt worden war. Die Soldaten harrten mehrere Tagevor und in dem Werk mit schwerem Gerät aus. Das Tondokument veranschaulicht, dass die Hauptforderungender Aufständischen politische waren: Rücktritt der Regierung,freie und geheime Wahlen, Aufhebung der Zonengrenzen, Entlas-sung politischer Häftlinge. Noch einen Tag später, am 19. Juni1953, kam es zur Bildung einer Streikleitung. Andere BetriebeWernigerodes traten sogar erst nun aus Solidarität in den Aus-stand.Nach der Belegschaftsversammlung fand ein Gespräch der Werk-leitung mit einer vierköpfigen Arbeiterdelegation statt. Man ver-einbarte, dass im Auftrag der Belegschaftsversammlung noch amselben Tag die aufgestellten Forderungen an die DDR-Regierungübermittelt würden. Konkret hieß es dazu im Verlaufsprotokolldieser Besprechung: „1. Freie und Geheime Wahlen in ganzDeutschland; 2. Aufhebung der Zonengrenzen und Abschlusseines Friedensvertrages mit ganz Deutschland; 3. Belegschaft for-dert: die Fortsetzung der Politik zur Ergreifung von Maßnahmen,die der ständigen Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerungdienen und die seit ca. 1,5 Jahren unterbrochen ist; 4. Belegschaft

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bittet die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik,soweit sie in der Lage ist, unter Berücksichtigung der bestehendeninternationalen Vereinbarungen, um Aufklärung in der Frage derKriegsgefangenen und Internierten in der SU.“ Außerdem wollteman ankündigen, nach eventuellen Verhaftungen oder anderenRepressalien wegen dieser Arbeitsniederlegung, so lange zu strei-ken, bis die Kollegen aus der Haft freigelassen seien. Ob ein solcher Brief an die DDR-Regierung geschrieben und abge-schickt worden ist, ließ sich bisher nicht rekonstruieren. Es ist abereher unwahrscheinlich, da die auf der Belegschaftsversammlunggebildete vierköpfige Delegation von sowjetischen Dienststellenkomplett festgenommen wurde. So ging die Besatzungsmachtauch gegen andere Aktivisten der Streikbewegung in Wernigero-de, etwa im Postamt und in der Papierfabrik, vor. Die von sowjeti-schen Einsatzgruppen Verhafteten wurden alle dem MfS über-stellt. Im ELMO-Werk kam es am 18. Juni zu weiteren Verhaftun-gen. Bis Anfang Juli waren alle Festgenommenen wieder frei, weilman ihnen nicht nachweisen konnte, dass sie zur Eskalation derEreignisse beigetragen hatten. Tatsächlich befanden sich unterden Festgenommenen auch Personen, die die Bewegung eher ein-dämpfen wollten, als dass ihnen an einer Verschärfung der Aus-einandersetzungen gelegen war.Der Streik zog sich bis zum Samstag, den 20. Juni, hin. Mittags gin-

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gen die Kollegen nach Hause. Am Montag arbeitete der Betriebwieder weitgehend regulär.Als am Sonntag, den 21. Juni, die SED-Führung zu einer ZK-Sit-zung zusammenkam, fragte Erich Mielke mit Blick auf das ELMO-Werk Wernigerode: „Warum sind dort die Arbeiter unzufrieden?“Er gab gleich selbst die – etwas unbefriedigende – Antwort: „Manfindet dafür keine Erklärung.“ Mielke irrte. Auch in Wernigerodewar dafür die Politik der SED, das konkrete und für viele Men-schen leidvolle Machtgebaren der herrschenden Kommunisten seit1945, verantwortlich. Im Dezember 1953 kritisierte das MfS nach einer Analyse der MfS-Kreisdienststelle Wernigerode, dass aus dem ELMO-Werk kein„Rädelsführer“ vom MfS bearbeitet worden sei. Sechs wichtigeStreikführer waren im Sommer in die Bundesrepublik geflüchtet,um sich einer drohenden Verhaftung zu entziehen. Obwohl weite-re Personen als Aktivisten bekannt waren, verharrten die MfS-Mit-arbeiter in Wernigerode in Passivität. Nunmehr Ende 1953 aufge-fordert, die „Rädelsführer“ endlich zu überführen, mussten siefeststellen, dass die wichtigsten Protagonisten des Streiks längstgeflüchtet waren. Die kurzen Ausführungen zu dem Beispiel Wernigerode solltenandeuten, dass die Akten des MfS – im Verbund mit anderenÜberlieferungen – den Forscher in die Lage versetzen, die genau-en Abläufe und Folgen zu rekonstruieren. Insgesamt ist freilich zu konstatieren, dass die Geschichte desVolksaufstandes im Juni 1953 als relativ gut erforscht angesehenwerden kann, ein Befund, der sich nach Dutzenden neueren Publi-kationen in diesem Jahr nur noch erhärten sollte. Schon die erstenDarstellungen über den Aufstand von Harpprecht, Leithäuser undScholz – alle aus dem Jahre 1954 – beschrieben den Aufstanddicht, plastisch und vor allem nicht auf Ost-Berlin und einige ande-re Großstädte beschränkt. 50 Jahre später und 13 Jahre nach derÖffnung der Archive verfügen wir zwar über neue Erkenntnisseund auch Interpretationsvarianten, aber prinzipiell sind die Bücherder genannten Autoren noch immer als aktuell anzusehen. Dasspricht nicht gegen die aktuelle Forschung, sondern in einemhohen Maße für die Autoren, deren Darstellungen wesentlich aufZeitzeugenbefragungen basierten. Heute wissen wir, dass der Aufstand noch breiter ausfiel, als vieleJahrzehnte angenommen worden ist. Erst durch die Auswertungvon vielfältigen Aktenüberlieferungen konnte nachgewiesen wer-

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den, dass der Volksaufstand über 700 Städte und Gemeindenerfasste, über 1 Million Menschen beteiligt waren, es in über 1 000Betrieben zu Streiks kam und über 250 öffentliche Gebäudeerstürmt worden sind. Darunter befanden sich fünf MfS-Kreis-dienststellen (Niesky, Görlitz, Bitterfeld, Jena, Merseburg), zweiSED-Bezirksleitungen (Halle, Magdeburg), eine VP-Bezirksdirek-tion sowie jeweils Dutzende SED- und FDGB-Gebäude, VP-Reviere,Kreisratsämter, Gemeinderäte und andere öffentliche Gebäude.Vor mindestens 22 Gefängnissen versammelten sich Demonstran-ten zwischen dem 17. und 20. Juni mit dem Ziel, die politischenHäftlinge zu befreien. Aus zwölf Haftanstalten sind knapp 1 400Häftlinge befreit worden, von denen bis Ende des Monats über 1200 wieder eingesperrt waren. Die anderen konnten in den West-en flüchten.Wenn man nun konkret fragt, welche Bedeutung in der Erfor-schung des Volksaufstandes von 1953 den Akten des MfSzukommt, so fallen folgende Punkte ins Gewicht:

1. Wie wir wissen, begann die unmittelbare Vorgeschichte desVolksaufstands mit der Sozialismus-Proklamation durch die SED-Führung in Absprache mit der Moskauer Führung auf der 2. SED-Parteikonferenz im Juli 1952. Infolge dieser Konferenz verschärftesich rasant der soziale Vernichtungsfeldzug gegen Selbstständige,gegen die freie Bauernschaft, gegen bürgerliche Mittelschichtenund gegen die Kirchen. Millionen waren davon betroffen. Die ein-seitige Orientierung auf den Ausbau der Schwer- und Hüttenindu-strie sowie der Energiewirtschaft zulasten der Verbrauchs- undKonsumgüterindustrie ließ das Lebensniveau in der DDR geradezudramatisch absinken. Das Durchschnittseinkommen betrug 308Mark, zur gleichen Zeit musste man in der HO 20 Mark für einKilogrammn Butter bezahlen. Millionen aber waren auf die HOangewiesen, weil ihnen der Staat aus politisch-sozialen Gründendie Lebensmittelkarten entzogen hatte.Für die Versorgungsprobleme machte die SED-Führung nicht dieeigene Politik verantwortlich, sondern schob dafür die Verantwor-tung einer sich angeblich stetig steigernden Sabotage- und Agen-tentätigkeit zu. Eine Folge war, dass Zehntausende unter faden-scheinigen Gründen in Zuchthäusern verschwanden. Für geringfü-gigste Vergehen sind hohe Zuchthausstrafen ausgesprochenworden. Politisch wurde damit bezweckt, der Bevölkerung, wie eshieß, eine „sozialistische Eigentumsmoral“ beizubringen, und

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zugleich diente diese strafrechtliche Praxis dazu, private Unter-nehmen zu enteignen und private Landwirtschaftsbetriebe derKollektivierung zuzuführen.Wie unmenschlich die Gerichte dabei zum Teil vorgingen, zeigtder folgende Ausschnitt aus einem Urteilsspruch des Kreisgerich-tes Greifswald vom 24. Februar 1953. Ein Fuhrunternehmer erhieltein Jahr Zuchthaus wegen Diebstahls. In der Begründung hieß esu. a.: „Am 27. 1. 1953 hatte der Angeklagte mit seinem Fuhrwerk[...] Spirituosen in der Stadt Greifswald auszufahren und dabeiauch HO-Verkaufsstellen zu beliefern. Gegen 10.30 Uhr befand ersich in der HO-Verkaufsstelle Steinstraße. Er hatte zusammen mitseinem Begleiter eine mit Spirituosen gefüllte Kiste in die Ver-kaufsstelle hineingetragen und befand sich mit der leeren Kisteauf dem Rückwege, als er in dem Lagerraum eine Reihe von Mett-würsten hängen sah. Ohne große Überlegung riss er kurz ent-schlossen eine Mettwurst herunter, steckte sie in seine Joppe undlegte sie draußen auf seinem Fuhrwerk in einen Karton. [...]Wenig später wurde der Diebstahl von einer HO-Verkäuferinbemerkt, der Angeklagte [...] zur Rede gestellt und die Tat vonihm sofort zugegeben. Die Wurst wurde sofort an die HO zurük-kgegeben. Als Motiv gab der Angeklagte an, er habe beimAnblick der vielen Mettwürste an die zu Hause herrschende Notla-ge gedacht. Von seinen 7 Kindern seien noch 6 zu Hause [...] Seinmonatliches Einkommen betrage nur 220,– bis 250,– DM netto.Seine Kinder müssten zu Abend oft Marmeladestullen essen ...“Der Richter hatte kein Mitleid. Politisch-ideologisch war die Abur-teilung als Abschreckungsmaßnahme ohne Rücksicht auf die indi-viduellen Lebensumstände vorgesehen. Der Mann büßte ein Jahrim Zuchthaus.Mit Hilfe der Akten des MfS lässt sich die Vorgeschichte des Volks-aufstands nicht nur detailliert erforschen, sondern zugleich pla-stisch beschreiben. Sie verdeutlichen, in welch hohem Maße dieBevölkerung unter den Anmaßungen der Diktatur litt und überwie wenig Rückhalt die SED-Führung zu diesem Zeitpunkt in derGesellschaft verfügte. Diese Akten zeigen zudem, dass Arbeits-kämpfe in den Betrieben – erinnert sei an die große Streikbewe-gung im Dezember 1952 – und der Widerstand der Bauern gegendie Kollektivierung schon lange vor dem 17. Juni zu charakteristi-schen Kennzeichen der gesellschaftlichen Situation wurden. Unddie in den MfS-Archiven überlieferten Unterlagen des MfS undder Justiz zeigen zudem, in welchem hohen Maße die strafrechtli-

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che Praxis als zielgerichtetes politisches Mittel eingesetzt wordenist, um die Gesellschaft kommunistisch zu formen, sie stillzulegen.

2. Nach der Verkündung des „Neuen Kurses“ am 9. Juni 1953durch das SED-Politbüro – angeordnet durch die Moskauer Füh-rung – kam es bis einschließlich 16. Juni zu einer sich raschbeschleunigenden offenen Krise in der Gesellschaft. Nach demEingeständnis der SED-Führung, Fehler gemacht zu haben unddiese nun korrigieren zu wollen, schöpften Millionen Hoffnungund Zuversicht, die kommunistische Diktatur, die geschwächt undentblößt erschien, überwinden zu können. Man wusste nun, dassdie individuelle Erfahrung für den Zustand der Gesellschaft gera-dezu charakteristisch war. Das zeigte sich unter anderem in einerZunahme von Streiks und Demonstrationen. Dutzende Dörferfeierten überdies bereits die Abdankung der Herrschenden, dieMenschen zogen mit schwarz-rot-goldenen Fahnen durch die Dör-fer und sangen die dritte Strophe des „Deutschlandliedes“. Mantrank – etwas verfrüht – auf das Wohl von Konrad Adenauer, dergerade in ländlichen Regionen als die Symbolfigur für Freiheit undDemokratie stand. In mehreren Städten versammelten sich Men-schen vor den Gefängnissen – so in Brandenburg, Halle, Leipzig,Weimar, Stralsund oder Neuruppin – und verlangten, dass die poli-tischen Häftlinge freigelassen werden sollten. Die Justizangestell-ten waren völlig überfordert von dieser Situation, ihnen fehlten esan klaren Anweisungen, was zu tun sei, und so kam es tatsächlichin mehreren Städten zur spontanen Freilassung von Häftlingen.Das wiederum bestärkte die Menschen in ihrer Meinung, dass dasSystem am Ende sei und das Kommuniqué vom 9. Juni letztlicheiner Bankrotterklärung der SED-Führung gleichkam. Die Streiks in vielen Betrieben nahmen zudem einen explizit poli-tischen Charakter an. Abgesehen von der Tatsache, dass im sogenannten „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ jeder Streik in der Per-spektive der herrschenden Kommunisten ein Politikum darstellte,formulierten die Arbeiter nach dem 9. Juni unmissverständlichpolitische Forderungen. Am 16. Juni fand zum Beispiel eine Beleg-schaftsversammlung im RAW „Einheit“ Engelsdorf (Leipzig-Land)statt, „wo die Arbeiter und Angestellten in einer Resolution denRücktritt der Regierung, die Durchführung geheimer Wahlen unddie Freilassung aller politischen Häftlinge forderten.“ Eine Delega-tion, der auch der Werkleiter und der BGL-Vorsitzende angehör-ten, überreichte diese Resolution der SED-Kreisleitung Leipzig-

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Land: „Sie stellten die obligatorische Forderung, diese Resolutionsofort im Rundfunk zu verlesen, anderenfalls mit dem Streikbegonnen würde“. Die in dieser Belegschaftsversammlung be-schlossene Resolution zeigt, dass es keiner westlichen Mentorenbedurfte, um politische Forderungen in den Betrieben aufzustel-len. Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass die so genannte Normen-frage – die abermalige Erhöhung der Normen zum 30. Juni ist amMorgen des 16. Juni zurückgenommen worden – in diesen Tagennur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Der Aufstand verfolg-te von Beginn an politische Ziele. Die Normenfrage spielte vorallem im RIAS eine Rolle, was letztlich zu einer jahrzehntelangeninterpretatorischen Dominanz der Normen führte, die es aberrealhistorisch – insbesondere außerhalb Ost-Berlins – so nichtgegeben hatte. Sozialpolitische Forderungen zählten natürlich zuden massenhaft erhobenen, aber im Kern standen politische imZentrum. Es ging nicht um partielle Fragen wie Normen, sondernum grundlegende wie Freiheit, Demokratie und Einheit.

3. Unser Wissen über die genauen Abläufe des Aufstands in über700 Städten und Gemeinden hat sich durch die Quellenzugängeseit 1990 erheblich verbessert. Den MfS-Akten kommt dabei insbe-sondere deshalb eine besondere Funktion zu, weil sie es ermög-lichen, die individuellen Beweggründe zu erforschen, die zur akti-ven Teilnahme am Volksaufstand führten. Außerdem gestatten sieEinblicke, wie SED, Polizei und MfS reagierten, wie sie sich vorbe-reiteten bzw. wie sie es gerade nicht taten. Dabei zeigt sich, dassdie Kopflosigkeit in den Berliner Zentralen teilweise dazu führte,dass noch am Vormittag des 17. Juni die Funktionäre in vielenStädten und Gemeinden völlig überrascht worden sind von denStreiks und Demonstrationen, während wiederum in anderen Ort-schaften die Funktionäre erfolgreich versuchten, die Bewegungbereits im Keim zu ersticken bzw. politisch zu kanalisieren. Geradedort, wo FDGB- oder SED-Funktionäre zum Beispiel an der Formu-lierung von Resolutionen und Forderungskatalogen beteiligtwaren, ist der politischen Brisanz oftmals die Spitze abgebrochenworden.

4. Aber nicht nur für die präzise und vor allem anschaulicheRekonstruktion der Abläufe sind gerade die MfS-Akten kaumersetzbar, ebenso bedeutungsvoll sind sie für die Folgen, die derVolksaufstand nach sich zog. An erster Stelle ist in diesem

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Zusammenhang die strafrechtliche Aufarbeitung durch das SED-Regime zu nennen. Aus diesen Akten können wir heute relativgenau belegen, dass es zu etwa 13 000 bis 15 000 Festnahmenkam, dass etwa 1800 Urteile von DDR-Gerichten gefällt wordensind – das letzte übrigens am 6. September 1955 – und dass noch-mals etwa 500 bis 750 Männer und Frauen – die Zahl ist abergeschätzt – von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt wordensind. Die Akten belegen, dass es zwar den Versuch gab, die straf-rechtliche Ahndung zu koordinieren, aber sie zeigen auch, dassdie strafrechtliche Praxis eher unsystematisch und zufällig erfolg-te. Die ermittelnden Instanzen waren darauf fixiert, westliche Hinter-männer und Drahtzieher zu ermitteln. Das gelang ihnen nicht, wieauch das MfS immer wieder intern bestätigen musste. Gleichwohlspielten ideologisch vorgegebene Begründungen, wonach derAngeklagte im Auftrag westlicher Mächte gehandelt habe, immerwieder eine herausgehobene Rolle.Am 22. Juni fanden die erste Prozesse in fast allen Bezirken statt.Im ersten Schauprozess vor dem Ostberliner Stadtgericht unterLeitung von Götz Berger – der später übrigens, nachdem auch erdie stalinistischen Pfade verlassen hatte, Robert Havemann vertei-digte – erhielt der Westberliner Student der Volkswirtschaftslehreund Politikwissenschaft Wolfgang Gottschling sechs Jahre Zucht-haus „wegen Rädelführerschaft“. Er war Mitglied der FDP, die ineinem Vermerk der Polizei vom 20. Juni 1953 als „profaschistisch“eingeschätzt worden ist. Gottschling war am Nachmittag des 17.Juni vor einem VP-Revier unter Anwendung von Gewalt durch VP-und MfS-Kräfte festgenommen worden. Er bestritt entschieden,an den Unruhen aktiv beteiligt gewesen zu sein. Wolfgang Gott-schling befand sich auf dem Weg zu seiner Cousine. Im Radio istein Prozessbericht gesendet worden, Justizminister Fechner nahmam Prozess als Beobachter teil und im „Neuen Deutschland“ publi-zierte am 23. Juni 1953 Karl Eduard von Schnitzler – der im Prozesssogar als „Zeuge“ der Anklage auftrat – einen Beitrag über denProzessverlauf. Die Vorwürfe gegen Gottschling waren konstruiert– er soll Polizisten beleidigt und zum Aufruhr aufgerufen haben –und haltlos. Das scherte die SED und ihre Justizorgane aber nicht.Sie benötigten einen Schauprozess, in dem die Rolle von West-Ber-linern herausgestellt werden und der zugleich als Richtlinie für dieJustiz in der gesamten DDR dienen sollte. Der Rechtsanwalt Friedrich Wolff, der Wolfgang Gottschling

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mutig verteidigte, Berufung einlegte und letztlich nicht unerheb-lich zur vorzeitigen Entlassung beitrug, bekannte später über die-sen Prozess: „Andererseits ahnten wir wohl beide nicht, welcheBedeutung dem Verfahren beigemessen werden würde.“ Im Juni1956 kam Wolfgang Gottschling vorzeitig frei. Insgesamt fällt die strafpolitische Bilanz ambivalent aus. Einerseitsfällten die Gerichte eine Reihe hoher Haftstrafen, hinzu kamenzwei vollstreckte Todesurteile sowie die 18 standrechtlichenErschießungen. Andererseits jedoch blieb die gesamte strafrechtli-che Abrechnung verglichen mit der sonstigen Strafpraxis quantita-tiv verhältnismäßig milde. Nicht nur, dass angesichts der Tatsache,dass das System existenziell bedroht war und vor dem Zusammen-bruch stand, die Zahl der insgesamt Verurteilten relativ geringausfiel, auch die Strafmaße blieben angesichts des Ereignisses undder strafrechtlichen Praxis vor dem 17. Juni durchschnittlich relativgering. Weit mehr als die Hälfte der Angeklagten erhielt Haftstra-fen von weniger als drei Jahren. Tausende kamen ohne Prozessfrei.5. Gerade die Akten des MfS belegen, dass der Volksaufstandspontan, unorganisiert und weitgehend führerlos ausbrach. Voneiner Mithilfe des Westens konnte nicht einmal ansatzweise dieRede sein. Dem MfS lagen übrigens seit 1954 westdeutscheGeheimdienstpapiere vor, die zum Ausdruck brachten, dass derAufstand auch die westlichen Geheimdienste völlig überraschthatte, dass die westlichen Organisatoren jeglichen Kontakt zuihren Agenten und Kontaktpersonen im Osten am 17. Juni 1953verloren hatten und dass sowohl der Verfassungsschutz wie auchder Gehlen-Dienst davon ausgingen – noch am 20. Juni 1953 –,dass der Aufstand von den östlichen Machthabern „inszeniert“worden sei, um dem Kommunismus in ganz Deutschland zum Siegzu verhelfen. Im Prinzip hatten die westlichen Geheimdienste ver-sagt und versuchten nun, ihr Versagen durch abenteuerliche Kon-struktionen zu verschleiern.

6. Schließlich belegen die MfS-Akten, in welchem Maße dieMachthaber durch den Volksaufstand traumatisiert worden sind.Spätestens seit Juni 1953 wussten sie, dass ihr ärgster Feind imeigenen Land stand: die Bevölkerung. Ihnen ist aber auch bewusstgeworden, dass sich allein durch Terror und Unterdrückung eineGesellschaft nicht dauerhaft lenken und leiten lässt. Insofern, soeine ihrer Lehren, käme es in Zukunft stärker darauf an, neben

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der Peitsche auch Zuckerbrote als politische Instrumentarien ein-zusetzen. Zugleich intensivierte die Macht nach der erfolgreichenNiederschlagung des Aufstands durch sowjetische Truppen im Ver-bund mit KVP- und MfS-Einheiten den Ausbau ihres Macht- undDisziplinierungsapparates, der nach dem „17. Juni“ die gesamteGesellschaft immer mehr beherrschte. Die DDR fand immer mehrzu sich selbst. Sie nahm das sie charakterisierende Gesicht an. Der„17. Juni“ war die unmittelbare Voraussetzung für die „innereStaatsgründung“.Ich möchte die Hoffnung ausdrücken, dass die politische und wis-senschaftliche Beschäftigung mit dem Volksaufstand am 17. Juni1953 auch über dieses Jubiläumsjahr 2003 hinaus anhalten wird.Es kommt darauf an, den „17. Juni“ dauerhaft im nationalenErinnerungskanon zu verankern. Dazu wird es in Zukunft viel stär-ker vonnöten sein, den historischen Gegenstand „17. Juni“ gesell-schaftlich permanent zu thematisieren und zu debattieren. Es exi-stieren nicht nur noch viele offene Forschungsfragen – obwohl der„17. Juni“ als sehr gut erforscht angesehen werden kann –, wirbenötigen auch dringend viel mehr Gedenkorte und Gedenkplät-ze, die an den „17. Juni“ erinnern. Ebenso existieren bislang zuwenige publizistisch aufbereitete und aufgeschriebene Biogra-phien von Akteuren des Volksaufstands. Gerade mittels Biogra-phien lässt sich Geschichte an Nachgeborene anschaulich weiter-geben. Besonders gefragt sind bei der Vermittlung die politischeBildung und insbesondere der Unterricht an den Schulen. Nochimmer fehlt an sehr, sehr vielen Schulen, gerade auch im Osten,eine selbstverständliche und dauerhaft verankerte Beschäftigungmit dem „17. Juni“. Wenn ich abschließend konstatieren darf, dass der „17. Juni“ zuden zentralen Ereignissen in den letzten 200 Jahren deutscherGeschichte und als massenhafte Freiheitsbewegung für „Freiheitund Einheit“ zu den demokratischen Glanzpunkten der deutschenGeschichte zählt, erhebt sich auch die Aufgabe, ihn als Teil in dieeuropäische Erinnerungskultur einzuführen. Der Aufstand stehtda noch nicht. Der „17. Juni“ hätte aber gute Chancen verankertzu werden. Und dies aus mehreren Gründen. Prinzipiell erstens,weil er eine revolutionäre Volksbewegung für den demokrati-schen Verfassungsstaat darstellte. Zweitens, weil er vor demHintergrund einer Diktatur Grenzen zu überwinden beabsichtigte.Drittens, weil er in vielen Staaten vergleichbare Pendants kanntebzw. ihm viele folgten. So wie der „17. Juni“ in die Reihe der

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deutschen Revolutionen gehört, so zählt er auch zu den osteuro-päischen Freiheitsbewegungen nach 1945, die eben 1953 in derCSSR, der DDR und dann im sowjetischen Workuta begannen, sichüber solche Schlaglichter wie 1956, 1968, 1970, 1980/81 fortsetz-ten und schließlich 1989/90 ihre idealtypische Erfüllung fanden.Der „17. Juni 1953“ war ein deutscher Aufstand nicht nur in Euro-pa, sondern wie jeder andere auch – wie wir retrospektiv sagendürfen – auch für Europa. Viertens, weil er belegt, dass es trotzübermächtig wirkender Erscheinungen immer und überall lohnt,die Würde des Einzelnen zu verteidigen und zu behaupten. Undfünftens, darin liegt retrospektiv seine besondere Suggestions-kraft, weil er im Verbund mit anderen nationalen Erhebungenund Entwicklungen schließlich eine unverhoffte und späte Vollen-dung 1989/90 im gesamten kommunistischen Machtbereich Euro-pas fand.

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Thomas Krüger

Verfolgung und Widerstand als Themen der politischen Bildungsarbeit

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor nunmehr fast 50 Jahren, am 18. Juni 1953, wurde der 26-jähri-ge Kraftfahrzeugschlosser Alfred Diener, der sich in Jena am Volks-aufstand gegen das SED-Regime beteiligt hatte, vom Militärtribu-nal des sowjetischen Truppenteils Nr. 07335 in Weimar zum Todeverurteilt. Diener war am Vortag von sowjetischen Soldaten imGebäude der SED-Kreisleitung festgenommen worden. Er hattegemeinsam mit zwei anderen Demonstranten den Ersten Sekretärder SED in seinem Büro zur Rede stellen wollen. Die kurzeGerichtsverhandlung verlief wie üblich ohne Verteidiger. Noch amselben Tage wurde Diener im Gebäude der sowjetischen Komman-dantur in Weimar erschossen. Er starb drei Tage vor seiner geplan-

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ten Hochzeit und hinterließ seine Verlobte und einen sechs Mona-te alten Sohn. 30 000 Jenenser hatten gegen die Regierung protestiert und freieWahlen, die Einheit Deutschlands und den Rücktritt der Regierunggefordert; 500 Personen wurden verhaftet. Aus der erhaltengebliebenen schriftlichen Urteilsbegründung geht hervor, dassAlfred Diener für „konterrevolutionäre Handlungen“ bestraftworden sei, die sich gegen das Regime der SED gerichtet hätten.Zitat: „Am 17. Juni 1953 wurde in Jena, Deutsche DemokratischeRepublik, ein konterrevolutionärer Aufstand organisiert. Einer derOrganisatoren dieses Aufstandes ist der Angeklagte Diener,Alfred, der an der Spitze von einigen Aufrührern in die Räume derKreisleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ein-drang. Diener betrat persönlich den Arbeitsraum des Sekretärs derKreisleitung der Partei und forderte von dem Letztgenannten,dass dieser durch das geöffnete Fenster eine Ansprache vor denAufständischen hält. Als der Sekretär die Forderung des Dienerablehnte, wandte sich Diener sofort an die Masse der sich auf derStraße befindlichen Aufrührer und rief sie zu einem Pogrom auf.Nach dem konterrevolutionären Aufruf des Diener stürzte sich derHaufen der Aufrührer in die Räume der Kreisleitung der Parteiund veranstaltete ein Pogrom darin. Dabei wurden dem Sekretärder Kreisleitung schwere körperliche Verletzungen zugefügt.“Soweit das Urteil. Als Beweismittel dienten „sein eigenes Schuld-eingeständnis“ und eine Zeugenaussage. Heute trägt eine Straße in Jena seinen Namen, und in Weimarerinnert eine Gedenktafel der Stadt an Alfred Diener – ange-bracht an dem Gebäude, das Ort seiner Hinrichtung war. Waskann politische Bildungsarbeit aus derartigen, erschütternden Bio-graphien lernen? Dass es sich keineswegs um Einzelfälle handelte,wissen wir aus der umfassenden zeithistorischen Erforschung des17. Juni 1953. Die Umstände des Volksaufstandes stehen heutejenseits allen Zweifels, auch wenn in jüngster Zeit Versuche zuregistrieren sind, nach alter, übler SED-Manier die Ereignisse zu„sozialen Unruhen“ umdeuten zu wollen, die vom Westengeschürt worden seien. Sicher, unmittelbarer Anlass der Demon-strationen waren die ökonomischen Missstände, insbesondere diewillkürlichen Normenerhöhungen, mit denen die SED in ihrerHybris den beschleunigten, „planmäßigen Aufbau der Grundlagendes Sozialismus“, wie sie es nannte, in Angriff nehmen wollte.Aber der Aufstand hatte von Anfang an eine politische Dimen-

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sion. Die historische Wahrheit besagt: Ohne das entschlossene undbrutale Einschreiten der Besatzungsmacht wäre Ulbrichts Herr-schaft und aller Wahrscheinlichkeit nach auch sein Staat bereits imSommer 1953 an sein Ende gelangt. Das lag an mutigen Demon-stranten wie Alfred Diener – oder den Bauarbeitern der Stalinal-lee, die mit dem Ruf „Wir wollen freie Menschen sein“ an diebesten Traditionen der deutschen Geschichte anzuknüpfen ver-suchten. Couragiertem Eintreten für Bürgerrechte und Demokratie musspolitische Bildung zur allgemeinen Akzeptanz verhelfen, undzwar unabhängig vom tagesaktuellen Zustand unserer Verfas-sungsorgane. Das ist nicht immer leicht. Wie ist jüngeren Genera-tionen zu vermitteln, dass es sich lohnt, für demokratische Grund-überzeugungen, ja, für die Menschenrechte einzutreten, wenn esdoch in Leipzig oder Bautzen im Jahre 2003 so viel leichter fällt –und wirkungsloser zu verhallen scheint – als in der „Heldenstadt“im Herbst 1989? Gar nicht zu reden von den Ereignissen im Kriegs-Berlin im Februar und März 1943, als in der Rosenstraße mehrerehundert mutige Berlinerinnen demonstrierten – ein beispielloserAkt während der NS-Zeit – und den Abtransport ihrer jüdischenEhemänner und Väter in die Vernichtungslager verhinderten? Daslässt sich nur anhand von Einzelschicksalen im Ansatz nachempfin-

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den. Dabei geht es nicht um einen erhobenen Zeigefinger gegenNachgeborene, nein, politische Bildung muss die Sprache derersprechen, die sie erreichen will. Im Mittelpunkt steht nicht alleinder historische Erkenntnisgewinn, sondern vielmehr und vor allemeine Sensibilisierung für Gefahren und Gefährdungen der aktuel-len Demokratie und ein Aufruf zum aktiven Mitwirken in derGesellschaft.Manchen gut gemeinten Versuchen steht dabei die Gegenwart imWege. Wer an historischen, authentischen Orten Gedenkstättenar-beit betreibt, weiß, wovon ich rede, zumal hier in Bautzen. „WerBautzen hört, der denkt an Knast“, titelte eine Regionalzeitungnoch im Sommer 1999. Diese schöne alte Stadt wird noch eineWeile brauchen, bis ihr Name wieder klingt. Ich denke auch anDachau, dem man nicht gerecht wird, wenn man sein Image aufjene unseligen zwölf Jahre verkürzt. Gedenkstätten sind aber kei-neswegs ein Makel für das Image der Region, in der sie sich befin-den; im Gegenteil, die hier geleistete Darstellung von Verfolgungund Widerstand im historischen Kontext trägt dazu bei, aus einementsetzlichen Erbe Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu zie-hen.Neben derartigen, ganz praktischen Hürden gibt es allerdings

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auch grundsätzliche. Das Phänomen der doppelten Verfolgung inzwei Diktaturen und zum Teil an denselben Orten ist eine deut-sche Besonderheit. Es gibt aufrechte Demokraten, die sowohl imNationalsozialismus als auch in der SBZ/DDR aus politischen Grün-den Widerstand leisteten, verfolgt und inhaftiert wurden. Nimmtman Verfolgung und Widerstand in den beiden deutschen Dikta-turen des letzten Jahrhunderts – wobei man selbstverständlichnicht verwischen darf, dass die eine auf die andere folgte undgewissermaßen, zumindest was Deutschland betrifft, eine Folgeder ersten war –, nimmt man also Verfolgung und Widerstandzum Anlass, über Möglichkeiten der politischen Bildung im demo-kratischen Verfassungsstaat nachzudenken, dann stößt man aufmethodische Schwierigkeiten. Sicherlich bedarf die authentische Darstellung von Verfolgungund Widerstand an Orten „doppelter Verfolgung“ und doppelterVergangenheit feinfühliger, einfühlender Forschungsarbeit. Wiewären Verfolgung und Widerstand angemessen zu vermitteln?Unter welchen Schwierigkeiten allein das Grauen etwa der deut-schen Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg mit ihren Mensch-heitsverbrechen lange Zeit für die politische Bildung fruchtbar zumachen war, führte der alten Bundesrepublik Ende der Siebziger-jahre die für so manchen altgedienten politischen Bildner kaumglaubliche Resonanz der amerikanischen TV-Produktion „Holo-caust“ vor. Eine Seifenoper löste die größte Selbstvergewisse-rungsdebatte in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte aus. Sietrug im Effekt vielleicht mehr zur politischen Bildung breitererBevölkerungskreise bei als so manch gelehrtes und dickleibigesWerk. In jüngerer Vergangenheit wäre auf die Arbeiten des NewYorker Künstlers Art Spiegelman zu verweisen: die Juden alsMäuse, die SS als Katzen, Auschwitz als Comic, ist das erlaubt? Wie – wenn überhaupt – kann der nachfolgenden Generationzumindest eine Ahnung vom Leiden und Sterben der vielfachbereits in jugendlichem Alter im „Gelben Elend“, dem späteren„Speziallager“ der Sowjets und ab 1950 der Strafvollzugsanstaltdes Ministeriums des Innern draußen am Stadtrand, Inhaftiertenvermittelt werden? Wie wird man Bautzen II, dem Stasi-Gefängnisneben dem Amts- und Landgerichtsgebäude, gerecht? Wohl vorallem durch eine zeitgemäße Präsentation von Einzelschicksalen.Dazu gehört unabdingbar die akribische Präsentation und Erhal-tung sowie fachkundige Kommentierung der authentischen Orte.Denken Sie etwa an das Beispiel der „Werdauer Oberschüler“,

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deren 19 jugendliche Mitglieder 1951 – ironischerweise am 3. Okt-ober – in einem der ersten politischen Schauprozesse der noch jun-gen DDR zu insgesamt 130 Jahren Haft verurteilt wurden. Allemussten ihre Strafe antreten. Ihr Vergehen: Sie hatten sich nachanfänglicher Begeisterung für den antifaschistischen Neuanfangin der SBZ von der Politik der SED und der Gängelung durch diesowjetische Besatzungsmacht abgewandt und sind mit selbstgefertigten Flugblättern und nächtlichen Pinselaktionen für dieEinheit Deutschlands und freie Wahlen eingetreten. Das war inder frühen DDR ein Kapitalverbrechen. Widerständiges und oppo-sitionelles Verhalten wurde in der DDR prinzipiell kriminalisiert. Inihrem Handeln beriefen sich die Oberschüler aus dem sächsischenWerdau auf die Weiße Rose der Geschwister Scholl. An ihrer ehe-maligen Schule, die heute Alexander-von-Humboldt-Gymnasiumheißt, ist vor wenigen Jahren eine Gedenktafel angebracht wor-den, und die Schule stellt sich ihrer Vergangenheit. Der glückliche Umstand, dass noch Zeitzeugen verfügbar sind,muss in der politischen Bildungsarbeit genutzt werden. Der „Wer-dauer Oberschüler“ Achim Beyer wurde als 19-Jähriger zu achtJahren Gefängnis mit anschließenden acht Jahren „Sühnemaßnah-men gemäß Kontrollratsdirektive“, wie das damals hieß, verur-teilt. Der Vorwurf in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft

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lautete auf „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungenund Organisationen“; die Gruppe habe klar zu erkennen gege-ben, dass sie, so das Zitat, „Feinde des Friedenslagers der 800 Milli-onen friedliebenden Menschen sind. Sie haben sich selbst durchihre verbrecherischen Handlungen aus der Gemeinschaft der fried-liebenden Menschheit ausgeschlossen.“ Achim Beyer berichtet:„Wir haben Flugblätter verteilt und geklebt, insbesondere gegendie Volkskammerwahl 1950, haben zum Widerstand gegen dasSED-Regime aufgerufen, haben gegen das Todesurteil gegen Her-mann Josef Flade protestiert. Wir hielten die Sicherheitsorganemehrere Monate in Aufregung. Im Ort selbst wurde unter derBevölkerung viel diskutiert, wir wurden beobachtet. Es gab Ver-dächtigungen – in einer mittleren Kleinstadt mit knapp 30.000Einwohnern keine Besonderheit.“ Welche Menschenverachtungspricht aus den Worten der Parteijustiz, und welchen Mut hat dieGruppe in der stalinistischen DDR bewiesen.Zweifellos muss politische Bildung an solchen Belegen von Zivil-courage und Widerstehen anknüpfen, und das geht am besten,wenn die historischen Fakten plastisch und nachvollziehbar ver-mittelt werden – immer wieder. Insbesondere muss es darumgehen, auch jüngere Generationen, von denen viele das Ende derDDR nicht bewusst erlebten, zu erreichen. Leider jedoch werdendie Zeitzeugen nicht mehr allzu lange zur Verfügung stehen kön-nen. Hier müssen neue Wege der Vermittlung der jüngeren bzw.jüngsten Geschichte gefunden werden. Dabei ist es hilfreich, sichder Medien und Kommunikationswege zu bedienen, die auch füreher „printferne“ Kreise Teil ihres Alltags sind.Denn im Internetzeitalter genügen die traditionellen Instrumenteder Multiplikatoren allein längst nicht mehr, es gilt, sich zusätzlichzu der seriösen Erarbeitung dessen, was war, der heutigen Medienund der Kooperationspartner zu bedienen, die zur Verfügung ste-hen. Im globalen Netz sind die Möglichkeiten, aktuelle, schnelleInformationen zu liefern und zugleich auf Produkte der Bundes-zentrale für politische Bildung/bpb, die sich für eine Vertiefungeignen, hinzuweisen, ideal. Das Internet bietet zudem vor allemfür jugendliche Zielgruppen einen Anreiz, sodass Zugangsschwel-len herabgesetzt werden. Eine eigene Website der bpb fürJugendliche, „fluter.de“, soll dazu beitragen. Auf der gemeinsammit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und demDeutschland-Radio präsentierten Internetplattform zum 17. Juni1953 finden Interessierte multimedial unterstützt Grundinforma-

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tionen über den Volksaufstand, darunter auch zahlreiche Zeitzeu-genberichte aus allen Bezirken der DDR. Die hohe Zahl von nach-weisbaren Seitenaufrufen gibt uns Recht. Die Surfer können sichselbstständig eine Chronik der Ereignisse erschließen und zum Teilbislang unveröffentlichte Ton- und Bilddokumente auf sich wirkenlassen. Natürlich sollen die traditionellen Angebote der politischen Bil-dung, die Print-Produkte, nicht vernachlässigt werden. So wirdmein Haus voraussichtlich im Herbst in enger Kooperation mit derStiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin einen Gedenk-ortführer vorlegen, der – nach dem Muster des seit 1995 bereits inder zweiten Auflage und jetzt auch als CD-ROM vorliegendenGedenkortführers über die nationalsozialistische Gewaltherrschaft– Einträge zu über 300 authentischen Orten vornehmlich inDeutschland enthalten wird, die Auskunft über Verfolgung undWiderstand in der SBZ/DDR erteilen können, natürlich auch überdie Vorgänge vor, am und nach dem 17. Juni 1953. Ferner präsen-tiert die bpb als weiteren Band ihrer „ZeitBilder“-Reihe eine leichtlesbare, allgemein verständliche und mit historischen Fotos undDokumenten angereicherte Geschichte der DDR der Fünfzigerjah-re. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt auf Verfolgung undWiderstand gegen die sich etablierende Herrschaft der SED. EineAusgabe der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ wird sich,eingebettet in eine Themenausgabe der Wochenzeitung „Das Par-lament“, aus zeithistorischer, wissenschaftlicher Sicht mit deminternationalen Forschungsstand über diese erste Volkserhebungim Stalinismus befassen.Wer also wissen will, dem sind auch künftig kaum Grenzengesetzt. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob wirklich aus derGeschichte zu lernen ist. Geschichte wiederholt sich nicht. DochStrukturelemente einer sich anbahnenden Diktatur können deut-lich aus der Geschichte erkannt werden. Dabei sind die Gedenk-stätten wichtige Partner der politischen Bildung, sie sind von zen-traler Bedeutung für eine demokratische Erinnerungskultur.Die „doppelte deutsche Diktaturgeschichte“ bietet meines Erach-tens dabei besonders große Chancen, ohne die dabei lauerndenGefahren aus den Augen zu verlieren. Wie der ZeithistorikerBernd Faulenbach bereits 1991 in einer kontroversen Diskussionmit Vertretern von Opferverbänden aus der NS-Zeit bzw. des Stali-nismus festhielt, dürfen die Verbrechen des Nationalsozialismus„nicht durch Auseinandersetzung mit dem Geschehen der Nach-

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kriegszeit relativiert, das Unrecht der Nachkriegszeit nicht mitdem Hinweis auf die NS-Zeit banalisiert werden“. Soweit BerndFaulenbach, und das gilt noch heute. Verfolgung und Widerstand müssen im historischen Bezugsrah-men analysiert und für die politische Bildung nutzbar gemachtwerden. Ich möchte schließen mit einem Zitat aus dem Abschluss-bericht der 1995 eingesetzten zweiten Enquete-Kommission desDeutschen Bundestages zur „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“. Sie hat festgehalten,worum es heute und künftig geht. Im Abschlussbericht heißt es:„Die Notwendigkeit von Aufarbeitung und Erinnerung an die bei-den Diktaturen ist heute Teil des demokratischen Selbstverständ-nisses im vereinten Deutschland. Die Erinnerung an die beidenDiktaturen, die die Feindschaft gegen Demokratie und Rechtsstaatverbunden hat, schärft das Bewusstsein für den Wert von Freiheit,Recht und Demokratie. Dies, wie die notwendige Aufklärung überdie Geschichte der beiden Diktaturen, ist der Kern des antitotalitä-ren Konsenses und der demokratischen Erinnerungskultur derDeutschen. (...) Die Deutschen gedenken des Widerstandes undder Opposition gegen die beiden Diktaturen, der Zivilcourage vonMenschen, die sich den Diktaturen widersetzten, für eine anderepolitische Ordnung kämpften oder Verfolgten beistanden. Ohnedie moralische Kraft des deutschen Widerstandes wäre nach dernationalsozialistischen Terrorherrschaft ein demokratischer Neu-anfang in Deutschland nicht möglich gewesen. Die friedlicheRevolution der Deutschen in der DDR vom Herbst 1989 schuf dieGrundlage für die freiheitliche Demokratie im vereinten Deutsch-land. Widerstand und Opposition gegen die Diktaturen sind wich-tiger Bestandteil des demokratischen und freiheitlichen Erbes allerDeutschen.“ Soweit die Enquete-Kommission in ihrem Abschluss-bericht. Aus ihrer Arbeit ist die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hervorgegangen.Verfolgung und Widerstand bleiben auch künftig wichtige The-men der politischen Bildungsarbeit, denn eine Beschäftigung mitihnen kann den Blick schärfen für antidemokratische Zumutungender Gegenwart. Sie kann vielleicht auch dagegen immunisieren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

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Podiumsgespräch

Der 17. Juni 1953 aus der Perspektive von Zeitzeugen

Norbert Haase

Meine Damen und Herren,

zum Abschluss des Bautzen-Forums sollen noch einmal diejenigenzur Sprache kommen, die selbst Augenzeugen des Volksaufstan-des am 17. Juni 1953 in der DDR waren. Mit mir sitzen dreiGesprächspartner auf dem Podium, die den Volksaufstand anunterschiedlichen Orten miterlebt haben: Als Angehörige einesnamhaften Freiheitskämpfers des Aufstandes in Görlitz, als sogenannter Rädelsführer der Ereignisse in der Neiße-Stadt und alspolitischer Häftling im Zuchthaus „Roter Ochse“ in Halle.Es ist im Verlauf der Veranstaltung die Forderung erhoben worden– zu Recht, wie ich meine – der Geschichte insoweit ein Gesicht zu

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geben, dass man sich an die Beteiligten erinnert. Weil diesesaußergewöhnliche historische Ereignis nur einen Stellenwert imkollektiven Gedächtnis einnehmen kann, wenn es mit konkretenGeschichten tradiert werden kann. Insoweit darf ich auch noch einmal darauf verweisen, dass derKollmer Bäckermeister und damalige CDU-Bürgermeister Gott-fried Diener ebenfalls unter uns gesessen hätte, der heute 82-jäh-rig in Baden-Württemberg lebt, einer der Aufstandsbeteiligten inseiner Gemeinde war und auch in Görlitz involviert war. Ange-sichts der Witterungsbedingungen der letzten Tage hat er dieStrapaze der langen Anfahrt nicht auf sich nehmen können.Lassen Sie mich zunächst die Teilnehmer des Podiums vorstellen:Frau Dr. Maike Neumann, geborene Weingärtner. Sie ist ausHirschberg im Riesengebirge gebürtig und wuchs nach dem Zwei-ten Weltkrieg in Görlitz auf. Frau Dr. Neumann studierte seit 1960an der Humboldt-Universität Berlin Medizin und arbeitete späterim staatlichen Gesundheitswesen der DDR, in Ohorn hier in derOberlausitz. Nach der Wende betrieb sie eine eigene Praxis und isterst seit kurzem im Ruhestand. Frau Dr. Neumann, oder besser dasjunge Mädchen Maike Weingärtner, erlebte den 17. Juni 1953 alsZwölfjährige mehr am Rande, während ihr Bruder – und hier erin-nere ich abermals an einen wichtigen Namen, Stefan Weingärtner– zu denjenigen Görlitzer Aufständischen gehörte, die zum Todeverurteilt wurden. Er wurde später begnadigt und erst 1963 ausder Haft entlassen.Neben Frau Dr. Neumann sitzt Herr Gunter Assmann. Auch erstammt aus Oberschlesien, ist dort aufgewachsen, hat 1939 seinAbitur gemacht, war Kriegsteilnehmer, Flieger bei der Luftwaffe.Obschon er zunächst von den Amerikanern gefangen genommenwar, ist er dann nach der Übergabe viereinhalb Jahre in sowjeti-sche Kriegsgefangenschaft geraten. Ich darf sagen, dass Herr Ass-mann durch seine Herkunft – Oberschlesien ist ja gewissermaßenauch immer eine multikulturelle Region gewesen und die Jahre inder Sowjetunion haben das ihre dazu beigetragen – über verschie-dene Sprachkenntnisse verfügte, was ihn als Spion verdächtigmachte. Es folgten entbehrungsreiche Jahre hinter Stacheldraht.1949 aus der Gefangenschaft entlassen kam er nach Görlitz aufder Suche nach den Eltern. Herr Assmann hat dann als Sportlehrergearbeitet. Aber wegen seiner Beteiligung am Juni-Aufstand inGörlitz 1953 wurde er vom Bezirksgericht Dresden zu einer hor-renden Strafe, acht Jahre Zuchthaus, verurteilt, die er in den säch-

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sischen Strafanstalten Waldheim und in Bautzen verbüßen musste.Auch nach seiner Haftentlassung 1961 gab es Repressalien, wieman sich vorstellen kann. Davon zeugt heute auch eine umfang-reiche Stasi-Akte. Herr Assmann hat, wie Frau Dr. Neumann, denüberwiegenden Teil seines Lebens in der DDR verbracht und isterst nach der Pensionierung 1986 in die Bundesrepublik ausge-reist.Herr Achim Beyer ist für viele, die das Bautzen-Forum regelmäßigbesuchen, ein alter Bekannter. Als gebürtiger Dresdner gehörte erzu den Oberschülern im sächsischen Werdau, die 1950 eine Wider-standsgruppe gegen die SED-Diktatur ins Leben gerufen hattenund dafür bitter durch Verfolgung in einem Schauprozess undlangjährige Zuchthausstrafen bezahlen mussten. Er wurde 1956aus der Haft entlassen, flüchtete in die Bundesrepublik, wo er das

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Abitur nachholte und ein Studium der Volkswirtschaft absolvierte.Seit 1960 ist er in der politischen Bildung und der DDR-Forschungtätig und ist 25 Jahre lang Vorsitzender des Kuratoriums „Unteil-bares Deutschland“ in Erlangen gewesen. Zudem trat er häufig alsReferent hier auf dem Bautzen-Forum auf. 1992 ist er rehabilitiertworden. Er hat vor kurzem über diese Erfahrung des Jugend-widerstandes in Werdau eine bemerkenswerte Publikation vorge-legt; ein reich mit Dokumenten und Bildern versehenes Buch, dasich Ihnen sehr ans Herz legen möchte. Es ist als Band 1 der Schrif-tenreihe des sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterla-gen in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig mit dem Titel„Urteil: 130 Jahre Zuchthaus“ publiziert worden.

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Maike Neumann

Meine Damen und Herren,

zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Möglichkeit, übermeinen Bruder – Stefan Weingärtner – zu sprechen und seinenNamen öffentlich zu erwähnen. Und auch gestern haben wirgehört, wir müssen Namen nennen. Dafür bin ich dankbar, dafürdanke ich der Friedrich-Ebert-Stiftung, Herrn Eisel, dem Bautzen-Komitee und schließlich auch Frau Dr. Roth, die durch ihre akribi-schen Recherchen über den 17. Juni – insbesondere auch über Gör-litz – auf das Schicksal meines Bruders gestoßen ist und ihn damitauch öffentlich gemacht hat.Den 17. Juni 1953 erlebte ich noch als Kind und mehr am Rande.Wir hatten an diesem Tag Schule, die Schule fiel nicht aus bei unsin Görlitz. Der Unterricht wurde aber vorzeitig abgebrochen, weilauch in der Schule bekannt wurde, dass es Unruhen und Streiks inder Stadt gab. Wir wurden gegen Mittag nach Hause geschickt. ZuHause hatte meine Mutter über das Radio, RIAS Berlin, von den

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Ereignissen erfahren. Und für mich war klar, ich muss in die Stadt,ich muss wissen, was da los ist. Ich bin dann gegen 14 Uhr mit mei-ner Freundin in die Stadt gegangen. Wir wohnten seinerzeit amStadtrand, da hat man nichts von den Unruhen gemerkt. Aber alswir dann Richtung Zentrum gelaufen sind, kamen immer mehrMenschen auf die Straße. Alles strömte Richtung Obermarkt –Lenin-Platz hieß er seinerzeit. Dort fanden alle wichtigen öffent-lichen Ereignisse – 1. Mai- Demonstrationen etc. – statt. Der ganze Platz war überfüllt bis an den Rand. Es war auch eineArt provisorische Tribüne aufgebaut. Es funktionierte auch schoneine Radioübertragung. Es wurden Reden gehalten: der Ruf nachFreiheit, nach unabhängigen Wahlen, nach der Einheit Deutsch-lands, nach besseren Lebensbedingungen. Für uns Kinder war esunfassbar, solche Dinge laut im Radio formuliert zu hören. Ichweiß auch noch, dass ich in der Ferne meinen Bruder erkannte aufdieser Tribüne, in erster Reihe, noch in seiner Schlossermontur. Erwar Autoschlosser, kurz vor seiner Gesellenprüfung. Stefan istunmittelbar am Vormittag mit seinen Kollegen mit den Arbeiterndes Waggonbau, Maschinenbau und der großen Betriebe in dieStadt gezogen. Was im Einzelnen passiert ist, kann ich nicht bele-gen, ich war nicht dabei. Wir haben auch später nie irgendwelcheInformationen bekommen; das ist eigentlich das letzte Bild, dasich von meinem Bruder am 17. Juni mit nach Haus genommenhabe.Am späten Nachmittag, so um halb fünf, kamen dann neue Mel-dungen durch die Lautsprecher, und zwar die Aufforderung, denPlatz schnellstens zu verlassen, die Versammlung aufzulösen. Wieein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, die Russen kämen,Panzer würden auffahren und der Ausnahmezustand würde aus-gerufen werden. Wir wussten natürlich mit dem Wort „Ausnah-mezustand“ nichts anzufangen, bekamen es aber doch gehörigmit der Angst zu tun und sind schnurstracks nach Hause gelaufen.Zu Hause waren meine Mutter und mein zweiter Bruder da. Wirwaren drei Kinder, meine Eltern waren seit 1946 geschieden,meine Mutter war allein erziehend. Wir warteten auf unserenBruder. Er kam nicht. Es wurde dunkel. Wir haben uns nicht mehrauf die Straße getraut, auch nicht mehr in die Stadt. Wir habengehorcht, gelauscht, gewartet. Mein Bruder kam nicht, er kamauch am nächsten Morgen nicht. Und das war eigentlich derMoment, wo meine Mutter sich dann am nächsten Morgen schonvoller böser Vorahnungen, voller Angst – man durfte ja wieder auf

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die Straße – aufgemacht hat und versuchte, ihren Sohn oderzumindest Spuren ihres Sohnes zu finden und herauszufinden,was am späten Abend passiert ist. Sie ist u. a. in den Betrieb mei-nes Bruders gegangen und die Kollegen, die mit ihm in die Stadtgegangen sind, haben ihr gesagt, die Russen – das war das allge-mein übliche Wort für die „Freunde“ – hätten ihn am Abend mit-genommen. Auch andere Teilnehmer bestätigten das. Der Ver-such, in das Rathaus vorzudringen, Abteilung Inneres, in dasGefängnis, war aussichtslos. Sie wurde gar nicht vorgelassen.Das war dann der Moment, wo meine Mutter begonnen hat,gegen Wände zu laufen. Sie hat keine Auskunft bekommen. Undwir haben also gewartet bis zum 6. Oktober 1953, ohne jeglicheInformation, keine Post, keine Nachricht. Meine Mutter wurdeimmer wieder von den Behörden abgewiesen. Am 6. Oktobersteckte dann eine Karte in unserem Briefkasten mit der Hand-schrift meines Bruders. Das war das erste Lebenszeichen seit dem17. Juni. Darauf stand, er wäre am Leben, es ginge ihm gut und erwäre begnadigt worden zu 25 Jahren Arbeitslager.Mein Bruder war 20 Jahre alt. Er ist in der Ausbildung zum Auto-schlosser gewesen. Soweit ich mich erinnern kann, war er politischvöllig uninteressiert. Er liebte die Natur, er liebte den Sport, abernicht die Politik. Stefan war ein unpolitischer Mensch. Er versuch-ter sich zu informieren wie jeder andere auch, aber er war in kei-ner Organisation. Natürlich hat er in dieser Zeit auch die Repressa-lien und die schlechte Versorgung, die Unzufriedenheit im Allge-meinen mit fast den meisten Menschen geteilt. Als dann dieseBewegung begann und die Streiks, ist er mitgelaufen. Mit allenanderen aus seinem Betrieb, es war ein kleiner Betrieb, etwa zehnLeute.Stefans Verfolgungsschicksal konnten wir persönlich zu dieser Zeitnicht nachvollziehen. Aus den Akten, die ich dann 1998 einsehenkonnte, habe ich auch aus der Akte meines Bruders erfahren, dasser am 19. Juni 1953 vom Sowjetischen Militärtribunal zum Todedurch Erschießen verurteilt worden ist. Er ist dann am 5. Oktoberzu 25 Jahren Arbeitslager begnadigt worden. 1956 ist er den deut-schen Behörden übergeben worden und durch eine Amnestienach zehn Jahren entlassen worden, 1963 im Januar, nach Görlitz.Er war in Bautzen, wie lange, kann ich ihnen nicht sagen. Er warin Luckau, in zwei Lagern und ist dann bis zum Ende seiner Haftnach Torgau verlegt worden. Er hat, als er entlassen wurde, sehrwenig von dieser Zeit erzählt, sicher ganz bewusst, weil mittler-

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weile auch bekannt ist, dass er angeworben worden war, dass erquasi verpflichtet worden ist, seinem Staat zu dienen. Er hat aberdieses Ansinnen abgelehnt. Er ist in dieser Zeit sehr viel krankgewesen. Er hatte Probleme mit seinen Augen, war auch häufigstationär in Behandlung. Er hat erwirkt, dass er auch in der Chari-té vorgestellt wird, er war also sehr häufig in Berlin. Im Nachhinein weiß ich, dass er Kontakte geknüpft hat mit ehe-maligen Gefangenen. In West-Berlin gab es ja die Vereinigung derVerfolgten des 17. Juni und die Vereinigung der freiheitlichenJuristen. Er war dort mit Sicherheit registriert. Wie die Kontaktegeknüpft wurden, kann ich nicht sagen. Das hat er auch nieerzählt. Ich war seinerzeit auch nicht in Görlitz, ich war zum Stu-dium in Dresden und wir haben uns relativ selten gesehen. Als ichdann 1964 wieder nach Hause kam, war er wieder nach Berlin zueiner ärztlichen Untersuchung gefahren und ist nicht mehr nachHause gekommen. Meine Mutter wusste natürlich auch nichts, daswar viel zu gefährlich. Aber dann kam eine Karte, dass er in Sicherheit wäre. Dannkamen wieder die Herren der Staatssicherheit zu uns nach Hause.Das habe ich nicht selbst miterlebt, das hat meine Mutter alleshautnah erlebt. Sie hat sich in all diesen Jahren mit den Behördenauseinandersetzen müssen, sie hat sich anhören müssen, dass ihrSohn zu Recht verurteilt wurde, denn es sei doch bekannt, dass esin der DDR keine politischen Gefangenen, sondern nur Kriminellegäbe. Alle, die sich gegen die antifaschistisch-demokratische Ord-nung und den Aufbau des Friedens gestellt haben, seien Kriminel-le. Und ihr Sohn müsse das einsehen, er müsse umerzogen wer-den, die Zeit wäre noch nicht reif. Meine Mutter hat immer ver-sucht, in unzähligen Gnadengesuchen, klar zu machen, dass ihrSohn in jugendlichem Ungestüm – und das war sicherlich der Fall,weil er eben wirklich politisch nicht interessiert gewesen ist undvoller Emotionen an diesem Tage mitgelaufen ist – von der allge-meinen Begeisterung und Unruhe mitgeschwemmt worden ist. ImNachhinein denke ich, das war eine Stimmung so ähnlich wie1989. Und so waren wir wieder „Verbrecher“, er war ein „Verbre-cher“, das hatte man uns ja zehn Jahre lang eingetrichtert, dannhat er wieder seine Republik verraten, er war wieder „Verbre-cher“ und wir die Angehörigen eines „Verbrechers“. Wir wareneigentlich, so dachten wir, als Familie, als Geschwister verpflichtet,in all den Jahren der Haft ihm sein Schicksal insofern zu erleich-tern, dass wir möglichst wenig Angriffsfläche für offizielle Kritik

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geben dürfen. Wir haben versucht, Solidarität zu üben, in derHoffnung einer vorzeitigen Entlassung. Er war ja nach wie vor zu25 Jahren verurteilt. Mein schulischer und beruflicher Weg ist relativ glatt verlaufen,erstaunlicherweise. Ich denke, das ist doch auf eine gewisse unter-schwellige Solidarität der Verantwortlichen und der Gremien, dieEntscheidungen zu fällen hatten, zurückzuführen. Zum Beispielwurde mein Antrag auf Aufnahme in die Oberschule – das war sei-nerzeit das Schulsystem, 8 Jahre Grundschule, dann 4 Jahre Ober-schule bis zum Abitur – abgelehnt. Aber meine Mutter war wirk-lich eine Kämpferin und durch energische Intervention ist dieserAntrag dann revidiert worden. Ich konnte auf die Oberschulegehen. Das lief dann alles ganz glatt. Es gab nur eine einzige Oberschule in Görlitz. Ich hatte den alt-sprachlichen Zweig gewählt. Der altsprachliche Zweig war dieKlasse, in der sehr viele Kinder von Ärzten und Apothekern – alsoder Intelligenz – zusammengefasst wurden, und wir waren auchein bisschen ein renitenter Kern. In der elften Klasse wurden wirdann auf die anderen Klassen aufgeteilt, auf die naturwissen-schaftliche und die polnischsprachige Klasse, die dann doch deut-licher sozialistisch ausgerichtet waren. Das Abitur selber habe ichprimär im ersten Anlauf nicht geschafft. Das lag daran, dass dasHauptfach, Deutsch, mit der Note ungenügend bewertet wurde,obwohl es eigentlich mein leistungsstärkstes Fach war. Ich nehmean – ich kann es nicht beweisen –, dass mir der Direktor der Schu-le, der gleichzeitig Parteisekretär und seinerzeit Schulkameradmeines Bruders war, vielleicht doch noch einmal einen kleinenDenkzettel verpassen wollte. Innerhalb von drei Wochen, in derZeit, wo die anderen Klassenkameraden im Ernteeinsatz verpflich-tet waren, konnte ich aber den Aufsatz nachschreiben, und derwar dann mit einer entsprechend besseren Note versehen. Ichhabe mein Abiturzeugnis zusammen mit allen anderen bekom-men. Die wenigsten haben gewusst, dass da so ein kleiner Holper-stein gewesen ist. Ich bin aufgewachsen in diesem Zwiespalt. Ich bin keine Kämpfer-natur, ich war es nie. Ich habe viel zu viel Angst gehabt. Und wirhaben in diesen zehn Jahren doch immer die Verpflichtunggehabt, meinem Bruder zu helfen, damit er wieder nach Hausekommen kann. Dass wir beobachtet und beschattet wurden, waruns klar. Da waren Briefe geöffnet, da verschwanden Pakete oderes lag ein Zettel im Paket, dass diese und jene Waren entnommen

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worden sind, weil sie den Bestimmungen nicht entsprachen. Stefan Weingärtner ist relativ jung, in den Siebzigerjahren in derBundesrepublik verstorben. Ob dies möglicherweise auch an denHaftfolgeschäden lag, kann ich nicht beweisen. Aber er war sehr,sehr viel krank. Er hat anfänglich gearbeitet, auch wieder in sei-nem Beruf, in einer großen Autofirma. Er ist dann aber doch überlange Strecken krank geschrieben gewesen. Er ist operiert wor-den, eine Milzentfernung – keine ganz alltägliche Diagnose. Under ist letztendlich 1977 in Hannover an einer Lungenembolie ver-storben. Beweisen kann man es nicht, aber es ist zumindest unge-wöhnlich, wir wissen es nicht.Ich meine, dass wir unbedingt diese Erinnerung brauchen. DieEreignisse dürfen nicht vergessen werden, und der Einsatz der vie-len darf nicht irgendwo im Untergrund verschwinden, so wie er inall den Jahren der DDR verschwiegen worden ist. Gestern undheute wurde der Weg aufgezeigt, den wir gehen sollten: Manmuss es an die jungen Leute herantragen, man muss es in Erinne-rung behalten und auch neue Wege gehen. Es ist heute das Zeital-ter der Medien, der Elektronik, und die Möglichkeiten, die aufge-zeigt wurden, haben mir sehr imponiert. Für mich persönlich muss ich sagen, ich lebe unverändert mit die-sem Zwiespalt, natürlich jetzt nicht mehr so brisant. Ich lebe auch

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mit einer Angst, die ich niemals aufarbeiten kann, aber mit der ichumzugehen gelernt habe. Ich habe versucht, meine Kinder nichtzu beeinflussen, sie nicht in diesen Zwiespalt, in dem ich immergesteckt habe, zu bringen. Und dadurch, dass mein Bruder relativfrühzeitig verstorben ist, kennen ihn meine Kinder nicht mehrpersönlich – sein Schicksal ist ihnen natürlich bekannt –, ich durfteauch nicht zu seiner Beisetzung fahren. Aber ich hoffe und wün-sche, dass die Jugend heute offen und frei leben und entscheidenkann, ohne Druck von außen, ohne Repressalien. Das ist ganzwichtig.Ich persönlich habe kein dramatisches Schicksal wie viele von denhier Anwesenden. Insofern habe ich immer gesagt, dass ich garnicht so sehr viel rüberzubringen habe. Jung wie ich war, habe ichgelernt, mit dieser Situation zu leben und mich auch einzufügen.Ich habe immer Rücksicht genommen, am Anfang auf meinen Bru-der, später auf meine Kinder. Ich weiß auch, durch die Möglichkeitder Akteneinsicht, dass wir auch später noch immer beobachtetwurden, meine Familie, ich. Dass immer Berichte geschrieben wur-den. In dieser Haltung, keine offizielle Angriffsfläche zu geben,bin ich über all die Jahre relativ glimpflich darüber weggekom-men. Ich wurde auch nie gefragt, ob ich nicht mitarbeiten oder indie Partei eintreten wolle. Ich hoffe auf Toleranz in der heutigenZeit.

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Günter Assmann

Am 24. November 1949 kam ich nach viereinhalbjähriger sowjet-ischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. In Frankfurt an der Oderstellte sich für mich die Frage, wohin ich mich entlassen sollte. Womeine Eltern waren, wusste ich nicht. Lebten sie noch? Meine Hei-mat Schlesien war jetzt Polen. Also fuhr ich nach Görlitz, wo eineTante von mir (Flüchtling aus Breslau) lebte, denn im Westen hatteich auch niemanden.Bei der Anmeldung in Görlitz wurde ich zur Untersuchung aufBergbautauglichkeit geschickt. Ich sollte in den Uranbergbau nachAue. Da ich aber schwer kriegsgeschädigt war, wurde ich alsuntauglich eingestuft.Auf die Frage, was ich nun machen will, antwortete ich, dass ichgern Maschinenbau studieren möchte. Da ich aber Leutnant beider Luftwaffe war, antwortete man mir: „Bei uns studieren Arbei-ter- und Bauernkinder und keine faschistischen Offiziere!“. Somusste ich zur Arbeit als Elektroschweißer in die LOWA Görlitz. Inmeiner Freizeit spielte ich in der Werksmannschaft Fußball. Da ich

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ein guter Spieler war, wurde ich vom Konsum Görlitz abgewor-ben. Gleichzeitig bot man mir dort eine Stelle im Fahrbüro an, dieich auch annahm.Im Herbst 1950 wurden alle Wehrmachtsoffiziere, einschließlichder Majore, amnestiert. So durfte ich studieren oder eine leitendePosition einnehmen. Deshalb begann ich 1951 ein Fernstudium fürdie Fachrichtungen Mathematik und Sport. Ich gab in der Grund-schule 13 in Görlitz/Rauschwalde Unterricht. Am Mittwoch, dem 17. Juni 1953 hatte ich Mittags Schulschluss.Mit drei Kollegen ging ich zur Straßenbahnhaltestelle, um nachHause zu fahren. Wir wunderten uns, dass keine Leute auf dieBahn warteten und keine Bahn kam. Von Passanten, die aus derStadt kamen, erfuhren wir, dass in den Görlitzer Betriebengestreikt würde.Wir machten uns daher zu Fuß auf den Weg. In der Nähe desdamaligen Leninplatzes (Obermarkt) hörten wir die bundesdeut-sche Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit ...“ von dendort versammelten Menschenmassen singen. Ich fragte mich, wobin ich? Günter Kamenz, den ich vom Tennisspielen kannte, undHerr Gierig vom Waggonbau, in seiner Arbeitsmontur, sprachenzu den Streikenden. Sie riefen: „Weg mit der Regierung! FreieWahlen! Ein einheitliches Deutschland! Wir wollen nicht unter dersowjetischen Knute weiterleben!“Die Kundgebung wurde mit dem Hinweis unterbrochen, um 15.00Uhr hier wieder zu erscheinen. Ich ging nun vom Obermarkt hinü-ber zum Postplatz, um den Heimweg anzutreten. Am Postplatzbefindet sich das Gerichtsgebäude und dahinter die Haftanstalt.Als ich dort vorbeikam, sah ich diskutierende Menschenmassen,die hinein und herausströmten. Laut fielen die Worte: „Freiheitfür die politischen Gefangenen. Freiheit für die Menschen, die ausNot und Hunger zu Dieben wurden.“ (Eine Mutter, die für ihreKinder ein Stück Butter im Wert von fünf Mark, für sie nichterschwinglich, gestohlen hatte, wurde dafür eingesperrt und dieKinder ins Waisenhaus gesteckt.) Der Vater eines Bekannten war1948 ohne ersichtlichen Grund abgeholt worden und ist nie wie-der aufgetaucht. Die Angehörigen erhielten keine Nachricht,keine Lebenszeichen. Wenn man sich unterhielt, musste manAngst haben, dass man bespitzelt wurde. Da erinnerte ich mich an meine Kriegsgefangenschaft in derSowjetunion, wo ich 4 1/2 Jahre hinter Stacheldraht menschenun-würdig leben musste und mir die Freiheit entzogen wurde. In der

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Haftanstalt, die ich mit der Menge betrat, waren die Rechtsanwäl-te Brüll und Schön dabei, von den Justizbeamten die Akten derpolitischen Häftlinge zu erhalten. Die Beamten versuchten diesdurch fadenscheinige Ausreden zu verhindern. Keine Schlüssel,keine Ahnung, wo entsprechende Akten wären, niemand warzuständig etc.! Und die Zeit verrann. Im Zellenhaus waren bereitsArbeiter aus der LOWA, dem Maschinenbau und anderen Görlit-zer Betrieben dabei, mit Vorschlaghämmern und Brechstangen dieZellentüren aufzubrechen. Ein nutzloses Unterfangen, denn dieTüren gaben nicht nach. Die Schlüssel mussten her! Da erkannteich eine Vollzugsbeamte, Frau Kühn, die Mutter eines meinerSchüler. Von ihr verlange ich die Zellenschlüssel, um die bereitsangeheizte Situation zu entschärfen. Sie sah sich ängstlich um undgab mir heimlich die Schlüssel. Ich begann nun die Zellen aufzu-schließen. Die befreiten Inhaftierten kamen weinend aus den Zel-len und umarmten uns. Darunter waren alte Frauen – und daswaren bestimmt keine Verbrecher! Ich habe Türen aufgeschlossen,bis mir die Hand weh tat. So gab ich den Schlüssel einem streiken-den Arbeiter weiter, der mein Arbeit fortsetzte. Ich verließ die Haftanstalt mit dem guten Gefühl, einigen Men-schen die Freiheit wiedergegeben zu haben. Da sah ich auf derBerliner Straße die sowjetischen Panzer anrollen! Einer blieb aufdem Postplatz stehen und ein russischer Offizier stieg aus. Ich gingzu ihm und fragte ihn in seiner Heimatsprache warum er hier seiund was er hier vor hätte. Er sagte nur kurz: „Geht nach Hause,sonst wird es schlimm für euch.“ Ich dachte bei mir, wenn dieschon kommen wird es wirklich schlimm und ich ging nach Hause. Am nächsten Tag ging ich wie üblich zur Schule, um Unterricht zuhalten. Im Lehrerzimmer standen sämtliche Kollegen, der Direktorund ein Elternbeiratsmitglied. Letzteres sagte, wenn die Arbeiterin der Stadt streiken, dann wird auch kein Unterricht gehalten.Der Direktor und drei SED-Genossen sagten, das können wir dochnicht machen. Sie wurden überstimmt und es wurde kein Unter-richt gehalten. Während dieser Diskussion verschwand der Direk-tor aus dem Lehrerzimmer. Nach circa zehn Minuten hörten wirAutos vorfahren und Lärm im Schulhaus. Der Direktor kam mitdem Stadtschulrat zu uns ins Lehrerzimmer und die KasernierteVolkspolizei besetzte das Schulgebäude. Der Stadtschulrat brüllteuns an, warum wir keinen Unterricht hielten. Dann vergriff er sichan dem kriegsverletzten Elternbeiratsmitglied und wollte ihn ausdem Zimmer werfen. Da ging ich dazwischen und brüllte ihn an,

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ob er vergessen hätte, dass er als Spieß 1945 in der Jägerkasernedie noch kranken Soldaten an die Front geschickt hat. Wo warstdu denn gestern Vormittag? Da hast du dich vor Angst auf der Toi-lette versteckt und eingeschlossen, weil man dich suchte! Undjetzt willst du hier einen kriegsverletzten aus dem Zimmer werfen.Vom Direktor verlangte ich noch die Abnahme des Parteizeichensder SED, da wegen dieses Abzeichens Schulen von den streiken-den Arbeitern demoliert wurden waren. Der Stadtschulrat verließmit den Direktor das Zimmer. Die Kasernierte Volkspolizei zog mitihm ab. Und wir gaben keinen Unterricht!Am 20. Juni wurde ich auf dem Sportplatz beim Unterricht zueiner kurzen Rücksprache abgeholt. Diese dauerte dann 8 Jahreund 7 Tage!Ich wurde zuerst zur Polizei und dann in die Haftanstalt gebracht.Nach einigen Tage wurde ich mit anderen, vom 17. Juni Verhafte-ten, mit der „grünen Minna“ nach Dresden gebracht. Es war einsehr heißer Sommertag und ein Häftling, der Totengräber vonZodel, hat die Fahrt nicht lebend überstanden. Im Bezirksgerichtwurde ich mit zwei mir unbekannten Inhaftierten aus Görlitzangeklagt. Der Staatsanwalt Horeny beantragte für mich 8 JahreZuchthaus wegen Landfriedensbruch, Teilnahme am öffentlichenAufruhr und Gefangenenbefreiung (§ 115, 120, 125). Die RichterinFrau OR Stephan verurteilte mich zu 5 Jahren. Doch der Staatsan-walt legte Protest ein und mein Rechtsanwalt Dr. Jäckel Berufung.Ich wurde nach Waldheim gebracht. Dort wurde mir Häftlingsklei-dung verpasst und ich kam mit den dort arbeitenden Häftlingenzusammen. Man fragte mich, warum ich einsitze und wie vieleJahre ich hätte. Völlig apathisch teilte ich ihnen den Grund unddie Haftzeit von fünf Jahren mit. Man klopfte mir auf die Schulterund sprach mir Mut zu, denn schließlich hatten diese Häftlingezwischen 75 und 124 Jahren Zuchthausstrafe! Sie lachten undmeinten: die fünf Jahre sitzen wir auf einer Rasierklinge ab! - Siewaren von den Russen im Waldheimer Prozess verurteilt wurden. Nach einigen Tagen wurde mir mitgeteilt, dass mein Urteil aufge-hoben sei und meine neue Verhandlung in Dresden stattfinde.Frau OR Stephan teilte mir mit, dass mein Urteil, fünf Jahre Haft,revidiert wurde, und ich vom Obersten Gericht Berlin zu 8 JahrenZuchthaus auf Anweisung der Justizministerin Hilde Benjamin ver-urteilt werden soll und das sei hiermit rechtskräftig mit Anrech-nung der Untersuchungshaft. Man erteilte mir das letzte Wort.Und diesmal hatte ich ein letztes Wort! Herr Staatsanwalt: „Wenn

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Sie behaupten, dass ich mit 13 Jahren, da war ich nämlich im Jung-volk, das Naziregime mit aufgebaut habe, so ist das nur eine Dis-kriminierung meiner Person. Sie behaupten, Sie waren zu der ZeitKommunist! Wären Sie ein echter Kommunist gewesen, so stän-den Sie jetzt nicht hier, denn man hätte Sie ins KZ gebracht undSie wären bestimmt nicht mehr am Leben.“ – Frau OR Stephan:„Ich bin nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen der SEDverurteilt worden. Denn sie alle tragen das Parteiabzeichen, dieeinen sichtbar, die anderen verdeckt.“ Diese Äußerungen bewirk-ten, dass mir die 7 Tage der U-Haft nicht angerechnet wurden undab ging es zurück nach Waldheim. Hier wurden wir, die „X-er“, gesondert von allen anderen Häftlin-gen, in der von uns so genannten „Bremen“, dem Zellenhaus imErdgeschoss, in 2 mal 4 m großen Zellen mit 6 Mann eingepfercht.Es war furchtbar! Wir bekamen weder Zeitungen noch Bücher undwurden, wenn notwenig, gesondert zur Ambulanz geführt. AlsHöhepunkt der Schikanen empfand ich, dass wir des öfteren unse-ren täglichen 20-Minuten-Rundgang auf der Rückseite des Zellen-hauses zwischen den Kloaken leerenden Jauchewagen machenmussten. Bei einer Beschwerde darüber wurde uns der Rundgangeine Woche ganz gestrichen. Nach einem Jahr wurden wir täglichauf den Boden des Zellenhauses zur Arbeit gebracht. Wir musstendie aus Leipzig gelieferten Kürschnerreste (Felle) mit Scherenschneiden. Die Haare wurden als Filz weiterverarbeitet. Man gabuns Mundtücher wegen der herumfliegenden Haare. Diese warenaber so dick, dass wir sie nicht benutzen konnten. – Nach demzweiten Jahr wurde unsere „X-er“- Isolierung aufgehoben, undwir wurden in verschiedene Arbeitsbereiche aufgeteilt. Ich kam indie Druckerei bis man feststellte, dass ich als „X-er“ nicht die Vor-schriften für das Wachpersonal zur Behandlung der Häftlingedrucken durfte. Wäscherei und Bekleidungskammer waren dienächsten Arbeitsstellen für mich. In der Bekleidungskammer lageines Tages ein Zettel auf der Erde mit folgendem Wortlaut:Gefangene, denkt daran, die SED ist eine Verbrecherpartei! DenZettel übergab ich dem Polizeimeister, Leiter der Bekleidungskam-mer, mit den Worten: „Mich können Sie mit solch einer simplenProvokation nicht hereinlegen. Ich war 4 1/2 Jahre in russischerGefangenschaft und habe schlimmeres hinter mir.“ Verlegennahm er das Hetzblatt und ging. Kurze Zeit darauf erfolgte meineVerlegung in die Ankerwickelei, wo ich bis zu meinem Abtrans-port in die Haftanstalt Bautzen tätig war. Der Wechsel ins „Gelbe

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Elend“ war aufgrund eines Antrages meiner schwerkranken Mut-ter ans Justizministerium wegen der weiten und beschwerlichenBesuchsfahrten von Görlitz nach Waldheim genehmigt worden. Und in Bautzen ging es gleich so richtig los! Einzelzelle und Isolie-rung! Innerhalb von 14 Tagen hat man mir dreimal den Strohsackvollends entleert, nach Kassibern und verbotenen Gegenständengesucht. Zweimal stopfte ich mir wieder den Strohsack. Bei drittenMal legt ich den Strohsack auf das aufgeschüttete Stroh undschlief darauf. Einem Wachtmeister, der zu mir in die Zelle kom-men wollte, sagte ich: „Er möge die Zelle allein nicht betreten, daes aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt sei. Ich habe in Waldheimdie Vorschriften fürs Justizpersonal gedruckt und er möchte mirÄrger ersparen.“ Der Wachtmeister war aber nur an der Zellentürstehen geblieben, um mir mitzuteilen, dass ich verlegt würde. Ichkam von der Einzelzelle in den Gemeinschaftssaal von ca. 150Häftlingen. Hier waren alle Kategorien von Straftätern zusam-men, vom Mörder zum Kinderschänder und Vergewaltiger. Hier-mit wollte das Regime zeigen, wozu man uns, die politischen Häft-linge, zählte. Ich wurde in den Arbeitsprozess eingegliedert, kam in die Schnei-derei und lernte an der Maschine nähen. Nach einer Umfrage, objemand die russische Sprache beherrschte, meldete ich mich, dennich war des Nähens leid. Meine Augen wurden immer schlechter,infolge des schwarzen Cords, den wir zu Zimmermädchenanzügennähen mussten. Als man noch hörte, dass ich bei der Luftwaffegewesen bin, kam ich ins Konstruktionsbüro als Übersetzer für dieDienststelle Straußberg. Für eine DIN A5 Seite Übersetzung bekamdie Haftanstalt 20 Mark. Ich übersetzte täglich 4–5 Seiten, daswaren also 80 bis 100 Mark. 6 Tage in der Woche übersetzte ich,da kann man sich ausrechnen, was die Haftanstalt an mir verdienthat! In dem gleichen Raum arbeiteten auch Kartografen, die Triestund die Alpen (Frankreich, Italien) kartografierten. Wofür? Etwafür einen Krieg? Nach etwa 3–4 Monaten musste ich meine Sachenpacken und wurde wieder einmal verlegt. Durch den „Buschfunk“erfuhr ich, dass man mich aufgrund meiner Straftat, als Gegnerdes Staates, nicht weiter in dieser Abteilung beschäftigen durfte.In den verschiedensten Arbeitsbereichen wurde ich nun beschäf-tigt und so verging die Zeit. Das Krankenhaus lernte ich auch ken-nen. Ich bekam Gelbsucht und kam in eine Isolierkrankenzelle.Nur zur Essenausgabe sah ich einen Sanitäter. Ein Arzt kam nureinmal in der Woche. Kurz nach meiner Genesung musste ich wie-

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der ins Krankenhaus. Ich hatte Magen- und Zwölffingerdarmge-schwüre und meine chronische Blinddarmentzündung wurdeakut. Hiermit möchte ich dem Reichenbacher Privatarzt danken,der einmal wöchentlich eine internistische Sprechstunde in derAnstalt hielt. Er hat mich davor bewahrt, dass ich in der Haftan-stalt operiert wurde. Meine Entlassung war in greifbarer Näheund so konnte er es verantworten, nicht auf einer sofortigen Ope-ration zu bestehen. Er sagte zu mir, als der aufsichtsführendeWachtmeister abgelenkt war, dass ich mich zu Hause operierenlassen solle, denn hier könne er für ein Gelingen der Operationnicht garantieren.Beinahe hätte ich vergessen, das Schlimmste, das mir währendmeiner Haft angetan wurde zu berichten. Wilhelm Pieck war Ende1960 verstorben und Walter Ulbricht hat zu seinem Amtsantritteine Amnestie für alle Häftlinge, die nur eine geringe Haftdauerhatten, erlassen. Auch ich fiel darunter! Schon im Zivilanzug standich mit den anderen Amnestierten vor der letzten Tür zur Freiheit.Plötzlich wurde gerufen: „Assmann und Helbig werden nicht ent-lassen! Zurück!“ Ich war vollkommen am Boden zerstört, denn ichhatte mir nichts zu Schulden kommen lassen! Warum wurde ichnicht entlassen? Unter Androhung von Arbeitsverweigerung undHungerstreik wurde mir der Grund durch einen Görlitzer Staats-icherheitsangehörigen mitgeteilt: „Ihre Mutter hat gesagt, dasssie nach der Entlassung sofort in den Westen übersiedeln wollen.Für ihre Zukunft sei gesorgt!“ – Und das lassen wir nicht zu, dasssie dort als Held gefeiert werden. Am 27. Juni 1961 öffneten sich dann tatsächlich die Zuchthaustü-ren und ich kam in die sogenannte Freiheit der DDR. Für EndeAugust war eine Urlaubsreise (Reisebüro) nach Usedom geplantund beim Bahnwechsel in Berlin vom Ostbahnhof zum Nordbahn-hof aus der S-Bahn im Westsektor auszusteigen. Ein früherer Rei-seantritt war nicht möglich, da ich noch keine Ausweispapierebesaß. – Alles umsonst, denn der 13. August 1961 mit dem Bau derMauer in Berlin verurteilte mich zum weiteren Verbleib in derDDR. 15 Jahr Ehrverlust, Entzug aller bürgerlichen Ehrenrechte, hingenmir nach meiner Entlassung noch an. Ein Jahr war ich krank,wurde operiert und war arbeitsunfähig. Danach wurde mir eineArbeitsstelle zugewiesen, denn als Lehrer war ich nicht tragbar.Meine Familie, insbesondere meine Tochter, haben die Zeit bis zuihrer Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, am 2. August

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1989, mit Bravour überstanden. Ich selbst war 1986 als Rentner(mit einer Monatsrente von 380 Mark) von einem genehmigtenVerwandtenbesuch in der BRD nicht mehr in die DDR zurückge-kehrt.In der BRD habe ich vergebens verschiedene Ministerien und Poli-tiker angeschrieben und um Hilfe gebeten, damit Frau und Toch-ter baldmöglichst in die Bundesrepublik ausreisen können. MeineFrau wurde monatlich zur Abteilung Inneres in Görlitz bestelltund mit familiären Fragen belästigt. Meine Tochter, die mit einemsehr guten Abitur und trotz negativer politischer Beurteilungschließlich doch noch einen Studienplatz in Berlin bekommenhatte, wurde nach meiner Republikflucht exmatrikuliert.Kurz vor dem Mauerfall kam es dann endlich zur Familienzusam-menführung. Nach Einsicht in meine Stasi-Akten habe ich mit Ent-setzen festgestellt, dass meine Familie und ich 25 Jahre lang vonder Staatssicherheit überwacht worden waren. Deren zumeistnicht gerade auf Wahrheit beruhenden Aussagen und Berichteüber meine Person und meinen Arbeitsbereich (städtische Kunst-sammlung) hätten mir nicht nur Ärger mit der Abteilung Inneres,sondern Schlimmeres bringen können. 17 Zuträger, darunterbekannte Persönlichkeiten von Görlitz und angebliche „guteFreunde“ sind enttarnt und mit Namen bekannt geworden.Meine Frau und ich haben die in den Akten enthaltenen Gemein-heiten und Anschuldigungen bis heute nicht verkraftet und wer-den das wohl nie vergessen können.

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Achim Beyer

Mitte Mai 1951 wurde ich in Werdau/Sachsen mit weiteren 18Schülern und Freunden von der Staatssicherheit mitten im Abiturverhaftet und Anfang Oktober 1951 in dem Prozess gegen die„Werdauer Oberschüler“ nach Artikel 6 der DDR-Verfassung zu 8Jahren Zuchthaus „und anschließenden 8 Jahren Sühnemaßnah-men gemäß KD 38“ verurteilt. Die Gesamtstrafe für 19 Jugendli-che – unter ihnen mehrere Sechzehnjährige und drei Mädchen –betrug 130 Jahre Zuchthaus. Wir hatten Flugblätter hergestellt, verteilt und geklebt, insbeson-dere gegen die „Volkskammer-Wahl“ 1950 (Text: „Wir sehnen unsnach Frieden, nach der Einheit Deutschlands in Freiheit – weg mitden Volksverrätern – wählt mit NEIN“), gegen das SED-Regime,gegen das Todesurteil gegen Hermann Joseph Flade; wir störtenmit Stinkbomben politische Veranstaltungen, aber wir haben kei-nerlei Sabotageakte geplant oder gar ausgeführt. Dennoch hieß es in der Anklageschrift, dass „alle Angeschuldigtensich eines der schwersten Verbrechen schuldig gemacht“ hätten,

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denn „sie haben durch ihre verbrecherischen Machenschaften ver-sucht, die feste demokratische Ordnung des antifaschistisch-demo-kratischen Blockes ins Wanken zu bringen“ und hätten „klar zuerkennen gegeben, dass sie die Feinde des Friedenslagers der 800Millionen friedliebenden Menschen sind. Sie haben sich selbstdurch ihre verbrecherischen Handlungen aus der Gemeinschaftder friedliebenden Menschheit ausgeschlossen. Wir werden esnicht zulassen, dass die Erfolge im Kampf um die Einheit Deutsch-lands und die Erhaltung des Friedens, sowie des friedlichen Auf-baus, durch solche Elemente zunichte gemacht werden.“ Ich verbrachte insgesamt fünfeinhalb Jahre in verschiedenen Straf-anstalten der DDR, wurde am 13.Oktober 1956 aus der Haft (Cott-bus) entlassen und floh am 6. November 1956 nach Bayern. VonEnde Februar 1953 bis Anfang März 1954 war ich im Zuchthaus„Roter Ochse“ in Halle inhaftiert. So erlebte ich die dramatischenEreignisse des 17. Juni als politischer Häftling.

Der „Rote Ochse“ in Halle Anfang der Fünfzigerjahre gab es in Halle drei Haftanstaltenunterschiedlicher Größe und Bestimmung. Am Kirchtor 20 befandsich die UHA I, die Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Das Gebäu-de war der Flügel A der großen Haftanstalt „Roter Ochse“, aberdurch hohe Mauern und auch verwaltungsmäßig von den übrigenTeilen streng abgetrennt. Die UHA II befand sich in der KleinenSteinstraße. Dort waren überwiegend Frauen und nicht politischeUntersuchungsgefangene inhaftiert. Die dritte Haftanstalt, dasZuchthaus „Roter Ochse“, eine SVA (Strafvollzugsanstalt) mit über800 Verurteilten befand sich ebenfalls am Kirchtor 20. Diese Diffe-renzierung ist wichtig für den Ablauf der Ereignisse am 17. Juni1953 in Halle. Der „Rote Ochse“ erhielt seinen Namen nach der eigenwilligenGebäudeform und den roten Ziegelsteinen, aus denen er 1841gemauert worden war. Die Anstalt liegt mitten in Halle, von denZellenfenstern blickte man auf die kahlen, fast fensterlosen Rük-kfassaden der Mietshäuser. Ende 1952 wurde die Anstalt in einemunglaublich verwahrlosten Zustand von den Russen an die DDR-Justiz und an das MfS übergeben, nachdem bereits 1950 ein Teilvon den Russen (NKWD) geräumt worden war. Als Anfang 1953das Zellenhaus neu belegt wurde, waren die vergitterten Fensterzusätzlich mit Holz- und Metallblenden versehen, die Zellen ver-dreckt, sämtlich überbelegt, die sanitären und hygienischen Ver-

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hältnisse miserabel, die Verpflegung völlig unzureichend und ein-seitig. Die insgesamt etwa 800 bis 1000 männlichen Gefangenen kamenvor allem aus Bautzen und Torgau. „Tribunaler“ (von sowjetischenMilitärtribunalen Verurteilte), nach Artikel 6 der DDR-Verfassungverurteilte politische Häftlinge und Kriminelle (überwiegend Sexu-alverbrecher, aber auch Mörder) wurden in den Zellen gemischtuntergebracht. Im Frühjahr 1953 wurde ich in die Turmzelle im 1. Obergeschossdes „B-D-Blockes“ verlegt, die als „Jugendzelle“ eingerichtet war.Als „Zellenältester“ – von der Anstaltsleitung als „Erzieher“ apo-strophiert – wurde uns Jugendlichen (politisch und kriminell buntdurcheinander) ein wegen Sexualdelikten verurteilter Schneider-meister aus Halle vorgesetzt. Selbst hier gab es keine Vergünsti-gungen, auch nicht bei der Zellenausstattung: Sieben Menschenmussten auf engem Raum mit nur einem Kübel als Toilette aus-kommen. Inzwischen waren in den großen Sälen des B-D-Blockes drei fließ-bandartig zusammengestellte Nähmaschinen-Straßen als Betrieb 3des „VEB Hallesche Kleiderwerke“ installiert worden. Etwa 25Häftlinge je Band arbeiteten im Dreischichtsystem und stellten jeSchicht und Band etwa 100 Herrenhosen her. Nicht nur ich empfand diese Tätigkeit trotz Antreiberei als durch-aus willkommene Ablenkung vom tristen Zellendasein. In einemHäftlingsbericht heißt es: „Durch die Arbeit in der Schneidereikonnte man an 6 Tagen in der Woche den unerträglichen Lebens-bedingungen und den natur- und umstandsbedingt auftretendenSpannungen innerhalb der zusammengepferchten Zellenmann-schaft wenigstens zeitweise entfliehen.“ Und nicht zu unterschät-zen: Dort gab es normale Toiletten.

Der 17. Juni 1953: Meine Erinnerungen als Häftling3

An diesem Tag war ich zur Frühschicht (6.00 bis 14.00 Uhr) in derSchneiderei eingesetzt. Von den Ereignissen am 16. Juni in Ost-Berlin und am Vormittag des 17. Juni auch in Halle hatten wirHäftlinge keine Ahnung, geschweige denn zuverlässige Informa-tionen. Gegen Mittag beobachteten wir, dass die Wachtürme rundum den „Roten Ochsen“ stärker besetzt wurden (Doppel- bzw.

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3Vgl. dazu Achim Beyer: 130 Jahre Zuchthaus. Jugendwiderstand in der DDR und der Prozessgegen die „Werdauer Oberschüler“ 1951, Leipzig 2003.

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Dreifachposten). Die ersten Gerüchte kamen auf. Auch als gegen12.30 Uhr die Schicht vorzeitig beendet wurde, meinten wir nochimmer, der Grund dafür sei ein möglicher Fluchtversuch in unsererAnstalt oder vielleicht ein Aufstand in einem anderen Zuchthaus –viele der Bautzener Mithäftlinge erinnerten sich und uns an dendortigen Aufstand von 1950. Wir wurden auch noch nicht stutzig, als wir bemerkten, dass nichtunser „normales“ Wachpersonal, sondern nur Offiziere uns auf-forderten, in die Zellen zu gehen. Allerdings fiel uns der unge-wohnte Umgangston auf; statt gewöhnlich harscher Befehle hör-ten wir: „Bitte gehen Sie ruhig in Ihre Zellen zurück. – Bitte blei-ben Sie nicht stehen“. Die Offiziere waren über das ganzeTreppenhaus und die Gänge verteilt. An eine Gegenreaktion unse-rerseits war in diesem Moment nicht mehr zu denken – wozuauch? Wir kannten noch immer nicht den Grund dieser Sonderak-tion. Doch kaum waren wir in den Zellen unter Verschluss, wurdeuns der Grund für das vorzeitige Schichtende klar: Plötzlich warein immer stärker werdendes Stimmengewirr zu hören. Vor denZuchthaustoren forderte eine Volksmenge unüberhörbar dieBefreiung der Häftlinge. Wer kann unsere Gefühle in diesemMoment beschreiben?! Sollten wir wirklich freikommen? Vielepolitische Häftlinge waren – wie ich – schon mehrere Jahre inhaf-tiert und hatten noch etliche Haftjahre vor uns. Aus diesen Gedanken wurden wir jäh durch die Schusssalven derVolkspolizei (VP) gerissen. Wir hörten die Entrüstungsschreie derDemonstranten und immer wieder das Deutschlandlied. Danach trat zunächst gespenstische Ruhe ein und dann völligunerwartet ein neues, unbekanntes, aber gefährlich anmutendesGeräusch. Bei einem vorsichtigen Blick aus dem Fenster der„Jugendzelle“ sahen wir wenige Meter davor einen Panzer ste-hen, der sein Geschützrohr genau auf unser Zellenfenster gerich-tet hatte. Unsere „Jugendzelle“ lag nahe beim Eingang in den Block B-C des„Roten Ochsen“ und bei der Treppe zu den Kellerzellen. Seit demspäten Nachmittag des 17. Juni und die ganze folgende Nacht hin-durch hörten wir, wie Menschen von Hunden gehetzt und mitKnüppeln geschlagen die Kellertreppe hinuntergejagt wurden.Die Schmerzensschreie der Geschundenen, das Hundegebell unddie hasserfüllten Befehle der Bewacher jagten uns unheimlichenSchrecken ein. Es war uns unmöglich, festzustellen, wie viele Menschen in diesen

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Stunden so brutal misshandelt wurden – es wurden immer mehr;unsere Vorstellungskraft reichte nicht aus, um zu begreifen, wassich in den Kellerzellen abspielen musste. Die Wiederaufnahme der Arbeit erfolgte erst nach einigen Tagen. Dort berichteten Mithäftlinge, dass am 17. Juni in ihre Zelle völligverstört und aufgelöst einer der „humanen“ Bewacher gekom-men sei und die Schlüssel auf den Tisch gelegt habe – voller Angst,dass es ihm bei der Erstürmung der Anstalt so ergehen könntewie einem uniformierten Kollegen, der auf der Straße angeblichgelyncht worden sei. Die Zelleninsassen versicherten, dass ihmnichts geschehen werde. Nach den ersten Schüssen verließ er dieZelle und verschloss sie wieder wie gewöhnlich. Unter den Häftlingen wurde sehr strittig darüber diskutiert, obein Befreiungsversuch unsererseits eine Chance gehabt hätte.Zumindest wäre es möglich gewesen, von der Schneiderei aus inden Turm zu gelangen, um von dort aus schwere Nähmaschinen inden Innenhof zu werfen, wo die postierten Wachen die Schüssegegen die Demonstranten abgaben. Doch das hätte die Zahl derOpfer sicherlich erhöht, auch unter den Häftlingen. Recht schnellverdrängten wir diese „theoretischen Überlegungen“. Später erfuhren wir – bruchstückhaft – von verurteilten Demon-stranten, was sich in Halle und der gesamten DDR am 17. Juni1953 und in den Tagen und Wochen danach ereignet hatte.

Der Volksaufstand in Halle anhand vorliegender DokumenteSelbst die Auswertung verschiedener DDR-Archive bringt nochimmer nicht in allen Details Klarheit über die Ereignisse. DieBerichte des MfS, der Einsatzleitung der Volkspolizei, der KVP undder SED-Leitungen sind oft nicht vollständig, sie enthalten zudemunterschiedliche, sogar einander widersprechende Informationen. Der Bezirk Halle gehörte jedoch zweifelsfrei zu den Zentren desVolksaufstandes in der DDR. In der Stadt Halle begannen dieDemonstrationen am 17. Juni gegen 9 Uhr von der WaggonfabrikAmmendorf ausgehend mit mehreren tausend Demonstranten.Gegen 11.30 Uhr erreichten 7 000 bis 8 000 Menschen den Thäl-mann-Platz und die Stimmung wurde immer aggressiver. DieDemonstranten rissen sämtliche Transparente und Losungen aufdem Weg ab. Angriffe auf verschiedene Einrichtungen, wie dasBezirksgericht Halle, die Bezirksleitung der SED und den Rat desBezirkes begannen. Gegen Mittag zerfiel der große Demonstrationszug, da zu diesem

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Zeitpunkt eine von der Mehrheit anerkannte Führung fehlte. Die„Freilassung der politischen Gefangenen“ war und blieb jedocheines der wichtigsten Ziele der Aufständischen. Einer der Marsch-blöcke machte sich deshalb auf den Weg zum „Roten Ochsen“ amKirchtor. Ein zweiter Demonstrationszug zog zur UHA II in derKleinen Steinstraße, dem Frauengefängnis. Etwa 500 Aufständi-sche stürmten gegen 12.30 Uhr die Anstalt, drückten das erste Torein und entwaffneten innerhalb von zehn Minuten eine Gruppevon zehn Angehörigen der Kasernierten Volkspolizei. Nach Warn-schüssen aus dem Zellenhaus zogen sich die Demonstrantenzunächst zurück. Von einem Staatsanwalt erwirkte ein mutigerBürger ein Schreiben, wonach alle Gefangenen mit einer Strafeunter drei Jahren freizulassen seien. Bei der Öffnung des Zellen-hauses wurden die Polizisten von der anstürmenden Menge über-wältigt und bis 16 Uhr 248 weibliche und drei männliche Gefange-ne befreit. Wohl in Unkenntnis der Sachlage wurden so überwie-gend kriminelle Häftlinge – teilweise gegen ihren Willen – befreit,denn zu hohen Freiheitsstrafen verurteilte „Politische“ waren im„Roten Ochsen“ inhaftiert. Darauf fußt wohl auch die extrem polemisch und ideologisch ver-fremdete (später entstandene) Darstellung von Mitarbeitern derStasi-Untersuchungshaftanstalt: „Die eingeschleusten Faschisten wurden beauftragt, verschiedeneHaftanstalten zu überfallen. Anhand der in den WestberlinerAgentenzentralen vorbereiteten Listen wurden vorübergehendfaschistische und kriminelle Verbrecher aus der Haftanstalt derDVP herausgeholt, wie z. B. die wegen bestialischer Verbrechengegen die Menschlichkeit von der demokratischen Justiz verurteil-te SS-Kommandeuse des Frauenkonzentrationslagers Ravens-brück, Erna Dorn. So sollte in der DDR eine faschistische Machterrichtet und Deutschland der Weg zu Einheit und Frieden verlegtwerden.“ Über einen angeblichen Auftritt der besagten Erna Dorn bei derGroßkundgebung auf dem Hallmarkt am 17. Juni, 18.00 Uhr gibtes keine Belege. Die Legende kam aber der SED-Führung sehrgelegen, um den Aufstand vom 17. Juni als einen „faschistischenPutsch“ zu verunglimpfen. Neuere Forschungen dazu besagen: „Als ‚Kommandeuse aus Ravensbrück‘ und ‚Rädelsführerin desfaschistischen Putschversuches‘ vom 17. Juni ging eine Frau in dieoffizielle Geschichtsmythologie der DDR ein, deren wahre Iden-tität und Biographie vor 1945 bis heute völlig ungeklärt ist. Unter

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dem Namen Erna Dorn wurde sie am 1. Oktober 1953 hingerich-tet.“Die Großkundgebung von 18.00 bis gegen 19.00 Uhr auf dem Hall-markt in Halle mit 40 000 bis 60 000 Menschen (in den Polizeipro-tokollen wird die Teilnehmerzahl bewusst niedriger angegeben)ist insofern bemerkenswert, da sie zu einem Zeitpunkt stattfand,an dem in anderen Städten bereits der von den Sowjets angeord-nete Ausnahmezustand herrschte.

Zu den Vorkommnissen vor der SVA I, dem „Roten Ochsen“4

„Gegen 14.00 Uhr näherten sich etwa 700 Demonstranten demZuchthaus … Bald hatte sich die Menschenmenge vor dem großenTor in der Straße 'Am Kirchtor' versammelt. Rufe wurden laut:'Wir wollen die Gefangenen haben! – Gebt die Gefangenen frei! –Gebt unsere Brüder frei!' Steine prasselten gegen das Tor undwurden über die Gefängnismauer geworfen. Dann bemühten sicheinige Aufständische vergeblich, das Tor mit einem Balken aufzu-rammen. Daraufhin wollte der Leiter des Zuchthauses, VP-Inspek-teur Blossfeld, 'die Gemüter etwas abkühlen‘. Er ließ einen Feuer-wehrschlauch anschließen und die Massen über die Gefängnis-mauer hinweg mit kaltem Wasser bespritzen. Die Demonstrantenliefen kreischend auseinander und versuchten, sich vor dem Was-ser zu schützen. Daher glaubte die Wachmannschaft des Zucht-hauses, wieder Herr der Lage zu sein. Die Polizisten öffneten eineLuke im Eingangstor, schoben den Feuerwehrschlauch ein Stückhindurch und wollten die Aufständischen mit einem kräftigenWasserstrahl von der Straße spülen. Sie hatten jedoch nicht mitdem Mut und der List der Demonstranten gerechnet. MehrereJugendliche schlichen sich in gebückter Haltung an die Lukeheran. Dann ergriffen sie blitzschnell den Schlauch, rissen ihn denPolizisten aus den Händen, drehten den Schlauch und spritztendurch die Luke auf den Gefängnishof zurück. Nun waren es diePolizisten, die fluchend zur Seite sprangen. Schnell ließ der Zucht-hausleiter das Wasser abstellen. Doch wie sollte man in das Zuchthaus hineinkommen, um dieHäftlinge befreien zu können? 'Auf einmal sagten welche, wirwerden mit dem Lastwagen das Tor einrammen.' Also fuhr einer

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4Das folgende Zitat ist der sehr informativen Regionalstudie entnommen, in welcher erstmaligauch ausführlich MfS-Akten ausgewertet wurden: Hans Peter Löhn, Spitzbart, Bauch und Brille– sind nicht des Volkes Wille! Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale, Bre-men 2003, S.59ff.

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der beiden Lastwagen, die den Zug begleitet hatten, rückwärtsgegen das Tor und versuchte, die zwei schweren Torflügel aufzu-drücken. Dem ersten Ansturm hielt das mächtige Zuchthaustornoch stand. Jedoch beim zweiten Anlauf gab das Tor krachendnach. Mit einem Triumphschrei drangen die Demonstranten in denVorhof des Zuchthauses ein. Sie kamen allerdings nicht weit, denninzwischen war eine Veränderung der Situation eingetreten.“Etwa 14.15 Uhr war der Befehl erlassen worden, wonach beiAbwehrhandlungen der Gebrauch von Schusswaffen erlaubtwurde. „Auf einmal standen die überraschten Aufständischen voreiner Reihe von Volkspolizisten, die mit Gewehren auf sie zielten.Schon ertönte der Ruf des Zuchthausleiters: 'Zurück! Sonst wirdgeschossen!´ Doch die Aufständischen wichen nicht zurück. Siedrangen weiter gegen die Polizisten vor. Die gaben nun einigeWarnschüsse ab. Damit konnten die Aufständischen vorerst zwargestoppt werden, und einige zogen sich sogar zurück. Aber dieMutigsten unter ihnen versuchten nach kurzem Zögern erneut,die Polizisten anzugreifen. In diesem Augenblick erschallte derBefehl: ‚Feuer!‘ und die Volkspolizisten schossen in die Menge.Drei Demonstranten blieben tödlich getroffen auf dem Pflasterliegen, andere erlitten Schussverletzungen. Jetzt war ein Vordrin-gen nicht mehr möglich. Die Menge flüchtete von Panik ergriffen.Dabei gab es weitere Verletzte, denn einige Demonstrantenkamen in der Panik zu Fall und wurden von anderen überrannt.“ In anderen Quellen heißt es, dass „zwei Eindringlinge schwer undeiner tödlich verletzt“ worden seien. Auch über die Auszeichnungvon VP-Inspektor Max Bloßfeld mit dem „Ehrenzeichen der Volks-polizei“ gibt es widersprüchliche Angaben. Der Versuch, mit Hilfe eines Traktors (als Rammbock) über die Her-mannstraße in das Zuchthaus einzudringen, scheiterte ebenfallsam Schusswaffengebrauch der Vopo. Auch dabei wurde einDemonstrant tödlich getroffen. Die Demonstranten zogen sichschließlich völlig zurück, als gegen 16.00 Uhr zwei russische PanzerAm Kirchtor eintrafen. Aus dem „Roten Ochsen“ konnte keinHäftling befreit werden. Eine interne Übersicht des DDR-Innenministeriums vom Jahresen-de 1953 nennt für die gesamte DDR zwölf Gefängnisse, die Gefan-genenbefreiungen melden mussten. „Von den 1 361 gewaltsambefreiten Gefangenen wurden bereits bis zum 30. 6. 53 1 237 wie-der aufgegriffen.“ Die Zahl der allein in Halle verhafteten Teilnehmer am Volksauf-

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stand des 17.Juni wird mit 427 angegeben. Insgesamt verhängtedas Bezirksgericht Halle in den Verhandlungen gegen 76 Ange-klagte, die der aktiven Teilnahme am Volksaufstand beschuldigtwurden: einmal die Todesstrafe (Erna Dorn), 162 Jahre und 6Monate Zuchthaus sowie 67 Jahre und 10 Monate Gefängnis. Noch viele Monate danach waren die teilweise zu hohen Haftstra-fen Verurteilten in den Strafanstalten besonderen Schikanen aus-gesetzt: Sie wurden isoliert gehalten, die Zellen waren mit einem„X“ – abgeleitet vom „Tag X“ – markiert, ihre Haftkleidung warauf dem Rücken ebenfalls mit einem weißen „X“ gekennzeichnet.

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Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

Silke Klewin

„Solidarität mit Berlin“ – Der 17. Juni 1953 in den sächsischen Bezirken

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

traditionell laden die Gedenkstätte Bautzen und die Friedrich-Ebert-Stiftung im Rahmen des Bautzen-Forums zu einer gemeinsa-

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men Abendveranstaltung ein. Und so darf ich Sie heute Abendauch im Namen von Herrn Eisel, dem Leiter des Leipziger Bürosder Friedrich-Ebert-Stiftung, hier im ehemaligen Stasi-GefängnisBautzen II herzlich willkommen heißen – anlässlich der Eröffnungder Ausstellung: „Solidarität mit Berlin. Der 17. Juni 1953 in densächsischen Bezirken“.Unter unseren heutigen Gästen darf ich besonders herzlich denSächsischen Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Herrn Dr.Matthias Rößler, begrüßen. Herr Dr. Rößler ist auch der Vorsitzen-de des Stiftungsrates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten – demDach, unter dem die Gedenkstätte arbeitet. Und – da ich sowohlden Stiftungsratsvorsitzenden als auch den Geschäftsführer derStiftung, Herrn Dr. Norbert Haase, herzlich willkommen heißendarf – freue ich mich, dass heute – quasi – meine beiden „Chefs“anwesend sind.Ebenso herzlich begrüße ich den Sächsischen Landesbeauftragtenfür die Stasi-Unterlagen, Herrn Michael Beleites, dem wir die Aus-stellung verdanken, die wir heute Abend eröffnen. Und schließlich– last, but not least – einen ganz besonderen Willkommensgrußan Herrn Harald Möller, den neuen Vorsitzenden des Bautzen-Komitees.

Meine Damen und Herren,

das diesjährige – nunmehr bereits XIV. Bautzen-Forum – titelt:„Der 17. Juni 1953 – Widerstand als Vermächtnis“. Die Wanderaus-stellung, die für die nächsten drei Wochen in der GedenkstätteBautzen zu sehen sein wird, reiht sich in dieses Thema ein.Sie erzählt, wie der Funke des Aufstands im Juni 1953 von Berlinauf die sächsische Region übergriff, wie in vielen Städten undGemeinden Menschen auf die Straßen gingen, sich ganzeBetriebsbelegschaften der Streikbewegung anschlossen und wieschließlich der Volksaufstand brutal niedergeschlagen wurde. Sieerzählt von den sächsischen Akteuren der Revolution, die ihrenEinsatz für Freiheit und Demokratie mit Tod, Verfolgung und Haftbezahlen mussten. Und sie erzählt auch von den Häftlingen des17. Juni, den so genannten X-ern, die ihre Strafen für lange Jahrehier in den Bautzener Haftanstalten verbüßen mussten.In wenigen Wochen jähren sich die Tage des Protests um den 17.Juni 1953 zum 50. Mal. Das diesjährige „runde Jubiläum“ wurdezum Anlass genommen, dass überraschenderweise fast allerorten

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nahezu unzählige Veranstaltungen an die Revolutionstage erin-nern. Termingerecht sind zahlreiche Fachbücher und Aufsätze ver-öffentlicht worden, in den Printmedien sind groß aufgemachteBerichte zu lesen, die Fernsehsender überschlagen sich geradezumit Dokumentationen, Spielfilmen und Zeitzeugengesprächenund in Politik und Gesellschaft gibt es feierliche Kranzniederle-gungen, Gedenkreden, Straßenbenennungen und – was viel zulange versäumt wurde – Ehrungen der damaligen Akteure. Sie alleverfolgen dasselbe Ziel: die Ereignisse des Aufstandes in der Erin-nerung wach zu halten bzw. sie in das Gedächtnis Einzug haltenzu lassen. Selbst wenn die Häufung der Veranstaltungen manchmal fast zuüberfordern scheint, stimmt mich die diesjährige Aufmerksamkeit,die der 17. Juni 1953 erfährt, hoffnungsfroh. Denn ich finde esrichtig und sehr wichtig, den Volksaufstand in unseremGeschichtsbewusstsein fest zu verankern. Bisher hat er kaum einenPlatz in unserem Gedächtnis gefunden. Bis heute stellen die Ereig-nisse um den 17. Juni 1953 im öffentlichen Bewusstsein eine Ran-derscheinung dar.So hat beispielsweise der Geschichtswettbewerb des Bundespräsi-denten und der Körber-Stiftung, der dieses Jahr zum 17. Juni 53ausgerichtet wurde, interessante Ergebnisse zutage gebracht. Fürfast alle der teilnehmenden Schüler und Studenten war der 17.Juni 1953 zunächst nämlich nur ein Datum, ein Tag wie jederandere. Erst durch die Beschäftigung mit dem Thema – anlässlichihrer Wettbewerbsteilnahme – erkannten sie die Bedeutung desTages und erachteten ihn sämtlich für erinnerungswürdig. Bei derErarbeitung ihrer Wettbewerbsbeiträge stellten die meisten derTeilnehmer nun ihrerseits fest, dass sowohl in Ost- als auch inWestdeutschland nur wenige Menschen das geschichtsträchtigeDatum überhaupt mit dem Volksaufstand in der DDR in Verbin-dung bringen. Zwar konnten die meisten der über siebzigjährigenMenschen zum 17. Juni 1953 Auskunft geben, aber die Mehrzahlder jüngeren Befragten, insbesondere die Jugendlichen, musstenauf die Frage nach der Bedeutung des 17. Juni passen. „Was sollda gewesen sein?“ „Noch nie was davon gehört.“ „Das war frühermal ein Feiertag – aber warum? Keine Ahnung.“ So der Tenor derAntworten.Dieses Beispiel verdeutlicht, welch nachrangige Bedeutung der 17.Juni 1953 leider bisher noch im kollektiven Gedächtnis der Deut-schen einnimmt. Daran vermochte weder der Umstand, dass Stra-

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ßen nach dem 17. Juni benannt wurden, noch gar die bereits 1954in der Bundesrepublik erfolgte Ernennung des Tages zum Feiertagetwas zu ändern. Der 17. Juni verlor seine inhaltliche Zuordnungfast völlig und verankerte sich im öffentlichen Bewusstsein höch-stens als freier Tag, als Ausflugs- und Badetag. Dabei bietet gerade der 17. Juni 1953 positive Anknüpfungspunk-te im historischen Gedächtnis der deutschen Nation – Werte wieder eigenständig bekundete Wille zur Freiheit und Demokratie,das öffentliche Eintreten für demokratische Grundrechte, das mas-senhafte Aufbegehren gegen ein diktatorisches System. Der 17.Juni 1953 stellt ein solch positives Datum dar, an denen die Deut-sche Geschichte wahrlich nicht reich ist. Der Volksaufstand ver-dient einen herausragenden Platz in unserer Erinnerungskultur.Mit Ausstellungen wie dieser und ihrer Präsentation an Orten wieder Gedenkstätte Bautzen gelingt es, die Geschichte des Wider-standes in Erinnerung zu rufen und für die heutige Generationdeutlich zu machen. Eine Verstetigung dieses Erinnerungsprozes-ses, die feste Verankerung in der deutschen Erinnerungskulturkann insbesondere dann erfolgen, wenn die Möglichkeiten beste-hen, einen Ausstellungsbesuch durch ein breit gefächertes Bil-dungsangebot an einem Ort wie diesem zu begleiten. Schülerpro-jekte – wie beispielsweise das heute Nachmittag auf dem Forumpräsentierte Projekt Spurensuche des Bautzener Schillergymnasi-ums und der Mittelschule Doberschau – , Lehrerfortbildungen undnicht zuletzt Zeitzeugenvorträge sind Angebote, die auch nachden runden Jubiläen den Schülern und Lehrern zur Verfügung ste-hen sollten.Zum 50. Jahrestag wird dem fast vergessenen Aufstand der Ost-deutschen eine neue Chance im kollektiven Gedächtnis eröffnet.Nutzen wir diese Chance!Bevor ich jetzt das Wort an Herrn Rößler übergebe, der ein Gruß-wort zu uns sprechen wird, und anschließend an Herrn Beleites,der uns in die Ausstellung einführt, noch ein kurzes Wort des Dan-kes. Ganz, ganz herzlich möchte ich mich bei Herrn Eisel und sei-nen Mitarbeitern für die mal wieder perfekte Zusammenarbeitund die so freundliche Unterstützung der Gedenkstätte Bautzenbedanken. Und nun bitte ich Herrn Staatsminister Rößler um sein Grußwortund danke für ihre Aufmerksamkeit.

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Matthias Rößler

Grußwort zur Ausstellungseröffnung „Solidarität mit Berlin – Der 17. Juni 1953 in Sachsen“

Frau Klewin, Herr Beleites, Herr Dr. Haase,meine sehr verehrten Damen und Herren,

der 17. Juni 1953 stellt im kollektiven Gedächtnis der Deutschen,gemessen an seiner historischen Bedeutung, bis heute noch immer

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eine Marginalie dar. Dabei ist gerade das Ereignis des Volksauf-standes in der DDR für die Erinnerungskultur des vereintenDeutschlands von ganz herausragender Bedeutung. Über eine Million Menschen in mehr als 700 Städten und Gemein-den der DDR beteiligten sich an Streiks und Kundgebungen. Wasals sozialer Protest gegen die Normerhöhungen in der Industriebegann, entwickelte sich bereits am 16. Juni in Berlin zu einerpolitischen Bewegung. Die Ziele waren klar umrissen und hießenFreiheit und Demokratie. „Wir wollen freie Menschen sein“ wareine der häufig überlieferten Forderungen, aber es erscholl auchder Ruf nach der „Freiheit für politische Gefangene“, die zu Zehn-tausenden in den Gefängnissen der DDR eingesperrt waren. Diepolitischen Forderungen erschütterten die Grundfesten der SED-Diktatur. Am frühen Nachmittag des 17. Juni schien die zweiteDiktatur in Deutschland bereits zu kollabieren. Die Bevölkerungder DDR versuchte sich – auch an vielen Orten in den Industriere-vieren Sachsens – von ihren Unterdrückern zu befreien. So verhielt es sich in diesen denkwürdigen Tagen ganz anders alsunter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die angesichtseines Widerstandes der Wenigen erst von außen endgültiggestürzt werden konnte. An einem 8. Mai 1945, also genau heutevor 58 Jahren, muss man diesen inneren Zusammenhang zwischendem Tag der Befreiung 1945 und dem Versuch der Selbstbefreiung1953 gleichsam als „Denktage“ der Deutschen herstellen.Es waren sowjetische Panzer, die den Aufstand im Juni 1953schließlich blutig niederschlugen. Fünfzig Tote, mindestens zwan-zig Menschen wurden standrechtlich erschossen, über 10 000Menschen verhaftet und zu teils langjährigen Haftstrafen verur-teilt. Nicht wenige der Verurteilten kamen zur Verbüßung ihrerHaftstrafe in die Bautzener Gefängnisse.Der Aufstand war der erste Aufstand im kommunistischen Macht-bereich nach 1945 und hat somit nicht nur in der Geschichte derdeutschen, sondern auch der europäischen Freiheits-bewegungenseinen festen Platz. Die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989,durch die die kommunistischen Regime überwunden wurden, ste-hen in einer Traditionslinie mit den Erhebungen in der DDR 1953,Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968 und den polnischen Aufstän-den und Streikbewegungen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Die Volkserhebung am 17. Juni, die sich in wenigen Wochen zum50. Male jährt, hatte eine lange Vorgeschichte. Und sie hatteNachwirkungen. Bis 1989 blieb der 17. Juni 1953 ein Trauma der

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Ostdeutschen, das die Ohnmacht dem allmächtigen kommunisti-schen System gegenüber für 36 Jahre manifestieren sollte. Im Westen Deutschlands reduzierte sich der 17. Juni im Verlauf derGeschichte der Bundesrepublik immer mehr auf das Ritual des„Tages der deutschen Einheit“. Von der Partei- und Staatsführungder DDR wurde der Aufstand als „faschistischer Putschversuch“verunglimpft.Die Erhebung ist für die Erinnerungskultur des vereinigtenDeutschland von herausragender Bedeutung. Der 17. Juni mussmehr sein als nur ein Datum. Er muss mit Geschichten, Ereignissenund Menschen verknüpft werden, damit heutige und künftigeZeitgenossen eine anschauliche Vorstellung der damaligen Ereig-nisse erhalten. Deshalb ist es wichtig, dass solche Wanderausstellungen wie diedes Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen desStaatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, die wir heute inder Gedenkstätte Bautzen eröffnen, entstehen und ein breitesPublikum finden. Ich danke dem Landesbeauftragten, Herrn Belei-tes, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstät-tenstiftung für ihr Engagement in dieser Sache. Insbesondere die Darstellung persönlicher Schicksale in der Regionvermag es, den Nachgeborenen einen Zugang zur Thematik zubereiten, der durch Herz und Hirn geht. Das ist wichtig, um imGeschichtsbild der Jugendlichen Werte wie Zivilcourage, Men-schenrechte und Freiheitsliebe zu verankern. Denn – lassen Siemich an dieser Stelle Joachim Gauck zitieren – „wenn wir von derHingabe an das Gemeinwesen, von der Liebe zur Freiheit, von derOpferbereitschaft für die Gerechtigkeit schweigen, dürfen wir unsnicht wundern, wenn derartige Tugenden eines Tages nicht mehrexistieren.“Deshalb wünsche ich der Initiative nicht nur, aber vor allem aufschulischer Ebene eine breite Resonanz, dass möglichst viele Schul-klassen und Lehrer dieses Angebot zur Vertiefung ihrer imGeschichtsunterricht erworbenen Kenntnisse annehmen. Denn dasVermächtnis der Aufständischen muss bewahrt und fruchtbargemacht werden. Der Mut und die Freiheitsliebe müssen Zukunfthaben. Von mündigen Bürgern erwarten wir den Einsatz fürDemokratie und Menschenrechte. Joachim Gauck hat – wie so oft– treffend zusammengefasst, worum es geht, und mit seinen Wor-ten möchte ich schließen: „Fortwährend bleiben Demokraten derAufgabe verpflichtet, Diktatoren zu bekämpfen und sie auch

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nachträglich noch zu delegitimieren. Sie sind gefährlich, nicht erst,wenn sie KZs errichten. Sie sind es bereits, wenn sie ihre fürsorgli-che Verwandlung von Bürgern in Untertanen betreiben.“

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Michael Beleites

Einführung in die Ausstellung „Solidarität mit Berlin – Der 17. Juni 1953 in den sächsischen Bezirken“

Sehr geehrter Herr Staatsminister Dr. Rößler,Sehr geehrte Frau Klewin,Sehr geehrter Herr Eisel,Sehr geehrter Herr Möller,meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Solidarität mit Berlin“; das klingt in sächsischen Ohren provoka-tiv. Doch es trifft die damalige Situation ziemlich genau: DieArbeiterschaft der mitteldeutschen Industriegebiete identifiziertesich mit den Forderungen der Arbeiter aus der Berliner Stalinallee– und die Menschen in den sächsischen Städten solidarisierten sichmit den Demonstranten von Ost-Berlin. Sie demonstrierten selbst.Bei unseren Recherchen zu den Ereignissen des 17. Juni 1953 in

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den sächsischen Bezirken stießen wir immer wieder auf ein zentra-les Motto der Aufständischen: Solidarität mit Berlin. Dank der über das westliche Radio verbreiteten Informationenüber die Erhebung der Ost-Berliner Bauarbeiter am 16. Juni 1953kam es am Folgetag in der ganzen DDR zu Streiks und gewaltigenDemonstrationen. Aus der Wut der Industriearbeiter erwuchs einArbeiteraufstand und dieser entwickelte sich am 17. Juni zu einemlandesweiten Volksaufstand. Zentrale Ziele der Aufständischenwaren die Herstellung demokratischer Verhältnisse und die Ein-heit Deutschlands. In einigen Städten, wie z. B. in Görlitz, warenbereits die gesamte Funktionärsschicht abgesetzt, ein neues Stadt-komitee gebildet und alle politischen Gefangenen befreit. Erstdurch den Einsatz sowjetischer Panzer ist der Aufstand niederge-schlagen worden. „Die Macht der SED war zu ihren Ursprüngenzurückgekehrt“ – so der Publizist Karl Wilhelm Fricke.Auch wenn der Sturz des Politbüros letztlich scheiterte; es bleibtdas Verdienst der Aufständischen von 1953, dass die SED-Diktaturauf Dauer delegitimiert wurde. Der 17. Juni blieb das Symboldafür, dass das SED-Regime seine Herrschaft allein den Panzernder Roten Armee verdankte. Es war nicht nur das Trauma einergescheiterten Revolution, das sich in das Bewusstsein einer ganzenGeneration einbrannte und zu einer jahrzehntelangen politischenResignation beitrug. Es war auch das Wissen um die Tatsache, dasssich 1953 ein machtvoller Aufstand gegen das Regime spontanund in kürzester Zeit seinen Weg durch das ganze Land gebahnthatte, das den nachfolgenden Generationen den Hauch einer Per-spektive verlieh, die über den Bestand der DDR hinausreichte. Wir wissen heute, dass über eine Million Menschen an dem Auf-stand beteiligt waren, dass 13 Volkspolizei- und Stasidienststellenerstürmt und 12 Gefängnisse befreit wurden; wir wissen, dass 60–80 Menschen auf den Straßen durch Kugeln ums Leben kamenund 18 standrechtlich erschossen wurden; und wir wissen, dass13 000 – 15 000 Akteure verhaftet und ca. 1800 von DDR-Gerich-ten verurteilt wurden. Doch nun zur Ausstellung. Diese Wanderausstellung ist einGemeinschaftswerk: An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklichbedanken bei Frau Dr. Heidi Roth, für die umfangreichen Recher-chen und die Beschaffung vieler Dokumente, bei Frau Uta Ditt-mann und Herrn Michael Wildt für die Erstellung der Texte, beiHerrn Steffen Giersch für die Beschaffung und Reproduktion derzahlreichen Fotos – und bei Herrn Thomas Walther für die hervor-

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ragende grafische Umsetzung, die sehr ansprechende und an-schauliche Gestaltung der Tafeln. Für die Bereitstellung der Doku-mente und die Überlassung der zahlreichen Fotos vom 17. Juni1953 sei insbesondere der Behörde der Bundesbeauftragten fürdie Stasi-Unterlagen, dem Sächsischen Hauptstaatsarchiv, denStadtarchiven, den jeweiligen Fotografen, dem Stadtgeschicht-lichen Museum Leipzig, dem Archiv Bürgerbewegung Leipzig, derFriedrich-Ebert-Stiftung Bonn, dem Bundespresseamt Berlin, demKulturamt der Stadt Görlitz und dem Militärhistorischen MuseumDresden sehr herzlich gedankt.Die Ausstellung ist untergliedert in die Vorgeschichte, die Ereignis-geschichte und die Folgen des 17. Juni 1953. Zunächst zur Vorge-schichte, also zur Nachkriegsentwicklung in der Sowjetzone undder frühen DDR. In der Sowjetischen Besatzungszone hatten sichdie Moskau-treuen Kommunisten mit Hilfe der Roten Armee unddes sowjetischen Geheimdienstes die Macht gesichert. Nach derGründung der DDR im Oktober 1949 wandelte sich das politischeSystem zunehmend zur offenen Diktatur: Die Auflösung der Län-der, die Kollektivierung der Bauern, die Bekämpfung der Kirchen,die Verschärfung des Strafrechts, Justizterror und Militarisierung –das waren die Dinge, die auf der zweiten Parteikonferenz der SEDim Juli 1952 in die Wege geleitet wurden, als man den „Aufbaudes Sozialismus in der DDR“ beschloss. Auch nach Stalins Tod im März 1953 nahm der Druck auf dieBevölkerung nicht ab – und ebenso wenig die Fluchtwelle in Rich-tung Westen. Die kommunistische Überformung der Gesellschaftgipfelte in der Umbenennung von Chemnitz in „Karl-Marx-Stadt“im Mai 1953. Erst auf Druck aus Moskau hin verkündete die SED-Führung am 9. Juni 1953 einen „Neuen Kurs“: Den Bauern, Hand-werkern und Privatunternehmen machte man Zugeständnisse, dieStrafurteile sollten überprüft und politische Gefangene freigelas-sen werden, die systematische Verfolgung der evangelischen „Jun-gen Gemeinden“ stellte man ein. Nur die Normerhöhungen fürdie Arbeiter blieben bestehen. Streiks ab dem 11. Juni waren dieFolge. Zur Ereignisgeschichte ist zunächst die von Ost-Berlin ausgehendeEntwicklung des Aufstandsgeschehens in der gesamten DDR dar-gestellt; dann jeweils auf mehreren Tafeln die Ereignisse in densächsischen Bezirken mit den Schwerpunkten Leipzig, Dresdenund Görlitz. Sowohl im mitteldeutschen Industriegebiet als auchin der Oberlausitz spielte der Aufstand vom 17. Juni 1953 eine her-

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ausragende Rolle. Darauf kommen wir dann beim Rundgangnäher zu sprechen.In besonderer Weise werden wir hier an diesem Ort mit den Fol-gen des 17. Juni konfrontiert: Die meisten der Akteure des 17. Juniaus der ganzen DDR, die in den folgenden Tagen und Wochen vonden Sowjets sowie von Volkspolizei und Stasi inhaftiert und vonder SED-Justiz verurteilt wurden, brachte man in sächsischeGefängnisse und Zuchthäuser: nach Waldheim, nach Torgau undnach Bautzen. Die Aufständischen hat man hier stigmatisiert,indem ihnen mit Farbe ein „X“ auf die Häftlingskleidung gemaltwurde. Zudem wurden sie in besonderer Weise schikaniert undisoliert. Aus dem Zuchthaus Bautzen I sind Häftlingszeichnungenüberliefert, die diese Situation sehr anschaulich darstellen. Sie fin-den diese zusammen mit Fotos der jeweiligen Haftanstalten aufden Ausstellungstafeln über die Folgen des Aufstands. Sachsenspielte also auch im Hinblick auf die Folgen des Aufstands einebesondere Rolle. Schließlich sind auch die beiden von DDR-Gerich-ten im Zusammenhang mit dem 17. Juni zum Tode verurteiltenund hingerichteten Menschen unter dem Fallbeil von Dresden, amdortigen Münchner Platz, gestorben.Nun zu den mittelbaren Folgen; zur Wirkungsgeschichte und zurErinnerungskultur zum 17. Juni: Zunächst muss man nüchtern fest-stellen, dass im Hinblick auf die internationale Lage das Jahr 1953keinesfalls mit dem Jahr 1989 gleichzusetzen ist. Die Ost-West-Blockkonfrontation stand an ihrem Anfang und nicht an ihremEnde. Auch die West-Alliierten wollten damals am geopolitischenStatus quo nicht rütteln lassen. Der Aufruf zum Generalstreikdurfte nicht unmittelbar über den RIAS verlesen werden. Ebensogehört es zu den paradoxen Ergebnissen des 17. Juni, dass wohlgerade wegen des Aufstands das Ulbricht-Regime aus Moskauweiter gestützt wurde. Aber der Schrecken des 17. Juni 1953 stek-kte der Funktionärsschicht von SED und Stasi nachweislich bisEnde 1989 in den Knochen. Die Bildung von Betriebskampfgrup-pen und Einsatzleitungen, die Umwandlung der DDR in einenÜberwachungsstaat, die beispiellose Aufblähung der Stasi, diepermanente Gleichsetzung jeder kritischen Meinungsäußerungmit einem politischen Umsturzversuch – all dies sind mehr oderweniger direkte Folgen des 17. Juni 1953, die Bestandteil der DDRblieben bis zu ihrem Ende.Unter der Überschrift „Gedenken und Erinnern“ wird auf dieErinnerungskultur unserer Tage eingegangen. Mit den Biogra-

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phien von Wilhelm Grothaus und Werner Herbig sind zwei Men-schen vorgestellt, deren Wirken und deren Leiden eng mit dem17. Juni 1953 verknüpft ist. Der eine war Aufstandsführer in Dres-den, der andere Mitglied des Stadtkomitees der Aufständischenvon Görlitz. Es gibt inzwischen eine Reihe guter Beispiele, wie inder Öffentlichkeit an den 17. Juni 1953 gedacht wird, sowie an dieMenschen, die den Aufstand getragen haben und ihren Einsatzfür Freiheit und Demokratie mit ihrem Leben, ihrer Freiheit oderihrer Gesundheit bezahlt haben. Es gibt aber auch nach wie voreine ganze Reihe von Beispielen, wo eine öffentliche Würdigungder Akteure des 17. Juni noch auf sich warten lässt. Ich wünscheuns allen, dass wir in diesem Jahr, im Jahr des 50. Jahrestages desJuni-Aufstandes von 1953, hier einen entscheidenden Schritt wei-ter kommen. Ich wünsche uns, dass unsere Kinder und Enkelerfahren, dass es nach dem antifaschistischen Widerstandskampfauch einen demokratischen Widerstand gegen die kommunisti-sche Diktatur gab – der ebenso zu würdigen ist.

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Tobias David

Der 17. Juni 1953 in Leipzig – Förderverein plant ein Denkmal

„Am 17. Juni 2003 jährt sich der Tag des Volksaufstandes von 1953zum fünfzigsten Mal. Neben Berlin war Leipzig einer der zentra-len Orte des Volksaufstandes. In Leipzig kam es damals zu umfan-greichen Streiks und Protesten couragierter Einwohner der Stadt.Am Demonstrationszug in die Leipziger Innenstadt waren bis zu80.000 Menschen beteiligt, die für bessere Lebensbedingungen,

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freie Wahlen und die Freilassung politisch Gefangener stritten.Die Volkspolizei und später auch die Sowjetarmee schlugen denVolksaufstand mit brachialer Gewalt und dem Einsatz von Panzernnieder. Es gab zahlreiche Verletzte und Todesopfer.Wir sind stolz auf den Freiheitswillen und Mut der Leipziger Bür-gerinnen und Bürger und sind deshalb der Meinung, dass 50 Jahrespäter (gerade auch in der Stadt der politischen Wende von 1989)an historischer Stelle ein Denkmal zu setzen ist.Die sowjetischen Panzer sind unmittelbar durch das Leipziger Zen-trum gerollt und haben eine tragische und unvergessliche Spurhinterlassen. Diese Spur möchten wir in Form eines Bronzeabdruk-ks von Panzerketten als bleibendes Denkmal sichtbar machen.Angebracht wäre dies direkt auf einer Straße in der Innenstadt,z.B. in der Fußgängerzone an der Nordseite des alten Rathauses –hinter der Alten Börse. Der ebenerdige Abdruck im Gehbereichwird die Leipziger – und künftige Generationen – daran erinnern,wie hoch der Wert der Freiheit ist. Dadurch, dass freie Bürger jetztüber diese Panzerkettenabdrücke hinweg laufen wird, gleichzeitigdeutlich, dass der Freiheitswillen letztendlich doch über die Dikta-tur gesiegt hat.Zur Errichtung des Denkmals haben wir einen Verein gegründet,

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der sich um die Spendenfinanzierung und Installation des Denk-mals kümmert.“Anmerkung: Am 17. Juni 2003 wurde unter breiter öffentlicherAnteilnahme der erste Teil des Denkmals, die Gedenkplatte, durchden Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, die Schwe-ster des 16-jährigen Leipziger Opfers von 1953, Brigitte Dienst,und den Vorsitzenden des Vereines Tobias David eingeweiht. ImHerbst 2003 soll der zweite Teil des Denkmals – die Panzerketten-abdrücke – folgen. Zur Realisierung und Pflege werden noch wei-tere Spenden benötigt.

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Teilnehmer und Autoren des XIII. Bautzen-Forums

Günter AssmannLongkamp

Michael BeleitesSächsischer Landesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen DDR

Erik BettermannIntendant der Deutschen Welle, Bonn

Achim BeyerDiplomvolkswirt und Wissenschaftlicher Dokumentar, Erlangen

Michael BöhmerBürgermeister für Wirtschaft, Finanzen, Bildung und Soziales der StadtBautzen

Christoph CasperSchüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Bautzen

Carsten ConradSchüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Bautzen

Tobias DavidVorsitzender des Fördervereins für ein Denkmal zum Volksaufstand vom17. Juni 1953 e. V., Leipzig

Bärbel DomschkeLehrerin an der Mittelschule Doberschau

Matthias EiselLeiter des Leipziger Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung

Prof. Dr. Bernd FaulenbachForschungsinstitut für Arbeit, Bildung und Partizipation an der Ruhr-Universität Bochum; Vorsitzender der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD

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Christin FuhrmannSchülerin der Mittelschule Doberschau

Dr. Norbert HaaseGeschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden

Marion KarbeLehrerin am Friedrich-Schiller-Gymnasium Bautzen

Silke KlewinLeiterin der Gedenkstätte Bautzen

Ina KobanSchülerin des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Bautzen

Dr. Ilko-Sascha Kowalczukwissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundesbeauftragten für die Unter-lagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR

Thomas KrügerPräsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn

Ronald LässigMDR-Fernsehen, Leipzig

Christian MelcherSchüler der Mittelschule Doberschau

Harald MöllerVorsitzender des Bautzen-Komitees, Ostheim

Günter Mühleehemaliger Vorsitzender des Bautzen-Komitees, Ahrensburg

Dr. Maike Neumann, geb. WeingärtnerZahnärztin, OhornSusanne PoickSchülerin des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Bautzen

Dr. Matthias RößlerSächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Dresden

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Dr. Heidi RothHistorikerin, Leipzig

Marko SchiemannMitglied des Sächsischen Landtages, CDU-Fraktion

Dr. Hans-Jochen VogelBundesminister a. D., Münchner Oberbürgermeister a. D.,ehemaliger Vorsitzender der SPD,Gründungsvorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie"

Prof. Dr. Cornelius WeissMitglied des Sächsischen Landtages, SPD-Fraktion, ehemaliger Rektor der Universität Leipzig

„Bautzen-Foren“ im Überblick

Nr. 1 Stalinismus. Analyse und persönliche Betroffenheit. Leipzig 1990 (vergriffen)

Nr. 2Gerechtigkeit den Opfern der kommunistischen Diktatur. Leipzig 1991(vergriffen)

Nr. 3Die kriminelle Herrschaftssicherung des kommunistischen Regimes derDeutschen Demokratischen Republik. Probleme der strafrechtlichen Ver-folgung der Täter. Konsequenzen für den inneren Frieden des deutschenVolkes. Leipzig 1992 (vergriffen)

Nr. 4 Der 17. Juni 1953. Der Anfang vom Ende des sowjetischen Imperiums.Deutsche Teil-Vergangenheiten, Aufarbeitung West: Die innerdeutschenBeziehungen und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der DDR. Leipzig 1993 (vergriffen)

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Nr. 5 Die Akten der kommunistischen Gewaltherrschaft. Schlußstrich oder Auf-arbeitung? Leipzig 1994 (vergriffen)

Nr. 6Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung. Menschliches Verhalten unterGewaltherrschaft. Leipzig 1995 (vergriffen)

Nr. 7Erinnern, Aufarbeitung, Gedenken. 1946–1996. 50 Jahre kommunistischeMachtergreifung in Ostdeutschland. Widerstand und Verfolgung. Mah-nung gegen das Vergessen. Leipzig 1996

Nr. 8 Zivilcourage und Demokratie. Vergangenheitsbewältigung ist Zukunfts-gestaltung. Leipzig 1997

Nr. 9 Freiheits- und Widerstandsbewegungen in der deutschen Geschichte.Leipzig 1998

Nr. 10Eine Zwischenbilanz der Aufarbeitung der SBZ/DDR-Diktatur 1989–1999.Leipzig 1999

Nr. 11Erinnern für die Zukunft. Formen des Gedenkens, Prozess der Aufarbei-tung. Leipzig 2000

Nr. 12Jugend und Diktatur. Verfolgung und Widerstand in der SBZ/DDR. Leipzig 2001

Nr. 13Recht und Gerechtigkeit. Politische Häftlinge der SBZ/DDR im geteiltenund vereinten Deutschland. Leipzig 2002

Die Dokumentationen ab Nr. 11 können auch online im PDF-Format inder Digitalen Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung(http://library.fes.de/library/fr-digbib.html) eingesehen werden

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Friedrich-Ebert-StiftungBüro LeipzigBurgstraße 2504109 Leipzig

Redaktion Michael Parak, Matthias Eisel, LeipzigGestaltung Thomas Glöß, LeipzigFotos Rainer Justen-Behling, LeipzigDruck Jütte-Messedruck Leipzig GmbH

ISBN 3-89892-217-0

Impressum 151