Der passive Bewegungsumfang von gesunden Schultern; The passive range of motion of healthy...

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Originalarbeit 212 | Obere Extremität 4 · 2013 Die Messung des Bewegungsumfangs des Schultergelenks ist ein wesentlicher Be- standteil der klinischen Untersuchung, Verlaufsbeurteilung von Schultererkran- kungen und Dokumentation von Funk- tionsstörungen im Rahmen von medi- zinischen Gutachten. Der große Bewe- gungsumfang des Schultergürtels wird durch das Zusammenspiel von 5 Gelen- ken, dem Schultergelenk, Akromioklavi- kulargelenk, Sternoklavikulargelenk, sub- akromialen Nebengelenk und dem skapu- lothorakalen Gelenk erreicht. Da eine zu- verlässige Messung der einzelnen Gelen- ke nicht möglich ist, wird in der täglichen Routine der Bewegungsumfang aller Ge- lenke gemessen. Die Messung wird mit- hilfe eines Winkelmessers anhand der Neutral-Null-Methode durchgeführt. Go- niometermessungen sind einfach durch- zuführen und sehr genau, wenn sie vom selben Untersucher durchgeführt werden [7, 16]. Die erhobenen Messwerte werden mit dem Bewegungsumfang der gesun- den Seite oder mit Normwerten aus Lehr- büchern verglichen. Diese Normwerte ba- sieren jedoch auf sehr kleinen Fallzahlen und mögliche Einflussfaktoren auf die Be- weglichkeit wurden nicht berücksichtigt. Außerdem wurde noch nicht ausreichend geprüft, ob das Bewegungsausmaß von rechten und linken Schultern tatsächlich gleich ist. Für Frauen und Männer gelten die gleichen Normwerte, obwohl von an- deren Gelenken bekannt ist, dass Frau- en eine größere Beweglichkeit aufweisen. Die altersbedingte Abnahme der Elasti- zität von Muskeln und Bändern führt zu einer Abnahme des Bewegungsausmaßes [19], was bisher am Schultergelenk noch nicht ausreichend untersucht ist. In der vorliegenden Arbeit wurde der Bewegungsumfang des Schultergürtels an einem großen Untersuchungskollektiv er- mittelt und der Zusammenhang mit Kör- pergröße und Körpergewicht, Gelenkla- xität, Händigkeit, Seite, Geschlecht so- wie Alter statistisch überprüft. Basierend auf dem bisherigen Kenntnisstand wur- den zwei Hypothesen aufgestellt. Erstens: Frauen haben ein größeres Bewegungs- ausmaß als Männer und zweitens: Der Bewegungsumfang nimmt mit dem Alter ab. Schließlich wurden unter Berücksich- tigung der Ergebnisse Normwerte erstellt, die als Standard für den klinischen Alltag und für die Begutachtung der Schulterbe- weglichkeit dienen können. Material und Methode Für die vorliegende Studie wurden 491 freiwillige Männer und Frauen zwi- schen 18 und 82 Jahren aus öffentlichen und universitären Einrichtungen sowie Sportvereinen rekrutiert. Ausgeschlossen wurden Probanden mit Schulteroperatio- nen, -verletzungen und -schmerzen so- wie Überkopfsportarten in der Anamne- se. Bei allen Studienteilnehmern wurden Geburtsdatum, Geschlecht, Körpergrö- ße und -gewicht sowie Händigkeit erfragt. Anschließend wurden die Probanden von einem Untersucher standardisiert unter- sucht. Als Maß für die Laxität wurden der Daumen-Unterarm-Abstand (Abstand von der unterarmnahen Kante des Dau- mens zur daumennahen Kante des Ra- dius in cm), die Ellenbogen-Überstreck- barkeit (Winkel in Grad zwischen Ober- und Unterarm in maximaler Extension im Ellenbogengelenk, während der Arm in 45° Abduktion gehalten wird) und die Hyperabduktion der Schulter nach Gagey [9] mittels Goniometer gemessen. Der passive Bewegungsumfang wur- de in allen Bewegungsrichtungen nach der Neutral-Null-Methode ermittelt. Um möglichst zuverlässige und reproduzier- bare Messwerte zu erhalten, wurde streng nach den Vorschriften der American Aca- demy of Orthopaedic Surgeons [2] vorge- gangen. Die Messungen wurden im Sitzen bei aufrechter Wirbelsäule durchgeführt. Der Arm wurde vom Untersucher aus der Neutral-Null- in die Endstellung bewegt. Der Drehpunkt des Goniometers wur- de in der jeweiligen Ebene genau auf den Drehpunkt des Gelenks positioniert. Die Messung der Flexion/Extension erfolgte in der Sagittalebene, der proximale Arm des Goniometers wurde parallel zur Kör- perlängsachse und der distale Arm paral- lel zur Humeruslängsachse ausgerichtet. Für die Messung der Abduktion/Adduk- tion wurde der proximale Arm des Go- niometers in der Frontalebene parallel zur Körperlängsachse und der distale Arm pa- rallel zur Humeruslängsachse ausgerich- tet. Die Rotationsmessung wurde in 0 und 90° Abduktionsstellung durchgeführt. In 0° Abduktion erfolgte die Ausrichtung des proximalen Arms in der Transversalebe- ne senkrecht zur Körperlängsachse und der distale Arm parallel zur Unterarm- längsachse. Die Innenrotation in wurde in leicht veränderter Ausgangsstellung Hermann Anetzberger 1 · Florian Lipold 2 · Christof Birkenmaier 3 · Andreas B. Imhoff 4 · Stephan Lorenz 4 1 Gemeinschaftspraxis für Orthopädie und Unfallchirurgie am OEZ, München, Deutschland 2 Fakultät für Sportwissenschaft der Technischen Universität München, TU München, München, Deutschland 3 Orthopädische Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinikum Großhadern, München, Deutschland 4 Abteilung und Poliklinik für Sportorthopädie der TU München, Klinikum rechts der Isar, München, Deutschland Der passive Bewegungsumfang von gesunden Schultern Obere Extremität 2013 ∙ 8:212–219 DOI 10.1007/s11678-013-0229-x Eingegangen: 8. Juni 2013 Angenommen: 15. August 2013 Online publiziert: 18. September 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Originalarbeit

212 | Obere Extremität 4 · 2013

Die Messung des Bewegungsumfangs des Schultergelenks ist ein wesentlicher Be-standteil der klinischen Untersuchung, Verlaufsbeurteilung von Schultererkran-kungen und Dokumentation von Funk-tionsstörungen im Rahmen von medi-zinischen Gutachten. Der große Bewe-gungsumfang des Schultergürtels wird durch das Zusammenspiel von 5 Gelen-ken, dem Schultergelenk, Akromioklavi-kulargelenk, Sternoklavikulargelenk, sub-akromialen Nebengelenk und dem skapu-lothorakalen Gelenk erreicht. Da eine zu-verlässige Messung der einzelnen Gelen-ke nicht möglich ist, wird in der täglichen Routine der Bewegungsumfang aller Ge-lenke gemessen. Die Messung wird mit-hilfe eines Winkelmessers anhand der Neutral-Null-Methode durchgeführt. Go-niometermessungen sind einfach durch-zuführen und sehr genau, wenn sie vom selben Untersucher durchgeführt werden [7, 16]. Die erhobenen Messwerte werden mit dem Bewegungsumfang der gesun-den Seite oder mit Normwerten aus Lehr-büchern verglichen. Diese Normwerte ba-sieren jedoch auf sehr kleinen Fallzahlen und mögliche Einflussfaktoren auf die Be-weglichkeit wurden nicht berücksichtigt. Außerdem wurde noch nicht ausreichend geprüft, ob das Bewegungsausmaß von rechten und linken Schultern tatsächlich gleich ist. Für Frauen und Männer gelten die gleichen Normwerte, obwohl von an-deren Gelenken bekannt ist, dass Frau-en eine größere Beweglichkeit aufweisen. Die altersbedingte Abnahme der Elasti-zität von Muskeln und Bändern führt zu einer Abnahme des Bewegungsausmaßes

[19], was bisher am Schultergelenk noch nicht ausreichend untersucht ist.

In der vorliegenden Arbeit wurde der Bewegungsumfang des Schultergürtels an einem großen Untersuchungskollektiv er-mittelt und der Zusammenhang mit Kör-pergröße und Körpergewicht, Gelenkla-xität, Händigkeit, Seite, Geschlecht so-wie Alter statistisch überprüft. Basierend auf dem bisherigen Kenntnisstand wur-den zwei Hypothesen aufgestellt. Erstens: Frauen haben ein größeres Bewegungs-ausmaß als Männer und zweitens: Der Bewegungsumfang nimmt mit dem Alter ab. Schließlich wurden unter Berücksich-tigung der Ergebnisse Normwerte erstellt, die als Standard für den klinischen Alltag und für die Begutachtung der Schulterbe-weglichkeit dienen können.

Material und Methode

Für die vorliegende Studie wurden 491 freiwillige Männer und Frauen zwi-schen 18 und 82 Jahren aus öffentlichen und universitären Einrichtungen sowie Sportvereinen rekrutiert. Ausgeschlossen wurden Probanden mit Schulteroperatio-nen, -verletzungen und -schmerzen so-wie Überkopfsportarten in der Anamne-se. Bei allen Studienteilnehmern wurden Geburtsdatum, Geschlecht, Körpergrö-ße und -gewicht sowie Händigkeit erfragt. Anschließend wurden die Probanden von einem Untersucher standardisiert unter-sucht. Als Maß für die Laxität wurden der Daumen-Unterarm-Abstand (Abstand von der unterarmnahen Kante des Dau-mens zur daumennahen Kante des Ra-

dius in cm), die Ellenbogen-Überstreck-barkeit (Winkel in Grad zwischen Ober- und Unterarm in maximaler Extension im Ellenbogengelenk, während der Arm in 45° Abduktion gehalten wird) und die Hyperabduktion der Schulter nach Gagey [9] mittels Goniometer gemessen.

Der passive Bewegungsumfang wur-de in allen Bewegungsrichtungen nach der Neutral-Null-Methode ermittelt. Um möglichst zuverlässige und reproduzier-bare Messwerte zu erhalten, wurde streng nach den Vorschriften der American Aca-demy of Orthopaedic Surgeons [2] vorge-gangen. Die Messungen wurden im Sitzen bei aufrechter Wirbelsäule durchgeführt. Der Arm wurde vom Untersucher aus der Neutral-Null- in die Endstellung bewegt. Der Drehpunkt des Goniometers wur-de in der jeweiligen Ebene genau auf den Drehpunkt des Gelenks positioniert. Die Messung der Flexion/Extension erfolgte in der Sagittalebene, der proximale Arm des Goniometers wurde parallel zur Kör-perlängsachse und der distale Arm paral-lel zur Humeruslängsachse ausgerichtet. Für die Messung der Abduktion/Adduk-tion wurde der proximale Arm des Go-niometers in der Frontalebene parallel zur Körperlängsachse und der distale Arm pa-rallel zur Humeruslängsachse ausgerich-tet. Die Rotationsmessung wurde in 0 und 90° Abduktionsstellung durchgeführt. In 0° Abduktion erfolgte die Ausrichtung des proximalen Arms in der Transversalebe-ne senkrecht zur Körperlängsachse und der distale Arm parallel zur Unterarm-längsachse. Die Innenrotation in wurde in leicht veränderter Ausgangsstellung

Hermann Anetzberger1 · Florian Lipold2 · Christof Birkenmaier3 · Andreas B. Imhoff4 · Stephan Lorenz4

1Gemeinschaftspraxis für Orthopädie und Unfallchirurgie am OEZ, München, Deutschland2 Fakultät für Sportwissenschaft der Technischen Universität München, TU München, München, Deutschland3 Orthopädische Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinikum Großhadern, München, Deutschland

4Abteilung und Poliklinik für Sportorthopädie der TU München, Klinikum rechts der Isar, München, Deutschland

Der passive Bewegungsumfang von gesunden Schultern

Obere Extremität 2013 ∙ 8:212–219DOI 10.1007/s11678-013-0229-xEingegangen: 8. Juni 2013Angenommen: 15. August 2013Online publiziert: 18. September 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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gemessen. Da der Bauch bzw. die Brust eine vollständige Innenrotation vor dem

Körper verhindern, wurde diese in auf-rechter Sitzposition hinter dem Körper

durchgeführt. Eine Ausweichbewegung wurde durch den Griff des Untersuchers am 90° gebeugten Ellenbogen unterbun-den. Für die Messung der Innen- und Außenrotation in 90° Abduktion befand sich der Proband in aufrechter Sitzposi-tion, der Oberarm war dabei um 90° ab-duziert und die Skapula fixiert. Der Ellen-bogen wurde um 90° gebeugt. Der pro-ximale Arm des Goniometers wurde in der Transversalebene senkrecht zur Kör-perlängsachse und der distale Arm par-allel zur Unterarmlängsachse ausgerich-tet. Um den intraindividuellen Messfehler zu evaluieren, wurde der Bewegungsum-fang eines Probanden an 12 aufeinander-folgenden Tagen gemessen. Zur statisti-schen Auswertung wurden die Probanden in 3 Altersgruppen aufgeteilt (18–30 Jah-re, 31–55 Jahre, >55 Jahre). Die Gruppen-einteilung basierte auf der Annahme, dass die Gelenkbeweglichkeit im Laufe des Lebens abnimmt.

Statistische Auswertung

Für die statistische Auswertung der Daten wurde das Computerprogramm SPSS für Windows, Version 15.0 (SPSS Inc., Chicago, USA) verwendet. Für alle Messwerte wurde der Mittelwert (MW), die Standardabweichung (SA) und das 95 %-Konfidenzintervall (KI) berech-net. Zur Bestimmung des intraindivi-duellen Messfehlers wurde ein Proband an 12 aufeinanderfolgenden Tagen in al-len Bewegungsrichtungen gemessen und der relative Variationskoeffizient in % (VKrel = VK/n0,5 × 100; mit VK = Stan-dardabweichung/Mittelwert, n = Anzahl der Messwiederholungen) berechnet. Ein möglicher Zusammenhang zwischen Be-wegungsumfang und Körpergröße, Be-wegungsumfang und Körpergewicht bzw. Bewegungsumfang und Laxität wur-de mit dem Produkt-Moment-Korrela-tionskoeffizient r nach Pearson deskrip-tiv untersucht. Zur Prüfung abhängiger Stichproben (Seitenvergleich, Händig-keit) wurde der Wilcoxon-Paardifferenz-Test angewendet. Der Vergleich des Be-wegungsumfangs zwischen Frauen und Männern erfolgte mit dem Mann-Whit-ney-U-Test für unabhängige Stichpro-ben. Zur Prüfung der Altersabhängigkeit wurde der Kruskal-Wallis-Test für unab-

Tab. 1 Verteilung von Geschlecht, Alter, Armdominanz, Körpergröße und Gewicht in den 3 Altersgruppen

Geschlecht 18–30 Jahre 31–55 Jahre > 55 Jahre

Geschlecht (Anzahl) m 153 46 57

w 143 45 47

Alter in Jahren (MW ± SA) m 24 ± 2 46 ± 8 68 ± 6

w 24 ± 2 41 ± 7 66 ± 5

rechts- bzw. linksdominant (Anzahl)

m 139/14 41/5 54/3

w 128/15 40/5 46/1

Körpergröße (cm) (MW ± SA) m 181 ± 5 178 ± 6 174 ± 6

w 168 ± 6 167 ± 5 162 ± 5

Körpergewicht (kg) (MW ± SA) m 75 ± 8 82 ± 10 82 ± 9

w 62 ± 8 69 ± 9 65 ± 9

MW Mittelwert, SA Standardabweichung, m männlich, w weiblich

Tab. 2 Korrelationskoeffizient r nach Pearson für den Zusammenhang von Bewegungsum-fang und Körpergröße sowie Bewegungsumfang und Körpergewicht bei 18 bis 30-JährigenBewegungs-richtung

Seite Korrelationskoeffizient r (Männer)

Korrelationskoeffizient r (Frauen)

Körpergröße Körpergewicht Körpergröße Körpergewicht

Flexion r − 0,04 − 0,01 0,16 0,16

l −0,06 − 0,07 0,19 0,14

Extension r − 0,06 − 0,04 0,09 0,01

l − 0,14 0,02 − 0,09 − 0,21

Abduktion r 0,05 − 0,15 0,15 − 0,11

l 0,08 − 0,05 0,07 − 0,15

Adduktion r − 0,05 0,06 − 0,17 − 0,06

l 0,00 0,09 − 0,15 − 0,14

Innenrotation in 0 Grad Ab-duktion

r − 0,14 − 0,19 − 0,14 − 0,25

l − 0,04 − 0,07 − 0,03 − 0,27

Außenrota-tion in 0 Grad Abduktion

r 0,02 − 0,19 − 0,01 0,03

l 0,01 − 0,14 − 0,14 − 0,06

Innenrotation in 90 Grad Ab-duktion

r − 0,16 − 0,11 0,05 − 0,14

l − 0,11 − 0,03 − 0,08 − 0,11

Außenrota-tion in 90 Grad Abduktion

r 0,08 − 0,19 − 0,05 − 0,15

l − 0,02 − 0,11 − 0,22 − 0,16

r rechts, l links

Tab. 3 Daumen-Unterarm-Abstand, Ellenbogen-Überstreckbarkeit und Hyperabduktion in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht, dargestellt sind Mittelwert ± StandardabweichungTest Geschlecht 18–30 Jahre 31–55 Jahre > 55 Jahre

D-U-A (cm) m 5 ± 3 7 ± 2 10 ± 2

w 3 ± 2 6 ± 2 8 ± 2

EB-Ü (°) m 184 ± 4 182 ± 3 180 ± 3

w 187 ± 4 185 ± 3 182 ± 3

Hy-ABD (°) m 105 ± 6 98 ± 4 96 ± 7

w 107 ± 7 100 ± 7 94 ± 6

D-U-A Daumen-Unterarm-Abstand, EB-Ü Ellenbogen-Überstreckbarkeit, Hy-ABD Hyperabduktion, m männlich in die darunterliegende Zeile, w weiblich

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hängige Stichproben eingesetzt. Im Fal-le eines signifikanten Ergebnisses kam als Post-hoc-Test der Mann-Whitney-U-Test zur Anwendung. Das Signifikanz-niveau wurde bei 1 % (p = 0,01) festge-legt. Die statistische Auswertung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Institut für medizinische Epidemiologie und Statistik der Technischen Universität München.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 491 gesunde Perso-nen (256 Männer, 235 Frauen) zwischen 18 und 82 Jahren untersucht. Die epide-miologischen Daten der 3 Altersgruppen sind in . Tab. 1 aufgelistet. Der Messfeh-ler, indirekt ermittelt über den relativen Variationskoeffizienten aus 12 aufeinan-derfolgenden Messungen, lag zwischen 0,9 und 2,8 %.

Abhängigkeit des Bewegungsumfangs von Körpergröße und -gewicht

Um die verschiedenen Störgrößen zu eli-minieren, wurden in den jeweiligen Al-tersgruppen sowohl Männer und Frauen als auch rechte und linke Seite getrennt analysiert. Der Korrelationskoeffizient zwischen Körpergröße und Bewegungs-umfang war sehr niedrig, er lag in Abhän-gigkeit von der Seite und vom Geschlecht zwischen −0,22 und 0,19. Auch zwischen Körpergewicht und Bewegungsumfang konnte ein Zusammenhang ausgeschlos-sen werden, der Korrelationskoeffizient lag zwischen − 0,16 und 0,27 (. Tab. 2).

Abhängigkeit des Bewegungsumfangs von der Laxität

Der Daumen-Unterarm-Abstand nahm bei Männern signifikant mit dem Alter von 5 ± 3 cm (18–30 Jahre) auf 7 ± 2 cm (31–55 Jahre) und auf 10 ± 2 cm (> 55 Jah-re) zu. Bei den Frauen zeigte sich die glei-che Tendenz, wobei der Daumen-Unter-arm-Abstand im Durchschnitt 2 cm kür-zer war als bei Männern (. Tab. 3).

Die Ellenbogenextension betrug bei jungen Männern 184 ± 4° (18–30 Jahre) und fiel leicht auf 182 ± 3° (31–55 Jahre) und 180 ± 3° (> 55 Jahre) ab. Bei den Frau-

en verringerte sich die Überstreckbarkeit von 187 ± 4° (18–30 Jahre), auf 185 ± 3° (31–55 Jahre) und auf 182 ± 3° (> 55 Jah-re, . Tab. 3).

Die Hyperabduktion der Schulter betrug bei Männern zwischen 18 und 30 Jahren 105 ± 6° und sank auf 98 ± 4° (31–55 Jahre) und 96 ± 7° (> 55 Jahre) ab.

Obere Extremität 2013 ∙ 8:212–219 DOI 10.1007/s11678-013-0229-x© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

H. Anetzberger · F. Lipold · C. Birkenmaier · A. B. Imhoff · S. Lorenz

Der passive Bewegungsumfang von gesunden Schultern

ZusammenfassungDie Messung des Bewegungsumfangs des Schultergelenks ist ein wesentlicher Bestand-teil der klinischen Untersuchung. Zur Beurtei-lung einer Bewegungseinschränkung wer-den die erhobenen Messwerte mit denen der Gegenseite oder mit Normwerten aus Lehr-büchern verglichen. Die vorhandenen Daten basieren jedoch auf kleinen Fallzahlen, zu-dem wurden mögliche Einflussfaktoren i. d. R. nicht berücksichtigt. Ziel der vorliegenden Studie war es deshalb, den Bewegungsum-fang von gesunden Schultern anhand einer großen Fallzahl zu ermitteln und den Einfluss von Körpergröße und -gewicht, Laxität, Hän-digkeit, Seite, Geschlecht sowie Alter auf die Beweglichkeit zu untersuchen.

Bei insgesamt 491 Frauen und Männern zwischen 21 und 82 Jahren wurden anam-nestische und epidemiologische Daten er-hoben und anschließend der Bewegungs-umfang (Flexion, Extension, Ab- und Adduk-tion sowie Innen- und Außenrotation) beider Schultern standardisiert anhand der Neutral-Null-Methode mittels Goniometer gemessen.

Gezeigt werden konnte, dass der Bewe-gungsumfang des Schultergelenks unabhän-

gig ist von Körpergröße und -gewicht, Laxi-tät sowie Händigkeit. Das Bewegungsaus-maß zeigte eine hohe individuelle Variations-breite, kein Unterschied bestand jedoch zwi-schen rechter und linker Seite. Frauen hat-ten im Vergleich zu Männern in allen Bewe-gungsrichtungen mit Ausnahme der Exten-sion einen um bis zu 10° größeren Bewe-gungsumfang. Mit dem Alter nahm der Be-wegungsumfang um bis zu 20° ab.

Aufgrund unserer Ergebnisse empfeh-len wir zur Beurteilung einer Bewegungsein-schränkung in der täglichen Praxis den Ver-gleich mit dem Bewegungsausmaß der ge-sunden Seite. Bei der Erstellung von Norm-werten sollte berücksichtigt werden, dass das Bewegungsausmaß bei Frauen größer ist und dass es mit zunehmendem Alter signifi-kant abnimmt.

SchlüsselwörterSchulter · Bewegungsumfang · Normwerte · Goniometermessung

The passive range of motion of healthy shoulders

AbstractMeasurement of the range of motion (ROM) of shoulder joints is an important component of the clinical examination. Standard values or values from the contralateral side are rou-tinely used to judge whether a restriction in motion is present. However, there is reaso-nable doubt whether the generally accepted standard values from textbooks are reliable. This is due to the fact that most data were ba-sed on small numbers of subjects and that several parameters that may influence the ROM were not taken into consideration. The-refore, the purpose of the present study was to determine the passive ROM of shoulders in a normal population with special attention to laxity, handedness, gender and age.

A total of 491 male and female volunteers aged between 21 and 82 years were recrui-ted for the study. The ROM for both shoulders in flexion, extension, abduction, adduction, internal and external rotation with the arm

in 0° and in 90° of abduction was measured using a standardized goniometric technique.

The results show that ROM was not cor-related to body height, body weight, liga-mentous laxity dominance and side. Healthy shoulders showed a large interindividual va-riability with respect to ROM. Women had a higher ROM of up to 10° in all directions with the exception of extension. The ROM signifi-cantly decreased with age by about 20° in all directions with the exception of adduction.

In consequence, the contralateral healthy side can be used as a control in clinical prac-tice. Based on these results, normative values for ROM of healthy shoulders should be sepa-rated according to gender and age.

KeywordsShoulder · Range of motion · Standard values · Goniometer measurement

Zusammenfassung · Abstract

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Bei den Frauen wurde eine Abnahme von 107 ± 7° (18–30 Jahre) auf 100 ± 7° (31–55 Jahre) und 94 ± 6° (> 55 Jahre) gemes-sen (. Tab. 3).

Der Korrelationskoeffizient zwischen Daumen-Unterarm-Abstand und Bewe-gungsausmaß lag in Abhängigkeit vom Geschlecht und der Seite zwischen − 0,28 und 0,14. Für Bewegungsausmaß und El-lenbogen-Überstreckbarkeit wurden Kor-relationskoeffizienten zwischen − 0,06 und 0,40 und für Bewegungsausmaß und Hyperabduktion zwischen 0,07 und 0,57 berechnet.

Abhängigkeit des Bewegungsumfangs von Händigkeit und Seite

Um den Einfluss einer Händigkeit zu überprüfen, wurde der Bewegungsum-fang der rechten und linken Schultern so-wohl bei Rechts- als auch bei Linkshän-dern miteinander verglichen. Bei männli-chen Rechtshändern (n = 139) waren Fle-xion und Adduktion rechts um 2° bzw.

um 3° signifikant kleiner, die Außenrota-tion in 0 und 90 Grad Abduktion um 2° bzw. 3° signifikant größer als links. In allen anderen Bewegungsrichtungen bestand kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen der rechten und linken Schulter. Bei den Linkshändern (n = 14) entspra-chen die Unterschiede zwischen rechter und linker Schulter denjenigen, die auch bei den Rechtshändern gefunden wurden (Adduktion rechts 3° kleiner, Außenrota-tion in 0 Grad Abduktion rechts 3° grö-ßer, Außenrotation in 90 Grad Abduk-tion rechts 6° größer), allerdings waren die Unterschiede statistisch nicht signifikant.

Die gleichen Ergebnisse fanden wir bei den Frauen. Bei Rechtshänderinnen (n = 128) war die Adduktion rechts um 3° signifikant kleiner und die Außenrotation in 90 Grad Abduktion um 3° signifikant größer als links. Bei den Linkshänderin-nen (n = 15) war die Adduktion rechts um 4° signifikant kleiner und die Außenrota-tion in 90 Grad Abduktion um 3° größer.

Der Vergleich des Bewegungsum-fangs zwischen rechten und linken Schul-

tern zeigte, dass sowohl bei den männli-chen als auch den weiblichen Probanden in einigen Bewegungsrichtungen klei-ne, jedoch statistisch signifikante Unter-schiede auftraten. Bei der Analyse der Abhängigkeit des Bewegungsumfangs von Geschlecht und Alter wurden daher die rechte und die linke Schulter getrennt ausgewertet.

Abhängigkeit des Bewegungsumfangs vom Geschlecht

Der Bewegungsumfang der rechten Schul-ter war bei Frauen im Vergleich zu Män-nern in der Altersgruppe 1 (18–30 Jah-re) mit Ausnahme der Extension in allen Bewegungsrichtungen um 3° bis 7° grö-ßer. Auch das Bewegungsausmaß der lin-ken Schulter war bei Frauen mit Ausnah-me der Extension und Innenrotation bei 0 Grad um bis zu 7° höher als bei Männern. In den Altersgruppen 2 und 3 fanden wir die gleichen Unterschiede. Die Daten sind in den . Tab. 4 und 5 aufgelistet.

Tab. 4 Bewegungsumfang des Schultergürtels von Männern, Mittelwert18–30 Jahre 31–55 Jahre > 55 Jahre

Bewegungsrichtung rechts MW (95%-KI)

linksMW (95%-KI)

rechtsMW (95%-KI)

links MW (95%-KI)

rechts MW (95%-KI)

links MW (95%-KI)

Flexion 170 (146–190) 171 (150–188) 160 (141–179) 162 (152–177) 153 (133–171) 156 (135–175)

Extension 73 (61–85) 72 (62–83) 70 (60–92) 71 (61–88) 67 (58–85) 69 (58–85)

Abduktion 189 (165–210) 189 (164–210) 176 (153–193) 176 (149–192) 168 (150–186) 168 (151–192)

Adduktion 64 (51–84) 67 (55–85) 64 (56–72) 66 (60–77) 64 (55–76) 65 (56–76)

IRO in 0 Grad ABD 99 (80–118) 100 (82–114) 94 (63–122) 94 (82–118) 86 (62–103) 89 (73–106)

ARO in 0 Grad ABD 78 (64–92) 76 (60–87) 74 (53–86) 72 (61–96) 70 (53–88) 67 (45–91)

IRO in 90 Grad ABD 67 (53–81) 67 (52–82) 65 (56–72) 64 (54–79) 61 (47–77) 61 (49–79)

ARO in 90 Grad ABD 97 (84–116) 94 (72–110) 92 (80–109) 90 (74–103) 89 (70–103) 85 (67–101)

IRO Innenrotation, ARO Außenrotation, ABD Abduktion, MW Mittelwert, 95 %-KI 95%-Konfidenzintervall

Tab. 5 Bewegungsumfang des Schultergürtels von Frauen18–30 Jahre 31–55 Jahre > 55 Jahre

Bewegungsrichtung rechts MW (95%-KI)

linksMW (95%-KI)

rechtsMW (95%-KI)

links MW (95%-KI)

rechts MW (95%-KI)

links MW (95%-KI)

Flexion 177 (154–197) 177 (160–197) 169 (151–201) 170 (156–186) 163 (147–178) 163 (145–179)

Extension 73 (62–89) 73 (62–87) 71 (63–87) 69 (60–88) 69 (62–77) 70 (61–79)

Abduktion 194 (171–215) 194 (175–221) 179 (168–207) 180 (164–200) 177 (160–191) 177 (162–190)

Adduktion 70 (59–85) 73 (62–91) 68 (60–85) 69 (62–82) 67 (57–78) 68 (58–79)

IRO in 0 Grad ABD 102 (86–122) 102 (87–117) 97 (85–114) 98 (85–113) 90 (65–112) 91 (76–107)

ARO in 0 Grad ABD 83 (70–96) 83 (68–99) 78 (61–91) 78 (61–91) 77 (61–95) 73 (52–87)

IRO in 90 Grad ABD 70 (59–84) 70 (55–90) 66 (50–84) 66 (51–80) 63 (39–74) 64 (35–77)

ARO in 90 Grad ABD 104 (90–118) 102 (89–118) 95 (86–106) 94 (80–105) 94 (84–107) 90 (81–102)

IRO Innenrotation, ARO Außenrotation, ABD Abduktion, MW Mittelwert, 95 %-KI 95 %-Konfidenzintervall

Page 5: Der passive Bewegungsumfang von gesunden Schultern; The passive range of motion of healthy shoulders;

Originalarbeit

216 | Obere Extremität 4 · 2013

Abhängigkeit des Bewegungsumfangs vom Alter

Bei den Männern nahm der Bewegungs-umfang in allen Bewegungsrichtungen mit Ausnahme der Adduktion im Alter ab (. Abb. 1). Die Flexion der rechten Schultern betrug in der Altersgruppe 1 im Mittel 170° (146–190°), in der Altersgrup-pe 2 160° (141–179°) und in der Alters-gruppe 3 153° (133–171°). Die Abnahme der Flexion betrug bei rechten Schultern 17° (links 15°), der Extension 6° (links 3°), der Abduktion 21° (links 21°), der Adduktion 0° (links 2°), der Innenrota-tion in 0 Grad Abduktion 13° (links 11°), der Außenrotation in 0 Grad Abduktion 8° (links 7°), der Innenrotation in 90 Grad Abduktion 6° (links 6°) und der Außen-rotation in 90 Grad Abduktion 8° (links 9°, . Tab. 4).

Auch bei Frauen nahm der Bewe-gungsumfang mit dem Alter signifikant ab (. Abb. 2). Die Flexion der rechten Schulter betrug 177° (154–197) in Alters-gruppe 1, 169° (151–201) in Altersgrup-pe 2 und 163° (147–178) in Altersgrup-pe 3. Die Abnahme der Flexion betrug bei rechten Schultern 14° (links 14°), der Ex-tension 4° (links 3°), der Abduktion 17° (links 17°), der Adduktion 3° (links 5°), der Innenrotation in 0 Grad Abduktion 12° (links 11°), der Außenrotation in 0 Grad Abduktion 6° (links 10°), der Innen-rotation in 90 Grad Abduktion 7° (links 6°) und der Außenrotation in 90 Grad Abduktion 10° (links 12°, . Tab. 5).

Diskussion

Die Messung des Bewegungsumfangs der Schulter ist ein wesentlicher Bestand-teil der klinischen Untersuchung und der Verlaufsdokumentation nach Schulter-operationen. Für die Beurteilung einer Bewegungseinschränkung werden die erhobenen Messwerte mit denen der Gegenseite oder mit Normwerten ver-glichen. Normwerte für den Bewegungs-umfang der Schulter finden sich in Lehr-büchern oder in Publikationen [1, 18]. Es bestehen jedoch berechtigte Zweifel dar-über, ob diese Daten zuverlässig sind. Die zugrundeliegenden Fallzahlen sind sehr klein und Faktoren, die möglicherwei-se das Bewegungsausmaß beeinflussen,

wurden nicht berücksichtigt. In unserer Studie konnten wir anhand einer gro-ßen Fallzahl einen Einfluss der Laxität, Händigkeit, Körpergröße und des Kör-pergewichts auf den Bewegungsumfang ausschließen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Bewegungsumfang von gesun-den Schultern eine große Variationsbrei-te aufweist. Kein Unterschied besteht je-doch zwischen dem Bewegungsausmaß der rechten und linken Schultern. Der Be-wegungsumfang nimmt mit dem Alter si-gnifikant ab. Frauen haben im Vergleich zu Männern in allen Bewegungsrichtun-gen mit Ausnahme der Extension einen signifikant größeren Bewegungsumfang.

Die Messung des Bewegungsumfangs mithilfe eines Goniometers ist eine stan-dardisierte und sehr zuverlässige Metho-de, wenn mögliche Fehlerquellen mi-nimiert werden [7, 10, 16]. Die rich-tige Körperposition ist genauso wich-tig wie die korrekte Anlage des Winkel-messers [12]. Um untersucherabhängi-ge Fehler zu vermeiden [7, 16, 13], wur-den alle Messungen von einem Untersu-cher durchgeführt. Der ermittelte Mess-fehler lag in Abhängigkeit von der Bewe-gungsrichtung zwischen 0,9 und 2,8 %, was einem Fehler von 2–3° entspricht. Für die Interpretation und Diskussion der Ergebnisse wurden daher nur signi-fikante Ergebnisse mit einer Differenz ≥ 3° als relevant betrachtet. Für die Er-stellung von Normwerten ist ein ausrei-chender Stichprobenumfang notwendig. Die Daten der vorliegenden Studie basie-ren auf der Untersuchung von 491 schul-tergesunden Probanden und sind damit zahlenmäßig der Datenbasis aller bishe-rigen Studien deutlich überlegen [6, 18]. Die Anzahl der Studienteilnehmer in den Altersgruppen 2 und 3 war deutlich nied-riger als in Gruppe 1. Der Grund hier-für ist, dass mit zunehmendem Alter die Anzahl der schultergesunden Probanden deutlich abnimmt.

Für die Definition von Normwerten ist es wichtig, mögliche Einflussfaktoren zu erfassen. Wir konnten einen Einfluss von Körpergröße und Körpergewicht auf den Bewegungsumfang ausschließen. In-teressanterweise fanden wir in Überein-stimmung mit Sauers et al. [18] auch kei-nen Zusammenhang zwischen Laxität und Schulterbeweglichkeit. Bei der sta-

tistischen Auswertung wurde berück-sichtigt, dass eine Altersabhängigkeit der Laxität besteht. Bei den männlichen Pro-banden stieg der Daumen-Unterarm-Ab-stand mit zunehmendem Alter von 5 auf 10 cm an, die Ellenbogen-Überstreckbar-keit nahm um 4° ab und die Hyperabduk-tion im Schultergelenk nahm um 9° ab. Bei Frauen fanden wir die gleichen Er-gebnisse.

Zur Prüfung des Einflusses der Hän-digkeit und der Seite auf den Bewegungs-umfang wurden Rechts- und Linkshänder getrennt analysiert. Sowohl bei Rechts- als auch bei Linkshändern war die Abduk-tion der rechten Schulter im Vergleich zur linken Schulter um 2°, die Außenro-tation in 0 und 90 Grad Abduktion um 3° höher und die Adduktion um 3° niedri-ger. Die gleichen Ergebnisse fanden wir bei den weiblichen Probanden. Bezüglich aller anderen Bewegungsrichtungen be-stand kein statistisch signifikanter Unter-schied. Dies steht im Widerspruch zu den Ergebnissen anderer Studien. Barnes et al. [3] und Bigliani et al. [5] fanden am do-minanten Arm eine vermehrte Außenro-tation und verringerte Innenrotation. In beiden Studien wurde jedoch nur der Be-wegungsumfang von Rechts- und Links-händern gegenübergestellt. In einer Stu-die von Günal et al. [11] wurde bei jun-gen Soldaten eine geringere Beweglich-keit der rechten Schulter gefunden. Der Unterschied betrug im Mittel 3°, ledig-lich für die Innenrotation 8°. Die Auto-ren folgerten daraus, dass der Bewegungs-umfang der gesunden Gegenseite nicht immer eine zuverlässige Kontrolle dar-stellt. Trotz statistisch nachweisbarer si-gnifikanter Unterschiede zwischen rech-ten und linken Schultern sind unserer Meinung nach unter Berücksichtigung des Messfehlers Unterschiede von nicht mehr als 3° für den klinischen Alltag nicht relevant. Wir empfehlen daher in Über-einstimmung mit Macedo et al. [14] zur Beurteilung einer Bewegungseinschrän-kung den Vergleich mit den Messwer-ten der Gegenseite. Dies gilt umso mehr, da der Bewegungsumfang von gesunden Schultern eine große Variationsbreite aufweist. Die Spannweite hängt von der Bewegungsrichtung ab und betrug bei-spielsweise für die Flexion bei männli-chen Probanden der Altersgruppe 1 146

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217| Obere Extremität 4 · 2013

Abb. 1 8 a–h Bewegungsumfang der rechten Schulter in Abhängigkeit vom Alter bei männlichen Probanden. Durchgezogene Linie: Mittelwert; gestri-chelte Linie: 95 %-Konfidenzintervall

Flexion

a b

c d

e f

g h

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

210

200

190

180

170

160

150

140

130

12010 20 30 40 50 60 70 80 90

Abduktion

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

220

210

200

190

180

170

160

150

14010 20 30 40 50 60 70 80 90

Innenrotation bei 0 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

130

120

110

100

90

80

70

6010 20 30 40 50 60 70 80 90

Außenrotation bei 90 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

130

120

110

100

90

80

70

6010 20 30 40 50 60 70 80 90

Außenrotation bei 0 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

110

100

90

80

70

60

50

4010 20 30 40 50 60 70 80 90

Adduktion

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

100

90

80

70

60

50

4010 20 30 40 50 60 70 80 90

Extension

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

100

90

80

70

60

50

4010 20 30 40 50 60 70 80 90

Innenrotation bei 90 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

100

90

80

70

60

50

40

3010 20 30 40 50 60 70 80 90

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Originalarbeit

218 | Obere Extremität 4 · 2013

Abb. 2 8 a–h Bewegungsumfang der rechten Schulter in Abhängigkeit vom Alter bei weiblichen Probanden; durchgezogene Linie: Mittelwert; gestrichel-te Linie: 95 %-Konfidenzintervall

90

90

90

90

90

90

90

Flexion

a b

c d

e f

g h

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

210

200

190

180

170

160

150

140

130

12010 20 30 40 50 60 70 80 90

Abduktion

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

220

210

200

190

180

170

160

150

14010 20 30 40 50 60 70 80 90

Innenrotation bei 0 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

130

120

110

100

90

80

70

6010 20 30 40 50 60 70 80 90

Außenrotation bei 90 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

130

120

110

100

90

80

70

6010 20 30 40 50 60 70 80

Außenrotation bei 0 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

110

100

90

80

70

60

50

4010 20 30 40 50 60 70 80

Adduktion

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

100

90

80

70

60

50

4010 20 30 40 50 60 70 80

Extension

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

100

90

80

70

60

50

4010 20 30 40 50 60 70 80

Innenrotation bei 90 Grad

Alter [Jahre]

Bew

egun

gsum

fang

[Gra

d]

100

90

80

70

60

50

40

3010 20 30 40 50 60 70 80 90

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219| Obere Extremität 4 · 2013

bis 190° (Mittelwert 170°) und für die Ab-duktion 165 bis 210° (Mittelwert 189°).

Auch beim Vergleich des Bewegungs-ausmaßes von Männern und Frauen gibt es in der Literatur unterschiedliche An-gaben. Während Murray et al. [15] nur minimale Unterschiede zwischen bei-den Geschlechtern fanden, stellten ande-re [1, 3] bei Frauen einen größeren Bewe-gungsumfang fest. In unserer Studie hat-ten Frauen im Vergleich zu Männern in allen Bewegungsrichtungen mit Ausnah-me der Extension einen bis zu 10° größe-ren Bewegungsumfang. Als möglichen Erklärungsversuch führten Allander et al. [1] das größere Maß an anstrengender Arbeit und wiederholte Mikrotraumata bei Männern an. Da wir die Unterschie-de aber auch schon bei jungen Probanden der Altersklasse 1 fanden, ist diese Erklä-rung unwahrscheinlich.

Viele Autoren beschreiben eine Ab-nahme der Schulterbeweglichkeit mit zu-nehmendem Alter [1, 3, 4, 17]. Auch wir beobachteten die Abnahme des Bewe-gungsumfangs in fast allen Bewegungs-richtungen. Beispielsweise hatten Män-ner der Altersgruppe 3 im Vergleich zu Männern der Altersgruppe 1 eine um 18° geringere Flexion und Abduktion. Bei Frauen betrug dieser Unterschied 15°. Als Ursache für die Abnahme des Bewegungs-umfangs wurden das Alter per se und al-tersabhängige strukturelle Veränderun-gen des Bewegungsapparats mit Verlust der elastischen Eigenschaften von Bän-dern und der Gelenkkapsel angeführt [8].

Fazit für die Praxis

4 Der Bewegungsumfang von gesun-den Schultern weist eine große Varia-tionsbreite auf.

4 Im klinischen Alltag ist der Vergleich des Bewegungsausmaßes mit der ge-sunden Gegenseite zur Beurteilung einer Bewegungseinschränkung zu-verlässig.

4 Der Bewegungsumfang des Schulter-gelenks ist bei Frauen in allen Bewe-gungsrichtungen um fast 10° größer als bei Männern.

4 Der Bewegungsumfang nimmt mit dem Alter signifikant ab.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. H. AnetzbergerGemeinschaftspraxis für Orthopädie und Unfallchirurgie am OEZ, Hanauerstr. 65 80993 Mü[email protected]

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interes-senkonflikt besteht.

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