Der Akt Des Lesens

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 ZEIT ONLINE 40/1977 S. 50 [http://www.zeit.de/1977/40/DerAk tdesLesens] Kommunikation Literatur Der Akt des Lesens Wolf gang Isers erste Schritte in ein Niemandsland Yon Walter Hinderer Nicht wenige Literaturkritiker, die ihr Methodenoder Modenbewußtsein unter Beweis stellen wollten, emigrierten In den sechziger Jahren nur allzu gern aus den gepflegten englischen Gärten der Interpretation in die manchmal atemberaubende Höhenwelt der Theorie. Gewiß, inzwischen hat sich in den Seminaren wieder gähnende TheorieMüdigkeit ausgebreitet, aber eine Rückkehr zu dem ebenso schönen wie gemütlichen Konsum ästhetischer Kostbarkeiten, scheint nichtsdestoweniger ausgeschlossen zu sein. Die akademische Literaxurkritik verdankt ihr ReflexionsNiveau nicht zuletzt der Konstanzer Schule und der Forschergruppe Poetik und Hermeneu tik" (deren Arbeiten im Verlag Wilhelm Fink erscheinen). Am k onsequentesten hat in  jüngster Zeit der Konstanzer Ang list Wolfgang Iser die Brücke von d erakademischen Literaturkritik zur Kommunikationswissensch aft geschlagen. Bereits in seiner Konstanzer Universitätsrede (veröffentlicht in dem Band Rezep tions ästhe tik") Die Appell struk tur der Texte" entwar f er das vieldis kutier te Programm einer Wirkungsästhetik literarisch er Prosa und überprüfte es in dem bemerkenswerten Buch Der implizite Leser" an subtilen Textanalysen von Bunyan bis Beckett. Auf die Praxis folgt nun die anspruchsvolle Theorie Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens Theorie ästhetischer Wirkung"; UTB 636, Wilhelm Fink Verlag, München, 1976; 358 S., 19,80 DM. ,' Diese .jPhänomenologie des Lesens" arbeitet mit einem neuen Begriffssystem, das auf Errungenschaften Husscrls und Ingardens, der Kommunikationspsychologie, Sozialpsychologie und Semiotik (vor allem Umberto Eco) kritisch aufbaut und das Beziehungsgeflecht von Wirkungsstrukturen zwischen Text und Leser durchleuchtet. Jeder literarische Text stellt nach Iser eine von seinem Autor entworfene Perspektive von Welt dar. Sie wird erst im und durch den Prozeß des Lesens zur Wirklichkeit, und zwar zu einer Wirklichkeit sui generis, die nichts mit der. außerästhetischen Realität gemein hat. Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich also gewissermaßen wie Intention und Erfüllung. Kann man literarische Texte dann als eine Art Partitur verstehen, die im Bewußtsein des Lesers notengetievi zur Aufführung gelangen? Gerade indem die moderne Literatur (Kafka, Joyce, Beckett) sich mit Anweisungen für den Leser (Kommunikationshilfen) zurückhält, versucht sie seine kreative Aktivität zu provozieren und durch Unbestimmtheitsbeträge, Leerstellen und ständige Negationen noch zu erhöhen. Angesichts der vielen Möglichkeiten, solche Enklaven im Text mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu besetzen, stellt sich die Frage nach den Kriterien für falsche und richtige Interaktion (wobei heute die Antworten Max Schelers und Nicolai Hartmanns sicher nicht mehr ausreichen). Wenn Wolfgang Iser mit einem offensichtlichen Rückgriff auf Adorno erläutert, daß die Kommunikation zwischen Leser und Text vor allem durch entschiedene" Ideologie beeinträch tigt werde, so mö chte man natürlich wissen, wie denn die günstige i deologische Position welchen Lesers für welche Literatur in welcher Epoche beschaffen sein müsse. Iser würde sich in diesem Zusammenhang vermutlich mit dem Hinweis begnügen, daß immer dann eine Bewußtseinshaltung den richtigen Leseprozeß störe oder gar verhindere, wenn sie nicht auf die im Text eingezeichneten Appelle adäquat reagiere. Nach Iser gibt es nicht nur eine ideologische und soziale, sondern auch eine historische Differenzierung im Akt des Lesens, die er präzis an der Wandlung der Darstellungsperspektive im Roman des 18., 19. und 20. Jahrhunderts anschaulich macht. WoJfgang Isers Phänomenologie des Lesens ist eindeutig an der Gattung Roman orientiert. Verweise auf Drama und Lyrik sind eher zufällig. Wichtiger als alle Einwände aber ist die Tatsache, daß es Iser gelungen ist, in ein Niemandsland vorzustoßen und es analytisch zu kultivieren.  DIE ZEIT, 23.09.197 7 Nr. 40

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 ZEIT ONLINE  40/1977 S. 50 [http://www.zeit.de/1977/40/Der−Akt−des−Lesens]

Kommunikation Literatur

Der Akt des LesensWolf gang Isers erste Schritte in ein Niemandsland Yon Walter Hinderer

Nicht wenige Literaturkritiker, die ihr Methodenoder Modenbewußtsein unter Beweis stellen wollten,

emigrierten In den sechziger Jahren nur allzu gern aus den gepflegten englischen Gärten der Interpretation in

die manchmal atemberaubende Höhenwelt der Theorie. Gewiß, inzwischen hat sich in den Seminaren wieder

gähnende Theorie−Müdigkeit ausgebreitet, aber eine Rückkehr zu dem ebenso schönen wie gemütlichen

Konsum ästhetischer Kostbarkeiten, scheint nichtsdestoweniger ausgeschlossen zu sein. Die akademische

Literaxurkritik verdankt ihr Reflexions−Niveau nicht zuletzt der Konstanzer Schule und der Forschergruppe

Poetik und Hermeneutik" (deren Arbeiten im Verlag Wilhelm Fink erscheinen). Am konsequentesten hat in

 jüngster Zeit der Konstanzer Anglist Wolfgang Iser die Brücke von der−akademischen Literaturkritik zurKommunikationswissenschaft geschlagen. Bereits in seiner Konstanzer Universitätsrede (veröffentlicht in

dem Band Rezeptionsästhetik") Die Appellstruktur der Texte" entwarf er das vieldiskutierte Programm

einer Wirkungsästhetik literarischer Prosa und überprüfte es in dem bemerkenswerten Buch Der implizite

Leser" an subtilen Textanalysen von Bunyan bis Beckett.

Auf die Praxis folgt nun die anspruchsvolle Theorie Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens Theorie

ästhetischer Wirkung"; UTB 636, Wilhelm Fink Verlag, München, 1976; 358 S., 19,80 DM. ,' Diese

−.jPhänomenologie des Lesens" arbeitet mit einem neuen Begriffssystem, das auf Errungenschaften Husscrls

und Ingardens, der Kommunikationspsychologie, Sozialpsychologie und Semiotik (vor allem Umberto Eco)

kritisch aufbaut und das Beziehungsgeflecht von Wirkungsstrukturen zwischen Text und Leser durchleuchtet.

Jeder literarische Text stellt nach Iser eine von seinem Autor entworfene Perspektive von Welt dar. Sie wird

erst im und durch den Prozeß des Lesens zur Wirklichkeit, und zwar zu einer Wirklichkeit sui generis, die

nichts mit der. außerästhetischen Realität gemein hat. Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich also

gewissermaßen wie Intention und Erfüllung. Kann man literarische Texte dann als eine Art Partitur verstehen,

die im Bewußtsein des Lesers notengetievi zur Aufführung gelangen? Gerade indem die moderne Literatur

(Kafka, Joyce, Beckett) sich mit Anweisungen für den Leser (Kommunikationshilfen) zurückhält, versucht sie

seine kreative Aktivität zu provozieren und durch Unbestimmtheitsbeträge, Leerstellen und ständige

Negationen noch zu erhöhen. Angesichts der vielen Möglichkeiten, solche Enklaven im Text mit eigenen

Erfahrungen und Vorstellungen zu besetzen, stellt sich die Frage nach den Kriterien für falsche und richtige

Interaktion (wobei heute die Antworten Max Schelers und Nicolai Hartmanns sicher nicht mehr ausreichen).

Wenn Wolfgang Iser mit einem offensichtlichen Rückgriff auf Adorno erläutert, daß die Kommunikation

zwischen Leser und Text vor allem durch entschiedene" Ideologie beeinträchtigt werde, so möchte man

natürlich wissen, wie denn die günstige ideologische Position welchen Lesers für welche Literatur in welcher

Epoche beschaffen sein müsse. Iser würde sich in diesem Zusammenhang vermutlich mit dem Hinweis

begnügen, daß immer dann eine Bewußtseinshaltung den richtigen Leseprozeß störe oder gar verhindere,

wenn sie nicht auf die im Text eingezeichneten Appelle adäquat reagiere. Nach Iser gibt es nicht nur eine

ideologische und soziale, sondern auch eine historische Differenzierung im Akt des Lesens, die er präzis an

der Wandlung der Darstellungsperspektive im Roman des 18., 19. und 20. Jahrhunderts anschaulich macht.

WoJfgang Isers Phänomenologie des Lesens ist eindeutig an der Gattung Roman orientiert. Verweise auf 

Drama und Lyrik sind eher zufällig. Wichtiger als alle Einwände aber ist die Tatsache, daß es Iser gelungen

ist, in ein Niemandsland vorzustoßen und es analytisch zu kultivieren.

 DIE ZEIT, 23.09.1977 Nr. 40