Der Akt Des Lesens
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7/17/2019 Der Akt Des Lesens
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ZEIT ONLINE 40/1977 S. 50 [http://www.zeit.de/1977/40/Der−Akt−des−Lesens]
Kommunikation Literatur
Der Akt des LesensWolf gang Isers erste Schritte in ein Niemandsland Yon Walter Hinderer
Nicht wenige Literaturkritiker, die ihr Methodenoder Modenbewußtsein unter Beweis stellen wollten,
emigrierten In den sechziger Jahren nur allzu gern aus den gepflegten englischen Gärten der Interpretation in
die manchmal atemberaubende Höhenwelt der Theorie. Gewiß, inzwischen hat sich in den Seminaren wieder
gähnende Theorie−Müdigkeit ausgebreitet, aber eine Rückkehr zu dem ebenso schönen wie gemütlichen
Konsum ästhetischer Kostbarkeiten, scheint nichtsdestoweniger ausgeschlossen zu sein. Die akademische
Literaxurkritik verdankt ihr Reflexions−Niveau nicht zuletzt der Konstanzer Schule und der Forschergruppe
Poetik und Hermeneutik" (deren Arbeiten im Verlag Wilhelm Fink erscheinen). Am konsequentesten hat in
jüngster Zeit der Konstanzer Anglist Wolfgang Iser die Brücke von der−akademischen Literaturkritik zurKommunikationswissenschaft geschlagen. Bereits in seiner Konstanzer Universitätsrede (veröffentlicht in
dem Band Rezeptionsästhetik") Die Appellstruktur der Texte" entwarf er das vieldiskutierte Programm
einer Wirkungsästhetik literarischer Prosa und überprüfte es in dem bemerkenswerten Buch Der implizite
Leser" an subtilen Textanalysen von Bunyan bis Beckett.
Auf die Praxis folgt nun die anspruchsvolle Theorie Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens Theorie
ästhetischer Wirkung"; UTB 636, Wilhelm Fink Verlag, München, 1976; 358 S., 19,80 DM. ,' Diese
−.jPhänomenologie des Lesens" arbeitet mit einem neuen Begriffssystem, das auf Errungenschaften Husscrls
und Ingardens, der Kommunikationspsychologie, Sozialpsychologie und Semiotik (vor allem Umberto Eco)
kritisch aufbaut und das Beziehungsgeflecht von Wirkungsstrukturen zwischen Text und Leser durchleuchtet.
Jeder literarische Text stellt nach Iser eine von seinem Autor entworfene Perspektive von Welt dar. Sie wird
erst im und durch den Prozeß des Lesens zur Wirklichkeit, und zwar zu einer Wirklichkeit sui generis, die
nichts mit der. außerästhetischen Realität gemein hat. Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich also
gewissermaßen wie Intention und Erfüllung. Kann man literarische Texte dann als eine Art Partitur verstehen,
die im Bewußtsein des Lesers notengetievi zur Aufführung gelangen? Gerade indem die moderne Literatur
(Kafka, Joyce, Beckett) sich mit Anweisungen für den Leser (Kommunikationshilfen) zurückhält, versucht sie
seine kreative Aktivität zu provozieren und durch Unbestimmtheitsbeträge, Leerstellen und ständige
Negationen noch zu erhöhen. Angesichts der vielen Möglichkeiten, solche Enklaven im Text mit eigenen
Erfahrungen und Vorstellungen zu besetzen, stellt sich die Frage nach den Kriterien für falsche und richtige
Interaktion (wobei heute die Antworten Max Schelers und Nicolai Hartmanns sicher nicht mehr ausreichen).
Wenn Wolfgang Iser mit einem offensichtlichen Rückgriff auf Adorno erläutert, daß die Kommunikation
zwischen Leser und Text vor allem durch entschiedene" Ideologie beeinträchtigt werde, so möchte man
natürlich wissen, wie denn die günstige ideologische Position welchen Lesers für welche Literatur in welcher
Epoche beschaffen sein müsse. Iser würde sich in diesem Zusammenhang vermutlich mit dem Hinweis
begnügen, daß immer dann eine Bewußtseinshaltung den richtigen Leseprozeß störe oder gar verhindere,
wenn sie nicht auf die im Text eingezeichneten Appelle adäquat reagiere. Nach Iser gibt es nicht nur eine
ideologische und soziale, sondern auch eine historische Differenzierung im Akt des Lesens, die er präzis an
der Wandlung der Darstellungsperspektive im Roman des 18., 19. und 20. Jahrhunderts anschaulich macht.
WoJfgang Isers Phänomenologie des Lesens ist eindeutig an der Gattung Roman orientiert. Verweise auf
Drama und Lyrik sind eher zufällig. Wichtiger als alle Einwände aber ist die Tatsache, daß es Iser gelungen
ist, in ein Niemandsland vorzustoßen und es analytisch zu kultivieren.
DIE ZEIT, 23.09.1977 Nr. 40