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Stiſtung Demokratie Saarland Dialog 19 Bernhard Strube Landeselterninitiative für Bildung e.V. (Hrsg.) Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 Dokumentation des Wettbewerbs und der ihn begleitenden Bildungsforen zum Saarländischen Schulpreis, die die Stiſtung Demokratie Saarland und die Lan- deselterninitiative für Bildung im Kooperation mit der Gesamtlandesschülerver- tretung und –elternvertretung im Schuljahr 2007/2008 veranstaltet haben Mit Beiträgen von Prof. Dr. Ulrich Herrmann, Dr. Annemarie von der Groeben, Prof. Heinz Günter Holtappels, Prof. Anne Ratzki Redigierte Textfassungen Saarbrücken 2009

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Stift ung Demokratie SaarlandDialog 19

Bernhard StrubeLandeselterninitiative für Bildung e.V.(Hrsg.)

Der Saarländische Schulpreis 2007/2008

Dokumentation des Wettbewerbs und der ihn begleitenden Bildungsforen zum Saarländischen Schulpreis, die die Stift ung Demokratie Saarland und die Lan-deselterninitiative für Bildung im Kooperation mit der Gesamtlandesschülerver-tretung und –elternvertretung im Schuljahr 2007/2008 veranstaltet haben

Mit Beiträgen vonProf. Dr. Ulrich Herrmann, Dr. Annemarie von der Groeben, Prof. Heinz Günter Holtappels, Prof. Anne Ratzki

Redigierte Textfassungen

Saarbrücken 2009

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ImpressumDialog ist eine Reihe der Stift ung Demokratie Saarland.Die Reihe kann bezogen werden von der Stift ung Demokratie SaarlandBismarckstrße 99, 66121 Saarbrücken. Telefon (0681) 90626-0, Telefax (0681) 90626-25

Redaktion: Bernhard StrubeSatz: Karoline BommersbachGestaltung Titel- und Rückseite: kirsch-hoff Werbung & design, HeusweilerDruck und Weiterberarbeitung: Unionprint Satz und Druck GmbH, Saarbrücken

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 3

Inhalt

VorwortFriedel Läpple 7

Den Möglichkeitssinn wecken und Impulse setzen.Zur Intention der Veranstalter des Saarländischen SchulpreisesBernhard Strube 9 Qualitätsbereiche und Qualitätskriterien des Wettbewerbs 13 Jury und Projektleitung 17 Rede zur Eröff nung des Saarländischen Schulpreises:In der Pädagogik etwas bewegen – Prinzipien und Prozesse,Anstöße und Aufb rücheProf. Dr. Ullrich Herrmann, Tübingen 21 Preisträger und nominierte Schule 2007/2008Sechs Selbstporträts und die Laudatio der Jury

1. Preisträger Maria-Montessori-Grundschule Saarbrücken Rußhütte 372. Preisträger Ganztagsgesamtschule Neunkirchen 453. Preisträger Erweiterte Realschule Am Vopeliuspark Sulzbach 533. Preisträger Grundschule Merzig St. Josef 61Besonderer Preis Schule zum Broch, Förderschule geistige Entwicklung, Merzig 67Nominierte Schule Gesamtschule Bexbach 75 Was ist eine gute Schule? - Ein Beitrag zum Diskurs über Erziehung und BildungDr. Annemarie von der Groeben 87

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Ganztagsschule – Chancen für die Entwicklung von Lernkultur und FörderungProf. Dr. Heinz Günter Holtappels 109

Jeder Schüler ist anders...Vielfalt wertschätzen – individuelles Lernen fördern: Können wir von der nordischen Lernkultur lernen?Prof. Dr. Anne Ratzki 153

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 5

Was Eltern tun können?

Initiative ergreifen, Probleme öff ent-lich machen, Bildungspolitik konstruktiv kritisch begleiten. Und vor allem: sich ein-setzen für gelingende Schulen!

Landeselterninitiative für Bildung e.V.Bernhard StrubeFasanenweg 3a66129 Saarbrücken

Telefon 0163 2819959E-Mail: [email protected]

www.eltern-fuer-bildung.de

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Damit unsere Demokratie lebendig bleibt...

Bismarckstraße 99, 66121 SaarbrückenTelefon 0681 90626-0, Telefax 90626-25

www.stiftung-demokratie-saarland.de

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 7

Vorwortvon Friedel LäppleVorsitzender der Stift ung Demokratie Saarland

Der Wunsch nach einer guten Schule und Re-formen im Schulsystem ist so alt wie die Schule selbst. Der Saarländische Schulpreis, der im ver-gangenen Jahr auf Initiative der Landeselternin-itiative für Bildung und der Stift ung Demokra-tie Saarland zum ersten Mal vergeben wurde, kommt einem Grundanliegen vieler Menschen entgegen.

Mit dem Saarländischen Schulpreis werden allgemein bildende Schulen im Saarland ausgezeichnet. Der Preis würdigt die pädagogische Leistung der Schulen und macht sie für die Schulentwicklung im ganzen Land nutzbar. Der Hauptpreis ist mit 10 000 Euro dotiert. Zwei weitere Schulen erhalten Preise in Höhe von 6 000 und 4 000 Euro. Im ersten Wettbewerbsjahr gingen der Haupt-preis an die Maria-Montessori Grundschule Saarbrücken-Rußhütte und der zweite Preis an die Ganztagsgesamtschule Neunkirchen. Mit dem dritten Preis wurden zwei Schulen ausgezeichnet: die Grundschule St. Josef Merzig und die Erweiterte Realschule Am Vopeliuspark Sulzbach.

Mit dem Saarländischen Schulpreis hat die Stift ung Demokratie ihre Anstren-gungen im Bereich ihrer Bildungsarbeit deutlich intensiviert. Ich danke zu-nächst der Landeselterninitiative für Bildung, dass sie diesen Wettbewerb mit uns zusammen initiiert und insbesondere durch ihren Vorsitzenden Bernhard Strube, der auf ehrenamtlicher Grundlage die Projektleitung mit übernom-men hatte, ganz wesentlich an der Umsetzung mitgewirkt hat. Besonders aber danke ich den zahllosen Lehrern, Eltern, Schülerinnen und Schülern, die un-ter Beweis gestellt haben, dass gute Schulen möglich sind. Den Juroren und den pädagogischen Experten danken wir für ihre wertvolle Arbeit. Wir hof-fen, dass der Saarländische Schulpreis weiterhin viele Schulen motiviert, in der Schulentwicklung neue Wege zu gehen und eigene Konzepte zu erproben.

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 9

Den Möglichkeitssinn we-cken und Impulse setzen. Zur Intention der Ver-anstalter des Saarlän-dischen Schulpreises

von Bernhard Strube

„Wir suchen nach Schulen, die Lebensorte sein wollen, die sich Zeit nehmen, in denen Schüler gern und erfolgreich lernen“, hat Reinhard Kahl gesagt und sich in Deutschland aufgemacht. Reinhard Kahl ist Journalist und Autor, Re-gisseur und Produzent von Fernsehdokumentationen. Für DIE ZEIT schreibt er eine Bildungskolumne. Sein Th ema ist die Lust am Denken und Lernen und die Qual, belehrt zu werden. Er stellt ungewöhnliche Konzepte und Ideen vor - frei nach dem Motto von Goethe: „Zwei Dinge sollen Kinder bekommen: Wurzeln und Flügel“. Reinhard Kahl hat die Schulen gefunden, hat einigen von ihnen mit Ruhe und einfühlsam zugesehen und sie in seinem Film „Treibhäu-ser der Zukunft “ porträtiert. Schulen, die Hartmut von Hentig so beschreibt: „Schule, das sind in erster Linie Menschen. Sie ist keine Produktionsstätte, die - der Name sagt es - sich am Produkt ausrichtet. Ihre Arbeit besteht nicht im ‚Herstellen von ...‘, sondern im ‚Anregen, Verhelfen, Ermutigen zu ...‘. Sie ist ein Ort, an dem man den größten Teil seiner Kindheit Wichtiges lernend verbringt - möglichst so, dass man hinterher dem Leben gewachsen ist. Sie ist zwar das Ergebnis von Rationalisierung, Ökonomisierung, Normierung natürlicher Lernvorgänge, lässt sich aber nicht beliebig weiter rationalisieren, konzentrieren, regulieren, wenn sie die anerkannten Bedingungen hoher Leis-tung einhalten will: die Rücksicht auf die Vielfalt der Potenziale, die Individua-lität des Lernens und die Selbstverantwortung des sich bildenden Menschen.“

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Diesen Film von Reinhard Kahl haben wir mit allen seinen anderen über ge-lingende Schulen im ganzen Saarland gezeigt. Sie haben uns bewegt, mitge-nommen und angespornt, uns einzubringen.

• Wir brauchen Schulen, in denen Kinder und Jugendliche alle wichtigen Bildungserfahrungen machen, alle ihre Fähigkeiten und Begabungen ent-wickeln können.

• Wir brauchen Schulen, in denen Kinder und Jugendliche erfahren, dass ihr Lernen hilfreich begleitet, ihre Arbeit wertgeschätzt, ihre Leistung gese-hen und gewürdigt wird.

• Wir brauchen Schulen, die an sich selbst hohe Anforderungen stellen, sich an den eigenen Maßstäben orientieren und an ihnen ihre Arbeit selbstkri-tisch prüfen.

• Wir brauchen Schulen, in denen Kinder lernen, mit Unterschieden zu le-ben, und in denen sie so angenommen werden, wie sie sind, ohne beschämt oder für ihr Anderssein „bestraft “ zu werden.

• Wir brauchen Schulen, in denen die – nach wie vor riesige – Ungleichheit der Bildungschancen so weit wie möglich abgebaut wird.

• Denn wir wollen, dass unsere Kinder zu lebenszuversichtlichen, verant-wortlichen, politikfähigen Bürgerinnen und Bürgern unseres demokrati-schen Gemeinwesens heranwachsen.

Wer wollte das nicht unterschreiben, doch wie schwer machen es Rahmenbe-dingungen, dies umzusetzen. Wie schwierig ist es, diesen Anspruch an Schu-len auch zu leben. Es ist das Leitbild des reformpädagogischen Schulverbun-des „Blick über den Zaun“, dem in Deutschland rund 80 Schulen angehören. Fünfzehn von ihnen wurden bisher für den Deutschen Schulpreis nominiert, sechs ausgezeichnet.

Es gibt solch herausragende Schulen auch im Saarland. An ihnen tut sich im Alltäglichen oder auch in mutigen Unternehmungen viel mehr als die Öff ent-lichkeit weiß. Der Schulpreis dient dazu, auf ihre Arbeit aufmerksam zu ma-chen, sie anzuerkennen und sie für andere Schulen wirksam werden zu lassen. Wir wollen den Möglichkeitssinn wecken und Impulse in der Schulentwick-lung im Saarland setzen, indem wir Schulen hervorheben, denen bei allen Schwierigkeiten und aller Unterschiedlichkeit ihrer Rahmenbedingungen Be-

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 11

sonderes gelingt: Sie schaff en es, für Leistung und Kreativität zu begeistern, Lernfreude und Lebensmut zu stärken und zu Fairness und Verantwortung zu erziehen.

Jede Schule hat ihre lebendige Gestalt. Es geht beim Saarländischen Schulpreis nicht darum, die richtige Schule zu fi nden, sondern Schulen, die ihre Ent-wicklung vorangebracht haben, Schulen, die mit dem in den Qualitätskrite-rien skizzierten Leitbild verwandt sind. Der Weg, die Hürden, die eine Schule überwunden und die Unterstützung, die sie erfahren hat, sowie der Ausblick auf ihre weitere Entwicklung sind dabei auch maßgebend.

Der Saarländische Schulpreis setzt auf die Wirkung des Vorbildes erfolgrei-cher Praxisbeispiele. Er soll in die Schullandschaft die Nachricht tragen: So kann Schule gelingen. Erneuern können sich Schulen nur selbst. Aber sie kön-nen das nicht allein. Sie brauchen Gesellschaft . Sie brauchen Ideen und Unter-stützung, sie brauchen Aufmerksamkeit und Freundlichkeit.

Der Saarländische Schulpreis richtet sich an alle allgemeinbildenden Schu-len im Saarland; beteiligen können sich öff entliche und private Schulen jeden Typs. Veranstaltet wird der Preis von der Stift ung Demokratie Saarland und der Landeselterninitiative für Bildung e.V. in Kooperation mit der Gesamtlan-desschülervertretung und –elternvertretung. Eine unabhängige Jury mit päd-agogischen Experten aus Wissenschaft und Praxis bewertet die schrift lichen Bewerbungen und stattet neun ausgewählten Schulen einen eineinhalbtägigen Besuch ab. Sechs Schulen nominiert die Jury, davon drei als Preisträger. Der Hauptpreis ist mit 10 000 Euro ausgestattet. Zwei weitere Schulen erhalten Preise in Höhe von 6 000 und 4 000 Euro. Die ausgezeichneten Schulen sollen ihre Konzepte und Programme sowie ihre Erfahrungen an andere weiterge-ben, z.B. bei Schulbesuchen, Vorträgen und Workshops, sich selbst befl ügeln und andere zu eigener Initiative ermuntern.

Mit einer eigenen, parallel stattfi ndenden Reihe „Bildungsforum zum Saarlän-dischen Schulpreis“ schaff en die Stift ung Demokratie Saarland und die Lan-deselterninitiative für Bildung einen Ort, an dem jenseits von ideologischen Grabenkämpfen eine pragmatische und zugleich phantasievolle Debatte über Erziehung, Lernen und Bildung geführt wird. Einen Ort zum Austausch, zur

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Anregung, zur Korrektur und nicht zuletzt für die Freude am informellen Ge-spräch. Mitten im Schulleben, in Schulen selbst. Der Zeitpunkt für diese neue Reihe ist günstig. Nach dem mehr als 30-jährigen deutschen Bildungskrieg gibt es viele Anzeichen, dass auch hier zu Lande eine solche Debatte möglich wird. „Dazu gehört auch, dass die Bildungspolitik nicht den Parteien überlas-sen werden darf. Tatsächlich gibt es eine Welle von Umgründungen in Schulen und vielerorts entstehen Initiativen zur Gründung neuer Schulen. Von Eltern geht wieder ein neuer Sog aus. Junge, aber auch ältere Lehrer ziehen die Lei-denschaft für die Kultivierung ihrer Schule dem Leiden und den Klagen über Rahmenbedingungen vor“, schreibt Reinhard Kahl.

PS:In dem Maß - so denken wir - wird unsere Region Zukunft haben, wie es gelingt, die Bildung von Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln und Orte zu kultivieren, an denen Wissen, Kompetenzen und Ideen gedeihen. Kin-der und Jugendliche sollen Eigeninitiative, Unternehmensgeist, Teilhabe und Mitverantwortung sowie eine demokratische Kultur des Zusammenlebens erlernen und erleben. Ihre Bildung muss Identität stift en, Mentalität moder-nisieren sowie Kompetenz und Selbstbewusstsein schaff en. Im Saarland mit seinen aktuellen sozialen und ökonomischen Tiefenströmungen sowie dem Strukturwandel mehr als anderswo.

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Qualitätsbereiche und Qualitätskriterien

Grundlage des Saarländischen Schulpreises ist ein um-fassendes Bildungsverständnis, das in sechs Qualitäts-bereichen zum Ausdruck kommt: Qualität des Lernens, individuelle Förderung/Umgang mit Vielfalt, Schule als Gemeinwesen, Schulklima, lernende Organisation und Leistung der Schülerinnen und Schüler. Jede Schule hat ihre lebendige Gestalt. Es geht beim Saarländischen Schulpreis nicht darum, die richtige Schule zu fi nden, sondern Schulen, die ihre Entwicklung vorangebracht haben, Schulen, die mit dem in den Qua-litätskriterien skizzierten Leitbild verwandt sind. Für eine Beteiligung ist es nicht notwendig, dass eine Schule in allen Qualitätsbereichen herausragend ist. Es sind auch nicht nur aktuelle Ergebnisse entscheidend. Der Weg, die Hürden, die eine Schule überwunden und die Unterstützung, die sie erfahren hat, sowie der Ausblick auf ihre weitere Entwicklung und die Ideen, wie auch andere Schulen von dieser Erfahrung profi tieren können, sind ebenfalls von Bedeutung.

1. Qualität des LernensLernen ist weniger nur rezeptiv, fremdgesteuert und einseitig kognitiv gestaltet, sondern mehr als üblich an Erfahrung, (Selbst)Erprobung, Be-währung und Ernstfall gebunden, auch unter Einbeziehung außerschu-lischer Lernorte. Übung und Systematik ergänzen sich mit Erlebnis und Erfahrung.Schülerinnen und Schüler übernehmen teilweise selbst die Verantwor-tung für ihr Lernen. Der Unterricht und die Arbeit der Lehrenden wird auf Grund neuer Er-kenntnisse kontinuierlich verbessert.

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2. Individuelle Förderung, Umgang mit VielfaltDie Schule erkennt die Individualität der Einzelnen an; sie fördert die Kre-ativität, Eigenverantwortung und den Eigensinn der Kinder und Jugend-lichen. Die Unterrichtsgestaltung ist auf die individuellen Anforderungen der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet.Die Schule geht produktiv mit den unterschiedlichen Bildungsvorausset-zungen und Leistungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler um. Sie trägt wirksam zum Ausgleich von Benachteiligungen bei, aber auch zur sozial-integrativen Anerkennung von Unterschieden.

3. Schule als GemeinwesenDie Schule ist selbst Vorbild der Gemeinschaft , zu der und für die sie erzieht. Selbständigkeit und Verantwortung, Solidarität und Hilfsbereit-schaft , Empathie und Zuwendung werden im Alltag gelebt.Mitwirkung und demokratisches Engagement, Eigeninitiative und Ge-meinsinn werden in der Schule und über die Schule hinaus gefordert und umgesetzt.Die Schule pfl egt pädagogisch fruchtbare Beziehungen zu außerschuli-schen Personen und Institutionen (z.B. sind Träger der Jugendhilfe und sozialen Arbeit, sportlich und kulturell tätige Vereine, ansässige Berufe und Betriebe, Künstler usw. einbezogen).

4. SchulklimaDas Klima der Schule ist von gegenseitigem Respekt, Lernfreude und Anstrengungsbereitschaft geprägt. Eltern bringen sich besonders ein. Die Schule ist einladend, freundlich und anregend gestaltet. Ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche den ganzen Tag über gern und gut leben und ler-nen können, an dem Lehrer gern arbeiten, zu dem Eltern gern hingehen. Ein Ort, der für die Menschen und ihre Bildung Wertschätzung ausdrückt.

5. Lernende Organisation

Mit dem gleichen Ernst lernt die Schule selbst und arbeitet selbständig an sich, wie sie es den Kindern und Jugendlichen vermittelt. Sie hat neue und ergebnisorientierte Formen von Zusammenarbeit sowie Management eta-bliert und fördert Motivation und Professionalität ihrer Lehrenden plan-voll.

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6. LeistungDie Schule erzielt - gemessen an ihrer Ausgangslage - besondere Schüler-leistungen in den Grundfächern (Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen), in Naturwissenschaft en, im musisch-künstlerischen Bereich (z.B. Th eater, Kunst, Musik oder Tanz), ggf. in Gesellschaft swissenschaft en, im Sport oder in anderen wichtigen Bereichen (z.B. Projektarbeit, Wettbewerbe). Die Schülerinnen und Schüler können im Team arbeiten und Arbeitser-gebnisse mit Medien präsentieren.

Weitere Informationen zum Saarländischen Schulpreis im Internet unterwww.eltern-fuer-bildung.deundwww.stift ung-demokraite-saarland.de

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Jury

Dr. Hans Werner BedersdorferUniversität des Saarlandes, SaarbrückenLeitender Akademischer Direktor, Geschäft sführer des Zentrums für Lehrerbildung

Prof. em. Dr. Helmut FendPädagogisches Institut der Universität Zürich, Schweizehemaliger Ordinarius für Pädagogische Psychologie

Prof. Dr. Ulrich Herrmannehemaliger Professor für Pädagogik und Leiter des Seminars für Pädagogik an der Universität Ulm, Tü-bingen

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Ingrid Kaiserehemalige pädagogische Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, Schulberaterin, Frankfurt

Prof. Dr. Alfred SanderUniversität des Saarlandes, Saarbrückenehemaliger Inhaber des Lehrstuhls Erziehungswissen-schaft unter besonderer Berücksichtigung der Sonder-pädagogik, Mitglied des Beirates des Vereins Miteinan-der leben lernen

Gerd Wagnerehemaliger Leiter der Gesamtschule Bellevue Saar-brücken und Vorsitzender der Schulleiter an Gesamt-schulen des Saarlandes, Illingen

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Projektleitung

Bernd RaulsGeschäft sführer der Stift ung Demokratie Saarland, SaarbrückenTelefon: 0681 90626-12E-Mail: b.rauls@stift ung-demokratie-saarland.de

und

Bernhard StrubeSprecher der Landeselterninitiative für Bildung e.V., SaarbrückenTelefon: 0163 2819959E-Mail: [email protected]

ProjektassistenzChrista ReidenbachTelefon: 0681 90626-10Telefax: 0681 90626-25E-Mail: c.reidenbach@stift ung-demokratie-saarland.de

Anschrift Saarländischer Schulpreisc/o Stift ung Demokratie SaarlandBismarckstraße 9966121 Saarbrücken

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Prof. Dr. Ulrich Herrmann, Tübingen

In der Pädagogik etwas bewegen – Prinzipien und Prozesse, Anstöße und Aufb rüche

Vortrag anlässlich der Auft aktveranstaltung des Saarländischen Schulprei-ses am 10. September 2007 im Festsaal des Saarbrücker Schlosses1

1. Es bewegt sich was

Es bewegt sich was: In einigen CDU-regierten Ländern ist die heilige Kuh des dreigliederigen Schulwesens geschlachtet worden. Die Ministerialbürokratien ent decken den Übergang von Verwaltung zu Gestaltung. Stift ungen ermutigen Lehrkräft e und Schulen zu Reformen von innen und unten.

Es müsste sich noch einiges mehr bewegen: Arbeitsmarktexperten und De-mografen machen auf das Problem des Übergangs Schule – Berufsausbildung aufmerksam. Jährlich verlassen immer noch 150.000 junge Leute die staatli-chen Pfl ichtschulen ohne Abschlussqualifi kation. Banken und Gewerkschaf-ten, Verbände und Wirtschaft sforschungsinstitute rechnen die enormen Kos-ten versäumter Bildungsinvestitionen vor.2

Es gibt daher auch Bewegung in die falsche Richtung – das leuchtet angesichts der eben genannten Defi zitanalyse unmittelbar ein: Bildungsstandards und

1 Überarbeiteter Text

2 Helmut E. Klein: Direkte Kosten mangelnder Ausbildungsreife in Deutschland. In: IW-Trends – Vjschr. zur empir. Wirtschaft sforschung aus dem Institut der deutschen Wirtschaft 32 (2005), H. 4. – Volltext auch unter www. forum-kritische-paedagogik.de – Mangelnde Ausbil-dungsreife und Kosten für nachschulische Schulung müssen realistisch auf jährlich ca. 7 Milliar-den Euro angesetzt werden.

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Vergleichsarbeiten, PISA-Erhebungen und Zentralabitur – das hilft nirgends und niemandem wirklich, der mit der Schule seine Schwierigkeiten hat. Vom Wiegen wird bekanntlich die Sau nicht fett, sondern vom Füttern!

Es gibt alte Einsichten und neue Anstöße:

• Prinzipien wirksamer pädagogischer Veränderungen sind Individualisie-rung, Demokratisierung, Professionalisierung.

• Nachhaltig wirksame Lern- als Arbeitsprozesse in der Schule bedürfen anderer Zeitstruktur, anderer Arbeits- und Sozialformen, anderer Quali-fi kationsorientierung.

• Nicht Fixierung auf schulische Abschlüsse, sondern für die Schüler fl exi-ble Anschlüsse an die Berufsausbildung oder an einen weiteren Schul-/Hoch schul besuch ist angesagt!

Es gibt „Beweger“ und „Bewegungsmelder“, von denen man lernen kann: z.B. der Verbund re form pädagogischer Schulen „Blick über den Zaun“, die „Treib-häuser der Zukunft “, der Deutsche Schulpreis.3

2. Es bewegt sich was

Es bewegt sich was. Vor allem: Etwas Entscheidendes ist in Bewegung geraten: das Bewusstsein von der Unabweisbarkeit notwendiger Veränderungen im All-tag unserer Schulen und zwar in jeder Hinsicht, betreff end

• die Schulstrukturen• die schulischen „Betriebs“-Abläufe• die Rekrutierung, der Einsatz und die Fortbildung des Personals• die Schülermitverantwortung für die Schule und für sie selber• die Elternbeteiligung, ihr Interesse am Schulalltag ihrer Kinder.

3 Dokumente und Beiträge in: Ulrich Herrmann (Hrsg.): In der Pädagogik etwas bewegen. Im-pulse für Bildungspolitik und Schulentwicklung. Festgabe für Peter Kalb. Weinheim/Basel: Beltz 2007. Mit Beiträgen von Hartmut von Hentig, Wolfgang Edelstein, Susanne Th urn u.a.m.

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 23

Die Landeselterninitiative für Bildung e.V., deren Einladung wir heute gefolgt sind, hat diese Bewusstseinsänderung auf den Punkt gebracht. Ich zitiere aus dem Text „Pädagogik des Förderns“:„In Unterstützung des Appells des Schulverbunds „Blick über den Zaun“ vom November 2006 (Erklärung von Hofgeismar, 14.11.20064) fordern wir ein:

• Wir brauchen Schulen, in denen die – nach wie vor riesige – Ungleich-heit der Bildungschancen so weit wie möglich abgebaut wird.

• Wir wollen Schulen, in denen Kinder lernen, mit Unterschieden zu le-ben, und in denen sie so angenommen sind, wie sie sind, ohne beschämt oder für ihr Anderssein „bestraft “ zu werden.

• Wir wollen Schulen, in denen Kinder und Jugendliche alle wichtigen Bildungserfahrungen machen, alle ihre Fähigkeiten und Begabungen entwickeln können.

• Wir wollen Schulen, in denen Kinder und Jugendliche erfahren, dass ihr Lernen hilfreich begleitet, ihre Arbeit wertgeschätzt, ihre Leistung gesehen und gewürdigt wird.

• Wir wollen Schulen, die an sich selbst hohe Anforderungen stellen, sich an den eigenen Maßstäben orientieren und ihre Arbeit selbstkritisch prüfen.“

„In der Pädagogik etwas bewegen“ – die Landeselterninitiative hier im Saar-land ist off ensichtlich eine „Bewegerin“ mit klaren pädagogischen Zielsetzun-gen und Prinzipien für neue Anstöße. Sie hat sich jetzt – zusammen mit der Stift ung Demokratie Saarland, der Gesamtlandeselternvertretung und der Ge-samtlandesschülervertretung – durch die Schaff ung des Saarländischen Schul-preises zugleich als „Bewegungsmelderin“ konstituiert, um für die Zukunft der Schulen hierzulande die notwendigen Aufb rüche zu initiieren, zu registrieren und zu würdigen – eingedenk der Tatsache, dass dasjenige, was soeben für die Schüler gefordert wurde: ihre Arbeit wertzuschätzen und ihre Leistungen zu würdigen, genau so für die Lehrerinnen und Lehrer und für ihre Schulen im ganzen gelten muss. Wobei die selbstgesetzten und nicht die ministeriell vorgegebenen Ziele den Orientierungsrahmen abgeben müssen. Das ist zu er-läutern.

4 Text ebd., S. 238 ff .

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3. Wohin soll die Reise gehen?

Von Saarbrücken nach PISA? Wo einem die Steine eines einsturzgefährdeten Turms auf den Kopf fallen können? Um dann dort die eigene Energie dabei zu vergeuden mitzuhelfen, eine marode Bausubstanz in Schuss zu bringen? Oder vielleicht doch lieber nach Rom weiterreisen, wo vor 100 Jahren Maria Mon-tessori einen Hauptsatz aller modernen Pädagogik formulierte:

„Hilf mir, es selbst zu tun.“

Aus diesem Grund-Satz lassen sich alle wesentlichen Grundsätze für die Ge-staltung eines modernen Schulsystems ableiten.5 Ich verweise lediglich darauf und möchte heute auf einige Aspekte der Prozesse eingehen, durch die Schulen und ihr Personal sich verändern können und sollen. Ich tue dies anhand der folgenden vier Fragen: Warum – Wann und wie – Wer – Wozu?

3.1. Warum?

Die meisten Schulen sind in einem inneren und äußeren Zustand, dass sie die ihnen übertragenen Aufgaben nicht wirklich wahrnehmen können.

Die Auft ragslage und der Defi zitbefund sind eindeutig.

Auft rag: „Alle Kinder wollen dasselbe: Sie wollen lernen. Alle Schulen sollen dasselbe: Sie sollen das Lernen der Kinder ermöglichen und fördern.“6

Defi zit: „Obwohl wir wissen, dass alle Kinder danach fi ebern, selbst etwas aus-zuprobieren, selbst etwas aufzuspüren, selbst etwas zu entdecken, selbst etwas zu gestalten, behindern wir sie in ihrem Tatendrang. Obwohl wir wissen, dass Kinder nur Hilfe zur Selbsthilfe wollen, labern wir ihnen die Ohren voll und

5 Ich folge hier dem ungewöhnlichen Buch eines ehemaligen Lehrers und leitenden Schulver-waltungsbeamten: Gerd Friederich: Die betrogenen Schüler. Woran krankt unser Schulsystem? Wie ein modernes Schulsystem gestaltet werden kann! Donauwörth 2006, S. 217 ff .

6 Friederich, S. 217.

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machen alles selber. Wir meinen, es besser zu wissen. ... Obwohl wir wissen, dass unsere Schulen nur der Aufgabe verpfl ichtet sein dürft en, dass Lernen, Leisten, Lehren zu ermöglichen und bestmöglich zu fördern, haben wir ihnen viele Pfl ichten zudiktiert, die das Lernen der Kinder behindern, die Selbstän-digkeit der Schüler beeinträchtigen und die Lebenschancen der Jugendlichen schmälern, z.B. die menschenverachtende Besserwisserei, die lächerlichen Sanktionen bei Fehlern, die zirkusreifen Pirouetten bei der Leistungsmessung, die persönlichkeitsvernichtende Sitzenbleiberei.“7

Aus dieser Situation der staatlichen öff entlichen Schulen und ihrer bürokra-tischen Verregelung und Verriegelung haben sich die Schulen in Freier Trä-gerschaft befreit, und auf ihr Vorbild („Blick über den Zaun“) beruft sich die Landeselterninitiative mit vollem Recht. Und da die heutigen Veränderungen in PISA-Zeiten, die den Schulen angesonnen und aufgezwungen werden – von den Vergleichsarbeiten bis zum Zentralabitur – und die aus dem Unterrichts-betrieb als einem „geistigen Klonen“ genau das Gegenteil dessen werden las-sen, was er eigentlich bezwecken soll, muss die System- und die Strukturfrage gestellt werden.

Denn die organisatorische und juristische Schulverfassung in Deutschland steckt in einer tiefen Krise: Die Parlamente beschließen folgenreiche Geset-ze mithilfe wechselnder Mehrheitsfraktionen, so dass bei den Vorgaben des Schulbetriebs keine Stetigkeit herrscht; die Kommunen und Kreise als Schul-träger müssen den gesamten Sachaufwand der Schulen zahlen, haben aber auf die Verwendung der Mittel keinen Einfl uss; Eltern als „schulfremde Perso-nen“ haben allenfalls in marginalen Ehrenämtern Mitwirkungsfunktionen; die Schulverwaltung hat über Jahrzehnte innere Schulverhältnisse geduldet und gedeckt, die so unhaltbar sind, dass die Bundespräsidenten Rau und Köhler nicht müde geworden sind, mit deutlichen Worten hier Abhilfe anzumahnen.8

Da sich die staatliche Verwaltung – allen voran die Ministerien – für die öf-fentlichen Schulen als unfähig erwiesen hat, Personal und Betrieb für optima-les Lernen und Lehren, Arbeiten und Leisten zu organisieren und anzuleiten,

7 Ebd., S. 218.

8 Die Reden von Rau und Köhler im Internet via Bundespräsidialamt.

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Dialog 1926

sollte ihr die Verantwortung dafür entzogen werden. Das Sozialministerium betreibt ja auch keine kommunalen Krankhäuser, das Umweltministerium keine Müllabfuhrbetriebe, das Wirtschaft sministerium keine Stadtwerke – wieso das Kultusministerium das Schulwesen?

Die Alternative ist nicht die Privatisierung, denn die Schulen sind zum einen non-profi t-Einrichtungen, die sich – wie die Feuerwehr – gar nicht „rechnen“ können, und sie sind – und dies vor allem – die einzigen Einrichtungen (neben anderen Bildungseinrichtungen und Hochschulen) in öff entlicher Verantwor-tung, in denen die elementare Wertegemeinschaft aller Staatsbürger gelernt und gelebt werden soll. Wenn derzeit auch mit vielen Schulen „kein Staat“ zu machen ist: ohne Schulen ist überhaupt kein Staat zu machen! Weshalb es kein Zufall ist, dass sich die Stift ung Demokratie Saarland bei diesem Schulpreis engagiert – und es ein demokratiepraktischer Unfall wäre, wenn die Landesre-gierung dieses Engagement ignorieren würde.

Öff entliche Schulen sind wahrscheinlich besser aufgehoben – das lehren die Erfahrungen von Kommunal-9 und Schulen in Freier Trägerschaft –, wenn lo-kale (d.h. kommunale) Selbstverantwortung und Gestaltungsspielräume für Betrieb und Personal gegeben sind, d.h. aber auch zugleich die Etablierung einer kommunalen Schulverwaltungs- und -entwicklungskompetenz, einer Befähigung der Schulleitungen zu leadership und management10, eines Enga-gements des Kollegiums als „kollektivem Akteur“, der Mitwirkung der Eltern, der Vereine usw. bei der Ausgestaltung des Schullebens.

Der Saarländische Schulpreis möchte Schulen und Kommunen, Eltern und Vereine, Betriebe und Behörden anregen, neue Verbünde in neuen lokalen bzw. regionalen Schullandschaft en zu bilden, um Entwicklungen neuer Schul-strukturen mit neuen Schulkulturen zu gestalten.

9 Mit Kommunalschulen sind jene gemeint, die in vollständiger Eigenregie einer Kommune betrieben werden. Das war bis zur Weimarer Republik die Regel, heute existieren solche Schulen noch in einigen bayerischen Großstädten.

10 Rolf Dubs: Die Führung einer Schule. Leadership und Management. Stuttgart 22005.

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3.2. Wann und wie?

Nachhaltige Verbesserungen im Schulbereich und neue Schulkulturen kommen nicht durch Parlamentsbeschluss, Runderlass oder nach dem Muster „Der Minis-ter wünscht“ zustande, sondern nur aus den Kollegien selbst heraus.

Veränderungsprozesse dürfen nicht nur top-down, sondern sie müssen immer auch bottom-up, also gegenläufi g erfolgen.

Veränderungen im Schulalltag, die Lehrern und Schülern nutzen und nach-haltig sein sollen, müssen immer von innen und unten kommen, nicht von oben und außen. Von oben und außen können und müssen sie gefördert und gestützt werden, gewiss; es müssen reale Handlungsmöglichkeiten, -voraus-setzungen und Umsetzungschancen bestehen. Sie bestehen auch im gegen-wärtigen Schulsystem, werden aber zu wenig genutzt. Wo sie genutzt werden, entstehen neue Schulkulturen. Sie sichtbar zu machen und zu würdigen, ist die Absicht des Saarländischen Schulpreises.

Bevor mit diesem Auft akt heute sozusagen der Startschuss für die Bewerbun-gen gegeben wird, sollten wir jedoch kurz innehalten und uns fragen, ob unser Vorhaben realistisch ist. Denn Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter, Eltern und Schüler haben über Jahrzehnte allzu oft gerade das, was sie für richtig gefunden haben, nicht umsetzen können oder dürfen, oder sie mussten das, was sie nun gar nicht plausibel oder förderlich fanden, auf An-ordnung durchführen bzw. hinnehmen. Der Frust ist bei allen groß!

Realistischerweise sollten vor Beginn eines jeden durchgreifenden Verände-rungsprozesses von den Beteiligten daher (mindestens) zwei Dinge geprüft werden:

1. Gibt es auch gute Gründe, nichts zu tun? 2. Welcher stabile Handlungskorridor muss vor Beginn der Maßnahmen

geklärt sein.

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Dialog 1928

Zu 1:Schulleitungen und Lehrkräft e, die ohnehin „am Anschlag“ arbeiten, haben gute Gründe, sich keinen neuen Herausforderungen zuzuwenden, wenn

• das betreff ende Problem sie gar nicht betrifft bzw. außerhalb ihres Ver-antwortungsbereichs angesiedelt ist,

• Rahmenbedingungen durch eigene Aktivitäten nicht änderbar sind, • die persönliche Beteiligung an Änderungen nicht sinnvoll erscheint,• keine attraktiven Anreize gegeben sind,• keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen,• der Arbeitsaufwand zu hoch ist,• keine Gratifi kationen, auch symbolischer Art, zu erwarten sind,• kein Zugewinn an Berufszufriedenheit, Gesundheit usw. in überschau-

barem Zeitrahmen zu erwarten ist,• keine Nachhaltigkeit der Umsetzung zu erwarten ist, z.B. bei „Modell-

Projekten“,• die persönliche Lebenslage andere Prioritäten erfordert.

Veränderungswünsche müssen abprallen, Reformversuche müssen scheitern, wenn die aktive Mitwirkung derjenigen Personen, die die Maßnahmen ent-werfen und durchtragen sollen, nicht gegeben ist. Ministerielle Reformvorha-ben sind großenteils völlig illusionär, weil sie von dieser Voraussetzung mei-nen absehen zu können!

Wir wissen inzwischen aus Studien zur Lehrergesundheit und zu den Gründen der Erkrankungen bis hin zur Berufsunfähigkeit11, dass die Erwartung bzw. Unterstellung, die Mehrheit der Lehrkräft e sei zur Initiierung und Durchfüh-

11 Andreas Hillert/Edgar Schmitz (Hrsg.): Psychosomatische Erkrankungen bei Lehrerinnen und Lehrern. Stuttgart 2004. – Andreas Hillert: Das Anti-Burnout-Buch für Lehrer. München 2004. – Uwe Schaarschmidt (Hrsg.): Halbtagsjobber? Psychische Gesundheit im Lehrerberuf – Analyse eines veränderungsbedürft igen Zustandes. Weinheim/Basel 22005. – Ders. (Hrsg.): Ge-rüstet für den Schulalltag. Psychologische Unterstützungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer. Weinheim/Basel 2007. – Th emenheft „Gesund bleiben in der Schule“ (hrsg. von Ulrich Herr-mann), Heft 8/9 von: Lehren und Lernen [Neckar Verlag Villingen], 31. Jg. (2005); darin auch ein Bericht über die Präventions- und Stützungsmaßnahmen auf Landes- und Regionalebene in Rheinland-Pfalz.

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rung von Reformvorhaben gesundheitlich und motivational in der Lage, krass an der Realität vorbei geht. Das Gegenteil ist nämlich der Fall: Es ist nur eine kleine Minderheit!

Zu 2: Wenn man sich einer neuen Herausforderung zuwenden will, sollte folgende checklist abgearbeitet werden:

• Was ist dem Auft raggeber das Vorhaben wert? Finanzielle Budgets, personelle Ressourcen, Ermittlung und Konkretisie-rung der Zielvorgaben

• Kann die Unterstützung externer Berater in Anspruch genommen wer-den?

• Wie wird der Erfahrungsaustausch und die Kooperation mit ähnlichen Vorhaben organisiert und fi nanziert?

• Auf welchen Zeitrahmen ist das Vorhaben angelegt? Folgende Erfahrungswerte können dabei zugrunde gelegt werden:(1) Zeitrahmen für das Umdenken in den Köpfen: zwei Jahre ein Jahr Information und Training ein Jahr Vertiefung, Wiederholung, Lernen am Beispiel(2) nach 5 Jahren kann die neue Struktur ein Selbstläufer sein, für eine Schule im ganzen sollte man 10 Jahre ansetzen.

• Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Start? Nicht in Krisenzeiten oder bei Ressourcenüberforderung beginnen

Nebenbei: Macht man sich das Durchschnittsalter der Lehrkräft e klar (Mitte 50), bemisst man die Stabilität des Handlungskorridors auf maximal eine Le-gislaturperiode, setzt man aber den Zeitrahmen für die nachhaltige „Umkrem-pelung“ einer Schule mit 10 Jahren an, stellt man in Rechnung, dass jeder die Früchte seines Wirkens noch „im Dienst“ ernten möchte – dann kann es nicht verwundern, wenn es aus den meisten Schulen tönt: „Mit uns nicht (mehr)!“

Ausnahmen bestätigen, dass die Regel anders lautet. Also: Wenn die wesent-lichen Punkte dieser Checklisten positiv beantwortet sind, bleibt die Frage danach, welche Motive bei welchem Akteur – Schulleitung, Kollegien, die

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Lehrkräft e – eigentlich im Spiel sind oder sein sollten und welche Eff ekte/Er-gebnisse erwartet werden.

3.3. Wer?

Akteure in Veränderungsprozessen müssen am Ende einen konkreten Zugewinn für sich und ihren Arbeitsalltag erwarten können. Worin besteht er?Die Sozialpsychologie (Maslow) hat eine Hierarchie der Motive gefunden, die menschliches Handeln initiieren und leiten können. Man unterscheidet Defi -zit- und Wachstumsmotive, in aufsteigender Linie von den basalen Defi ziten bis zur höchsten Stufe der Selbstverwirklichung12:

• Defi zitmotivephysiologische Bedürfnisse wie Hunger, Durst, SchlafenSicherheitsmotive wie Schutz, Vorsorge, AngstfreiheitSoziale Motive wie Kontakt, Liebe, ZugehörigkeitIch-Motive wie Anerkennung, Status, Prestige, Achtung

• WachstumsmotiveSelbstverwirklichung

Selbstverwirklichung ist das stärkste Handlungsmotiv überhaupt, weshalb Veränderungen in Institutionen hier ansetzen müssen, wenn sie Erfolg haben sollen. Wie hat man sich das vorzustellen?

Dem Bedürfnis nach persönlicher Selbstwirksamkeit und Entfaltung – d.h. dem Bedürfnis, nicht nur ohnmächtiges Rad im Getriebe zu sein – wird durch spe-zifi sche berufl iche Aufgabenmerkmale entgegengekommen, die zu spezifi schen positiven psychischen Erlebniszuständen führen, was wiederum zu spezifi schen positiven Auswirkungen auf die Arbeit und Arbeitsleistung, auf Berufserfolg und Berufszufriedenheit und damit auf die Abwesenheit von tätigkeitsbedingter Krankheit führt:

12 Zum Folgenden: Friedemann W. Nerdinger: Motivation und Handeln in Organisationen. Stuttgart 1995.

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Aufgabenmerkmale Erlebniszustände Auswirkung

Anforderungsvielfalt, Erlebte Bedeutsamkeit hohe intrinsischeGanzheitlichkeit und der eigenen Arbeitstä- MotivationBedeutsamkeit der tigkeitAufgaben hohe Qualität der ArbeitsleistungAutonomie Erlebte Verantwortung für die Ergebnisse der hohe Arbeitszu- eigenen Tätigkeit friedenheit

Rückmeldung aus der Wissen über die Resul- niedrige Abwesen-Aufgabenerfüllung tate und die Qualität der heit und Fluktuation13

eigenen Arbeit

Übrigens: Was hier für Lehrkräft e gilt, gilt für Schüler nicht minder!

Diese Übersicht verdeutlicht, dass die Erlebniszustände sozusagen das „Schmier mittel“ darstellen zwischen der Art der Aufgabenstellungen und -wahrnehmungen auf der einen und den gewünschten Eff ekten auf der ande-ren Seite. Der Saarländische Schulpreis setzt ebenfalls hier an: nicht bei Auf-forderungen, sondern bei der Einladung, sich Gewissheit über die Qualität der eigenen Arbeit zu verschaff en.

3.4. Wozu?

Alle Veränderungen müssen zu mehr Erfolg und Zufriedenheit, zu mehr Entlas-tung und gleichzeitig höherer Produktivität führen.

Man kann sicherlich auch noch andere „Unternehmens“- bzw. change-manage-ment-Ziele auff ühren. Für Schulen gelten andere Ziele als für das produzieren-de Gewerbe und andere Maßstäbe als Gewinne und Kapitalrenditen.

13 Nerdinger, a.a.O. – Vgl. auch Uwe Kleinbeck: Arbeitsmotivation. Entstehung, Wirkung und Förderung. Weinheim/München 1996.

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Gleichwohl bleibt auch hier im Zentrum die Produktivität. Nur handelt es sich hier um geistige Produktivität der Schülerinnen und Schüler, ihre Kreativität und Lernlust, ihre Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit. Das hat mit PISA-Rankings soviel zu tun wie der DAX-Index mit der Zufriedenheit der Belegschaft en. Im Klartext: Alle Veränderungen müssen den Lehrenden und Lernenden mehr Erfolg und Zufriedenheit nicht zuletzt dadurch vermitteln, dass die einen – die Lehrenden – Entlastung erfahren und die anderen – die Lernenden – bessere Arbeitsergebnisse erzielen.

Damit sind die pädagogischen Ziele ins Auge gefasst, wenn es darum geht, in der Pädagogik etwas zu bewegen. Es geht vorrangig nicht um Schülerleistun-gen als solche, noch dazu auf Knopfdruck zum Termin, schon gar nicht um öde Memorierpirouetten. Sondern: Der Weg ist das Ziel!

Was mit dieser Losung der alten, fast vergessenen Methodik gemeint ist, macht man sich rasch klar am Beispiel des Jakobsweges nach Santiago di Compostela. Nicht das Ankommen in der Wallfahrtskirche ist das Ziel, sondern das Unter-wegssein; die Erfahrung der Anstrengung, der Gespräche mit den Mitwande-rern; das Schweigen, die sinnliche Erfahrung von Zeit und Raum.

Wenn Schulen den Grundsatz „Der Weg ist das Ziel“ befolgen, dann

• kann sich jeder Schüler auf seine Weise, mit seinen Etappen, mit seinen Weggefährten auf den Weg machen; er kann seine Umwege gehen, seine Geschwindigkeit wählen; wichtig ist nur, dass er das Ziel nicht aus dem Auge verliert. Und genau dies muss gelernt und geübt werden!

• freut sich jeder Schüler über seine erreichten Etappenziele; manche ma-chen die Erfahrung, dass die Kräft e nicht bis „Santiago“ reichen, aber alle haben gelernt, wie man Ziele erreicht.

Nicht anders verhält es sich mit der Schule selber: Wenn sie sich auf den Weg macht, wird sie manche Ziele vielleicht nie erreichen, aber dafür andere und vielleicht attraktivere, die erst am Wegesrand zu entdecken waren. Die Einla-dung zur Teilnahme am Saarländischen Schulpreis ist die Einladung zu einer solchen Entdeckungsreise! Und jede teilnehmende Schule wird einen Gewinn haben: die Erfahrung der Reise zu sich selbst!

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Bei der Auslobung des Saarländischen Schulpreises wurde hierzu festgehalten:

„Der Preis würdigt beides, den Weg und die Ziele besonders guter Schulen. Nicht der einmal erreichte Stand ist ausschlaggebend. Einbezogen wird die ge-samte Entwicklung einer Schule: ihr eigener Weg, die besonderen Vorausset-zungen, Chancen und Schwierigkeiten und ebenso die weitere Entwicklungs-planung. Entscheidend ist deshalb nicht, ob eine Schule schon als herausra-gend in der Bildungslandschaft bekannt ist. Angesprochen werden vielmehr gerade auch solche Schulen, die sich noch am Anfang eines Weges sehen und sich dabei durch besonderes Engagement, innovative Methoden und quali-tätswirksame Entwicklungsschritte auszeichnen.“

In PISA-Zeiten scheint der „Schulzweck“, wie man früher sagte, in Verges-senheit geraten zu sein. Heute scheint das Erreichen von PISA-Percentilen in Rankings Schulzweck – Selbstzweck. Absurd. Die Schule ist eine Veranstaltung zu einem anderen Zweck, nämlich der Ermöglichung in einen anderen beruf-lichen oder schulischen Übergang, des Angebots von Qualifi kations- und Bil-dungs-, d.h. Selbstfi ndungserfahrungen, der Erfahrung des Miteinander (polis, wie Hartmut von Hentig sagt).

Schulen in PISA-Zeiten sollen, müssen Schulen der Privilegierung und Be-nachteiligung sein, und das können sie systemisch nur durch Auslese, Ent-mutigung und Dequalifi zierung vollziehen. An die Stelle der Bildungs- ist die Unterrichtsvollzugsanstalt getreten – wenn nicht Lehrer und Eltern dem unter der Hand beherzt entgegengetreten sind (und das sind nicht wenige!). Diese Fehlentwicklung haben nicht nur Schüler und Eltern, sondern vor allem auch die Lehrer auszubaden (wie der exorbitante Krankenstand zeigt).

Gegen diese negative Abwärtsspirale gibt es nur ein Heilmittel: die Rückbe-sinnung darauf, was Menschen in ihrem Selbstverwirklichungsstreben stärkt:

Zuwendung und UnterstützungErfolgsaussichten und Belohnung

Motivation und Leistungsbereitschaft Erfolg und Anerkennung

Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit

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4. Der saarländische Schulpreis

Damit sind wir bei den beiden Schlussfragen angekommen: Bei wem und durch was kann der Saarländische Schulpreis etwas zum Besseren hin in Be-wegung setzen? Wofür möchte er „Beweger“ und „Bewegungsmelder“ wer-den?

4.1. Wer soll sich angeregt fühlen?

• zuerst Schulleitungen; denn ohne sie „geht gar nichts“• dann Lehrerteams (wie sie jetzt die Bosch-Stift ung im „Lehrer-im-Team“-

Programm fördert); denn einer allein erreicht nichts• Schülergruppen; denn es ist ein Unding, dass die größte Zahl der Perso-

nen in einer Schulgemeinde darin die geringsten eigenständigen Aufga-ben und Verantwortungen wahrzunehmen hat

• die Kommune und die Eltern; die Bildungsinitiative und der Schulpreis im Saarland, das soll nochmals ausdrücklich hervorgehoben werden, ist eine Elterninitiative!

• Schließlich: Ach, die Kultusbürokratie und die Schulverwaltung! Es wäre viel gewonnen, sie würde sich künft ig weniger ihren Verwaltungs- und mehr ihren Gestaltungsaufgaben zuwenden und vor allem: Mehr Bewe-gung zulassen! Denn wir haben oben gelernt, dass ohne den Erlebnis-zustand der eigenen Verantwortung und Wirksamkeit vom Personal allenfalls Routine zu erwarten ist.

4.2. Was soll angeregt werden?

Der Schulpreis nennt 6 Bereiche:

• Qualität des Lernens: Erfahrung und Selbsterprobung, Bewährung und Ernstfall

• Individuelle Förderung, Umgang mit Vielfalt: Förderung von Kreativität, Eigenverantwortung und Eigensinn der Kinder und Jugendlichen

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• Schule als Gemeinwesen: demokratisches Engagement, Eigeninitiative, Gemeinsinn

• Schulklima: Respekt, Lernfreude, Anstrengungsbereitschaft , Wertschät-zung

• Lernende Organisation: die Schule arbeitet an sich selbst• Leistung: Präsentation von Arbeitsergebnissen in Projektarbeiten usw.

Angeregt werden sollen Schulen, sich folgenden Leitgedanken anzunähern:

„Die Schule ist einladend, freundlich und anregend gestaltet. Ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche den ganzen Tag über gern und gut leben und lernen können, an dem Lehrer gern arbeiten, zu dem Eltern hingehen. Ein Ort, der für die Menschen und ihre Bildung Wertschätzung ausdrückt.“

Deutsche Reformschulen der Gegenwart, die schon ein Stück des Weges hinter sich gebracht haben, belehren uns – das ist gerade in PISA-Zeiten wichtig! –, dass wenn Schule so gestaltet und empfunden wird – wie die Laborschule in Bielefeld und die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden –, man sich um die Leistungen, die in ihr hervorgebracht werden, keine Gedanken mehr machen muss. Die freiwillig bestellten PISA-Prüfer besahen ihre Befunde und dachten, sie wären in Finnland...

Finnland ist da, wo Kommunen, Schulen, Lehrer und Eltern „Finnland“ statt-fi nden lassen. Man muss sie nur lassen! Dazu möchte der Saarländische Schul-preis einen Beitrag leisten! Im Sommer 2008 werden wir wissen, was uns ge-lungen ist.

Ich danke Ihnen für Ihr so überaus zahlreiches Erscheinen in diesem Festsaal des Saarbrücker Schlosses – der im Sinne des Schulpreises sinnenfällig macht, wie in Vergangenheit Moderne einziehen kann –, und wünsche im Anschluss gute Gespräche und der Jury des Schulpreises gutes Gelingen!

Autor: Prof. Dr. Ulrich HerrmannEngelfriedshalde 101, 72076 Tübingen, Tel. 07071/[email protected]; www.medienfakten.de/uherrmannwww.forum-kritische-paedagogik.de; www.paedagogisches-journal.de

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1. PreisträgerMaria-Montessori-Grundschule Saarbrücken Rußhütte(Preis 10 000 Euro)

Laudatio der Jury

Prof. Dr. Ulrich Herrmannehemaliger Professor für Pädagogik und Leiter des Seminars für Pädagogik an der Universität Ulm, Tübingen

Wer zur Maria-Montessori-Grundschule nach Saarbrücken-Russhütte kommt, vermutet in dieser Umgebung kein pädagogisches Juwel – eine Schule, die eine Chance als Versuchsschule bekam und diese Chance mit außerordentlichem Engagement der Lehrerinnen und Erzieherinnen, der freien Mitarbeiter und nicht zuletzt der Eltern überaus erfolgreich genutzt hat. Dafür gibt es ein un-übersehbares äußeres Indiz: Diese Schule war vor fünf Jahren wegen geringer Anmeldezahlen von Schließung bedroht – heute kann sie nur die Hälft e der Kinder, die deren Eltern hier gern einschulen möchten, aufnehmen.

Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 – 4 lernen in „jahrgangsgemischten Familienklassen“, altersgemischt, also voneinander, und sie werden altersge-mischt unterrichtet, also miteinander, und dieses „Miteinander“ prägt das Kli-ma des ganzen Schullebens bis hin zum gemeinsamen Mittagessen und den freiwilligen Aktivitäten am Nachmittag. Die großen Räume und Flure des al-ten Schulgebäudes – mit dem die Kinder sorgsam umzugehen gelernt haben und das eine auff rischende Renovierung verdiente – und die große Sporthalle begünstigen das alltägliche Leben und Lernen, das Spielen und Feiern. An die-ser Schule herrscht Ruhe, weil die Kinder Bewegungsraum haben. Ansonsten bemängeln die Kinder das unwirtliche Schulgelände und beklagen vor allem, dass man ihnen den Wackelbalken weggenommen hat.

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Diese Schule verkündet in ihrem Leitbild: „Wir respektieren die Persönlichkeit des Kindes und begegnen ihr mit Achtung.“ „Unser Ziel ist es, Kinder zu star-ken Persönlichkeiten zu erziehen, die sozial kompetent sind, ihre Kreativität entfalten und Eigenverantwortung für ihren Lernprozess übernehmen.“ „Wir wollen, dass die Kinder mit Lust lernen und neugierig bleiben.“ Diese Schule verkündet ihr Leitbild nicht nur, sie verwirklicht es. Täglich.

Diese Schule – die Lehrerinnen und Erzieherinnen, die Freizeitbetreuerinnen und die Eltern – hat sich auf den Weg einer überaus erfolgreichen Schulent-wicklung gemacht: Die Kinder arbeiten konzentriert und selbstsicher, sie sind ruhig und angstfrei, hilfsbereit und freundlich. Lernen heißt in dieser Schule: selbstbestimmt und kooperativ, interessegeleitet und ergebnisorientiert arbei-ten und das Lernen lernen. Den Kindern bleibt sinnloser Leistungsdruck er-spart, daher können sie ihre Potenziale und Stärken ungestört entwickeln und entfalten.

Die Atmosphäre der Lernumgebung und des Umgangs mit den Erwachsenen bietet ihnen ein zweites Zuhause. Was könnte Schöneres von einer Schule ge-sagt werden!

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Am Hof 2866113 SaarbrückenTel.: 0681 41143Fax: 0681 41620021

E-Mail: [email protected]

Die Maria-Montessori-Grundschule Rußhütte ist eine kleine Schule mit 112 Kindern. Sie erhielt 1990 den Namen Montessorischule. Seit dem Schuljahr 2003/2004 besteht der Schulversuch „Familienklassen“. Heute lernen in allen fünf Klassen Kinder aus vier verschiedenen Jahrgängen (1. bis 4. Schuljahr) miteinander. Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf fi ndet in 4 von 5 Klassen statt.Bedingt durch die sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder und die jahrgangsgemischten Klassen, spielen diff erenzierte Unterrichtsfor-men eine große Rolle im Schulalltag der Montessorischule Rußhütte. Über die Hälft e der Kinder besuchen die KOOP, die nachschulische Betreuung, deren Träger ein Elternverein ist. Dort werden sie von drei pädagogisch ausgebil-deten Fachkräft en und vier Honorarkräft en betreut. Sie nehmen dort ein ge-meinsames Mittagessen ein, das vor Ort von einem Koch zubereitet wird. Sie erledigen ihre Hausaufgaben und verbringen ihre Freizeit dort.

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Dialog 1940

Leitbild der Maria Montessori-Grundschule

Das Kind

Wir respektieren die Persönlichkeit des Kindes und begegnen ihr mit Ach-tung. Wir möchten jedem Kind ermöglichen, seinen individuellen Weg des Lernens zu gehen. Dabei wollen wir es liebevoll und konsequent begleiten. Durch die vorbereitete Umgebung kann das Kind nach seinen Fähigkeiten und Interessen tätig werden.

Erziehung

In unserer Schule bilden die Kinder, Pädagogen und Eltern eine Erziehungsge-meinschaft . Unser Ziel ist es, Kinder zu starken Persönlichkeiten zu erziehen, die sozial kompetent sind, ihre Kreativität entfalten und Eigenverantwortung für ihren Lernprozess übernehmen.

Lernformen

In unseren Klassen lernen Kinder aus allen Jahrgangsstufen von- und mit-einander. Unser Tag beginnt mit einem off enen Anfang und der Freiarbeit. Individuelles Arbeiten und gemeinsames Tun sind unsere Arbeitsprinzipien. Daher bevorzugen wir soziale und handlungsorientierte Methoden des Ler-nens, wie Partner-, Gruppen-, Werkstatt-und fächerübergreifende Projektar-beit. Wir wollen, dass die Kinder mit Lust lernen und neugierig bleiben. Wir fördern und fordern heraus.

Lernprozess und Bewertung

Wir ermöglichen jedem Kind die Erfahrung, dass es etwas kann. Neben den Lernergebnissen steht für uns der Arbeits- und Lernprozess des Kindes im Mittelpunkt. Daraus ergibt sich auch unser Leistungsbegriff . Wir bevorzugen aussagekräft ige, verbale Formen der Bewertung und Elterngespräche. Hierbei geht es immer um den Entwicklungsstand und die Lernfortschritte des Kin-des. Noten erteilen wir erst Ende des dritten Schuljahres.

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Schulgemeinschaft

Wir geben unserer Schule durch gemeinsames Handeln Stärke und Vielfalt. Die Mitwirkung aller Eltern bei der Gestaltung des Schullebens wird aus-drücklich gewünscht und ermöglicht.

Familienklassen

„Wenn man die Unterschiedlichkeit von Kindern, was ihre Begabungen, ihre Fähigkeiten, ihre Herkunft usw. angeht, nicht nur erkennt und akzeptiert, son-dern geradezu schätzt, dann ist Heterogenität von (Lern-) Gruppen nicht län-ger ein lästiges Problem, sondern eine pädagogische Chance.“ Wie in der Familie und im Kindergarten so lernen in den fünf jahrgangsge-mischten Schulklassen unserer Schule Kinder verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gemeinsam. Sowohl die Jüngeren als auch die Älteren profi tieren von jahrgangsgemischten Klassen. Jüngere Kin-der sehen, was ältere schon können und werden dadurch motiviert. Kinder, die im Lernprozess schon weiter vorangeschritten sind, haben dadurch bes-sere Entwicklungsmöglichkeiten. Ältere Kinder haben die Möglichkeit, durch praktische Vermittlung ihres Wissens an die jüngeren, ihr Wissen zu vertiefen und Arbeiten zu wiederholen, in denen sie selbst noch unsicher sind. Kinder können untereinander Sachzusammenhänge oft viel besser erklären. Auch Re-geln, Rituale und Arbeitsvereinbarungen werden von den älteren Kindern an die Jüngeren weitergegeben. Durch dieses so genannte „Helfersystem“, erhal-ten gerade auch schwächere Kinder die Rückmeldung, dass sie etwas können. Langsamer lernende Kinder können bei Bedarf fünf Jahre in der Schule ver-bleiben, ohne dass sie die Klasse wechseln müssen, bevor sie auf eine weiter-führende Schule gehen.

Schneller lernende Kinder können bei entsprechenden Fähigkeiten bereits nach drei Jahren die Grundschule verlassen („Springen“ ohne Gruppen- und Lehrerwechsel). Regeln und Rituale setzen sich viel leichter durch, weil junge Kinder die älteren einfach nachahmen.

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Dialog 1942

Jahrgangsübergreifende Klassen aus Sicht der Kinder:

„ Ich fi nde gut, dass ich der Pate von Benedikt bin. Ich darf seinen Mathemax und sein Entenheft kontrollieren, das macht mir Spaß.“ (Elisa, 2. Klasse)„Wenn ich bei der Lesekartei nicht weiter weiß, frag ich Marie, die hat das ja schon alles gemacht.“ (Jana, 2. Klasse)„Adrian kontrolliert und unterschreibt mir alles, wenn ich einen Fehler ma-che, radiert er es aus, dann muss ich es neu machen.“ (Leon, 1. Klasse)„Manchmal schreibt mir Jana „Klasse“ oder „prima“ unter eine Seite, dann freue ich mich.“ (Lotte, 1.Klasse)„Ich kann gut nähen. Ich habe sogar dem Marvin aus der 4. Klasse den Faden eingefädelt.“ (Jan, 2. Klasse)„Ich fi nde das selbst geschriebene Drachenbuch von Benjamin (2. Klasse) in-teressant.“ (Marvin, 4. Klasse)„Wenn ich Marie die Einmaleinsaufgaben kontrolliere, übe ich sie selber noch einmal.“ (Pierre, 4. Klasse)

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Freiarbeit und vorbereitet Umgebung

Die Einführung der Familienklasse brachte auch eine komplette Veränderung des Unterrichts mit sich. Kernstück unserer heutigen Arbeit ist die Freiarbeit in der vorbereiteten Umgebung. Sie ermöglicht und fördert das selbstständi-ge Tun. Das Prinzip „Hilf mir, es selbst zu tun“ ist kennzeichnend für den Unterricht an einer Montessori-Schule. Unsere Klassenräume sind die „Vor-bereitete Umgebung“ für die Kinder. Jeder Klassenraum ist ein Arbeitsraum, ausgestattet mit didaktisch wertvollen Arbeitsmaterialien, die die Kinder für ihre selbständige Arbeit brauchen. Durch die Lehrerin oder durch ältere Kin-der erfahren die Kinder, welche Materialien ihnen zur Verfügung stehen. Sie haben Interessen und wollen ihre Vorhaben verwirklichen. In diesem päda-gogisch vorstrukturierten Raum haben die Kinder einen relativ großen Ent-scheidungsspielraum:Jedes Kind kann wählen• was und womit es arbeiten, sich beschäft igen will,• an welchem Platz es arbeiten will,• mit wem es arbeiten will,• wie lange es an einer Sache arbeiten will.

Freiarbeit in der Montessori-Schule Rußhütte

Jeder Unterrichtstag beginnt in allen fünf Klassen mit der Freiarbeit. Die Kin-der kommen zwischen 7.45 Uhr und 8.00 Uhr in die Schule (off ener Anfang). Sie ziehen ihre Hausschuhe an und gehen in ihre Klasse. Dort wählen sie eine neue Arbeit aus oder setzen eine Arbeit vom Vortag fort. Die Kinder arbei-ten mit Montessorimaterialien, anderen Freiarbeitsmaterialien oder an freien Th emen. Die Phase der Freiarbeit geht bis 10:30 Uhr. Dann schließt sich eine Vorstellrunde an. Hier haben die Kinder die Möglichkeit, Arbeiten zu präsen-tieren. Es werden zum Beispiel selbst geschriebene Geschichten vorgelesen, Gedichte und Referate vorgetragen oder Rechenrätsel gestellt.Während der Freiarbeit stehen die Lehrerinnen den Kindern beratend zur Sei-te. Sie führen Material ein oder dokumentieren die Lernwege der Kinder.

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Dialog 1944

Ausblick:

Im Moment hat jede Lehrerin ein eigenes Dokumentationssystem. Ziel für die nahe Zukunft ist es, ein geeignetes Dokumentationssystem zu entwickeln, wel-ches dann von allen Lehrerinnen angewandt wird.In diesem Schuljahr haben alle Kinder angefangen, Lerntagebücher zu führen. Die Kinder dokumentieren dadurch täglich ihre Lernwege. Mit dieser Hilfe sollen sie ihre Arbeit strukturieren können. Durch eine vom Landesinstitut für Pädagogik und Medien durchgeführte Evaluation dieser Lerntagebücher soll ihre Wirkungsweise überprüft werden.

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 45

2. PreisträgerGanztagsgesamtschule Neunkirchen

(Preis 6 000 Euro)

Laudatio der Jury

Prof. Dr. Alfred SanderUniversität des Saarlandes, Saarbrückenehemaliger Inhaber des Lehrstuhls Erziehungswissenschaft unter besonderer Be-rücksichtigung der Sonderpädagogik, Mitglied des Beirates des Vereins Mitein-ander leben lernen

Die Gesamtschule Neunkirchen ist eine echte Ganztagsschule, d.h. alle Schü-ler und Schülerinnen nehmen am Ganztagsschulleben teil, und sie tun es of-fensichtlich gern und mit Gewinn. Wir sahen, dass die Schule für die Kinder und Jugendlichen zu einem wichtigen Lebensmittelpunkt geworden ist, der sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und im schulischen Lernen wesentlich fördert. Uns beeindruckten die freundliche soziale Atmosphäre, die in dieser großen Schule herrscht, und der vertrauensvolle Umgang zwischen den rund 800 Schülern und ihren Lehrerinnen und Lehrern. Auch die Elternvertretung, den Förderverein und die Schulsozialarbeit haben wir als wichtige aktive Mit-gestalter der Schule kennen gelernt. Alle Beteiligten verstehen die Entwick-lung des Gemeinwesens Schule als ihre gemeinsame Aufgabe.

Im Unterricht sahen wir viele Formen intensiven selbstständigen Lernens in Gruppen, mit Partnern oder einzeln. Bei Bedarf fi ndet individuelle Förderung im „Methodentraining“ statt. Die Verschiedenheit der Schüler wird voll ak-zeptiert. Die Schule geht kreativ mit der Vielfalt der Schüler um. Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden nicht fortgeschickt, sondern pädago-gisch integriert; Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund werden bei Bedarf besonders unterstützt. Die Schule darf die Auszeichnung „Schule ohne Rassismus“ führen.

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Dialog 1946

Schulleitung, Lehrerkollegium und Elternvertretung sind mit Recht stolz dar-auf, dass alljährlich deutlich mehr Schülerinnen und Schüler weiterführende Schulabschlüsse erreichen, als sechs bzw. neun Jahre vorher beim Übergang aus der Grundschule prognostiziert worden waren. Vor dem Hintergrund schwieriger Rahmenbedingungen, unter denen die Gesamtschule Neunkir-chen arbeiten muss, ist auch dies eine außerordentliche Leistung. Die Schule erfüllt die Qualitätskriterien der Preisausschreibung in hohem Maß.

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Ganztagsgesamtschule Neunkirchen – gemeinsam lernen und leben

Die Schule

Die Ganztagsgesamtschule Neunkirchen befi ndet sich im Zentrum der ehe-maligen Hüttenstadt Neunkirchen/Saar, nach dem Niedergang von Kohle und Stahl eine strukturelle ökonomische Problemregion. Die Schule wurde 1986 auf Drängen einer Elterninitiative als Ganztagsschule gegründet. Die jährliche Nachfrage zum Eintritt in die 5. Klasse ist heute größer als das Platzangebot. An der Schule leben und lernen derzeit etwa 8oo Schülerinnen und Schüler. Eine wichtige Stütze der Schule sind die Eltern, die sich in vielfältiger Weise sowohl in den Schulalltag, aber auch in besonderen Veranstaltungen einbrin-gen. Im Vorstand des Fördervereins, der neben anderen Aufgaben die Mensa und Cafeteria organisiert, arbeiten Schüler, Eltern und Lehrer eng zusammen. Mensa und Cafeteria sind wichtige Treff punkte an unserer Schule. 300 Schüler und Schülerinnen nehmen täglich am Mittagessen teil, das über den Förder-verein kostengünstig organisiert wird.

Pädagogische Grundsätze und Ziele

Selbsttätigkeit und Handlungssicherheit müssen in einer sich rasch verän-dernden Welt wichtige Ziele des Lernens in der Schule sein, deshalb stehen an unserer Schule fachunabhängige und fachübergreifende Kompetenzen gleich-berechtigt neben fachlichen Inhalten. Lernen dient nicht nur der Aneignung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Kompetenzen, sondern vor allem auch der Selbstentfaltung der Persönlichkeit, insbesondere der Entfaltung von Kreati-vität.Unserer Ansicht nach kann es keinen guten Unterricht geben, wenn er nichtin andere Bereiche des Lebens eingreift und von ihnen beeinfl usst wird.Lernen fi ndet an unserer Schule immer mehr in individualisierten und koope-rativen Formen statt. Durch Tischgruppenarbeit, Helferprinzip, Selbstorgani-siertes Lernen usw. können Diff erenzierungen in vielen Bereichen realisiert

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Dialog 1948

werden mit dem Ziel, der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler in ih-ren Lernvoraussetzungen Rechnung zu tragen.Wichtige pädagogisch-methodische Vorgehensweisen sind

• die Methodenwoche: Zu Anfang eines jeden Schuljahres fi ndet in allen Klassen und Teams eine Methodenwoche statt, die sich an einem einheit-lichen verbindlichen Curriculum, das von einer Arbeitsgruppe der Schule erstellt wurde, orientiert.

• Methodenlernen in allen Klassenstufen mit unterschiedlichen Schwer-punkten: Arbeitsorganisation, Lernen lernen, Zuhören, Informationen be-schaff en, Visualisieren/Präsentieren

• Gruppentraining: Erfassen von Aufgabenstellungen, Ermittlung von Lö-sungswegen, Auft eilung und Durchführung der Arbeit, Zusammenführung und Präsentation der Ergebnisse, Refl exion der Vorgehensweise.

Schülerinnen und Schüler übernehmen an der Schule in unterschiedlichen Bereichen Aufgaben, die der Schulgemeinschaft zugute kommen und werden so in ihrer Sozialkompetenz gefördert. Sie organisieren z.B. die Ausleihe in derSchulbibliothek, warten die PC-Räume, leiten Arbeitsgemeinschaft en, lassen sich zu Schreibberatern und zu Streitschlichtern ausbilden.

Der Ganztagsbetrieb

GanztagsschuleAn der Ganztagsschule Neunkirchen fi nden Unterricht und Freizeitangebote von 8 bis 16 Uhr (Mittwoch bis 13 Uhr) verbindlich für alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I statt. Die Rhythmisierung bietet viele Möglich-keiten, Leben und Lernen in Einklang zu bringen, Anspannung und Entspan-nung wechseln sich ab und entzerren so den Schultag.

TeamschuleAn unserer Schule wird das Unterrichts- und Arbeitsprogramm der einzelnen Klassenstufen durch Lehrerteams organisiert. Ein Team von etwa zehn Leh-rern ist für einen Schülerjahrgang verantwortlich. In der Regel hat jede Klasse zwei (Lehrer-)Tutoren, die ihre Schülerinnen und Schüler nicht nur unterrich-ten, sondern auch in Klassenrats- und Methodenstunden und in der Freizeit

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 49

aus einem anderen Blickwinkel kennen lernen.

Förderkonzept Die Gesamtschule Neunkirchen hat das Ziel, alle Schülerin-nen und Schüler ge-mäß ihren Fähigkei-ten und Fertigkeiten zu fördern, damit sie zum einen den für sie höchstmöglichen

Schulabschluss erreichen und zum anderen Kompetenzen erwerben, die sie befähigen, ihren Platz in der Gesellschaft zu fi nden.

Schwerpunktbereiche des Arbeitens in Klasse 5 und 6 sind dabei die Lese– undSchreibförderung, die Grundlage des selbständigen Arbeitens sind. Ausge-hend von den Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den Grundschulen kann die Gesamtschule Neunkirchen nachhaltige Erfolge aufweisen. Trotz un-günstiger Grundschulprognosen erreichen viele von ihnen das Abitur in der eigenen Oberstufe. Besonders Schülerinnen und Schüler, die als „Rückläufer“ von Gymnasien zu uns kommen, weil etwa der Leistungs- und Notendruck zu hoch waren, profi tieren von den Förderangeboten und autonomen kooperati-ven Lernformen, aber auch von den überfachlichen Förderangeboten.

Da in der Gesamtschule bis zur 9. Klasse alle Schülerinnen und Schüler zusam-men bleiben, ist es aufgrund der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler unabdingbar, mit diff erenzierten Arbeitsauft rägen, Wochen- und Arbeitsplä-nen und individuellen Gesprächen jeden einzelnen Schüler zu fördern und zu fordern. Die Entscheidung über einen Schulabschluss oder eine schulische Fortsetzung wird bis Mitte Klasse 8 bzw. Mitte Klasse 10 off en gehalten. Eine überdurchschnittlich große Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund er-reicht den mittleren Bildungsabschluss.

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Dialog 1950

Freizeit und musisch-kultureller BereichAm häufi gsten nachgefragte Freizeitangebote sind die von Schülern selbst ver-waltete Disco (in der Mittagspause), für die ein eigener Raum zur Verfügung steht, und „Toben“ in der Judohalle. Foyers und Aufenthaltsräume (Aula, Men-sa usw.) werden von der Arbeitsgemeinschaft Schulhausgestaltung regelmäßigverschönert. Das Wagwiesental, ein Park, der sich direkt an unser Schulgelän-de anschließt, ist in allen Freizeiten für unsere Schüler zugänglich.

Im Laufe des Schuljah-res fi nden außerhalb der Unterrichtszeit regelmäßig Veranstal-tungen statt. Höhe-punkt in jedem Jahr ist die Kulturwerkstatt, wo Schülerinnen und Schüler vor großem Publikum zeigen kön-nen, was in den Berei-chen Musik, Th eater, Tanz und Zirkus erar-beitet wurde.

In den Jahrgangsstufen 7 oder 8 wird jährlich eine erlebnispädagogische Frei-zeit durchgeführt, die einerseits den Klassenzusammenhalt verstärkt, ande-rerseits den Blick für Stärken der Schülerinnen und Schüler öff net. Darüber hinaus fördern die dort gesammelten Erfolgserlebnisse die Motivation der Ju-gendlichen im Unterricht.

Auch Angebote und Projekte im musisch-kulturellen Bereich fördern in be-sonderem Maße die Begabungen und Leistungen einzelner Schülerinnen undSchüler. Etwa 350 bis 400 Kinder und Jugendliche wirken jedes Jahr mit z. B. bei Ausstellungen, Konzerten, Zirkusauft ritten, Tanz- und Th eaterauff ührun-gen innerhalb und außerhalb der Schule.

Darüber hinaus ist in den Klassen 5 und 6 eine dritte Sportstunde eingeführt. In den eingerichteten Sportklassen werden die Kinder in Kooperation mit der

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Talentförderung Saar in verschiedenen Sportarten auf den Breiten- und Spit-zensport in Vereinen und Verbänden vorbereitet.

SchulsozialarbeitEinen unverzichtbaren Teil des Schullebens stellt die Schulsozialarbeit dar, die als Institution der Jugendhilfe (in der Trägerschaft der AWO) in der Schule angesiedelt ist. Lehrerinnen und Lehrer und Sozialpädagoginnen und Sozial-pädagogen bilden an unserer Schule ein Team. Die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen

• unterstützen Schülerinnen und Schüler die wegen ihrer Herkunft besonde-re Hilfe benötigen

• sind im Schulalltag als ständige Ansprechpartner präsent• beraten und vermitteln bei Konfl ikten• bieten eigene Projekte mit Klassen an: Sozialtraining Klasse 5, Sexualpäda-

gogik, erlebnispädagogische Klassenfahrten• helfen bei Berufsfi ndung und Lebensplanung• organisieren die täglich off enen Freizeittreff s in den großen Pausen: Disko,

Zirkus• bieten freie Arbeitsgemeinschaft en an: Musik, Klettern, Tanzen, „Schule

ohne Rassismus“ usw.• sind Gesprächspartner für Lehrer und Eltern.

Schulsozialarbeit ist an unserer Schule kein Reparaturangebot. Sie ist auch eine tragende Säule des Grundkonzepts unserer Schule „Gemeinsam lernen und leben“.

Perspektive BerufSchülerinnen und Schüler, die den Hauptschulabschluss anstreben, sollen durch den persönlichen Kontakt mit Ausbildungsbetrieben ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt verbessern. Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse arbeiten unter den jeweiligen betriebsüblichen Bedingungen ein Jahr lang ei-nen ganzen Tag in einem Betrieb, der Auszubildende sucht. Für ein Betriebs-praktikum muss man sich nach einem Vorpraktikum bewerben, die Bewerber werden vom Arbeitsamt getestet, das Praktikum wird intensiv begleitet, Pro-jektaufgaben werden benotet und gehen ins Abschlusszeugnis ein.

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Dialog 1952

Resümee

Die Ganztagsgesamtschule Neunkirchen als Schule im sozialen Brennpunkt ist erfolgreich darin, ihre Schülerinnen und Schüler – besonders diejenigen mit Migrationshintergrund – so zu fördern, dass die Abschlüsse deutlich bes-ser ausfallen, als von der Grundschule prognostiziert. Bei den landesweiten Vergleichsarbeiten und Prüfungen zum Mittleren Bildungsabschluss liegen die Schülerleistungen deutlich über denen der Vergleichsschulen.Die Ganztagsgesamtschule Neunkirchen, die mit dieser skizzierten Struktur und Zielsetzung vor 20 Jahren gegründet und seither sehr erfolgreich betrie-ben wird, zeigt in aller Deutlichkeit, was auch heute längst bekannte Eckda-ten von erfolgreicher Schulentwicklung besonders in der Sekundarstufe I sein müssen:

• die Schullaufb ahn- und -abschlussentscheidungen über Klasse 4 hinaus of-fen halten

• in Förderung investieren, nicht in Separierung; eine Schule der Inklusion betreiben

• durch den Ganztagsbetrieb Raum geben für die grundlegenden sozialen Erfahrungen und für Förderung der Kreativität auf allen Gebieten des Mu-sischen, Künstlerischen und Sportlichen

• Schule zur Polis werden lassen: zu einem Ort gemeinsamen Lernens und Lebens, des Arbeitens, Spielens und Feierns, der Einübung in die Bürger-tugenden der Mitverantwortlichkeit und Mitgestaltung der gemeinsamen Angelegenheiten.

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3. PreisträgerErweiterte Realschule Am Vopeliuspark Sulzbach(Preis 2 000 Euro)

Laudatio der Jury

Prof. em. Dr. Helmut FendPädagogisches Institut der Universität Zürich, Schweiz; ehemaliger Ordinarius für Pädagogische Psychologie

Der Realschule Am Vopeliuspark wird der dritte Preis in Anerkennung ihrer herausragenden pädagogischen Leistungen verliehen. Sie hat einen bemer-kenswerten Aufb ruch aus einer schwierigen, durch die Rahmenbedingun-gen gegebenen Schulsituation dokumentiert. Ihr war die Aufgabe gestellt, im Zuge der Einführung der Erweiterten Realschule eine Schülerschaft mit dem Bildungsgang zum Hauptschulabschluss zu integrieren und dabei einem an-spruchsvollen Umfeld pädagogisch gerecht zu werden. Ihr war es aufgetragen, in einer durch wirtschaft liche Entwicklungen belasteten Region, mit allen ih-ren sozialen Folgen pädagogisch zu dienen und die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Weg in eine Zukunft so zu begleiten, dass deren Potential optimal entfaltet werden konnte.

Das Kollegium der Schule hat im Verbund mit einer sehr engagierten Leitung und dem Einbezug vieler außerschulischer Akteure diese Aufgabe anfangs nicht konfl iktfrei, doch dann zunehmend mit pädagogischem Elan und Kom-petenz in Angriff genommen. In einer bemerkenswerten Synthese von Anre-gung, Konsequenz und Empathie ist es ihr gelungen, eine Umwelt zu schaff en, in der sich Kinder und Jugendliche gesehen, geschätzt, geführt und gefördert fühlen. Sie führt die Jugendlichen in ihre zukünft igen Aufgabenfelder in Beruf und Familie und schafft eine hohe Durchlässigkeit auf dem Weg in verschiede-ne Bildungsgänge unter Einschluss der Hochschulreife, wobei sie den Kindern

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Dialog 1954

Zeit gewährt. Dabei hat sie durch ein vielfältiges, den Unterricht ergänzendes Angebot die gesamte Persönlichkeitsentwicklung im Auge und ist bemüht, Kinder auf Umwegen immer wieder in ernsthaft e Lernprozesse einzubinden. Die Bedeutung von Lernen und das Interesse der Schule an den Kindern wird ihnen durch eine große Aufmerksamkeit für die geleistete Arbeit zu Hause und in der Arbeit an einem störungsfreien Unterricht immer wieder vor Au-gen gestellt. Die Schule nimmt so ihre Verantwortung für jedes Kind wahr und ist sich bewusst, dass die Bewahrung der Qualität einer Schule ein permanen-tes Lernen der Lehrerschaft bedeutet.

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 55

Erweiterte RealschuleAm Vopeliuspark Sulzbach

Unser Schulprogramm

Leitsätze:

Wir vermitteln unseren Schülern fachliches Wissen und Kompetenzen für ei-nen qualifi zierten und berufsorientierten Bildungsabschluss.

Wir erleichtern den Weg zum Abitur durch das Angebot einer gymnasialen Oberstufenklasse in Kooperation mit dem Th eodor-Heuss-Gymnasium.

Wir legen Wert auf eine gute räumliche Ausstattung und den Einsatz mo-derner Medien und Methoden im Unterricht zur Umsetzung der geforderten Bildungsstandards.

Wir sehen soziales Verhalten, geprägt von gegenseitiger Achtung, Toleranz, Solidarität, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit als Grundlage unserer Erziehungs-arbeit.

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Wir setzen bei unseren Erziehungszie-len auf die vertrauensvolle Zusammen-arbeit zwischen Elternhaus und Schule.

Wir stellen allen Schülern, Eltern und Lehrern kompetente sozialpädagogi-sche Beratung und Betreuung bereit.

Wir bieten durch die Nachmittagsbe-treuung (Schools´In – Projekt) unseren Schülern qualifi zierte Hausaufgabenhil-fe und sinnvolle Freizeitgestaltung.

Wir schaff en nachhaltig das Bewusstsein für einen pfl eglichen Umgang mit den Ressourcen unserer Umwelt.

Wir leisten im Rahmen unserer Möglichkeiten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Leben der Stadt und der Region und stellen unsere Schulgemein-schaft in vielfältiger Weise in der Öff entlichkeit dar.

Schwerpunkte

1. Förderung der Sprachkompetenz bei Migration

In der Schule sitzen und nichts oder nur wenig verstehen, ist für Kinder mit Migrationshintergrund oft Realität. Es fehlt nicht an Begabung, sondern an ausreichenden Deutschkenntnissen. Meist bleibt solchen Kindern nur der Hauptschulabschluss. Dies wollten und wollen wir an unserer Schule ändern.

Durch den hohen Ausländeranteil an unserer Schule ist eine zusätzliche För-

Unterschiedliche Herkunft der Schüler

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 57

derung dieser Kinder ein wichti-ger Baustein unserer Schule. Der recht hohe Anteil dieser Kinder im M-Bereich nun im dritten bzw. vierten Jahr der intensiven Förderung zeigt den Erfolg unse-rer Arbeit auf. Durch die verbes-serten Deutschkenntnisse sind die Schülerinnen und Schüler einfach besser für die Schule motiviert:• geringe Anzahl an Nichtversetzungen• Chancengleichheit in Bezug auf den Abschluss

Maßnahmen (bis Klasse 10): • Förderunterricht in Deutsch durch Lehrkräft e des Paritätischen Bildungs-

werks (morgens)• Förderunterricht in Deutsch in Kooperation mit der Mercator-Stift ung

(nachmittags)• Förderung in Deutsch in Kooperation mit dem Türkischen Elternbund

Sulzbach (nachmittags)• Muttersprachenunterricht in Italienisch und Türkisch durch die jeweiligen

Konsulate (Kompetenzen in der Muttersprache erleichtern das Lernen der deutschen Sprache)

2. Berufsorientierung

Gravierende Veränderungen im Arbeitsleben, schwieriges Suchen nach ei-nem Ausbildungsplatz, drohender Arbeitsplatzverlust machen die berufl iche Orientierung zu einer immer wichtigeren Komponente der Ökonomischen Bildung. Die Berufsfähigkeit ist eine zentrale Größe für die Persönlichkeits-entwicklung eines jeden Menschen und hilft ihm, sich in der Gesellschaft nach seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu integrieren.

Deutsch-Förderung in kleinen Gruppen

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Dialog 1958

Maßnahmen• Projekt „Mit Pfl anzen durch

das Schuljahr“ (bereits in Klasse 6)

• Betriebserkundungen mit ge-zielten Informationen durch die Personalabteilungen und Auszubildenden, bereits ab Klasse 7 bei unserem Kooperationspartner HYDAC International

• Einführung des Profi lPASSes (mein Leben, meine Stärke, meine Ziele)• Schülerfi rma „School-Project GmbH“ (Planung, Produktion und Vermark-

tung von Anti-Spickwänden) in Kooperation mit dem Unternehmen HY-DAC

• Berufsvorbereitung und Berufsfi ndung durch das Projekt „ZiB-Werkstatt“ (ZiB = Zukunft im Beruf)

• Berufsberatung durch die Agentur für Arbeit• Erwerb des „European Computer Xpert Junior“• A-Kurse für Schüler, die nach dem Abschluss zum Gymnasium überwech-

seln wollen• Bewerbertraining der Abschlussklassen ganztags in Kooperation mit der

Volksbank Dudweiler

Die Schülerfi rma produziert bei HYDAC

Bild: Profi lPASS-Einführung

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3. Schulsozialarbeit

• Beratungskompetenz der JugendhilfeEine Sozialpädagogin ist an unserer Schule täglich vor Ort. Sie leistet kom-petente Hilfestellung bei Schul- oder Erziehungsschwierigeiten, Konfl iktsi-tuationen u.s.w., bei Bedarf vermittelt sie an andere Beratungsstellen weiter.Eine weitere Aufgabe ist die Vernet-zung im Freizeitbereich mit anderen Anbietern im Gemeinwesen Sulzbach (soziale, sportliche oder musisch orien-tierte Vereine, Jugendzentrum u.ä.).

• Sozialtraining Zur Förderung des Klassenklimas je-weils in den Klassenstufen 5 und 7 in Zusammenarbeit der Klassenleiter mit der Sozialpädagogin der Schule und dem JUZ Sulzbach.

• TrainingsraumkonzeptMöglichkeit, Ausschluss von Schülern aus dem laufenden Unterricht aufgrund wiederholten Störens pädagogisch sinnvoll zu organisieren, indem sie in einem dafür bestimmten Raum unter Anleitung eines Lehrers über ihr Fehl-verhalten refl ektieren müssen.

• Projekt „Mach dich stark“ Schulung von Körper, Geist und Seele zum Abbau von Ängsten und zur Per-sönlichkeitsbildung, 5 Doppelstunden

Unser School‘s In-Team

Projekt „Mit Pfl anzen durch das Jahr“

Das Team Benin unseres Projektes „Wir bauen eine Schule in Bassila“

Ständige Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer unserer Schule

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Dialog 1960

im Rahmen des Sportunterrichts, geleitet von einem Lehrer für asiatische Kampf- und Heilkunst.

• Sucht- und Gewaltprävention in Kooperation mit dem Gesundheitsamt und dem LandeskriminalamtJeweils ein Tag in den Klassenstufen 7 bzw. 8 und anschließendem Eltern-abend mit Dokumentation durch die Klassen.

• Mediation

• Elternvertrag bei Ein- und Umschulung

u.v.m.

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3. PreisträgerGrundschule Merzig St. Josef(Preis 2 000 Euro)

Laudatio der Jury

Gerd Wagnerehemaliger Leiter der Gesamtschule Bellevue Saarbrücken und Vorsitzender der Schulleiter an Gesamtschulen des Saarlandes, Illingen

Die Grundschule St. Josef in Merzig hat sich in vorbildlicher Weise der Aufgabe als Sozialisations- und Bildungsort im Stadtteil gestellt. Sie nimmt ihre Schülerinnen und Schüler in ihren ganzen Persönlichkeit wahr, ist lebendiger Lernort und pfl egt die Gemeinschaft durch Integration von Behinderten und nicht Behinderten, Menschen deutscher und nicht deut-scher Herkunft und unterschiedlicher sozialer Schichten. Dabei trägt der Lernort Schule als gestalteter Lebensraum zu einem Klima der Wertschät-zung und Rücksichtnahme bei. Was Schülerinnen und Schüler erarbeiten und gestalten, ist sichtbarer Teil der Schulkultur. Die Aktivitäten der Schule sind Bestandteil des städtischen kulturellen Lebens und der überregionalen Zusammenarbeit.

Die Schule verdankt ihren hohen Standard den gemeinsamen Leistungen des Kollegiums, der Elternschaft und der Schulleitung. Durch das Einbe-ziehen auch außerschulischer Ressourcen wird ein Optimum an Ausstat-tung und Lernqualität realisiert. Das Ergebnis ist eine leistungsfähige, le-bendige und fröhliche Schule. Hier fühlen sich Schülerinnen und Schüler mit ihren kleinen und großen Sorgen gut aufgehoben und betreut. Wie erwartet, haben sich auch die Schülerleistungen in Folge des Schulentwick-lungsprozesses deutlich verbessert. Wen wundert es dann noch, dass auch die Eltern den Schulentwicklungsprozess begeistert mit tragen.

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Es wäre unverzeihlich, wenn der angegliederte Hort und seine in die Schule integrierte sozialpädagogische Kompetenz aktuell durch andere Betreuungs-modelle in Frage gestellt würden. Notwendig wäre auch die Unterstützung der Schule durch eine Verwaltungskraft .

Als Ausbildungsschule ist diese Grundschule schon Vorbild für angehende Lehrerinnen und Lehrer. Als Trägerin des Saarländischen Schulpreises soll sie Leuchtturm sein für viele Grundschulen im Lande, die auch eine bessere Schule werden wollen.

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 63

Wir sind...

Immer auf dem neuesten Stand

Ausbildungsschule

Seit 2000 bilden wir Praktikanten und Referendare aus. Durch den engen Kon-takt zwischen erfahrenem Lehrpersonal und jungen Kollegen entsteht eine dy-namische und kreative Zusammenarbeit.

Ein besonderes Highlight

mus-e Schule

Seit dem Jahr 2001 sind wir ausgewählte mus-e-Schule. Dreimal pro Woche werden unsere Schülerinnen und Schüler von echten Künstlern in den Be-reichen Musik, Tanz und Kunst unterrichtet und können so ihrer Kreativität freien Lauf lassen.

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Ein Grund zum Feiern

Schulkindergarten

Seit 20 Jahren bereitet unser Schulkindergarten nun schon erfolgreich Kinder auf das Schulleben vor. Unterrichtet werden alle Schülerinnen und Schüler die schulpfl ichtig, aber noch nicht schulreif sind.

Eff ektive Sprachförderung

Sprachförderklassen

In diesen speziellen Klassen werden Schülerinnen und Schüler mit sprach-lichen Problemen gezielt gefördert. Nicht nur Schülerinnen und Schüler aus Merzig, sondern auch aus den Gemeinden Perl und Mettlach werden hier in den Klassen 1 und 2 unterrichtet. Die Sprachförderklassen kooperieren eng mit ihren Parallelklassen, um einen nahtlosen Übergang der Schülerinnen und Schüler in das 3. Schuljahr ihrer Heimatschulen zu gewährleisten. Der wesentliche Unterschied zu den Parallelklassen besteht in der äußerst gerin-gen Klassenstärke. In den sehr kleinen Klassen können die speziell ausgebil-deten Sonderschullehrer gezielt auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen.

Bewegung und Lernen gehen Hand in Hand

Sportorientierte Grundschule

Unsere Schule verfügt über ein überdurchschnittlich großes Angebot an Sportgeräten, sodass die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, sich in vielen sportlichen Bereichen weiter zu entwickeln. Neben den vielfälti-gen Bewegungsangeboten, die fest in den regulären Unterricht integriert sind, bietet unsere Schule auch zahlreiche Sport-Arbeitsgruppen an. Es liegt uns be-sonders am Herzen, dem natürlichen Bewegungsdrang der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Daher bemühen wir uns auch um die Zusammen-

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arbeit mit verschiedenen Sportvereinen. Zudem veranstalten wir regelmäßig schulsportliche Wettbewerbe. Des Weiteren werden Lehrerfortbildungen im Sportbereich bei uns abgehalten.

Partnerschaft mit der UNESCO-Schule Bad Mondorf

Ein weiteres Ziel der Schularbeit sehen wir in einem sprachlichen und kultu-rellen Austausch mit unserer Partnerschule in Luxemburg. Die gemeinsamen Aktivitäten beinhalten beispielsweise länderübergreifende Lehrerfortbildun-gen und die Ausarbeitung gemeinsamer Projekte.

Medien- und PC-Angebot

Die Ausstattung unserer Schule zeichnet sich auch durch ein großes Angebot an Medien und PC aus. Ein servergestütztes Netzwerksystem und ein gut aus-gestatteter Medienraum tragen zu einem zeitgemäßen Unterricht bei.

Einmalig in der gesamten Region

Ganztagshort

In unserem Hort können Schülerinnen und Schüler bis 18 Uhr betreut wer-den. Auf Wunsch wird die Betreuung bereits vor dem Unterricht angebo-ten. Die Schülerinnen und Schüler erhalten ein vielfältiges Spiel-, Bastel- und Bewegungsangebot, sowie eine Hausaufgabenbetreuung durch qualifi zierte Fachkräft e.

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Dialog 1966

...unsere Wurzeln

Ausgehend von der Vielfalt unserer Wurzeln bilden Lehrer, Eltern, Ganztagshort und Förderverein einen gemeinsamen stützenden

und stabilen Stamm, der die breite Baumkrone sicher trägt.

In ihr wohnen unsere 210 Schülerinnen und Schüler wohlbehütet und geborgen, aber auch mit viel Platz zur individuellen Selbstentfaltung!

Grundschule Merzig St. JosefBeethovenstraße 2 - 66663 Merzig - 06861/6378

www.gs-merzig.de

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 67

Besonderer PreisSchule zum Broch, Förderschule geistige Entwicklung, Merzig (Preis 2 000 Euro)

Laudatio der Jury

Dr. Hans Werner BedersdorferUniversität des Saarlandes, SaarbrückenLeitender Akademischer Direktor, Geschäft sführer des Zentrums für Lehrerbil-dung

Die Jury war bei ihrem Besuch tief beeindruckt davon, mit wie viel Freude die Schülerinnen und Schüler gelernt und gearbeitet haben, wie sie sich an-gestrengt haben, um gute Ergebnisse zu erzielen. Aber auch wie freundlich und liebevoll alle miteinander umgegangen sind und sich gegenseitig geholfen haben. Wie gelingt der Schule das?

Alle Beteiligten teilen eine gemeinsame Grundüberzeugung: Wir grenzen kein Kind aus und fördern jedes nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Und die sind sehr, sehr unterschiedlich.

Deshalb erarbeiten sich die Lehrerinnen und Lehrer durch Eingangsdiagnos-tik und Verlaufsdiagnostik eine gute Kenntnis jeden einzelnen Schülers und entwickeln auf diesem Hintergrund individuelle Förderpläne (sog. Lernbe-gleiter).

• Die Förderung erfolgt einerseits in oft handlungsorientiertem und immer diff erenzierendem Unterricht in sehr heterogenen Klassen.

• Daneben werden die Schülerinnen und Schüler in nach Leistungsgesichts-punkten homogener zusammengesetzten Kursen unterrichtet, z.B. im Le-sen, Schreiben, Rechnen, Kunst, Werken und Welterschließung.

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Dialog 1968

• Die individuellste Form ist die der Einzelförderung. • Unterricht in der Klasse, in Kursen und Einzelförderung werden in Zusam-

menarbeit aller Beteiligten abgestimmt.

Die Schule arbeitet eng mit anderen Einrichtungen zusammen: mit der Le-benshilfe, mit logopädischen, physiotherapeutischen und ergotherapeuti-schen Praxen. Dadurch werden

• Maßnahmen abgesprochen und aufeinander bezogen • die Familien entlastet • die Beratungsangebote für die Eltern gebündelt und • es können Perspektiven entwickelt werden, auch über die Schulpfl icht des

jeweiligen Kindes hinaus.

Darüber hinaus erschließt die Schule weitere Lernorte. Sie beteiligt sich aktiv am Dorfl eben und am kulturellen Leben der Stadt. Sie kooperiert mit benach-barten Schulen sowie mit einem Sportverein. Alle diese Projekte werden ge-meinsam mit den Eltern geplant und durchgeführt.

So sehen sich die Eltern keineswegs als Handlanger, sondern als Erziehungs-partner. Sie sehen sich nicht nur gut informiert, sondern beteiligt. Sie treff en sich auch ohne Lehrer und bringen eigene Initiativen ein. Sie sehen ihre Kin-der nach deren Möglichkeiten umfassend und gut gefördert.

Die Schule für geistige Entwicklung Merchingen ist eine Schule, die alle Betei-ligten als ihre gemeinsame Sache verstehen. Die Jury hat sich entschlossen, ihr im Rahmen des Saarländischen Schulpreises 2007/08 einen besonderen Preis zu verleihen.

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 69

Schule zum Broch, Förderschule geistige Entwicklung Merzig-Merchingen

Schülerinnen und Schüler mit geisti-ger Behinderung werden besondere Eigenschaft en und Wesensmerkmale zu-geschrieben, die sie von anderen, in ihrer Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtig-ten Schülerinnen und Schülern unterschei-den. Wer bei dieser Einschätzung bleibt (erworben meist auf der Basis lediglich im Ansatz refl ektierter Erfahrung), dem entgeht der Blick auf individuell unterschiedliche Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten. Denn wie bei allen anderen Schülerinnen und Schülern gelten Lebens- und Entwicklungsbedingungen als veränderbar: Lernen ist möglich. Für uns als Schule gilt es, individuelle Chancen zu erkennen und zum Ausgangspunkt für Erziehung und Unterricht zu machen.

Mit ca. 60 Schülerinnen und Schülern ist die Schule überschaubar klein. Hier kennt jeder jeden. Selbstständigkeit und Verantwortung, Solidarität und Hilfs-bereitschaft , Empathie und Zuwendung werden im Alltag gelebt.

• Wir versuchen in unserem Unterricht, den Anspruch auf Ganzheit-lichkeit zu erfüllen, indem wir uns an die Schülerinnen und Schüler als Gesamtpersönlichkeit wenden. Darüber hinaus ist den Lehrerin-

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nen und Lehrern bewusst, dass Lernen ein komplexer Prozess ist, an dem vielfältige sensorische, motorische, sprachliche, kognitive und so-ziale Prozesse beteiligt sind. Ganzheitliches Lernen gelingt durch aus-gewogene Beanspruchung möglichst vieler der genannten Bereiche.

• Schülerinnen und Schüler lernen erfolgreich, wenn sie Anregungen vor-fi nden, die ihre Erwartungen und Bedürfnisse aufgreifen und die selbst bestimmte Aktivität zulassen. Des-halb sind Lernsituationen so off en und überschaubar zu gestalten, dass sie Raum geben, den individuellen Interessen entsprechend teilzuhaben, zu üben, selbst zu entscheiden und kreativ zu handeln. Materialgelei-tetes Lernen und Freiarbeit ermög-lichen in besonderer Weise aktives und selbsttätiges Lernen.

• Im handlungsorientierten Unterricht entdecken Schülerinnen und Schüler eine Problemstellung, die aus einer konkreten Lebenssituation hervor-geht und von unmittelbarer Bedeu-tung ist. Dieses Vorgehen beinhaltet die Möglichkeit, Erlerntes aus verschiedenen Lernbereichen zu verknüpfen und für das Erreichen des Handlungsziels nutzbar zu machen.

• Eine auf die Eingangsdiagnostik aufb auende Verlaufsdiagnostik gibt Auf-schluss über den individuellen Entwicklungsprozess. Die Wirkung der ein-zelnen Fördermaßnahmen und des Unterrichtsangebots wird regelmäßig überprüft . Bestehende Förderpläne werden kontinuierlich fortgeschrieben und verändert.

• Die Klassen sind prinzipiell leistungsheterogen zusammengesetzt. Schü-lerinnen und Schüler einer Altersspanne von bis zu vier Jahren lernen dort gemeinsam auf meist unterschiedlichen Lernniveaus. Dabei entsteht

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ein Lernklima, in dem die anscheinend höherwertige Leistung gleichwertig neben der auf einem niedrigeren Kompetenzniveau erbrachten steht. Innerhalb einer Klasse wird auf das Erreichen glei-cher Lernziele für alle verzich-tet. Es wird zwar am gleichen Gegenstand gelernt, aber in individuell unterschiedlichen Zugangsweisen. Dieses Vorge-hen erfordert ein hohes Maß innerer Diff erenzierung.

• Um den subjektorientierten Ansatz noch besser realisieren zu können, wird der Klassenunterricht durch Kurse und Einzelförderung ergänzt.

• In unserer freiwilligen Ganztagsschule schaff en wir Zeit für Entspannung durch ausreichende Zeit für die Mahlzeiten, Pausen und freizeitpädagogi-sche Angebote als Klassen übergreifende Arbeitsgemeinschaft en am Nach-mittag

Entwicklungschancen ergeben sich neben der Orientierung an jedem einzel-nen Schüler durch die Öff nung der Schule:

• Die Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe Merzig-Wadern e.V. ermög-licht Schülerinnen und Schülern durch Ferienmaßnahmen und Frei-zeitgruppe im Sinne einer Nachmittagsbetreuung kreative Freizeitge-staltung anstelle von Langeweile und dem Erleben von Einsamkeit. Ausfl üge und Unternehmungen im Ort und der nahen Kreisstadt wer-den von vielen Schülerinnen und Schülern sehr positiv aufgenom-men. Von den Eltern wird die Freizeitgruppe außerordentlich begrüßt.

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• Das mit Stefanie Laux im Ort angebotene heilpädagogische Reiten wird von den Kindern begeistert angenommen und von zwei Gruppen pro Woche wahrgenommen. Insbesondere für Kinder mit Cererbralparesen stellt das Reiten eine äußerst wirksame Ergänzung der schulischen und physiothera-peutischen Bemühungen zur Bewegungsförderung dar.

• Th erapeutische Angebote des Autismus-Th erapie-Zentrums, Physio- und Ergotherapeuten sowie Logopäden ergänzen sinnvoll den Unterricht und tragen durch Kompetenztransfer zur Professionalisierung der Arbeit bei.

• Integrationshelfer des Vereins Miteinander leben lernen ermöglichen die Integration von Schülerinnen und Schülern mit schwersten Beeinträchti-gungen.

• Die Kooperation mit dem SSV Oppen greift einen Wunsch der Eltern auf, ihre Kinder im Verein Sport treiben zu lassen bzw. den Wunsch der Schüle-rinnen und Schüler selbst, in einer Vereinsmannschaft z.B. Fußball zu spie-len. Innerhalb kürzester Zeit ist es gelungen, dass jede Gruppe des Vereins

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prinzipiell Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen off en steht. Zu-sätzlich bietet der Verein eine Leichtathletikgruppe speziell für Kinder mit geistiger Behinderung.

• Durch die Mitgliedschaft bei Special Olympics Deutschland Saarland e.V. verspricht sich die Schule die Möglichkeit, an sportlichen Aktivitäten auch außerhalb des Saarlandes teilnehmen und so den Horizont der Schülerin-nen und Schüler zu erweitern.

• Die Kooperation mit anderen Schulen (Gymnasium am Stefansberg, Grundschule St. Josef, beide Merzig) verläuft auf der Basis von gegenseiti-gen Besuchen von Schülergruppen oder gemeinsamer Projekte in den Be-reichen Musik und Sport.

• Die Schule beteiligt sich kontinuierlich an Initiativen der Kreisstadt („Mer-zig speckt ab - mach mit, werd fi t“, Lokales Bündnis für Familie), bringt sich so konstruktiv in den öff entlichen Diskurs ein und profi tiert durch die Präsenz von externen Beratern und Spezialisten im Unterricht.

• Der Anspruch der Schule, selbst bestimmte Entwicklung zu unterstützen und gleichzeitig auf das Leben im normativen Rahmen der Gesellschaft vorzubereiten, führt in ein Spannungsfeld, in dem sie sich selbst immer wieder hinterfragen, reorganisieren und selbst lernen muss.

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Nominierte SchuleGesamtschule Bexbach(Anerkennung 500 Euro)

Laudatio der Jury

Ingrid Kaiserehemalige pädagogische Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, Schul-beraterin, Frankfurt

Neben den nach den offi ziellen Qualitätskriterien prämierten Schulen gibt es unter den Bewerberschulen eine Reihe von bemerkenswerten Initiativen und Arbeitsformen, die erkennen lassen, dass auch dort pädagogisch wertvoll und originell zum Nutzen der Schülerinnen und Schüler gearbeitet wird. Es sind Schulen, die eine anspruchsvolle und ideenreiche Arbeit zur Förderung von Kindern und Jugendlichen leisten, breite und vielseitige Angebote für kogni-tives und künstlerisch-kreatives Lernen zur Verfügung stellen und intensive Entwicklungsschritte als Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler für die Welt von morgen versuchen.

Der renommierte Grimme-Preis, der wichtigste Fernsehpreis in Deutschland, kennt neben den eigentlichen Preisen die ehrende Anerkennung, mit der he-rausragende Leistungen neben den Preiskriterien hervorgehoben werden. Ich möchte auch beim Saarländischen Schulpreis die besondere Leistung einer Schule mit einer solchen „ehrenden Anerkennung“ würdigen.

Diese Schule, die sich mitten im Prozess einer kontrollierten Qualitätsentwick-lung befi ndet, zeigt als Freiwillige Ganztagsschule ein hohes Engagement bei der Förderung von Kreativität und Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler und bei umfangreichen Lernangeboten in sozialen, politischen und ökologischen Bereichen. Institutionell setzt sie sich auf bemerkenswerte Weise mit den Leistungsunterschieden der Kinder und Jugendlichen auseinander, als sie verschiedene Lernorte und Lernschwerpunkte anbietet. Das interkulturelle

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Lernen durch Schüleraustausch mit Frankreich und Polen spielt eine große Rolle, ebenso die Zusammenarbeit mit Wirtschaft und Verbänden. Das En-gagement für die dritte Welt ist Teil der Tagesarbeit. Die Schülerinnen und Schüler werden kontinuierlich über alle Jahrgänge in altersgerechte Dienste und Ämter eingebunden. Die Schule nimmt damit ihre pädagogische Aufgabe der Persönlichkeitsbildung im und für das Gemeinwesen ernst.

Die ehrende Anerkennung richtet sich besonders an die engagierte Schullei-tung und ein diese stützendes Kollegium, das ein beeindruckendes, pädago-gisch produktives Klima geschaff en hat und Schüler und Eltern gleicherma-ßen in die Schulentwicklung einzubeziehen versteht. Lehrerinnen und Lehrer wirken als Fachleute, Berater und Lernbegleiter ihrer Schüler.

Diese Schule ist auf einem guten und bisher gelungenen Weg, die Balance zwischen Konsolidierung im Fachlichen und kreativer, off ener Gestaltung des schulischen Lebens zu realisieren. Es besteht angesichts der außerordentlich eff ektiven, sensiblen und kooperativen Führung der Schule die sichere Erwar-tung, dass ihr dies weiterhin gelingen wird.

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 77

Gesamtschule Bexbach

An der Gesamtschule Bexbach engagieren sich Lehrkräft e

seit vielen Jahren für eine nachhaltige Bildung der Schü-

lerinnen und Schüler.

Derzeit besuchen 691 Schülerinnen und Schüler die Klassen 5 bis 13. Als Ge-samtschule unterrichtet die Schule Kinder aller Begabungen. Sie führt zu allen Schulabschlüssen (Hauptschulabschluss, Mittlerer Bildungsabschluss, Abitur).

Fast fünfzig Lehrkräft e zählen zum Stammpersonal der Schule. Zudem unter-richten an der Schule vier Sonderpädagoginnen. Eine Lehrerin für „Deutsch als Fremdsprache“ ist mit acht Wochenstunden an die Schule abgeordnet. In der Freiwilligen Ganztagsschule (Nachmittagsbereich) arbeiten vier Erziehe-rinnen und Erzieher.

Die Schulleitung arbeitet eng mit der Koordinationskonferenz, die sich aus je einem Teammitglied der verschiedenen Jahrgangsstufen zusammensetzt, und der Steuergruppe der Schule zusammen. Zum pädagogischen Personal gehören auch eine Schoolworkerin sowie im Rahmen des Modellversuchs Re-formklassen ein Sozialcoach und eine Bildungsbegleiterin, die vor allem die Persönlichkeitsentwicklung und vertieft e Berufsorientierung der Jugendli-chen fördern.

Unsere Schule hat sich in den letzten drei Jahren erfolgreich an einigen Wett-bewerben beteiligt und auch bedeutende Preise erzielt, u.a. 2006 den ersten Bundespreis der Deutschen Kinder- und Jugendstift ung und 2007 die Aus-zeichnung „Saarlands beste Schule mit Hauptschulabschluss“ (Bundespreis der Hertie-Stift ung). Die Teilnahme an Wettbewerben fördert auch, dass die Schule sich immer wieder ihre Ziele und Grundsätze, aber auch das Erreichte bewusst macht und sich im Dialog mit Kooperationspartnern weiterentwi-ckelt. Im Rahmen des Wettbewerbs wurde auch der „rote Faden“ zwischen

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den Projekten gefunden, der als ökologisch ausgerichtete Schule grün ist: „Per-sönlichkeiten entfalten – mit anderen nachhaltig Zukunft gestalten“.

Seit vielen Jahren setzt die Gesamtschule Bexbach auch Akzente im ökologi-schen Bereich: Als erste saarländische Schule führte sie 2007 erfolgreich die Zertifi zierung nach EMAS (Öko-Audit) durch. Mit Bildung für nachhaltige Entwicklung möchte die Schule Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, durch aktives Handeln Gestaltungskompetenz für eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft zu erwerben. EMAS bietet dazu ein Management-system.

Für das Kollegium der Gesamtschule Bexbach ist die Qualität des Lernens von zentraler Bedeutung. In den Jahrgangsteams arbeiten die Lehrkräft e eng zusammen und unterstützen sich dabei fachlich und pädagogisch. Tutorin-nen und Tutoren begleiten die Lernenden als feste Bezugspersonen bis zur neunten Klasse. Fachliches und soziales Lernen sind gleich gewichtet. In al-len Jahrgangstufen wird im Vierzehntage-Rhythmus eine Klassenratsstunde durchgeführt. In den Jahrgangsstufen 5 und 6 sind zwei Förderstunden „Ler-nen lernen“ und „Klassenrat – soziales Lernen“ fester Bestandteil des Förder-konzeptes.

Unterricht wird aufgrund neuer Erkenntnisse kontinu-

ierlich verbessert

Die Gesamtschule Bexbach führt regelmäßig pädagogi-sche Tage durch. Seit zwei Jahren arbeitet die Schulge-meinschaft intensiv an der Qualitätsverbesserung, ins-besondere des Unterrichts. Th emen der letzten pädago-gischen Tage waren Schul-entwicklung, Einführung in

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die Bildungsstandards und kompetenzorientiertes Unterrichten, Schulleitbild und Schulprogramm. Diese Arbeit wird systematisch und mit externer Beglei-tung fortgesetzt. Als Partner aus der Wirtschaft unterstützt die Kreissparkasse Saarpfalz den Prozess.

Einbeziehung außerschulischer Lernorte – Bewährung

und Ernstfall

Die Gesamtschule Bexbach setzte in den letzten Jahren neben den traditio-nellen Unterrichtsformen verstärkt Akzente in Richtung Kooperation mit außerschulischen Partnern, um Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zu geben, auch außerhalb des Unterrichts praktische Erfahrungen zu sammeln, zu lernen und sich in vielfältigen Kooperationsprojekten in Situationen mit „Ernstfallcharakter“ zu bewähren.

In verschiedenen Jahrgangsstufen, klassen- und jahrgangsübergreifenden Ar-beitsgemeinschaft en sowie im Bereich der Freiwilligen Ganztagsschule wer-den regelmäßig Projekte und Aktivitäten an außerschulischen Lernorten und mit Partnern angeboten, die das schulische Programm sinnvoll ergänzen. Die Schule bezieht regelmäßig Experten von außen in den Unterricht ein (Eltern, Jugendbuchautoren, Künstler, Unternehmen, Saarforst, Fachkräft e sozialer Einrichtungen, Beratungsstellen etc.). Bei Betriebserkundungen, künstleri-schen, umweltpädagogischen und sozialen Aktivitäten im Umfeld der Schule haben Schülerinnen und Schüler Gelegenheit zu persönlichem Erleben und praktischen Erfahrungen.

Diese Kooperationsprojekte wurden zusammengefasst in einem Netzwerk außerschulischer Partner, die zusammenwirken unter dem Motto: „Persön-lichkeiten entfalten – mit anderen nachhaltig Zukunft gestalten.“ Im Rahmen dieser Projekte haben die Kinder und Jugendlichen Gelegenheit, Eigeninitia-tive zu entwickeln, am gesellschaft lichen Leben teilzuhaben, sich außerhalb des Unterrichts zu engagieren und in vielerlei Bereichen Verantwortung zu übernehmen. Zahlreiche Projekte ermöglichen bürgerschaft liches Engage-ment. Dies fördert die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendli-

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chen. Kooperationsvereinbarungen sind in Vorbereitung, auch mit Partnern aus der Wirtschaft .

Vor allem mit der Errichtung der Freiwilligen Ganztagsschule mit Bildung und Betreuung auf freiwilliger Basis am Nachmittag hat die Gesamtschule Bexbach ein Netz von Partnerschaft en im Umfeld der Schule aufgebaut.Der Nachmittagsbereich hat Freiräume geschaff en, die zum Nutzen aller Be-teiligten das Bildungsangebot der Schule noch attraktiver machen:

• Die Schule öff net sich, sie nimmt vielfältige außerschulische, gesellschaft li-che Erfahrungen auf.

• Schule und Jugendhilfe kümmern sich ganzheitlich um die Jugendlichen und wirken erzieherisch und helfend auf sie ein.

• Vereine ergänzen sinnvoll das Bildungs- und Freizeitangebot.• Betriebe bieten Hilfestellung zur Berufsorientierung durch Betriebsbesich-

tigungen, Praktika und Kooperationsangebote.• Ein gemeinsames pädagogisches und räumliches Konzept für den Ganz-

tagsbereich der Grund- und der Gesamtschule bietet die Voraussetzung für Schule als Lern- und Lebensort.

• Kreis und Stadt sehen das breite Bildungsangebot als Standortfaktor.

Lernen ist weniger rezeptiv, fremdgesteuert,

einseitig kognitiv gestaltet

Seit Herbst 2007 nimmt die Schule am Modellversuch „Reformklassen“ teil. Dieser wird von der Agentur für Arbeit und dem Ministerium für Bildung, Familie, Frauen und Kultur fi nanziert, mit dem Ziel, Schülerinnen und Schü-ler, die den Hauptschulabschluss anstreben, möglichst früh intensiv zu un-terstützen. Im Mittelpunkt stehen dabei Förderung selbstständigen Lernens, Persönlichkeitsentwicklung sowie vertieft e Berufsorientierung ab der siebten Klasse. Ein erklärtes Ziel ist dabei eine veränderte Lernkultur: Von großer Be-deutung sind Lerninhalte mit hohem Lebenswelt- und Praxisbezug (erlebnis-pädagogische und sportliche Aktivitäten, musisch-kulturelle, handwerkliche

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Projekte, Informationstech-nik, Sprach-Rhetorik- und Konfl ikttraining). Th eo-retisches und praktisches Lernen werden verbunden. Besonderer Schwerpunkt liegt auf der Stärkung der Kernkompetenzen.

Regelmäßig werden Projek-te durchgeführt. Von großer Bedeutung sind Bildung, Förderung und Betreuung am Nachmittag, vor allem auch, um sozialen Benach-

teiligungen entgegenzusteuern. Ein „Flexibles Klassenzimmer“ als Selbstlern-zentrum zur besonderen Förderung des selbstständigen Arbeitens, zur Kom-petenzsteigerung und zur Freiarbeit befi ndet sich im Aufb au.

Zusammen mit einem Sozial- und Berufscoach stellt das Reformlehrerteam die Kompetenzen der Jugendlichen fest (Was kann ich, was noch nicht - Mot-to: „Du schaff st es“). Alle Maßnahmen richten sich auf die Stärkung der Per-sönlichkeit, Ermutigung (statt Defi zitorientierung) und Steigerung der sozia-len Kompetenz. Begonnen haben wir mit einer individuellen Förderplanung sowie einer vertieft en Berufsorientierung und Berufswegplanung. Dabei spielt die Kooperation mit außerschulischen Partnern, insbesondere mit Wirt-schaft sunternehmen, eine bedeutende Rolle.

Um die hohen Projektziele zu erreichen, kooperieren die Reformlehrkräf-te intensiv. Zudem nehmen sie an umfangreichen Fortbildungsmaßnahmen teil, z. B. Methoden selbstständigen Arbeitens, fächerübergreifendes Arbeiten, veränderte Formen der Leistungsbewertung, Möglichkeiten der vertieft en Be-rufsorientierung, Kompetenzfeststellung (Lernstand, Lernkontrolle, Portfo-lio), Arbeit mit dem Profi lpass, Erlebnispädagogik. Erfahrungen werden auch mit anderen Schulen ausgetauscht. Vom Reformteam gehen zahlreiche Impul-se auf die gesamte Schule aus.

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Vertieft e Berufsorientierung

Von der fünft en Klasse an bereitet die Schule die Schülerinnen und Schüler im Arbeitslehreunterricht, im Wahlpfl ichtbereich, durch zusätzlichen Förderun-terricht und Projekte auf die Berufswelt vor. Bei Betriebsbesichtigungen und -erkundungen vertiefen die Jugendlichen ihr Wissen und lernen verschiedene Berufsfelder kennen. Zusätzliche Kurse, Förderunterricht und die Zusammen-arbeit mit dem „Arbeitskreis Schule – Wirtschaft “ sowie der Arbeitsagentur stärken die Ausbildungsreife der Schülerinnen und Schüler. Darüber hinaus werden sie durch ein dreiwöchiges Betriebspraktikum und die Einbindung von Experten für den Arbeitsmarkt qualifi ziert. Auf freiwilliger Basis arbeiten Jugendliche der 9. Jahrgangsstufe in einem Projekt der AWO zur vertieft en Berufsorientierung. Im November 2009 startet ein dreijähriger Modellversuch in Kooperation mit der Handwerkskammer des Saarlandes: 48 Schülerinnen und Schüler werden in überbetrieblichen Ausbildungsstätten intensiv auf das Berufsleben vorbereitet.

Systematischer Qualitätsverbesserungsprozess –

QVP-Projekt

Seit Juni 2007 nimmt die Schule am „Qualitätsverbesserungsprozess (QVP) an saarländischen Schulen“ teil, um systematisch mit interner und externer Eva-luation und Prozessbegleitung Qualitätsmanagement durchzuführen. Nach der Verabschiedung eines Leitbildes arbeitet die Steuergruppe der Schule der-zeit am Schulprogramm.

Projekt „Tandemschulen“Die Gesamtschule Bexbach ist seit Februar 2004 auch Freiwillige Ganztags-schule und hat dazu umfangreiche pädagogische Leitlinien entwickelt. Unter Federführung des Saarpfalz-Kreises entsteht an der Gesamtschule ein Erwei-terungsbau für den gemeinsamen Ganztagsbereich der Gesamt- und Grund-schule, der auf das pädagogische Konzept der Schulen abgestimmt ist und der Anforderung Schule als „Lern- und Lebensraum“ entspricht.

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Im Rahmen des Projektes „Tandemschulen“ der Service-Agentur „Ganztägig lernen“ entstand ein gemeinsames pädagogisches Konzept im Sinne einer in-tegrierten Bildungsplanung. Im Sommer 2008 wurden die Gesamtschule und die Grundschule für ihr gemeinsames „Tandem-Konzept“ als Referenzschule ausgezeichnet.

Wichtig für die Konzeption ist beiden Schulen, dass die Freiwillige Ganztags-schule Raum für Begegnung, für soziales und interkulturelles Lernen schafft , Partizipation und Demokratielernen ermöglicht, sich dem Schulumfeld und der Lebenswelt öff net und als Lernkultur die Individualisierung weiter ver-stärkt. Durch Projektarbeit (Schulhaus- und Schulhofgestaltung, Patenschaft im Seniorenheim, kulturelle Projekte) werden Lernangebote erweitert. Als Freiwillige Ganztagsschule möchten die Schulen auch einen Beitrag dazu leis-ten, soziale Benachteiligungen auszugleichen.

Schüler/innen übernehmen Verantwortung

für das Lernen

Gerade in Projekten und anderen schülerzentrierten Arbeitsformen (Wochen-plan, Lernen an Stationen, Lernzirkel etc.) übernehmen Schülerinnen und Schüler Verantwortung für ihr Lernen. Im Bereich der Freiwilligen Ganztags-schule arbeiten sie als Lernassistenten.

Förderung abschlussgefährdeter Jugendlicher

Nur sehr wenige Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Bexbach schaf-fen den Schulabschluss nicht bzw. verlassen mit Erfüllung der Vollzeitschul-pfl icht ohne Abschluss die Schule. Die Gesamtschule sucht dann rechtzeitig nach Lösungen für alternative schulische oder überbetriebliche Angebo-te. Dazu kooperieren die Schulleitung und das jeweilige Jahrgangsteam mit Beratungsstellen des Schulträgers (Hilfe zur Arbeit) oder Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Schule übernimmt auch Brückenfunktion zu Institutionen, die sich mit pädagogisch sinnvollen Angeboten an Jugendliche mit schlechten Berufsaussichten wenden.

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Seit einem Jahr arbeitet die Gesamtschule im Rahmen des aus dem Europäi-schen Sozialfonds geförderten Modellversuchs „Kompetenzagentur“ auch in-tensiv mit dem Jugendamt des Saarpfalz-Kreises zusammen. Regelmäßig un-terstützt eine im Projekt angestellte Sozialpädagogin einige abschlussgefähr-deten Jugendliche und hilft bei der persönlichen Berufs- und Lebensplanung.

Parallel entwickelte die Schule im Rahmen des Angebotes der Freiwilligen Ganztagsschule ein Konzept für die Fördergruppe „Kompetenzen stärken“ zur präventiven Stärkung „schulmüder“ Schülerinnen und Schüler im Nachmit-tagsbereich. Neben der Arbeit mit dem Profi lpass (Stärken-/ Interessenana-lyse, Portfolio) spielen erlebnispädagogische Elemente und Sozialstunden im örtlichen Seniorenheim eine bedeutende Rolle.

Förderung von Kreativität, Eigenverantwortung

und Eigensinn

Vielfältige AG-Angebote und Projekte, v.a. am Nachmittag, unterstützen die Förderung der Kreativität. Die Afrika/Trommel-AG, der Schulzirkus „Gaukel-Maukel“, der Schulchor, sportliche Arbeitsgemeinschaft en und ein jahrgangs- und fächerübergreifendes Musicalprojekt erfreuen sich großen Zuspruchs.

Mit regelmäßigen Sitzungen der Schülerverwaltung, die auch in Wochenend-seminaren geschult wird, des Klassenrats aller Klassen sowie der Kinderkonfe-renz in der Freiwilligen Ganztagsschule fördert die Schule die Beteiligung und Eigenverantwortung der Kinder und Jugendlichen. Sie versteht sich als demo-kratische Schule. Schülerinnen und Schüler werden auch in die pädagogischen Tage einbezogen. Die Schülersprecher gehören der Schulentwicklungsgruppe an.

Verantwortung übernehmen die Schülerinnen und Schüler auch bei der Ge-staltung von Festen und Feiern und bezüglich der Ordnung im Haus. In allen Klassen sind unterschiedliche Ordnungsdienste (Treppen, Hof-, Toiletten-dienst) eingerichtet. Ausgebildete Schülerstreitschlichter vermitteln bei Kon-fl ikten.

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Umgang mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzun-

gen und Leistungsmöglichkeiten

Es gehört zum Konzept der Gesamtschule, mit heterogenen Schülergruppen zu arbeiten und ihnen durch Diff erenzierungsangebote (innere und äußere Diff erenzierung, Wahlpfl ichtbereich, Wahlangebote) sowie durch intensive Begleitung und Beratung durch die Tutor/innen gerecht zu werden.

Eine zusätzliche Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache fördert stundenweise Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Dabei werden auch au-ßerschulische Aktivitäten angeboten. die zur sozial-integrativen Anerkennung von Unterschieden beitragen. Eine eff ektive Möglichkeit zum Ausgleich un-terschiedlicher Bildungsvoraussetzungen sind die Angebote der Freiwilligen Ganztagsschule.

Interkulturelles Lernen

Interkulturelles Lernen ist erklärtes Ziel der Gesamtschule Bexbach. Dazu pfl egt sie partnerschaft liche Beziehungen zu Schulen in Frankreich (Amné-ville) und Polen (Boguchwala) und organisiert alljährlich einen Schüleraus-tausch. In den Gastfamilien lernen die Schülerinnen und Schüler Lebensver-hältnisse, Sitten und Gebräuche und den kulturellen Reichtum des jeweiligen Nachbarn kennen, erleben Unterschiede und Gemeinsamkeiten und haben Gelegenheit zu authentischen Lern- und Sprechsituationen, auch ansatzweise in Polnisch.

Alljährlich wird eben-falls in Kooperation mit dem Verein „Be-gegnungen auf der Grenze“ ein trinatio-nales (deutsch-fran-zösisch-polnisches) Märchenfestival „Hin-

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ter den sieben Bergen – Märchenland Europa grenzenlos“ veranstaltet, an dem die umliegenden Grundschulen und eine benachbarte Erweiterte Realschule teilnehmen. Dabei sind mehr als vierzig Kinder einer polnischen Tanzgruppe in Gastfamilien untergebraucht.

Im September 2008 fand erstmals ein Austausch mit einer indischen Schule statt. Zwanzig Mädchen, Opfer der Tsunami-Katastrophe, waren u.a. an die Gesamtschule Bexbach eingeladen. Auf Initiative der Schülervertretung unter-stützt die Schule nachhaltig den Wiederaufb au der indischen Schule.

Die intensive und konstruktive Kooperationskultur innerhalb des Kolle-giums und der gesamten Schulgemeinschaft bildet eine solide Basis und ermöglicht die ständige Weiterentwicklung des schulischen Konzeptes. Ein Netzwerk unterschiedlicher Kooperationspartner im Umfeld der Schule erweitert und bereichert das schulische Angebot im Sinne einer regiona-len Bildungslandschaft : „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf “ (afrikanisches Sprichwort)

In einem systematischen Qualitätsverbesserungsprozess refl ektiert die Ge-samtschule Bexbach pädagogische Konzepte und Ziele und entwickelt sich stetig weiter (Schule als lernendes System). Die regelmäßig Teilnahme an Wettbewerben und der damit verbundene intensive Austausch mit anderen Schulen unterstützen diesen Prozess.

Gaby Schwartz, Schulleiterin

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Dr. Annemarie von der Groeben

Was ist eine gute Schule? - Ein Beitrag zum Diskurs über Erziehung und Bildung

Vortrag beim „Bildungsforum zum Saarländischen Schulpreis“ am 27. Juni 2007

Wir feiern heute eine Premiere der besonderen Art. Die Landeselterninitiative für Bildung und die Stift ung Demokratie Saarland laden, zusammen mit der Gesamtlandesschüler- und –elternvertretung, zu einem Bildungsforum ein. Ein Forum ist ursprünglich ein Marktplatz, also das Zentrum eines Dorfes oder einer Stadt. Die Griechen trafen sich dort täglich, um miteinander die Angelegenheiten ihrer Polis zu regeln. Sie trieben Politik und das war Bürger-pfl icht. Was hier heute geschieht, ist in diesem Sinne auch ein Stück Politik.

Schon immer haben Eltern nach Kräft en mitgeholfen, die Schule ihrer Kinder zu unterstützen. Hier aber geht es um etwas viel Grundsätzlicheres, und das ist für mich das Neue, ja Spektakuläre an dieser Veranstaltung. Eltern wollen mitreden in der Frage, was eine gute Schule ist, und das soll Folgen haben. Etwas verallgemeinert könnte man sagen: Die Gesellschaft mischt sich ein, die Polis nimmt ihre Angelegenheiten selbst in die Hand, indem sie einen Preis ausschreibt, sie will die Frage der Bildung nicht allein den Kultusministern, dem Schulamt, der Schulleitung und den Lehrerinnen und Lehrern überlas-sen. „Die Gesellschaft “ ist groß und abstrakt, niemand von uns hat sie je ge-sehen. Zugleich ist sie überall. Hier und heute sind wir „die“ Gesellschaft und stellen die Frage nach der guten Schule neu.

Was für ein Th ema! Die Frage ist ja so alt wie die Schule selbst. Natürlich soll die Schule gut sein, und niemand hat daran größeres Interesse als die Eltern. Da sollte man doch annehmen, es gebe längst Einigkeit darüber, was eine gute Schule ausmacht, sozusagen eine durch Konsens gesicherte Defi nition. Das Problem bei der Sache ist nicht, dass es solche Antworten nicht gibt. Das Prob-

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lem ist, dass es zu viele gibt und dass sie oft wenig Übereinstimmung erkennen lassen. So stehen wir mehr oder weniger ratlos vor der Fülle der Antworten. Für Eltern gibt es zum Beispiel den online-Ratgeber der Bertelsmann-Stift ung „Wie fi nde ich eine gute Schule für mein Kind?“ Da werden zehn Fragen vorge-schlagen, die Eltern stellen sollen. Zunächst, was und wie an der Schule gelernt wird – die Frage liegt ja nahe. Aber auch, ob die Schule ein Schulprogramm hat, ob die Lehrerinnen und Lehrer im Team arbeiten, ob das Kollegium sich systematisch fortbildet, ob und wie die Schule ihre Arbeit evaluiert usw. Hier wird die Schule gleichsam als Betrieb gesehen, der nach Maßstäben der Or-ganisationsentwicklung geprüft wird. Andere Maßstäbe legt der bekannte Bildungsforscher Helmut Fend an, den Sie für die Jury gewinnen konnten. Er repräsentiert die reiche Tradition der empirischen Schulforschung und hat der Frage, was eine gute Schule ist, einen großen Teil seiner wissenschaft li-chen Arbeit gewidmet. Für ihn kann man gute von schlechten Schulen an drei sogenannten Kernindikatoren unterscheiden: der Arbeitszufriedenheit, dem Berufsengagement und der Verantwortungsbereitschaft . Wenn sich niemand mehr für etwas verantwortlich fühlt, dann ist eine Schule nicht nur schlecht, sondern so ziemlich am Ende – siehe Rütli. Maßgeblich für ihn ist also die Haltung der Erwachsenen. Wiederum ganz anders, nämlich durch die ästheti-sche Brille guckt der Journalist und Filmemacher Reinhard Kahl auf Schulen. Er sucht „Treibhäuser der Zukunft “, einzelne Schulen, die völlig verschieden sein können und nur in einem übereinstimmen: dass sie gelingen. Für ihn sind Schulen so etwas wie Individuen. Maßgeblich für ihn ist also die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit einer Schule. Die für mich schönste Antwort auf die Frage, was eine gute Schule ist, stammt von Hartmut von Hentig. Er beschreibt sie als einen Ort mit verschiedenen Eigenschaft en, die er Lernbedingungen nennt. Zum Beispiel: „Ein Ort, an dem sich die Lust an der Sache einstellen kann“ oder „Ein Ort, an dem man mit einem Stück Natur leben kann“ oder „Ein Ort, an dem Gemeinsinn herrscht und wohltut“ oder „Ein Ort, an dem Martin Wagenschein würde lehren wollen“ oder „Ein Ort, an dem die Frage nach dem Sinn gestellt werden kann und gestellt wird“ (Hentig 1987). Maß-geblich für ihn ist also ein bestimmtes Verständnis von Pädagogik und von Bildung.

Das sind, wie Sie sehen, nicht nur verschiedene Antworten, sondern auch ver-schiedene Denkansätze. Was fangen wir nun damit an? Bitte erwarten Sie von mir keine Antwort, die diese vielen bereits bestehenden toppen könnte. Der

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Stein der Weisen liegt noch immer irgendo verborgen, ich habe ihn – leider! – nicht in der Tasche, wir werden ihn auch heute Abend nicht fi nden, ja, ich behaupte: er kann gar nicht gefunden werden. Je nachdem, wann und wie wir fragen und wie wir denken, werden wir immer zu unterschiedlichen Antwor-ten kommen. Auch empirische Studien wie PISA helfen da nicht weiter. Sie ermitteln Test-Ergebnisse, nicht Merkmale einer guten Schule. Gute Ergebnis-se können sich, wie Sie wissen, ganz unterschiedlichen Systemen verdanken. Stichwort: Finnland oder Korea. Ob wir eher in Richtung Finnland oder in Richtung Korea gehen wollen oder in eine andere Richtung, das hängt davon ab, welche Schule wir für unsere Kinder wollen.

Das ist Ihr Anliegen – so verstehe ich die Initiative. Hier soll ein Diskurs über Bildung und Erziehung angestoßen werden. Ein Diskurs ist eine Suchbewe-gung. Damit sie nicht ziel- und planlos verläuft , haben Sie Orientierungen vorgegeben in Form von Kriterien. Zu meiner großen Freude haben Sie dabei vieles von dem übernommen, was der Schulverbund „Blick über den Zaun“ erarbeitet hat. Darin sind ganz unterschiedliche Schulen zusammengeschlos-sen, die sich seit vielen Jahren kennen und regelmäßig besuchen. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen haben sie gemeinsame Grundüberzeugungen formuliert, die sie verbinden, und aus diesen wiederum Standards für eine gute Schule abgeleitet. Ich war daran maßgeblich beteiligt und stehe selbstver-ständlich zu diesen Überzeugungen und Erfahrungen. Aber sie können nicht einfach vorgegeben und übertragen werden, sondern sind selbst Bestandteil einer Suchbewegung. Schulen sind nie fertig, sondern immer auch Anfänger, so wie so wie jedes Elternpaar mit der Geburt eines Kindes zum Anfänger in Fragen der Erziehung und Bildung wird. Ob der Weg, den die Schule, den die Eltern mit ihren Kindern zurücklegen, gut ist, lässt sich nicht vorab entschei-den, sondern nur beobachten. In diesem Sinne wollen Sie den Schulen auf die Finger gucken.

Für diesen Prozess möchte ich Ihnen drei Leitfragen vorschlagen, die man getrennt betrachten kann, die aber inhaltlich so eng zusammengehören wie die Schnüre, aus denen ein Seil gedreht wird. Sie sollen die Qualitätskriterien, die Sie formuliert haben, begründen helfen und zugleich in Fragen zurück-verwandeln, an denen Sie sich bei der Suche nach guten Schulen orientieren können.

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Die erste Leitfrage lautet:

Welche Bildung schulden wir heutigen Kindern und Jugendlichen?

Eltern, die ihre Kinder erziehen, haben – bewusst oder unbewusst – eine Vor-stellung davon, worauf es ihnen dabei ankommt. Sie lesen ihren Kindern vor, singen mit ihnen, gehen mit ihnen in den Wald oder in den Zoo, treiben Sport, machen ein Feuer im Garten, kochen oder reisen mit ihnen, weil sie das al-les wichtig fi nden, weil sie fi nden, dass sie ihren Kindern solche Erfahrungen schuldig sind. Eltern sind die ersten und wichtigsten Bildungsvermittler. Bil-dung ist nicht nur eine Sache des Unterrichts, sondern auch, ja zu allererst, des Lebens und der unmittelbaren Erfahrung.

Aus der Lernforschung wissen wir, wie ungeheuer wichtig solche Primärer-fahrungen sind. Ich nenne Beispiele aus einem Buch, das sich wie ein Krimi liest (und auch solche Bestsellerquoten erreicht), obwohl es von einer wissen-schaft lichen Studie handelt. „Weltwissen der Siebenjährigen” ist der Titel, Au-torin ist die Jugendforscherin Donata Elschenbroich. In einer Studie wurden Menschen allen Alters, aller Schichten und Bildungshingergründe gefragt: „Was sollte heute ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wissen, können, erfahren haben?“ Heraus kam eine bunte Liste. Sie enthielt neben scheinbar alltäglichen Dingen (Ämter im Haushalt ausführen, ein Geschenk verpacken, Kochrezepte umsetzen, ein Baby gewickelt oder dabei geholfen haben, Tiere füttern, Blumen gießen, einen Schneemann / einen Damm im Bach bauen, ein Feuer machen, Butter machen, Sahne schlagen, in einen Bach gefallen / auf einen Baum geklettert sein), auch viele kulturelle Erfahrungen (Lieder sin-gen können, ein Musikinstrument gebaut haben, ein Gebet kennen, reimen können, ein chinesisches Zeichen geschrieben haben, eine Sonnenuhr gesehen haben, durch ein Teleskop geschaut haben, zwei Sternbilder erkennen, wis-sen, was Grundwasser ist, was eine Wasserwaage, eine Lupe, ein Katalysator, ein Stadtplan, ein Architekturmodell, in einer Bücherei gewesen sein, in einer Kirche (Moschee, Synagoge...), in einem Museum; und schließlich so grund-legende Fragen wie: Was ist ein Geheimnis, was ist Gastfreundschaft , was ist eine innere Stimme, was ist Eifersucht, Heimweh, was ist ein Missverständnis. (S. 22f.)

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Was hat das mit Schule und Unterricht zu tun? Antwort: sehr viel. In unse-re Schulen kommen Kinder, die einen großen Reichtum solcher Erfahrungen mitbringen und die daraus entstehende „strahlende Intelligenz im Vorschulal-ter“, wie die Autorin sagt. Andere, die sich mehr oder weniger selbst überlas-sen sind und ihre Kindheit mehr oder weniger vor dem Fernseher verbringen, haben schon verloren, bevor die Schule überhaupt beginnt. Kein Förderun-terricht, etwa im Lesen, keine Nachhilfe kann später die Defi zite beheben, die dadurch entstehen, dass diese Kinder keine Lieder kennen, keine Reime, keine Gedichte, kein Märchen, dass sie keine Erwachsenen haben, die mit ih-nen in eine Bücherei, ein Museum, eine Moschee gehen, singen, tanzen und musizieren, Kochrezepte umsetzen, Sternbilder angucken oder darüber reden, was Gastfreundschaft oder Eifersucht ist. Das ist die tiefere Ursache für die nach wie vor riesige, ja weiter wachsende Chancenungerechtigkeit in unserem Land. Das ist Bildungsarmut, die schlimmste Armut, die es gibt. Denn die materielle kann man ändern, diese nicht. Fenster, die in der Kindheit off en sind, schließen sich später, sagen die Neurowissenschaft ler. In Deutschland leben zwei Millionen Kinder in Armut. Diese Zahl müsste zu einem Aufschrei der Bevölkerung führen. Solche Kinder brauchen erst einmal Schuhe, damit sie im Winter nicht mit Sandalen laufen müssen, aber sie brauchen viel mehr als das. Sie sind nicht nur materiell benachteiligt, sondern auch gesundheitlich und sozial und in ihren Bildungschancen. Multiple Deprivation nennt das die Armutsforschung. Diese Kinder brauchen geistige Nahrung so nötig wie ein Stück Brot. Ihre Chancen, am Ende der Grundschulzeit eine Gymnasialemp-fehlung zu bekommen, sind viermal geringer als die von Kindern begüterter Familien, auch dann, wenn ihre Mütter einen gleichen, höheren Bildungsab-schluss haben.

Kürzlich hat ein prominenter Teilnehmer einer Talkshow gesagt, er sei auch arm aufgewachsen und gerade das habe seinen Lern- und Bildungshunger be-fl ügelt. Daraufh in hagelte es empörte Kritik. Wer hat Recht? Ich persönlich habe meine Kindheit in den Nachkriegsjahren ähnlich erlebt wie jener Redner. Unsere Eltern waren bitter arm und arbeiteten sehr hart, um uns durchzu-bringen, wir Kinder aber waren reich wie die Könige, lebten auf dem Land, in einem großen, alten, geheimnisvollen Haus mit vielen anderen Kindern und konnten uns volltanken mit Erfahrungen der Art, wie Donata Elschenbroich sie beschreibt. Die heutige Armut, so scheint mir, ist etwas völlig anderes. Sie

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stellt eine Art „Niemandsland“ dar: derer, die von der Gesellschaft nicht ge-braucht werden. Für das Selbstverständnis und das Alltagsleben der betroff e-nen Menschen hat dies massive Folgen. Arbeitslosigkeit ist in vielen Familien zur Normalsituation geworden, viele Kinder kennen gar nichts anderes, als dass die Erwachsenen um sie herum nicht arbeiten. Die uns so selbstver-ständliche Einteilung und Rhythmisierung des Tages nach festen Zeiten fehlt ihnen, weil ihre Eltern sie auch nicht haben. Es gibt kein regelmäßiges Zur-Arbeit-Gehen und Nach-Hause-Kommen der Eltern, es gibt keine regelmä-ßigen Essenszeiten, keine Freude auf das Wochenende, weil eigentlich immer Wochenende ist, darum auch keine gemeinsamen Wochenend-, Reise- oder Ferienunternehmungen. Dafür steht reichlich Ersatznahrung zur Verfügung. Die neue Armut, das weiß man aus vielen Studien, produziert keinen Hunger, sondern Übersättigung (und damit eine andere Art von „Hunger“): überge-wichtige Kinder, die sich mit Chips und Fast Food vollstopfen. Ihre geistige Nahrung ist von gleicher Art: TV- und Computer-Fast-Food. Es entsteht eine neue Spracharmut, die nicht gleich erkennbar wird, weil diese Kinder durch-aus eloquent sein können. Aber was sie reden, bleibt eine Art Fertigwaren-Sprache, bestehend aus vorgegebenen Versatzstücken. Was fehlt, ist die Fähig-keit zu diff erenzieren, eigene Verknüpfungen herzustellen - im Denken und in der Sprache.

Nun treff en diese Kinder in der Schule auf ein straff es Zeitsystem, das sie völlig überfordert. Amerikanische Studien haben ergeben, dass genau damit der Teufelskreis des Abstiegs beginnt. Und dann werden Anforderungen an sie gestellt, die beispielsweise problemlösendes Denken in der Art von PISA-Aufgaben erfordern. Diese kommen in einer Sprache daher, die sie nicht ver-stehen, weil ihre Sprache so wenig produktiv herausgefordert worden ist wie ihre Intelligenz. Das Scheitern ist vorprogrammiert. Ihre Altersgenossen aus den „besseren“ Vierteln hingegen partizipieren wie selbstverständlich an allen kulturellen Bereichen auch durch Einzelunterricht und Kurse: Klavier, Ballett, Kunstschule, Tennis... Und natürlich achten deren Eltern streng - und notfalls mit viel Geld für Nachhilfe - darauf, dass die Schulleistungen so gut wie nur irgend möglich sind. Was folgt aus alledem, wenn wir als Bürgerinnen und Bürger uns fragen, wel-che Bildung wir unseren Kindern schulden?

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Erste Konsequenz: wir brauchen eine große gesellschaft liche Bildungsanstren-gung. Gegenwärtig geschieht viel in dieser Richtung. Es ist gut, dass langfristig Krippen- und Kindergartenplätze für alle gesichert werden. Es ist gut, dass wir mehr und mehr Ganztagsschulen bekommen. Aber mit der Einrichtung solcher Plätze und Schulen allein ist es nicht getan, es kommt alles darauf an, wie sie genutzt werden. Darum die zweite Konsequenz: Die Schule muss sich verändern, wir müssen das Lernen weiter fassen, den Unterricht anders anle-gen; nicht nur für Kinder, die in Armut leben, sondern für alle Kinder. Nicht: die Türen zumachen und die Köpfe mit möglichst viel Stoff in möglichst kur-zer Zeit füllen, sondern: die Türen aufmachen, den Kindern die größtmögli-che Fülle spannender Lerngelegenheiten bieten, in und außerhalb der Schule. Nicht Nachhilfe im Lesen und Pauken für den Test, sondern die Lust am Lesen wecken, ja die Kinder lesesüchtig machen. Dritte Konsequenz: Dafür brau-chen die Schulen Unterstützung, also Partner: an erster Stelle die Eltern, aber auch Ehrenamtliche, professionelle Anbieter für bestimmte Bereiche und na-türlich die kommunalen und regionalen Betriebe und Einrichtungen. Kinder brauchen zum Lernen nichts dringlicher als Zuwendung von Erwachsenen, Orientierung in der Welt und Bewährung in herausfordernden Lernsituatio-nen, solche, die Anstrengung, Umwege und Fehler mit sich bringen und damit produktive Kräft e freisetzen. Das ist nicht allein Sache der Schulen. Bildung wird, gerade in einer „Krise unserer Gesellschaft durch Globalisierung, Indi-vidualisierung und Medialisierung“, wie es in Ihrer Medienmitteilung heißt, immer mehr und dringlicher zu unser aller Aufgabe. Bildung ist Bürgersache!

Mit dem Deutschen Schulpreis 2006 wurde eine Grundschule in Dortmund ausgezeichnet, die mitten in einem sogenannten sozialen Brennpunkt liegt. Der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund liegt bei 83 %. Was ihre Arbeit so gut macht, schildert ein Prospekt, aus dem ich hier zitiere. „Als die Schule gegründet wurde, hat man im Kollegium nicht über die Frage disku-tiert: Welche Bücher schaff en wir an?, sondern: Was für eine Schule wollen wir – in diesem Stadtteil und für diese Kinder? Jeder Morgen beginnt mit einer ritualisierten Ankommenszeit. Weil die Kinder zu Hause keinen festen Rhyth-mus haben, muss er in der Schule umso klarer und verlässlicher sein. Weil sie von sich aus nicht lesen und ihnen auch niemand vorliest, muss das Lesen im Tageslauf fest verankert sein, zum Beispiel durch das sogenannte Flurlesen: Die Kinder wählen unter 10 ausgelegten Büchern eines aus, erhalten einen

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Gutschein dafür, gehen damit in einen Raum zu einer Lehrerin, die ihnen da-raus vorliest. Weil die Eltern nicht zu Elternabenden kommen und das Päda-gogendeutsch nicht verstehen, gibt es ein Elterncafé, das während der Unter-richtszeit geöff net ist. Dorthin kommen die Mütter mit ihren Kleinkindern, es gibt Computer-, Alphabetisierungs- und Sprachkurse, sogar eine Schuld-nerberatung und natürlich Zeit für Gespräche.“ So kann die Schule die El-tern für ihre Arbeit gewinnen und sie mit einbeziehen. Aus diesen und vielen anderen Bausteinen setzt sich das Profi l der Schule zusammen. Das Lernen ist thematisch gebündelt, man nimmt sich viel Zeit, beispielsweise für das Th ema „Herbst“, Zeit für Erkundungen und Berichte, für Malen und Schreiben, für konzentriertes Lernen und für Erlebnis und Anschauung. Die Schulleiterin sagt dazu: „Wir können den Kindern heute keinen Wissens-Rucksack mehr fürs ganze Leben schnüren, sie sollen vor allem lernen zu lernen – mit allen Sinnen.“

Wenn man dieses Schulprofi l kopieren und anderen als Muster vorschreiben würde, käme ganz sicher Krampf dabei heraus. So funktioniert Bildungsre-form nicht. Diese Schule ist gut, weil sie so entschieden ihren Weg geht, und genau dafür ist sie ausgezeichnet worden, ebenso wie die anderen. Sie sind ganz unterschiedlich und stimmen doch in diesem Punkt überein. Zugleich stimmen sie in jenen Grundüberzeugungen überein, die die „Blick-über-den-Zaun“-Schulen formuliert haben. An ihnen hat sich auch die Jury des Deut-schen Schulpreises orientiert. Deren erste und grundlegende lautet:

Die wichtigsten Vorgaben für jede Schule sind die ihr anvertrauten Kinder – so wie sie sind, und nicht so, wie wir sie uns wünschen mögen. Sie haben ein Recht darauf, dass die Schule für sie da ist und nicht umgekehrt.

Das erste und grundlegende Erkennungsmerkmal für eine gute Schule ist demnach die Frage, ob sie, gemessen an diesem Grundsatz, „stimmt“. Stimmt das Kollegium mit sich selbst überein, weiß die Schule, was sie will und steht sie dazu? Stimmt sie zu ihren Kindern, zu deren Eltern, zum Stadtteil? Wie ist die Stimmung, in den Klassen, im Schulleben, im Kollegium? Wenn Sie zu der Überzeugung kommen, dass diese Schule in diesem Stadtteil für diese Kinder nach allen Kräft en und nach einem von allen getragenen Programm das Mög-liche tut, dann ist sie eine gute Schule.

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Aber was hat das mit der Bildung zu tun, die wir den Kindern schulden? Ant-wort: alles. Bildung ist ja keine Fertigware, keine Pille, die täglich verabreicht wird und bei allen die gleiche Wirkung tut, sondern ein Prozess der Aneig-nung, der immer individuell verläuft . Um zu prüfen, ob und wie er gelingt, müssten wir nicht die Produkte messen, sondern die Prozesse beobachten. Wir müssen unsere Prioritäten ändern. Wir müssen nicht unsere Kinder prü-fen, sie testen und abfragen, was sie gelernt haben, sondern wir müssen uns prüfen, uns fragen, was wir tun, um ihnen “Lust auf die Begegnung mit der Welt” zu machen. Die Liste der Bildungserfahrungen, die Elschenbroich erho-ben hat, ist nicht gedacht als „Checkliste der abzuprüfenden Fertigkeiten und Erfahrungen. Eher schon ist es eine Checkliste der Pfl ichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpfl ichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schul-den wir den Siebenjährigen?“ (S. 24)

Vielleicht können Sie diesen Überlegungen zustimmen – für Grundschulkin-der. Was aber ist mit den Größeren, den Elf- bis Sechzehnjährigen? Welche Bildung schulden wir ihnen? Es wäre ein höchst spannendes Experiment, hier miteinander eine ähnliche Liste aus unseren Nennungen zusammenzu-tragen wie die von Donata Elschenbroich, aber bezogen auf die 15-Jährigen, also das PISA-Alter. In der Laborschule habe ich dieses Experiment einmal mit Zehntklässlern gemacht. Sie sollten nicht Fachwissen aufzählen, sondern Bildungserfahrungen, die sie für wichtig halten, und sie sollten nicht nur ihre eigenen Vorgaben aufschreiben, sondern sich auf gemeinsame einigen, erst die Mädchen und Jungen unter sich, dann alle zusammen. Das gab, wie Sie sich denken können, die lebhaft esten und zum Teil heft igsten Debatten. Die Basics waren unstrittig. Klar sollen alle die eigene Sprache und mindestens eine Fremdsprache beherrschen und über ein tragfähiges mathematisch-na-turwissenschaft liches Grundwissen verfügen. Aber was ist sonst noch wichtig? Im Ausland gewesen sein, mit Geld umgehen können, im Wald/am Meer/in den Bergen gewesen sein, sich mit Haushaltsgeräten auskennen, Müll trennen, aufgeklärt sein – all das wurde genannt und war unstrittig. Aber Nennungen wie „sich bedanken, sich entschuldigen können“ oder „gute Tischmanieren haben“ waren es ganz und gar nicht. Es kommt doch darauf an, was einer für ein Mensch ist, und nicht, wie er sich beim Essen benimmt, sagten die einen. Wer beim Essen mit den Haaren in der Suppe hängt und rülpst und schmatzt, stört die anderen und kriegt bestimmt schwerer einen Job als jemand mit gu-

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ten Manieren, sagten die anderen. – Ja, wollt ihr denn lauter angepasste Schlei-mer? – Wieso, ich bin doch kein Schleimer, wenn ich mit Messer und Gabel umgehen kann. – usw. usw. Das Interessante an diesem Experiment war nicht, was am Ende auf der Liste stand, sondern der Weg dorthin, also die Verstän-digung darüber, was wichtig ist, und das Nachdenken darüber, woran wir uns bei diesen Entscheidungen orientieren. Haben wir ein bestimmtes Bild von einem gebildeten Menschen vor Augen, so wie es im Mittealter, in der Renais-sance und bis ins 20. Jahrhundert hinein war, oder defi nieren wir das Wissen, das in den Köpfen sein soll oder grundlegende Bildungserfahrungen, die alle Menschen gemacht haben sollen, oder alles zusammen? Und welche Rolle soll die Schule dabei spielen? Ist sie denn zuständig für Tischmanieren? Gegen-frage: Wenn nicht die Schule, wer sonst – bei Kindern, deren Eltern darauf nicht achten? Sie merken: Nichts ist schwieriger als einfache Fragen. Welche Bildung schulden wir den heute Heranwachsenden? Angenommen, wir wür-den der Nennung der Jugendlichen zustimmen, dass alle am Meer, im Gebir-ge, im Ausland gewesen sein sollen, dann muss die Schule diese Erfahrungen bereitstellen, weil viele von ihnen sie sonst nicht machen könnten. Das gilt nicht nur für die Reisen, sondern ebenso für die Tischmanieren und erst recht für demokratisches Verhalten. Wie soll man es lernen, wenn nicht am Leben? Wie das Benehmen bei Tisch, wenn es keine gemeinsamen Mahlzeiten gibt? Wie Gemeinsinn und Verantwortung, wenn es keine Gelegenheit gibt, sich zu bewähren? Woher aber soll die Zeit für all das kommen? Haben die Schulen nicht schon mehr als genug zu tun mit dem vorgeschriebenen Lernstoff ?

Für Schulen der Sekundarstufe gilt ebenso wie für Grundschulen: Sie müssen wissen, was sie wollen. Sie müssen für sich entscheiden, welche Bildungser-fahrungen – jenseits der vorgeschriebenen Fachinhalte - sie ihren Schülerin-nen und Schülern mitgeben wollen. Für Laborschülerinnen und –schüler sind das Erfahrungen wie: Den Achtstundentag in einer Produktionsfabrik eini-ge Wochen lang am eigenen Leib erfahren; in einer Berghütte auf engstem Raum zusammenleben und sich selbst versorgen; gelernt haben, wie man ein Fahrrad repariert, eine Mahlzeit kocht und anrichtet, einen Garten anlegt; in einer Holz- und Metallwerkstatt mit Maschinen selbständig umgehen, grö-ßere Werkstücke selbständig angefertig haben; eine Zeit lang im Ausland le-ben, in der Fremdsprache einkaufen, telefonieren, in die Schule gehen; kleine Kinder oder hilfsbedürft ige Personen eine Zeit lang betreuen; drei Wochen

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in einem Dienstleistungsbetrieb mitarbeiten – und vieles mehr. Auf der Ebe-ne der Fachsystematik lässt sich das Gedankenspiel fortsetzen. Für Deutsch würde auf meiner Liste beispielsweise stehen: Viele Gedichte kennen, einige auswendig; mehrmals auf der Bühne gestanden, an mindestens einer großen Th eaterauff ührung mitgewirkt haben; ein Referat oder eine Rede stehend vor-getragen haben; drei Jahresarbeiten geschrieben, dabei Fachliteratur gelesen, verarbeitet und korrekt ausgewiesen haben; einen mittelhochdeutschen Text, ein Barockgedicht, ein klassisches Drama kennen; an literarischen Vorlagen eigene Gestaltungsmöglichkeiten experimentell erprobt haben; mehrere Bü-cher vorgestellt, sich aktiv, schreibend und gestaltend mit einigen auseinan-dergesetzt haben – und vieles mehr. Sie sehen, hier geht es nicht um eine neue Liste verbindlicher Inhalte, einen Kanon oder abprüfb are Standards, sondern um den Versuch, im Sinne von Donata Elschenbroich grundlegende Erfah-rungen zu benennen, solche, die wir für so wichtig halten, dass wir sie der nachfolgenden Generation zu schulden glauben.

Ein Erkennungsmerkmal für eine gute Schule ist, dass sie solche Erfahrungen benennen und begründen kann. Fragen sie nicht nur, wie die Schule in den Basics abschneidet. Die sind sehr wichtig und müssen nachweislich gut ge-lernt werden. Aber Bildung ist sehr viel mehr, und an diesem Mehr lässt sich ablesen, wie gut eine Schule ist. In der Denkschrift „Zukunft der Bildung (Hg. Killius/Kluge/Reisch, 2002) haben einige prominente Wissenschaft ler, Bau-mert, Fried, Joas, Mittelstraß und Singer, in einem Text mit der Überschrift „Manifest“, ausgehend vom Stand der Lernforschung, ihre bildungstheoreti-schen und bildungspolitischen Zukunft sperspektiven skizziert. Darin heißt es: „Die Schule hat .. als wichtigste Aufgabe, Lust auf die Begegnung mit der Welt zu machen, ihre kognitiv-instrumentelle Seite kennen lernen zu wollen: die Mathematik, die Philosophie, die Naturwissenschaft en, die Technik; ihre äs-thetisch-expressive Seite: bildende Kunst und Literatur, Film und Architektur, Musik, Tanz, Sport und Th eater; ihre evaluativ-normative: Recht, Wirtschaft , Politik und Gesellschaft ; aber auch die letzten Fragen nach Leben und Tod, Ethik und Werten, Glauben und Religion“ (S. 195). Alle diese Dinge machen die Kultur unserer Gesellschaft aus. In sie hineinzuwachsen heißt zugleich, in die Polis hineinzuwachsen. Fragen Sie, was die Schulen tun, damit die Kinder und Jugendlichen an dieser Kultur von klein auf teilhaben können, was sie tun, um in diesem Sinne „Lust auf die Begegnung mit der Welt“ zu vermit-

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teln. Fragen Sie vor allem, was sie tun, damit die Kinder und Jugendlichen zu verständigen und verantwortlichen Bürgerinnen und Bürgern der Polis heran-wachsen. Die „Blick-über-den-Zaun“-Schulen sagen dazu:

Die Schule muss selbst ein Vorbild der Gemeinschaft sein, zu der und für die sie erzieht. Sie muss ein Ort sein, an dem Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass es auf sie ankommt, dass sie gebraucht werden und „zählen“. Die Werte, zu der die Schule erzieht, müssen mehr als „Unterrichtsstoff “ sein; Selbst-ständigkeit und Verantwortung, Solidarität und Hilfsbereitschaft , Empathie, Zu-wendung und Mitleid müssen im Alltag gelebt werden.

Schauen Sie auf den Alltag in der Schule. Achten Sie darauf, ob die Kinder und Jugendlichen das Gefühl haben, hier „richtig“ zu sein, in einer guten Gemein-schaft zu leben. Fragen Sie, ob sie sich für ihre Schule veranwortlich fühlen und was das konkret für sie bedeutet. Fragen Sie, welche Regeln hier gelten und wie sie dazu stehen. Fragen Sie die Schülervertreter nach ihrer Tätigkeit. Achten Sie darauf, wie die Schule mit Konfl ikten umgeht. Ein verlässliches Erkennungsmerkmal für eine gute Schule ist, dass sie sich für solche Rege-lungen viel Zeit nimmt, nicht „von oben“ bestimmt, wo´s lang geht und wie es gemacht wird, sondern den immer wieder mühsamen Prozess geduldiger Beratung und Überzeugung geht. Das ist Politik im elementaren Sinne nach der Defi nition von Hartmut von Hentig: bewegliche Regelung gemeinsamer Angelegenheiten. Wer daran spart, weil sie viel Zeit kostet, spart am falschen Ende.

„Lust auf die Begegnung mit der Welt”, „in die Polis hineinwachsen“ – solchen allgemeinen Formulierungen werden wir alle zustimmen. Aber wie geht das? Eher indem man die Welt und die Polis aussperrt, die Kinder in geschlossene Räume steckt und ihnen Wissen über die Welt beibringt, das andere erworben haben, ihnen von Erfahrungen berichtet, die andere gemacht haben? Oder eher, indem man die Türen weit öff net und die Kinder einlädt, immer öft er hinauszugehen, immer weiter und immer selbstständiger, und dabei selbst zu Forschern zu werden?

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Ich bin damit bei der zweiten Leitfrage:

Wie sollen Kinder und Jugendliche in der Schule leben und lernen?

Noch einmal Donata Elschenbroich. Sie begründet ihr Lern- und Bildungsver-ständnis in Anlehnung am den Philosophen Peter Sloterdijk, der Lernen als „Vorfreude auf sich selbst” defi niert. Das klingt nicht nur bedeutend und tief-sinnig, sondern auch schön. Aber was heißt es? Bei Elschenbroich lesen wir: „Den Kopf heben, Aufh orchen – das sind weltbildende Gesten. Das Kind hebt den Kopf und sieht die Welt aufgehen. Das Kind bildet dabei einen Horizont, die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Wirklichen und dem Möglichen. Terrain gewinnen, den Horizont voranschieben, unter-wegs zu einem Zuwachs an Welt, unablässig: Das heißt lernen. Der Mensch, sagt Sloterdijk, ist ein ´Mehrwelttier´ und die Welt-Aneignung eine ´Fortset-zung der Geburt mit anderen Mitteln´.“ (S. 10) Das Buch beginnt mit dem Satz: „Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen.“ (S. 9)

Vielleicht klingt das in Ihren Ohren ein wenig abgehoben. Ganz handfest und empirisch sind hingegen Ergebnisse von wissenschaft lichen Untersuchungen, die zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen und daraus Konsequenzen für das Lernen in der Schule ziehen. Ich gebe hier einige Grundgedanken aus dem Projektentwurf „hi.bi.kus – hirngerechte Bildung in Kindergärten und Schu-len“ von Gerald Hüther wieder, einem bekannten Neubiologen, der sich üb-rigens explizit auf Elschenbroich beruft . “Wer keine Fehler macht, lernt auch nichts. Deshalb erschließen auch schon Kinder die Welt durch Versuch und Irrtum.” So heißt es in diesem Projektentwurf. Durch solche Erfahrungen – und nur so, das ist das Entscheidende! - kann das Gehirn seine „nutzungsab-hängige Plasitzität“ entwickeln. Lernen ist ein Prozess, der seine Spuren im Gehirn hinterlässt, und nur auf diesen Bahnen kann dann weiter auf- und ausgebaut werden. Was und wie gelernt wird, hängt entscheidend davon ab, welche Anreize und Herausforderungen von außen kommen. Neurowissen-schaft ler bestärken uns auch darin, dass nichts so wichtig ist beim Lernen wie Unterstützung. Das Gehirn ist ein „Sozialorgan“, so Hüther.. „Die wichtigsten Erfahrungen, die ein Kind im Verlauf seiner Entwicklung macht – und die daher den nachhaltigsten Einfl uss auf die innere Organisation und Strukturie-

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rung seines Gehirns haben, sind Beziehungserfahrungen“ (S. 16). Die Konse-quenzen für Schule und Unterricht lesen sich wie aus einem Programmbuch der Reformpädagogik: Lernangebote müssen (1) Sinn machen, (2) Aha-Erleb-nisse, d.h. neue Einsichten ermöglichen, (3) unter die Haut gehen, (4) nütz-lich, vorteilhaft und anwendbar sein (S. 3).

Solches entdeckende Lernen kostet Zeit und Umwege – und damit sind wir bei einem sehr aktuellen Streitthema. Umstritten ist, welche Rolle direkte Er-fahrungen, vereinfacht gesagt „das Leben“, in der Schule spielen können und sollen.

Jürgen Baumert vertritt die Th ese, die Schule vermittle „grundsätzlich stell-vertretende Erfahrungen, die dennoch – sollen Lern- und Bildungsprozesse erfolgreich verlaufen – als persönlich bedeutsam wahrgenommen werden müssen“. Dieser stellvertretende Charakter werde besonders deutlich, wenn die Schulen sich bemühten, direkte Erfahrungen in ihr Programm zu integrie-ren. „Jedem Schüler ist über kurz oder lang klar, dass hier nicht ´wirkliches´ Leben stattfi ndet, sondern pädagogische Ziele verfolgt werden“ (Baumert 2006, S. 41).

Hartmut von Hentig dagegen vertritt das Konzept einer Schule als Lebens- und Erfahrungsraum. Ja, er geht gerade jetzt mit einem neuen kühnen Vor-schlag an die Öff entlichkeit, nachzulesen in seinem Buch „Bewährung“. Im Pubertätsalter sollten Jugendliche die Schule für ein Jahr verlassen dürfen, um sich tätig zu bewähren – nicht damit sie weniger lernen, sondern damit sie mehr, weil anders und diesem Alter entsprechend lernen.

Die Schulen werden diese Kontroverse selten als Th eoriestreit diskutieren. Sie müssen praktische Antworten geben. Viele gelungene Beispiele zeigen, was möglich ist, wenn sie die Türen aufmachen und das Leben nicht nur herein-lassen, sondern selbst hinausgehen. Kinder und Jugendliche gehen in die Be-triebe, engagieren sich im Stadtteil, betreuen hilfsbedürft ige Menschen, über-nehmen ökologische Patenschaft en, erforschen die Geschichte ihrer Stadt, beispielsweise indem sie Stolpersteine dort verlegen, wo jüdische Bürgerinnen und Bürger, die während des Hitler-Regimes deportiert und ermordet wur-den, früher gewohnt haben.

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Ich bin davon überzeugt, dass kein Lernen nachhaltiger sein kann als solche Ernstfall-Situationen. Und sie müssen keine Ausnahme sein. Der ganz nor-male Fachunterricht im ganz normalen Alltag kann in diesem Sinne Leben mit Lernen verbinden. Natürlich ist es nicht „echtes Leben“, wenn Kinder bei-spielsweise Hieroglyphen malen oder Felder vermessen oder auf der Bühne stehen oder Balladen zum Hörspiel umformen. Aber solche Lernerfahrungen sind dennoch „echt“ im Sinne eines realen Aneignungsprozesses und inso-fern notwendiger Bestandteil nachhaltigen Lernens. Insofern scheint mir der Unterschied zwischen realer und stellvertretender Erfahrung und damit die Kontroverse zwischen Hentig und Baumert in dieser Frage eher gradueller als prinzipieller Art zu sein.

Die „Blick-über-den-Zaun“-Schulen haben ihre Lern-Philosophie in folgen-den Sätzen zum Ausdruck gebracht:

Lernen ist umso wirksamer, je mehr es an Erfahrung, (Selbst-)Erprobung, Be-währung und Ernstfall gebunden ist. Lernen ist umso weniger wirksam, je stärker es nur rezeptiv, fremdgesteuert, einseitig kognitiv bleibt. Lernen braucht Erlebnis und Erfahrung ebenso wie Übung und Systematik; seine Qualität hängt davon ab, wie sich beide ergänzen. Neugier, „Forschergeist“, Lernfreude und Ernst sind die Voraussetzung für die aktive „Aneignung von Welt“, die den Kern von Bil-dung ausmacht. Die wichtigste Aufgabe der Schule ist, Lernen so anzulegen, dass daraus Bildung werden kann. Darum braucht Lernen Freiraum: die Freiheit der Schule, den Unterricht jeweils neu zu denken und auf Bildung anzulegen.

Das ist gut reformpädagogisch gedacht. Es ist zugleich sehr modern im Sinne der Lernforschung. Und Schulen, die sich an dieser Überzeugung orientieren, werden ihren Freiraum nutzen, um sie auch in die Tat umzusetzen.

Warum aber geschieht das noch so wenig? Warum dominiert in unseren Schu-len immer noch das in portionierte Einheiten zerhackte Lernen im 45-Mi-nuten-Takt, warum ist es so oft rezeptiv, fremdgesteuert, einseitig kognitiv? Warum ändert sich so wenig, obwohl Lehrerinnen und Lehrer doch wissen und am Beispiel anderer Schulen sehen können, dass und wie es auch anders geht? Bei vielen Schulbesuchen habe ich diese Frage immer wieder gestellt und immer wieder ähnliche Antworten gehört. Die Hauptschulen sagen: Unsere

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Kinder haben solche Defi zite, da können wir uns solche Projekte nicht leisten, wie brauchen die gesamte Zeit, um mit ihnen zu üben. Die Gymnasien sagen: Wir haben so viel Stoff zu bewältigen, da können wir uns solche Projekte nicht leisten, wir brauchen die gesamte Zeit, um auch nur das notwendige Pensum zu schaff en. Alle berufen sich auf die Standards und die Prüfungen.

Reinhard Kahl karikiert solches Denken: „Um die Erfüllung von Standards in den messbaren Leistungen muss man sich nicht sorgen, wenn sich Lehre-rinnen und Lehrer nicht länger wie Untermieter im angeblich übermächti-gen System verhalten und wenn die Schülerinnen und Schüler nicht mehr zur Schule gehen wie zum Zahnarzt.“ Er hat Recht: bekannte Schulen in Deutsch-land, die auf das „andere“ Lernen setzen, können auf sehr gute Testergebnisse verweisen. Schule und Unterricht müssen nicht so bleiben, wie sie sind.

Ein wichtiges Erkennungsmerkmal für eine gute Schule ist die Art des Ler-nens, nicht das Was, sondern das Wie. Achten Sie auf die Lernumgebung, die Gestaltung der Klassenräume und der Schule. Welche Anregungen fi nden die Kinder und Jugendlichen da vor? Fragen sie sie nach dem, was sie an diesem Tag oder in der letzten Unterrichtseinheit gelernt haben: Was haben sie behal-ten, was war ihnen wichtig, was hat es ihnen gebracht, was hat es mit ihrem Leben zu tun, vor allem: Was haben sie mit Freude gelernt? Wenn keine Freu-de dabei war und keine persönliche Bedeutsamkeit, dann kann der Unterricht nicht gut gewesen sein. Fragen Sie die Lehrerinnen und Lehrer: Was ist ihnen an dem Pensum, das sie gerade vermitteln, persönlich wichtig? Wie versuchen sie, die eigene Begeisterung für ihre Sache an die Kinder und Jugendlichen weiterzugeben? Wenn da kein Funken von Begeisterung mehr da ist, dann sieht es schlecht aus. Unterricht bei ausgebrannten Lehrern kann nicht gut sein. Fragen Sie auch, was die Lehrerinnen und Lehrer tun, um das Lernen mit Anschauung und Erfahrung zu verknüpfen. Wenn sie nur oder überwiegend Buchwissen vermitteln, dann kann der Unterricht nicht gut sein.

Solche Sätze lassen sich leicht sagen. Aber wir müssen auch den Alltag der Schulen, der Lehrerinnen und Lehrer sehen. Sie stehen unter enormem Druck, sie sollen immer mehr leisten und das in weniger Zeit. Woher soll da die Zeit und Kraft für innovativen Unterricht kommen? Außerdem: Wenn man zum zwanzigsten Mal das Relativpronomen unterrichtet, ist es schwer, dafür noch

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Begeisterung aufzubringen oder gar ein spannendes Projekt daraus zu ma-chen. Das muss auch nicht sein. Systematische Belehrung und Übung gehören ebenso zum Lernen wie Erlebnis und Anschauung. Aber die Balance muss stimmen. Je mehr die Schulen unter Druck geraten, desto unstimmiger wird diese Balance. Leider tragen bildungspolitische Entscheidungen, deren Ziel doch bessere Schulen und der Abbau von Chancenungerechtigkeit sein sollen, einiges zu dieser negativen Entwicklung bei – so die Kritik der „Blick-über-den-Zaun“-Schulen, die diese in einer Denkschrift begründen.

In unseren Schulen, so heißt es darin, „ist diese Balance verrutscht, ist eine Schiefl age entstanden, die sich aus dem Zusammenwirken vieler Faktoren ergibt: Testergebnisse werden verabsolutiert, Schulqualität wird mit Tester-gebnissen gleichgesetzt. Damit setzt sich ein verändertes und verengtes Bil-dungsverständnis durch: Wichtig ist, was „zählt“, alles andere wird marginali-siert. Unter dem Druck des Wettbewerbs um Ausbildungs- und Arbeitsplätze wird dieses Denken von besorgten Eltern antizipiert, werden Leistungstests als Lebenschancentests interpretiert, werden darum Kinder mit allen Mitteln „auf Leistung getrimmt“, wird in Kauf genommen, dass viele von ihnen in jun-gen Jahren schon eine Arbeitsbelastung haben, die man selbst Erwachsenen kaum zumuten kann. Unter dem Druck der Konkurrenz zwischen den Schu-len gibt es eine Abstoßbewegung nach unten, wie die Rückläuferquoten ge-scheiterter Gymnasiasten zeigen. In vielen Hauptschulen gibt es zu Beginn des 5. Schuljahrs immer weniger Anmeldungen, dafür in der Mittelstufe immer mehr Rückläufer. Unter dem Druck wirtschaft lich bedingter gesellschaft licher Verwerfungen verstärkt sich so die Heterogenität der Schülerschaft , vergrö-ßert sich die sozial bedingte Chancenungerechtigkeit: Durch „Abstimmung mit den Füßen“ besuchen die Kinder besser gestellter Eltern die „besseren“ Schulen und werden mit allen zusätzlichen Mitteln unterstützt, während sich in den sozial belasteten Kommunen und Stadtteilen die „Loser“ von morgen sammeln. Eine zynische Zukunft sperspektive zeichnet sich ab, wenn diese Entwicklung sich weiter zuspitzt: Am unteren Ende der Gesellschaft entsteht ein chancenloses Subproletariat und am oberen Ende eine Kopfelite, die ihre Intelligenz und Kreativität im wesentlichen darin investiern muss, im immer schärferen Konkurrenzkampf zu den Gewinnern zu gehören. Dieser Prozess stellt eine Rotationsbewegung von ineinander greifenden Ursachen und Wir-kungen dar, die einander hervorbringen, beeinfl ussen und verstärken; so ent-

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steht der „Turbo-Eff ekt“ einer immer schnelleren Entwicklung – ein Teufels-kreis. Dies alles kann niemand wollen. Eine solche Entwicklung widerspricht nicht nur der pädagogischen Ethik, sondern ebenso der politischen und wirt-schaft lichen. Und generell dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft .“

So weit das Zitat aus der Denkschrift . Wenn Sie dem zustimmen, lassen Sie uns zusammen nachdenken, was wir tun können. Lassen Sie sich von nieman-dem einreden, dass Globalisierung und Wettbewerb nun einmal hart sind und dass Lernen darum so sein muss. Sehen Sie nicht tatenlos zu, wenn Schülerin-nen und Schüler ein Arbeitspensum haben, das wir Erwachsenen kaum be-wältigen könnten, wenn sie so mit Wissen vollgestopft werden wie man früher die Gänse genudelt hat, damit sie in möglichst kurzer Zeit möglichst fett wer-den. Das ist inzwischen als Tierquälerei verboten. In manchen Schulen aber, so scheint mir, regiert heutzutage eine verschärft e Stopfgans-Didaktik. Sie ist nicht nur pädagogisch und lerntheoretisch falsch, sie ist auch unmenschlich. Und sie erzeugt das Gegenteil von nachhaltigem Lernen, eine Haltung, die Reinhard Kahl mit Bulimie vergleicht: möglichst schnell möglichst viel hin-einschlingen – bis zur nächsten Klassenarbeit – und dann wieder von sich geben, sprich: vergessen.

Sie fragen nach der Leistung, mit Recht. Die Leistung muss „stimmen“. Aber was heißt das? So, wie eben beschrieben, soll es nicht sein. Ich schlage Ihnen hier einen Maßstab vor, der höher ist als alle vergleichenden Tests sein kön-nen, nämlich das individuelle Potenzial jedes einzelnen Schülers, jeder einzel-nen Schülerin. An unserer Schule und ebenso an vielen anderen bekommen sie die Rückmeldung: Du bist dann gut, wenn du das leistest, was du leisten kannst. Mehr kann niemand von uns tun. Ein sicheres Erkennungsmerkmal für eine gute Schule ist die Frage, was sie tut, um allen Schülerinnen und Schü-lern zu ihren Bestleistungen zu verhelfen. Das kann nur funktionieren, wenn der Lern- und Leistungsbegriff weit gefasst ist, wenn zu einem Unterrichts-thema viele Lernwege angeboten werden, so dass alle Schülerinnen und Schü-ler den für sie passenden fi nden und zu gute Leistungen gelangen können. Wenn der Unterricht an ihnen vorbeirauscht, wenn sie nicht mitkommen und schon morgens mit Unlust in die Schule gehen, mit dem Gefühl, auf der Ver-liererstraße zu sein, dann kann der Unterricht und kann die Schule nicht gut sein. Eine gute Schule bejaht die Unterschiede zwischen den Menschen, bietet

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ihnen viele Möglichkeiten, sich zu profi lieren, herauszufi nden, was in ihnen steckt, und möglichst viel daraus zu machen. An einer guten Schule können alle Schülerinnen und Schüler gut sein – in unterschiedlichen Bereichen und auf unterschiedliche Weise. Was sie leisten, wird wertgeschätzt und gewürdigt, sie können stolz darauf sein und sie bekommen die Hilfen, die sie brauchen, um Hindernisse und Schwächen zu überwinden.

Das alles ist alles andere als selbstverständlich. Die Schulen brauchen viel Kraft und Unterstützung – auch und vor allem durch bürgerschaft liches Engage-ment – um sich in diese Richtung zu entwickeln.

Ich bin damit bei der letzten Frage:

Was können wir tun, um für bessere Schulen einzutreten?

In der Polis, die hier heute abend zusammengekommen ist, gibt es viele „Wirs“, das der Schülerinnen und Schüler, das der Eltern, das der Lehrerinnen und Lehrer, das der interessierten Öff entlichkeit. Unser verbindendes Wir ist, dass wir Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind. Als solche können wir uns mit anderen zusammentun. Ich möchte Sie dazu einladen und darum bitten, sich der Erklärung und dem Appell anzuschließen, mit der die „Blick-über-den-Zaum“-Schulen sich an die Öff entlichkeit gewandt haben und die Eltern-initiative bitten, einen Delegierten zu unserer nächsten Tagung im Mai 2008 in Hofgeismar zu schicken. Dort soll der öff entliche Diskurs, den wir wie Sie anstoßen wollen, von den beteiligten Schulen (zur Zeit sind es ca. 85) mit De-legierten der Landeselternräte aus allen Ländern und mit der Präsidentin der KMK fortgesetzt werden.

Die Basis dafür sind die Überzeugungen, die ich Ihnen vorgetragen habe, so-wie eine Vision einer guten Schule, die ich zum Schluss vorlesen möchte. Es soll kein Serienmodell sein – das ist uns besonders wichtig, weil wir überzeugt sind, dass gute Schulen ganz unterschiedlich sind und sein müssen –, sondern ein Grundmuster, so etwas wie ein pädagogischer Mindeststandard. Prüfen Sie bitte, ob Sie Ihre Vorstellungen in diesem Bild wiederfi nden:

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Die Schule ist ein Gemeinschaft swerk aller Beteiligten, die mit- und füreinan-der Verantwortung übernehmen: Die Schule als „Polis“. Die Pädagoginnen und Pädagogen, die Schülerinnen und Schüler, die Eltern, die Kommune mit ihren Möglichkeiten und auch außerschulische Institutionen wirken zusammen, um mit dem Anspruch „Wir dürfen kein Kind verlieren“ Ernst zu machen. Sie han-deln nach dem Grundsatz: Zuerst und vor allem kommt es darauf an, dass es den Kindern und Jugendlichen in der Schule an Leib und Seele gut geht. Das beginnt mit scheinbaren „Kleinigkeiten“, die aber bald als Standards gelten: ein gutes, nahrhaft es Frühstück oder Mittagessen, ein Gesundheits- und Beratungsdienst, ein fl exibler, den Bedürfnissen der Kinder angepasster Tagesrhythmus, gute Mö-bel, Ausstattung der Schule mit vielfachen Lerngelegenheiten, Ausstattung der Klassen und Arbeitsplätze mit handlichen, anregenden, gut geordneten Materia-lien, genügend Platz zum Lernen, Spielen und Bewegen.

Zum Kern der Entwicklungsarbeit wird die Neugestaltung des Unterrichts und der Lernangebote. Die Vorgabe ist: Lernen muss - auch bei aller unverzichtbaren Mühe und Anstrengung - Freude machen, mit Anschauung und Erfahrung ver-bunden sein, geschieht am besten in der Auseinandersetzung mit bedeutsamen Gegenständen und fi ndet darum oft auch außerhalb der Schule statt. Bewährung und Ernstfall gehören ebenso dazu wie Belehrung und systematisches Üben. Die Schule stellt hohe Anforderung an alle Beteiligten und bietet zugleich vielfältige Unterstützung.

Die Schule ist einladend, freundlich und anregend gestaltet, ein Ort, an dem Kin-der den ganzen Tag über gern und gut leben und lernen können. Niemand wird beschämt, niemand muss sich als Versager fühlen. Darum ist das Sitzenbleiben abgeschafft , der Unterricht ganz darauf ausgerichtet, der Unterschiedlichkeit der Kinder gerecht zu werden. Die Schule hat deshalb neue Formen der Leistungs-begleitung und -bewertung entwickelt: verpfl ichtende Beratungsgespräche, Lern-vereinbarungen, Portfolios.

Die Schule arbeitet selbstständig und eigenverantwortlich; so wird ihre ganze pädagogische Kreativität freigesetzt. Die starren Jahrgangsklassen sind durch fl exible Lernformen und Lerngruppen ersetzt worden: An dieser Schule ist es beispielsweise normal, dass Zwölf- und Vierzehnjährige zusammen Englisch ler-nen oder im Labor experimentieren können. Haupt- und Nebenfächer gibt es an

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dieser Schule nicht: Th eater, Handwerk, Musik oder Religion gelten als ebenso wichtig wie Englisch oder Mathematik. Der Umgang mit Sprache und Literatur ist nicht auf das Fach Deutsch beschränkt, sondern Aufgabe aller Fächer. Tests werden als diagnostische Hilfsmittel genutzt.

Die Schule arbeitet eng mit einem wissenschaft lichen Institut oder anderen Ex-perten zusammen; gemeinsam wird beraten und beschlossen, wie Lernprozesse beobachtet und evaluiert werden können. Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler werden nach dem individuellen Lernfortschritt bewertet. Als Orientie-rungsrahmen dienen fachliche Mindeststandards, die die Stufen des Lernens ab-bilden und an denen sich zeigen lässt, was bereits erreicht wurde. Am Ende der Schullaufb ahn wird an Beispielleistungen aus allen Bereichen nachgewie-sen, was ein Schüler/eine Schülerin gelernt hat und kann. Dieses Leistungsport-folio schließt den Nachweis elementarer, von allen verlangter und erreichbarer Grundkenntnisse und Kompetenzen ein. Ein verzweigtes, früh greifendes Unter-stützungssystem sorgt dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs diese Grundkenntnisse nachweisen können. Sie verlassen die Schule mit einem Zeugnis, das von den abnehmenden Einrichtungen als Anschlussnachweis zu le-sen ist und eine Übersicht über das gesamte Leistungsprofi l enthält.

Der Text endet mit einem Appell:„Wir appellieren an alle Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, an alle in der Jugend- und Sozialarbeit Tätigen, an alle Bürgerinnen und Bürger, die Verantwortung für Kinder und Jugendliche tragen:

Prüfen Sie unsere Maßstäbe für eine gute Schule. Wenn Sie mit ihnen überein-stimmen, fordern Sie sie ein. Helfen Sie mit, für die Ihnen und uns anvertrau-ten Kinder und Jugendlichen eine Schule zu ermöglichen und zu gestalten, die diesen Maßstäben entspricht.

Aus eigener Kraft können Schulen diese Ziele nicht verwirklichen. Sie brau-chen die Unterstützung der Politik, der Wirtschaft , der Wissenschaft , der Ad-ministration, der Medien, der gesamten Öff entlichkeit. Im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen müssen wir zu einem tragfähigen Konsens kommen, der der Entwicklung unserer Schulen die Richtung weist und der von dem Bewusstsein getragen ist: Schule ist unsere Sache.“

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Zum Schluss eine kleine Episode aus unserer TABULA-Arbeit. Auf dem Weg zum Tierheim fuhren wir kürzlich durch den Teutoburger Wald. Einer unserer Schüler, 13 Jahre alt, 5. Klasse, Kind von Irak-Flüchtlingen, schaute sich stau-nend um und sagt: „Boh, so viele Bäume!“ Auf die Frage, ob er noch nie hier gewesen sei, sagte er: „Ich bin Asyl, wir dürfen nicht wegfahren.“

Eine gute Schule, so meine ich, können wir daran erkennen, dass sie mit solchen Kindern in den Wald geht, bevor sie Diktate und Aufsätze darüber schreiben lässt. Eine gute Polis können wir daran erkennen, dass sie die Schu-len in dieser Arbeit ermutigt und unterstützt. Denn die Kinder unserer Polis – alle Kinder - sind unsere Sache.

Zitierte Literatur:

Baumert, Jürgen: Was wissen wir über die Entwicklung von Schulleistungen? In: PÄDAGOGIK, Heft 4/2006, S. 40-46).

Baumert, Jürgen /Fried, Johannes / Joas, Hans / Mittelstraß, Jürgen / Singer, Wolf: Manifest. In: Killius, Nelson / Kluge, Jürgen / Reisch, Linda (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2002

Der Deutsche Schulpreis 2006 (Prospekt, Copyright Robert Bosch Stift ung GmbH Stuttgart)

Elschenbroich, Donata: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt ent-decken können. München 2001

Hentig, Hartmut von: „Humanisierung“ – eine verschämte Rückkehr zur Päda-gogik? Stuttgart: Klett-Cotta 1987

Hentig, Hartmut von: Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein. Hanser: München, Wien 2006

Hüther, Gerald: „hi.bi.kus“ – hirngerechte Bildung in Kindergärten und Schulen“ (Projektentwurf). www.hibiskus.de

Kahl, Reinhard: Archiv der Zukunft – Netzwerk / Die Intelligenz der pädagogi-schen Praxis. Copyright 2007 Archiv de Zukunft

Schulverbund BLICK ÜBER DEN ZAUN: Leitbild und Standards für eine gute Schule. www.blickueberdenzaun.de

Schulverbund BLICK ÜBER DEN ZAUN: Schule ist unsere Sache. Denkschrift und Erklärung von Hofgeismar. www.blickueberdenzaun.de

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Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels

Ganztagsschule – Chancen für die Entwick-lung von Lernkultur und Förderung Vortrag beim „Bildungsforum zum Saarländischen Schulpreis“ in Neunkir-chen am 8. November 2007

„Wenn ich ein Millionär wäre und könnte mir die Zukunft sschule bauen“, so schreibt der Bremer Schul reformer Heinrich Scharrelmann (1922) vor fünf-undachtzig Jahren, „ich würde über die Tür schreiben ̀ Nichts ist so ordinär als Eile`.“ Zeitdruck und Stun denhalten dominieren wie selbstver ständlich den Schulalltag für Kinder und Lehr kräft e. Das Beginnen mit der Erwartung, nicht durch zukommen, und das Enden mit dem Gefühl, nicht alles ge schafft zu ha-ben, gehört zu den Alltagser fahrungen der Lehrperso nen. Und auch Kinder haben beim Lernen - wie Flitner (1989, S. 489) es formuliert - „eigene und an dere Zeitrhythmen als Industrie- und Erwachsenenwelt“. Eine Lösung be-stünde darin, dass die Schule überhaupt mehr Zeit für Kinder erhielte. Nach Begründungen für eine erweiterte Schulzeit stelle ich in Teil 2 kurz die pädagogische Gestaltung von Ganztagsschulen vor, gehe in Teil 3 auf verschie-dene Organisationsmodelle ein und gebe im vierten Teil einen ausführlichen Überblick über Forschungsbefunde, dabei auch einige ganz aktuelle Resultate. Im fünft en Teil geht es um Perspektiven der Schulöff nung.

1. Mehr Zeit für Kinder: Sozialpolitische und schulpädagogische Begründungen für eine erweiterte Schulzeit

Seit Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts liefern erziehungs- und so-zialwissenschaft liche Gegenwartsanalysen (vgl. Tippelt 1990; Klemm/Rolff/Tillmann 1985) zum einen Befunde zum gesellschaft lichen Wandel und des-sen Folgen (vgl. u.a. Rolff/Zimmermann 1985), zum anderen Bildungsthe-orie und schulpädagogische Reformansätze Begründungen für eine zeitlich erweiterte Schulzeit und den Ausbau von schulischen Ganztagsformen über

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den reinen Fachunterricht hinaus (vgl. von Hentig 1973; Holtappels 1994). Diese Begründungslinien werden unter aktuellen Entwicklungen neu be-wertet. Die damit verbundenen Zielorientierungen verdeutlichen die plurale Motivlage und den „Bedarf “ nach ganztägiger Schulzeit. Diese Motive haben auch heute weiter Bestand, teilweise haben sich jedoch die Begründungszu-sammenhänge kumulativ zugespitzt, sodass aktuell schul- und bildungstheo-retische Begründungen wie folgt zu diff erenzieren sind:

Schulen in Ganztagsform als Teil sozialer Infrastruktur

Mit veränderten Erwerbs- und Familienstrukturen durch angestiegene Er-werbsquoten, gewandelte Familienformen und veränderte familiale Arbeits-teilung sowie anhaltend hohe Anteile an Alleinerziehenden wird ein höherer Bedarf an erzieherischer Versorgung begründet, wobei die Schule dazu einen gesellschaft lichen Beitrag leisten soll. Der derzeitige Versorgungsgrad an ver-lässlichen Betreuungsmöglichkeiten für Schulkinder entspricht bei weitem nicht den veränderten Erwerbs- und Familienstrukturen und den daraus ent-stehenden Notwendigkeiten. Um Vätern und Müttern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie angemessene Formen familialer Arbeitsteilung zu ermöglichen, benötigen Familien zeitlich geregelte Betreuungsformen. Zugleich bestehen in den regionalen Wohnumfeldern Divergenzen in der Dichte und Qualität der soziokulturellen Infrastruktur an Spiel-, Freizeit- und Kulturangeboten, was hinsichtlich der Anregungspotenziale, der Lern- und Erfahrungsgelegenheiten und der sozialen Kontaktchancen für Kinder und Jugendliche disparate Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten mit sich bringt. Erweiterte Angebotsformen im Rahmen ganztägiger Schulen vermö-gen hier infrastrukturelle Defi zite zu mindern, um zu regional gleichen Le-bensverhältnissen – und entsprechenden sozialen Voraussetzungen für Bil-dung - beizutragen.

Ganztägige Schulen wären in dieser Hinsicht als gesellschaft licher Beitrag zur Sicherstellung und zur Qualitätssteigerung der soziokulturellen Infrastruktur zu verstehen. Schulen in Ganztagsform erlangen so Bedeutung als sozial- und wirtschaft spolitisches Instrument zur Unterstützung der Erwerbstätigkeit und der gesellschaft lichen Teilhabechancen von Familien. Damit wird in erster Linie die kustodiale Funktion der Schule betont. Dabei besteht aktuell das Problem, dass mit wachsender Destabilisierung der sozioökonomischen Lage

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der Familien (durch Massenarbeitslosigkeit und soziale Entsicherung) und gestiegenen Arbeitsanforderungen Familien nicht nur eine fl ächenhaft e und räumlich erreichbare, sondern vor allem eine fi nanzierbare Angebotsstruktur erhalten.

Ganztagsformen zur Stärkung der sozialerzieherischen Funktion der Schule

Gewandelte außerschulische Sozialisationsbedingungen, erhöhte Anforde-rungen an Familien durch Erwerbstätigkeit, wechselnde Familienkonstella-tionen und problematische Erziehungsformen von Eltern führen auch heute – wie schon in den 50er und 60er Jahren - vielfach zur Begründung für eine Stärkung der Erziehungsaufgabe der Schule als familien ergänzende und –un-terstützende Leistung, aber auch um die für den Unterricht erforderlichen Lernvoraussetzungen bei den Schülerinnen und Schüler zu schaff en.

Neu hinzu kam in den letzten Jahrzehnten der Verlust an Spiel-, Treff - und Erfahrungsräumen in verdichteten Wohnumfeldern sowie der Rückgang an nachbarschaft licher Begegnung, womit eine Ausdünnung sozialer Kontakt-chancen einhergeht. Im Zusammenwirken mit der Ausbreitung elektronischer Medien und kommerzieller Angebotsformen müssen für Lebensgestaltung und Lernentwicklung ambivalente Folgen veranschlagt werden: Eigeninitiati-ve, Selbstgestaltung und Angebot vielfältiger Lernressourcen einerseits, sozia-le Desintegration, Probleme der Identitätsfi ndung und Rückgang an Eigentä-tigkeit und Bewegung andererseits.

Daraus ergibt sich ein entwicklungsbezogener und sozialer Integrationsbedarf und an ganztägige Erziehungseinrichtungen die Erwartung, den Bedarf nach Eigentätigkeit, Gestaltungsmöglichkeiten, Bewegungsdrang und Sozialkon-takten kompensatorisch oder zumindest ergänzend abzudecken. Die Schule kommt hier als geeignete Institution ganzheitlicher Ganztagsbildung ins Spiel, weil sie prinzipiell die erforderlichen curricular-didaktischen Potenziale inne-hat und in einem zeitlich erweiterten und strukturell verändertem Schulleben einen Sozialisationsraum birgt, der soziale Integration gewähren, Lernzusam-menhänge sichern, den Erwerb von Urteilsfähigkeit, sozialer Verantwortung und demokratischer Handlungskompetenz sowie auch den lokalen Bedarf an

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sozial-kommunikativen Kontakträumen, kulturellen Orientierungen und Rol-lenlernen eröff nen kann.

Ganztagsschule als Reaktion auf gewandelte Bildungsanforderungen

Ganz abgesehen davon, dass für den Berufsein stieg zunehmend formal hö-here Qualifi kationen verlangt werden, haben sich auch die inhalt lichen Bildungsanfor derungen verändert: Für Berufstätigkeit und Lebensgestaltung müssen erstens Schlüsselqualifi kationen und metakognitive Kompetenzen quer zu den Fachgebieten erworben werden. Zweitens gewinnen Eigentätig-keit, erfahrungsbezogenes Lernen sowie aufk lärende Bildung und Lernen über komplexe Zusammenhänge an Bedeutung (vgl. Rolff 1988), wenn in einem von Medieneinfl üssen, Informationsüberfl utung und Expertenwissen be-stimmten Lebensalltag gleichzeitig authen tische Erfahrungsmöglichkeiten im Wohnumfeld schwinden und nicht alle Kinder und Jugendlichen sich außer-schulisch Bildungswissen selbst aneignen. Drittens sind in Bildungsinhalten zunehmend zentrale Lebensfragen und epochaltypische Schlüsselprobleme (vgl. Klafki 1985) zu berücksichtigen (z.B. Umwelt-, Gesundheitserziehung, kulturelle Gegensätze, Dauerarbeitslosigkeit).

Die Vermittlung von Schlüsselqualifi kationen, Orientierungswissen und Me-dienkompetenz kann vermutlich wirksam nur über die Schule erfolgen und ist eine originäre Aufgabe für ihre Qualifi kationsfunktion. Entsprechende Lernprozesse erfordern aber angemessene Zeitkontingente und Methoden, Lerngelegenheiten und Erfahrungsmöglichkeiten, und damit vermutlich auch mehr Zeit und andere Lernstrukturen als es die halbtägige Stundenschule er-möglicht. Hier wird demnach auf ganztägige Schulformen gesetzt, um höhe-ren bzw. veränderten Bildungsanforderungen gerecht zu werden und erwei-terte Lernmöglichkeiten und Bildungsangebote bereit zu stellen, die ansonsten in der Halbtagsschule zu kurz kämen.

Erweiterte Schulzeit zur Entwicklung der Lernkultur und der Förderungs-intensität

Schulen off enbaren selbst strukturelle und pädagogische Defi zite: Die immer noch beträchtlichen Schulversagerquoten, die anhaltende Bildungsbenachtei-

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ligung von Arbeiter- und Ausländerkin dern sowie die notwendige Integration sonderpädagogisch bedürft iger Kinder verweisen auf Erfordernisse verstärk-ter Lernförderung, aber auch auf sozialpädagogische Hilfen in einem aktiven Schulleben. Strukturelle, schulorganisatorische und unterrichtliche Defi zite wurden in Leistungsvergleichsstudien (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Bos u.a. 2003), in sekundärstatistischen Analysen (vgl. Bellenberg/Klemm 2000; Hovestadt/Klemm 2002) und durch Erkenntnisse zur Schul- und Unterrichtsqualität aufgezeigt (vgl. dazu Helmke 2003, Holtappels 2003):

In Leistungsvergleichen zeigen Lernende hierzulande besonders in der Sekun-darstufe I erhebliche Lerndefi zite. Ein beträchtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler, besonders die lernschwächeren, werden off ensichtlich mit der bislang entwickelten Lernkultur und Unterrichtsgestaltung nicht ausreichend wirk-sam erreicht. Zudem scheinen Diagnose- und Förderkompetenzen in deut-schen Schulen eher unterentwickelt. Schülerinnen und Schüler aus unteren sozialen Schichten und damit aus weniger bildungsorientierten Elternhäusern sowie Lernende mit Migrationshintergrund haben erheblich mehr Probleme, bei der Kompetenzentwicklung mitzuhalten und gehören überproportional zu den Risikogruppen. Bei der Übergangs- und Verlaufsauslese verdeutlicht sich eine hohe soziale Chancenungleichheit und eine unzureichende Begabungs-ausschöpfung durch soziale und nicht leistungsgerechte Selektion. Zudem sind beträchtliche Anteile der Schülerschaft hierzulande in der Schullaufb ahn von Verzögerungen und Versagenserlebnissen betroff en: 6,9 % aller Kinder werden im Einschulungsalter zurückgestellt (vgl. Bellenberg/ Klemm 2000) und rund 24 % der 15-Jährigen haben in ihrer Schullaufb ahn schon einmal eine Klasse wiederholt (s. Tillmann/ Meier 2001, S. 472). Nach PISA-Befun-den (ebenda 2001) zeigen diese Gruppen eher schwächere Schulleistungen. Unter den Schulabgängern beenden seit 1980 im Bundesdurchschnitt relativ konstant acht bis zehn Prozent der Jugendlichen eines Altersjahrgangs die Schule ohne Bildungsabschluss; seit Erhebung der gesamtdeutschen Daten stieg diese Quote von 7,6 % (1992) auf 9,6 % (2001) an und liegt nunmehr bei 9,0 % (2003)(vgl. BMBF 2005, Grund- und Strukturdaten).

Diese Befunde haben für Fragen der Lernzeit und Schulgestaltung insofern Bedeutung, als ganztägige Schulen prinzipiell die Chance für eine präventive

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Problembearbeitung im Sinne intensiverer Lernförderung und Begabungs-ausschöpfung bieten - ohne dass aber kausale Befunde als Belege für die Ef-fektivität erweiterter Lernzeit vorliegen. In dieser Begründungslinie wird mit der Ganztagsschule die Sicherung und Verbesserung der Qualifi kationsfunk-tion der Schule verfolgt, in dem über erweiterte Lernzeit die Ausgestaltung einer diff erenzierten und variablen Lernkultur sowie intensive Lernförderung, Chancengewährung und Talententwicklung für alle Schülerinnen und Schüler zu realisieren wäre.

Die statistischen Daten zeigen: Gegenüber anderen OECD-Staaten steht in Deutschland im Schnitt weniger unterrichtliche Lernzeit zur Verfügung (vgl. OECD 2001). Und die meisten Schulsyste me in der EG, vor allem aber moder-ne Industriestaaten, weisen fl ächenhaft ganztägige Schulen auf. In Deutsch-land gab es im Jahr 2005 9338 Ganztagsschulen. In der Grundschulen beläuft sich der Anteil an allen Schulen auf 23,3 %; in der Sekundarstufe I reicht diese Quote von 17,9 % bei Realschulen bis 73,1 % bei Integrierten Gesamtschulen. Allerdings besuchen insgesamt nur 15,2 % aller Schülerinnen und Schüler ei-nen Ganztagsbetrieb (bis 2002 waren es nur 9,8 %; s. KMK 2007); in Grund-schulen sind es nur 9,9 %. Die niedrigeren Quoten der Ganztagsschüler gegen-über der Quoten der Ganztagsschulen liegen in der dominierenden off enen Form der Schulen, die vielfach nur eine Minderheit ihrer Schülerschaft im Ganztagsbetrieb versorgt.

Ausbaustand von Ganztagsschulen und schulischen Ganztagsangeboten

Für den Ausbau von Ganztagsschulen setzte die Bund-Länder-Kommission bereits 1973 quantitative Zielmarken (vgl. BLK 1973): 1980 sollten 15 % und 1985 schon 30 % aller Vollzeitschüler Ganztagsschulen besuchen; zurückhal-tendere Varianten gingen von 5 % bzw. 15 % aus. In der späteren Fortschrei-bung von 1980/81 wurden nur noch Bandbreiten (bis 1985= 5-15 %, bis 1990= 10-20 %) festgelegt.

Hortplätze für Kinder im Grundschulalter lagen zur gleichen Zeit bei 4,4 % im Gebiet der alten Bundesländer, stagnierend seit 1985. Zugleich ist darauf hin-zuweisen, dass in der ehemaligen DDR noch 1989 für die gleiche Altersgruppe ein Versorgungsgrad an Hortplätzen von 81,2 % bestand (vgl. BMBW 1992, S.

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34 f.). Nach der Wende lag er in den neuen Ländern 1992 bei insgesamt 66,1 % (ebenda). In den 90er Jahren erfolgte sodann - länderspezifi sch sehr unter-schiedlich - ein sukzessiver Ausbau von ganztägigen Angeboten, insbesondere im Primarbereich in Form von Betreuungsangeboten oder als zeitlich erwei-terte Grundschule, wobei aber der Versorgungsgrad kaum mehr als 10 bis 20 Prozent aller Schüler eines Landes ausmachte (vgl. dazu Frank/ Pelzer 1996; Holtappels 2002, S. 35 ff .).

Durch das „Investitionsprogramm Zuschuß Bildung und Betreuung“ wurde seit dem Jahre 2002 die Versorgung mit Ganztagsplätzen deutlich verbessert mit erheblichen Zuwächsen bei Schulen und Ganztagsschulbesuch der Ler-nenden, allerdings hinkt das Angebot der Nachfrage noch erheblich hin-ter- her, bei zugleich starkem Stadt-Land-Gefälle und erheblichen regionale Disparitäten. Die teils hohe Versorgungsquote bezieht sich zudem in zahl-reichen Ländern vorwiegend auf Formen der Verbindung von Schulen und Kinder- und Jugendeinrichtungen (Horte, Jugendhilfe). Im Versorgungsgrad, gemessen am Prozentsatz der im Ganztagsbetrieb beschulten Schüler, liegen mit rund einem Drittel Schülerbeteiligung Th üringen, Berlin und Sachsen an der Spitze. Hamburg mit einem Viertel und Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg mit einem Fünft el, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt folgen mit noch über dem Durchschnitt liegenden Versorgungsquo-ten. In den restlichen Ländern ist die Versorgung noch spürbar lückenhaft er.

Integrierte Gesamtschulen weisen mit rund drei Viertel Schülern im Ganztagsbe trieb – entsprechend ihrem pädagogischen Konzept - den mit Ab-stand höchsten Ver sorgungsgrad aus. Ein nennenswerter Anteil (von 44 %) fi ndet sich noch im Bereich der Sonderschulen. Gesamtschulen, Waldorfschu-len und Sonderschulen sind die Schulformen, die deutlich überwiegend ge-bundene Modelle vorweisen, in der Hauptschule haben sie noch beachtliche Anteile. Währenddessen herrschen in den anderen Schularten des traditionel-len Systems und in den Grundschulen off en-freiwillige Angebotsformen der Ganztagsschule vor. In den Schulformen mit off enem Angebot sackt wegen meist geringer Teilnahmequote dementsprechend der Schüler-Versorgungs-grad auf verschwindend kleine Anteile ab.

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2. Ganztägige Bildungskonzeption: Ziele und Gestaltungsfelder von Ganztagsschulen

Aus all dem folgt: Kinder und Ju gend liche benötigen ein Mehr an pädago-gisch gestalteter Lernzeit, Anregung und Förderung sowie Gelegenheiten für soziales Lernen und psychosoziale Zuwendung. Insgesamt ist dies nicht in ei-ner Halbtagsanstalt, sondern nur in einer veränderten Konzeption von Schule realisier bar: Dabei wird für eine förderliche schulische Lernkultur guter Un-terricht immer mehr eine notwendige Voraussetzung, aber ist immer weniger eine hinreichende. Wenn die Schule aber mehr Zeit für Kinder erhält, muss sie dieses Mehr an Zeit aber auch in einem kind- und lerngerechten Zeitrhythmus pädagogisch förderlich nutzen (vgl. Burk 1990; Holtappels 1997).

Der Deutsche Bildungsrat (1969, S. 13 ff .) hat 1968 in seinen Empfehlun-gen zur Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen erziehungswis-senschaft liche Begründungen formuliert, die sich in ihren Schwerpunkten auf Aspekte veränderter Bildungsaufgaben bezüglich komplexer Lebensvorbe-reitung, Arbeitstechniken und sozialen Lernens, auf Förderung zur Verbes-serung der Chancengleichheit, kulturelle Anregungen, Lernmotivation und Lernhilfen und auf eine zeitlich-organisatorische Erneuerung der Schule kon-zentrieren. Heute – 40 Jahre später – sind die aus der bildungs- und sozialisati-onstheoretischen Analyse ableitbaren Ziele wie folgt zu formulieren:

Pädagogische Leitziele für Ganztagsschulen

© Holtappels 2005

ZielZiel--bereichebereiche

ganztganztäägigergigerSchulenSchulen

Differenzierte Differenzierte Lernkultur im Lernkultur im

Unterricht entwickelnUnterricht entwickeln

Erweiterte Erweiterte Lerngelegenheiten nach Lerngelegenheiten nach Interesse und NeigungInteresse und Neigung

IndividuelleIndividuelleFFöörderung und rderung und LernchancenLernchancen

Partizipation und Partizipation und DemokratielernenDemokratielernen

FreizeitFreizeit--, medien, medien--und spielpund spielpäädagogische dagogische

AngeboteAngebote

Gemeinschaft, Gemeinschaft, soziales und soziales und

interkulturelles Lerneninterkulturelles Lernen

ÖÖffnung der Schuleffnung der Schulezu Lebenswelt und

Schulumfeld

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 117

In der Grundkonzeption und in der realisierten Praxis von Ganztagsschulen lassen sich folgende Gestaltungsfelder aufzeigen:

(1) Diff erenzierte Lehr-Lern-Arrangements im Unterricht

Um möglichst alle Kinder und Jugendlichen im Unterricht zu erreichen und ihre Potenziale zu entfalten, sind diff erenzierte Lern-Arrangements zu entwi-ckeln, die vielfältige Lernzugänge und Lernwege, lebensnahe Erfahrungsberei-che und Lernformen mit Ernstcharakter eröff nen, die Unterricht anreichern und methodisch eine fl exible und vielfältige Lernkultur schaff en.

(2) Lerngelegenheiten und Erfahrungsmöglichkeiten im Schulleben: Projekte, Ar-beitsgemeinschaft en, Schülerfi rmen und Werkstätten

Dies setzt sich über den Fachunterricht hinaus fort, vor allem über ein gezieltes Programm an Arbeitsgemein schaft en einerseits und über Schulprojekte ande-rerseits wie z.B. Schulchor, Schülerband, Schüleraustausch, 3.-Welt-Projekte, An lage von Biotopen etc. Gerade Schulprojekte und Arbeitsgemeinschaft en bilden vielfach das pädagogische Scharnier zwischen dem Lern- und dem Frei-zeitsektor und erlangen damit eine Schlüsselfunktion für die Verbindung von Unterricht und Erzie hung. Projekte und Arbeitsgruppen bieten die Chance, epochal angelegte und projektförmige Aktivitäten mit praktisch-eigentätigem und sozialem Lernen zu verknüpfen, wie etwa in der Th eater-AG, in der Foto-dokumentation, bei der Schüler-Friedensdemonstra tion, in der Schuldiskussi-on mit Asylbewerbern, bei einer Bürgerbefragung über Schulwegsicherung im Stadtteil. Unterrichtsinhalte und -formen lassen sich so ergän zen, anreichern und vertiefen. Schullebens-Aktivitäten sollen so Rückwirkungen auf den Un-terricht haben oder sich aus dem Unterricht ergeben.

(3) Intensivierung von Förderung

Die Konsequenz aus den Defi ziten im Lernbereich der Schule muss heißen: Wir brauchen ein Mehr an pädagogisch gestalteter Lernzeit. Dies ist zum einen über zusätzliche Förderzeiten mit Übung, Wiederholung und Vertie-fung erreichbar, wobei die Hausaufgaben integriert werden. Förderung und Aufgabenstunden müssen an Fachunterricht angekoppelt und von Fachper-

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sonal unterstützt sein, was eine intensive Begleitung der Lernentwicklung (möglichst mit Diagnosen und Förderplänen) ermöglicht. Solche Formen der Lernförderung benötigen wir in kognitiven, manuellen, sozialen und emotio-nalen Bereichen der Schülerentwicklung. Zum anderen bedarf es fl ankierend gezielter Unterrichtsentwicklung im Sinne einer Diff erenzierung von Lehr-Lern-Formen und einer Individualisierung von Lernzugängen. Dazu gehören auch Trainings in Lernmethoden, Arbeitstechniken und fachübergreifenden Kompetenzen, die aber nicht allein schon das Lernen verbessern.

(4) Schulleben als Feld für Partizipation und Demokratielernen

In all diesen Aktivitäten eröff net das Schulleben Raum für Parti zipation von Schü lern und Eltern und bietet Chancen für ak tive Mitbestimmung und so-ziale Ver antwortung im Schulalltag. Er weiterte Angebote, Veranstaltungen und Einrichtungen des Ganz tagsbetriebs ermöglichen die gestaltende Mit-wirkung von Eltern, Schü lern und Schulnachbarn, z.B. im Cafeteriabetrieb oder an Produkten vielfältiger Lern aktivitäten (Werk- und Kunstobjekte, Tanz-, Th eater-, Musik- und Chorproduk tionen, Medienprodukte, Po litik- und Geschichtsuntersuchun gen, Ausstellungen etc.). Dabei werden vielfach Partizipation und Mitbestimmung selbst zur Lernaufgabe, etwa im po litisch-sozialen Lernen zur Herausbildung moralisch-kognitiver Urteilsfähigkeit und demokratischer Gestal tungskompetenz. Dies kann nicht über bloße theoreti-sche Vermitt lung geschehen, sondern muss in der Schule als Just-Community prak tiziert und gelebt und dabei erprobt und eingeübt werden.

(5) Schule als Raum für Begegnung, soziales und interkulturelles Lernen

Aktives Schulleben schafft Identifi kationsmöglichkei ten der Schulmit glieder mit der Schule und fördert soziale Begegnung und soziales Miteinander. Es trägt über Ge meinsinn und Gruppenerfahrungen zur Entwicklung sozialer Kontakte und zur Stabilisierung freigewählter Freundschaft sbeziehungen der Schüler ebenso bei wie zu verbesser ten Sozialbeziehungen zwischen Schülern, Eltern und Lehrern. Stabile Gruppenbezüge werden ebenso ermöglicht wie altersgruppenüber greifendes Lernen. Insbesondere bietet das Schulleben da-bei vielfältige Möglich keiten sozialen Lernens. Dazu gehören soziale Grup-

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penarbeit, Trainingsformen, Selbsterfahrung, Feste und Projekte. Interkultu-relle Vorhaben zielen hierbei auf Solidarität, Toleranz und Verständigung.

Begegnung, soziales und interkulturelles Lernen kann in ungezwungenen Freizeit formen (Cafe, Disko, Aufenthalts räume), aber auch in besonderen Veranstaltungen des Schullebens ge sche hen: Als gemeinschaft s stift end und begegnungsfördernd gelten hier vor allem Feste und Feiern, Th eaterauf-führungen, Tanz- und Musikvorführungen. Auch hier bestehen Verknüp-fungsmög lich keiten mit dem Unterricht. In der Schulpraxis zahlreicher Ganztags schulen wird im Schulle ben Ge meinschaft ssinn und soziales Lernen zudem über die Förde rung sozi aler Verant wortung für die Schulgemeinschaft entfaltet: Schülerinnen und Schüler über nehmen pfl icht gemäß oder freiwillig bestimmte Verantwortungsbe reiche im Klas senraum, im Schulgebäude und in den Außenanla gen (z.B. Raumgestaltung) oder Aufgaben im Rahmen der täglichen Abwicklung des Ganztags betriebs (z.B. im Schü lercafe und Kiosk, in Bi bliothek und Materi alausleihe).

(6) Freizeit im Schulleben

Der Freizeitbereich umfasst ein möglichst vielfältiges Wahlangebot an Ar-beitsgemeinschaft en und Kursen (gebundene Freizeit) einerseits und off e-nen Angebo ten (ungebundene Freizeit) andererseits, um den unterschiedli-chen Bedürfnis sen, In teressen und Nei gungen der Schüler gerecht zu werden (vgl. v.a. dazu Hoyer/Kennedy 1978). Die Angebote bereichern insgesamt die unterrichtlichen Lern prozesse, in dem sie zu sätzliche, aufb auende und neue Lern- und Erfahrungsfel der eröff nen; insbesondere können hier die ge stalterischen, handwerk lichen, musischen und sportlichen Fähig keiten der Schüler gefördert werden. In den off enen An ge boten werden dagegen schwerpunkt mäßig Ent spannungsmöglichkeiten für Bewe gungs akti vitä ten, Spiel und Sport, praktischer Betätigung so wie Ruhe und Erholung bei freiwil-liger Teil nah me ge boten. Hier geht es um den selbstbestimmten und selbst-gestalteten, weitgehend nicht pädagogi sierten und kontrollierten Freiraum, welcher in ganztägig ge führten Schulen ein bedeutendes Ele ment wider die Verschulung dar stellt. So werden Kindern im Rahmen von Spielpädagogik, Freizeit- und Medienerziehung Anregungen für entwicklungsfördernde Spiel- und Frei zeitformen gegeben. Dies im pliziert die pädagogische Anleitung zum

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selbst ständigen Ge brauch von freier Zeit und zur kritischen Mediennutzung. Daneben dient die off ene Freizeit in der Schule aber auch dezidiert der Ent-spannung und Erholung.

(7) Schulöff nung als diff erenzierte Arrangements für Lernen und Erfahrung

Vielerorts haben Konzepte der „Öff nung von Schule“, der „Nachbarschaft s-schule“ oder der „gemeinwesenorientierten Schule“ an Be deutung gewonnen (vgl. dazu Buhren 1989; Rein hardt 1992). Diese Kon zepte haben ihren Ursprung in britischen und ame rikanischen Formen der „community edu-cation“. Die ganztägige Schullebensgestal tung erfährt durch eine Öff nung der Schule nach innen und nach außen eine beträcht liche Erweite rung:

Die inhaltliche Öff nung betrifft die Anreicherung der Lern inhalte durch Lern-anlässe der Schulumwelt, die für exemplarisches Lernen aufgegriff en werden, es werden Fra gen und Lösungsansätze erarbeitet, Produkte erstellt (z.B. Aus-wertungen, Ausstellun gen, Auff ührungen), wie etwa Unterrichtseinheiten zum Gewässerschutz, zur Wohn situation, zur Verkehrsberuhigung oder zu Lebensproblemen alter Menschen. Metho disch geschieht dies in projektarti-gen Lernarrangements über Formen wie Spurensu che, Werkprodukte, Aus-stel lungen, Auff ührungen, Experimente, Analysen oder Gestaltungs pläne. In räumlicher Hinsicht werden außerschulische Lernorte er schlossen und ge-nutzt, in der ökologischen und architektonischen Umwelt, der handwerklich-technischen und betrieblichen Arbeits welt, in politischen, administrativen und soziokulturellen Insti tutionen und Feldern (z.B. Verkehrsstraße, Muse-um, Handwerksbe trieb, Bachbett, Zoo, Stadtparlament).

Dies führt zur Kooperation mit Institutionen, Organisationen (z.B. Behörden, Ver bänden, Vereinen) und Personen (Laien, Experten). Zum einen können schulische Lernfelder und Ganztagselemente ge meinsam mit außerschuli-schen Partnern organi siert werden: Von der Anreicherung der Lerninhalte durch Fachleute (Zeitzeugen im Ge schichtsunterricht, Künstler für Kunstpro-jekte, Übungsleiter in Sport-AGen, Ökolo giefachleute im Biologie-Projekt, Museumspädagogen im Fach Technik etc.) über die Zubereitung der Mittags-mahlzeit, Durchführung von Arbeitsgemeinschaft en und Frei zeitangeboten durch nicht-schulische Träger bis hin zu gemeinsamen Projekten (etwa Schü-

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lertheater in Kooperation mit den städti schen Bühnen, inter kulturelle Pro-jekte mit Dritte-Welt-Initiativen, Fassadenbegrünung mit Öko-Initiativen, Kunstprojekte mit be rufl ichen Schulen). Zum anderen öff net sich das Schulle-ben durch aktive Teilhabe an ge meinwesenorientierten Belangen (z.B. Biotop-Paten schaft en, Anlage von Naturpfa den, Beteiligung an Sammelaktionen, Ausstellungen, Stadtteilfesten, Wettbewerben) oder die Schule schafft Ange-bote und soziale Begegnungen für Schulgemeinde und Nachbarschaft (Eltern-cafe, Th eater für Seniorenheim, Konzert für Stadtteil jugend).

3. Konsequenzen für die Organisation von Ganztagsschulen

Merkmale der Organisationskultur in Ganztagsschulen

Institutionelle Öff nung der Schule

Sozialisationsprozesse im Rahmen der Schule erweisen sich prinzipiell als ge-eignet, um gesellschaft liche Integrations- und Anpassungsforderungen mit einer för derlichen Persönlichkeitsentwicklung zur Individualität und Selb-ständigkeit zu verbin den. Dieses Gelingen hängt jedoch entscheidend vom Ausmaß der Off enheit des Sy stems institutioneller Normierungen auf der Leistungs- und Verhaltensebene sowie der Partizipations- und Gestaltungs-chancen der Schulmitglieder ab.

Eine Ganztagsschule benötigt die Ju gend- und Kulturarbeit als Partner, und zwar erstens im Hinblick auf die spezifi schen sozialpädagogi schen Kompeten-zen, also jugend-, medien-, spiel- und kulturpädagogische Perspekti ven, zwei-tens hinsichtlich der methodischen Arbeitsweisen, etwa der psycho-sozialen Beratung, Spielpädagogik, sozialen Gruppenarbeit, drittens wegen der spezi-fi schen Zugangsweisen und Arrangements von Lern- und Erfahrungsorten, also etwa Werkstätten, Gemeinwesen projekte, Th eater, Kunstateliers, Begeg-nungsstätten wie Schüler- oder Stadtteilcafes, Lernstandorte wie Naturkunde-stationen oder Museen. Als konzeptioneller Rahmen bietet sich das Konzept der Community Education bzw. der Öff nung der Schule an.

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Bei der Mitwirkung in konstitutiven Ganztagselementen sollte sich die Ju-gendarbeit vor allem ihrer eigenen Stärken, Kompetenzen und typischen Muster bedienen (vgl. Deinet 2003). Zu beachten sind dabei allerdings die strukturellen Unterschiede zwischen Schule und Jugendarbeit. Jugendarbeit muss respektieren, dass die Mitwirkung auf die Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauft rags der Schule zu fokussieren ist und sich innerhalb eines ins-titutionell-organisatorischen Rahmens vollzieht.

Personalorganisation: Off ene Rollenstruktur und Teambildung

In Ganztags schu len arbeiten somit nicht nur Lehrer sondern auch anderes pädagogisches Fachpersonal: Sozialpädagogen und Erzieher, Fachkräft e aus Jugendarbeit, Sport, Musik und Kulturarbeit, Künstler und Experten aus ver-schiedenen Fachgebieten. Sie bringen Fachwissen, praktische Erfahrungen und vielfältige Methoden des Lernens in die Schule. Dies erfordert aber die Entwicklung eines gemeinsamen pädagogischen Konzepts und enge Koopera-tion von Lehr- und Erziehungspersonal.

In erzieherisch qualifi zierten und konsequent sozialpädago gisch orientierten Ganztags schu len treff en wir auf eine notwendi gerweise ver änderte persona-le Rollenstruktur. Sie wird weniger beherrscht von fachli chen Abgrenzungen und Spezialisierungen, sondern ganzheit lichen Orientierungen. Die traditio-nellen Rollen bilder der Pädagogen verän dern sich insbesondere durch die an-dere Akzentsetzung der Ganztags schule zugunsten von Erzie hungsaufgaben und der Ge staltung des Schulle bens. Lehrer neh men nicht mehr allein nur die Rolle eines fachbezogen Unter richtenden ein, sie gewinnen auch die Rol-le der Erzie henden zurück. Ihre Rollen wei sen also notwendi gerweise andere Segmente auf als in traditionellen Unterrichtsan stalten (vgl. auch Homfeldt u.a. 1997): Lehrerinnen und Lehrer werden neben der Rolle der Unterrichten-den in hohem Maße diagnosti sche, beratend-unterstützende und anleitende Handlungsvollzüge prakti zieren, also Schülergruppen anleiten und be raten, eine Arbeitsgemein schaft oder eine Spielgruppe betreuen, die Ko operation mit Jugendverbän den pfl e gen, die Schule im Stadtteilar beitskreis vertreten, Ak tionen zur Me dien er ziehung vorbereiten, mit Schü lern den Aus bau des Schüler cafes oder mit Eltern den wö chentlichen Mütterbildungs kreis planen.

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In solchen Schulen, die oft Ganztagsschulen sind, erhalten Lehrerinnen und Lehrer neue Lehr- und Erziehungsgelegen heiten; ihre Aufgaben und Rollenanforde rungen sind diff eren zierter und komple xer. Das professionel-le Qualifi kati onsprofi l von Lehrern er fordert neben den Grund qualifi katio-nen der fachdidakti schen Fertigkeiten im Unter richt und im Schul leben von Ganztags schulen off ensichtlich vor allem folgende sozialpäd agogische Kompeten zen: sozialerzieherisches Handlungsreper toire, diagnostisches Fallverste hen und Beratungskom petenz (zur Dia gnose von Lern fortschritten und -proble men), methodische Fähigkeiten zur individuellen Förderung und Binnendiff erenzierung und ausgeprägte Kooperations- und Teamfähig keit.

Die Beschäft i gung von Lehrern und sozial pädagogischen Fachkräft en liegt nahe. Doch bleibt die Kooperation zwischen Lehrern und Sozialpädagogik nicht ohne Probleme, weil Schulsozialarbeit häufi g als nachgeschaltet-die-nende Einrichtung mit begrenztem Aufgabenspektrum aufgefasst und gestal-tet wird (vgl. GGG 1977; Raab u.a. 1987; Holtappels 1981). Wün schens wert wäre eher eine enge Ko operation beider Gruppen im Sinne einer ver stärkten Inte gration un terrichtlichen und sozialpäd agogischen Handelns, so dass sich Leh rer und Sozialpäd agogen organisatorischen und erzieheri schen Aufgaben gemein sam ver pfl ich tet fühlen, sich in ihrem Ar beitsverhältnis aufeinan der zu entwic keln (vgl. Deutsches Ju gendinsti tut 1984; Tillmann 1982). Eine solche Personalorganisation scheint am ehesten realisierbar in Kon zepten von Teamschulen (vgl. Brandt/Liebau 1978; Schlömerkemper 1987). Leh rer und Sozialpäd a gogen sind be stimmten Lerngruppen (z.B. als Jahrgang steam) zugeord net und kooperie ren in diesem Kleinteam be sonders eng, ihr Aktions-raum ist zeitlich und inhalt lich fl exibel ge staltet.

Räumliche Gestaltung und Infrastruktur der Schule: Lernumgebung, Erfah-rungsräume und Mahlzeiten im Gemeinschaft sleben

Ein ganztägiger Aufenthalt von Schülern in der Schule erfordert, dass für die un terschied lichen Bedürfnisse ent sprechende Räume zur Verfügung stehen und spezi fi sch ausgestaltet werden. Vor allem werden neben den - aufgrund der diff erenzierten Lernorganisation andersartig gestalteten - Lernfl ächen Räumlichkeiten erforderlich, die spezifi sche Spiel- und Freizeitaktivitäten ermöglichen und dem ausgleichenden Bewegungsdrang, den erweiterten

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Kommuni kationsmöglichkeiten und den Ruhe- und Rückzugsbedürfnissen der Lernenden gerecht werden; Vorhandensein und Gestaltung von Außen-fl ächen gewinnen hier ebenfalls höhere Bedeutung als in Halbtags schulen.

Klassenräume werden in Ganztagsschulen vielfach nicht mehr nur mono-funktional als Unterrichtsraum genutzt, sondern sind auch als Aufenthalts-räume gestaltet, sollen Identifi kationsmöglichkeiten bieten und gleichzeitig den Aufenthalt für verschiedene Tätigkeiten ermög lichen. Ziel ist sowohl die wohnlich-ästhetische Gestaltung des Klassenraums als Lebensraum als auch die Schaff ung einer anregungsreichen Ler numgebung mit Werkstattcharakter. Die Gestaltung von Klassen und Fachräumen und ebenso der Mehrzweckfl ä-chen und Außenanlagen geben wiederum Anlässe für ernsthaft e Aktivitäten sowie für sinnstift ende und kreative Lernprojekte und Erfahrungsformen her.

Hinsichtlich der Nutzungsart sind neben den Klassen räumen und besonderen Fachräumen für künstleri sche, musische und sportliche Zwecke, insbesonde-re Mehrzweck räume für Mahlzeiten, Veranstaltungen und Auff ührungen, für Spiel, Rückzug, Ruhe und Be wegung, für Kleingrup penarbeit und Beratung erforder lich. Hinzukom men müssen kind- und jugendgerechte Au ßenanlagen für Bewegung und Ruhe, Sport und Spiel. Lochmann (1987) unterscheidet zwischen folgenden Raumarten: a) Kommunikationsräume, bestehend aus Stufen räumen, Freizeiträumen, Teeküche und Kaff eeraum, Cafeteria, Aula mit Sitztreppen und Disco, im Schulge län de Schulgarten, Biotop und Tier hof; b) Ruhe- und Arbeitsräume, zur Erledigung von Übungs aufgaben, zum Ruhen und Schlafen, Krankenzimmer; c) Spielfl ächen, Lärm- und Toberäume, mit Räumen besonderer Größe für geräusch- und bewe gungsintensive Aktivitäten und besonderen Spielgeräten; d) Mensa und Cafeteria für die Frühstücks- und Mittagsverpfl egung.

Ganztagsschulen beinhalten im Schulleben zudem auch die Möglichkeit zur Einnahme einer warmen Mittagsmahlzeit oder mitgebrachter Verpfl egung. Darüber hinaus wer den über Formen gemeinsa men Klassenfrühstücks, im Cafeteriabetrieb sowie durch Kioskver kauf weitere Mahlzeiten, Imbisse und Verpfl egungswaren angeboten. Schuli sche Mahlzeiten stehen durchaus mit Lern- und Erziehungs aspekten in Verbindung, etwa als gemeinschaft sstif-tende und kommu nikative Aktivität sozialen Miteinanders oder als Anknüp-

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fungspunkt für Fragen gesunder Ernährung. Die durchdachte Integration von Mahlzeiten in den Tagesablauf vermag zur Schullebensgestaltung und zu ge-meinsamen Gruppenerfahrungen bei zutragen.

Zeitorganisation: Flexible lern- und schülergerechte Zeitrhythmisierung

Kinder brauchen Orientierung und Verlässlichkeit durch zeitliche Abfolge von Aktivitäten und Ritualen, ebenso aber fl exible Möglichkeiten, um eigenes Lerntempo, eigene Lernwege und Lernmethoden zu fi nden. Kinder wollen lernen, sich Welt aneignen und Erfolge und Können durch eigene Leistun gen und Lernergebnisse erfahren, benötigen aber auch fl exible und hinrei chende Phasen der Erholung und Zerstreuung, des Spiels und freier Betätigung. An-gesichts der Unterschiedlichkeit der Lernvoraussetzungen der Schulkinder be-nötigt die Schule mehr Zeit und eine kind- und lerngerechte Rhythmisierung des Schulalltags. Der Ver lauf des Schultags sollte daher um des Lernens und des Lernerfolgs willen vom Lebens- und Lernrhythmus der Kinder und der didaktisch-methodischen Diff erenzierung bestimmt werden, nicht aber von einer von außen gesetzten verwaltungsbürokratisch gesetzten Zeitordnung. Die Rhyth misierung des Schulvormittags orientiert sich sowohl an den phy-siologischen und psycho-sozia len Belastun gen und am Lern tempo der Kinder als auch den didaktischen und methodischen Anforde rungen der Lernprozes-se. Dies erfordert eine Abstim mung hinsichtlich der optimalen Zeit punkte, Dauer und In tensität sowie der Art der Lernaktivitäten, z.B. individu elles Lerntempo und variierende Unterrichtsmetho den (vgl. Meyer 1976). Aus einer entsprechend rhythmisierten Zeitstruktur erwach sen bei höherem Zeit-umfang Vorteile für eine fl exiblere Or ganisation der Lernprozesse insgesamt (Mess ner 1991): Neben einer Min derung von Lernstörungen wer den Mög-lichkeiten einer Diff erenzierung der Lernzugänge und Lernformen erwei tert, z.B. für Freiarbeit, projektorientiertes Lernen, fä cherübergreifende Lernein-heiten (vgl. auch Burk u.a. 1998). Gleichzeitig begünstigt der Abschied vom Diktat eines starren Stun denplans off enere Lernprozessen mit ganzheitlichen Orientierungen der Lernvorgänge und eröff net gleichzeitig Chancen für ein altersübergreifendes und fächerverbindendes Lernen in Zu sammenhängen. Rhythmus beinhaltet verschiedene Elemente:

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• die Geglie dertheit der Schulzeit, • Wiederholung bestimmter Abläufe und Rituale, • Be tonung und Akzentuierung besonderer Aktivitäten und Ereignisse

sowie • die Stetigkeit der zeitorganisa torischen Ordnung.

Eine alternative Rhythmisierung des Tagesablaufs integriert in einem sinn-vollen Wechsel Konzentrations- und Zerstreu ungs phasen, Bewegung und Ruhe, Anspannung und Entspannung, Lernarbeit und Spiel. Dabei kom men innerhalb der Tages- und Wochengestaltung verschiedene Lernsituationen und Lernarrangements zum Tragen: off ener Schulanfang, Kreisge spräch, ge-lenkte Unterrichtsphasen mit Instruktion und Klassengespräch, Freiarbeits- und Übungsstunden, ungelenkte Phasen freier Arbeit, Arbeitsge meinschaf-ten, Spiel- und Bewegungspausen. Eine Gleitzeit am Morgen mindert Span-nungssituationen zu Schulbeginn. Eine Veränderung der Lernrhythmisierung betrifft dem nach im Rahmen der jeweiligen didaktisch-methodischen Kon-zeption drei Ebenen der Lernor ganisation (vgl. Messner 1991; Burk u.a. 1998, S. 20 ff .):

1) der äu ßere Takt der Zeitblöcke in der Tagesorganisation, 2) die äuße-re Rhythmisierung, also Wechsel und Verbindung zwischen ver schiede nen Lern situationen, zwischen ge lenkten und unge lenkten Un terrichts- und Frei-zeitelementen, 3) der innere individuelle Lernrhythmus durch die Aktivitäten und das Lerntempo der Kinder.

In der Schule sind drei Rhythmen zu unterschieden: 1) der Tagesrhythmus mit dem täglich wiederkehrenden äußeren Takt und der inneren Rhythmisierung, 2) der Wochenrhythmus mit einem zeitorganisatorischen Strukturplan, 3) der Jahreslauf mit dem Rhythmus von wechseln den bzw. wiederkehrenden Ereig-nissen und jahreszeitlichen Besonderheiten.

Konzepte und Modelle für die Organisation von ganztägigen Schulen

Eine erweiterte tägliche Schulzeit wird zwar insbesondere aufgrund von Betreuungs bedürf nissen seitens der Eltern nachgefragt; neben dieser sozial-politischen Begrün dung trägt ein erweiterter Zeitrahmen jedoch auch schul-

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pädagogischen Entwicklungsbedarfen Rechnung: erweiterte Lernangebote, verbesserte Förde rung, soziales Lernen und die Weiterentwicklung der Lern-kultur (vgl. Burk 1990; Holtappels 1997).

In den Bundesländern können für die verschiedenen Formen zeitlich erwei-terter Schulen im wesent lichen zwei Grundmodelle unterschieden werden:

• Ganztags- und Betreuungsangebote: In täglich gleich bleibenden und gere-gelten Schulzeiten bis Mittag bzw. bis nachmittags werden für eine Teil-schülerschaft pädagogische Betreuungsangebote, die nicht von allen Schü-lern der Schule be sucht werden, zur freiwilligen Nutzung unterbreitet. Zusätzlich zu einem im Wesentlichen unverändert bleibenden Unterrichts-teil gibt es vor und im Anschluss an den stundenplanmäßigen Unterricht Betreuungsformen, die nicht unbedingt mit dem Lern- und Interaktions-geschehen des schulischen Pfl ichtbereichs in Verbindung stehen. Sie kon-zentrieren sich meist schwerpunktmäßig auf Spiel, Sport und Freizeit sowie Hausaufgabenhilfe, zum Teil bestehen sie auch als „Pädagogischer Mit-tagstisch“. Das Personal besteht meist aus sozialpädagogischen Fachkräft en oder ABM- bzw. Honorarkräft en.

• Ganztagsschule für alle: Eine „gebundene“ Ganztags schule bietet bis in den Nachmittag eine täglich feste Schulzeit, die obligatorisch für alle Schüler der Schule gilt. In solchen „integrativen“ Modellen erfolgt eine stärkere Ver-zahnung von Unterricht, Spiel und Freizeit sowie erweiterten Lernangebo-ten und Fördermaßnahmen. Die Verbindung kognitiven, manuellen und sozialen Lernens führt Bildungs- und Er ziehungsaufgaben der beteiligten Pädagogen und (Teil-)Institutionen zu einer gemeinsamen Verantwor-tung und einem ganzheitlichen pädagogischen Konzept zusammen. Die Verknüpfung der einzelnen unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Elemente fi ndet häufi g ihre Entsprechung in einer fl exiblen Tagesrhyth-misierung im Rahmen eines Wochenstrukturplans mit der Bildung grö-ßerer Zeitblöcke (z.B. 90 Minuten), unterbrochen von langen Spielpausen. Alle Kinder lernen gemeinsam in einem Wechsel verschiedener Lern- und Spielarrangements, was ein gebundenes Modell mit weitgehend verpfl ich-tender Teilnahme erfordert.

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Dabei wird deutlich, dass in Betreuungsschulen des additiven Modells für verschiedene Schülergruppen unterschiedliche Tagesstrukturen entstehen, die bestimmten Zwängen unterliegen: Einerseits muss der Unterricht nach Stundenplan in bestimmten Kernzeiten für alle Kinder verbindlich platziert werden, andererseits wird in den darüber hinaus gestalteten Phasen kein ge-meinsames Schulleben möglich, denn in den Randzeiten hat ein Teil der Schü-lerinnen und Schüler (vor allem der oberen Klassen) schon bzw. noch Unter-richt, während die nicht betreuten Schülerinnen und Schüler noch nicht in der Schule sind oder bereits nach Hause gehen, betreute Schüler dagegen ein Sonderprogramm erhalten. Im Gegensatz dazu kann in Halbtagsgrundschu-len und Ganztagsschulen im gebundenen Modell der Schul tag für alle Schüle-rinnen und Schüler pädagogisch gestaltet und rhythmisiert werden.

Pädagogische Bewertung der Schulkonzeptionen

In Schulen, die für alle Schüler ganztägig verpfl ichtend sind, zeigen sich Vor-teile:

• Es entstehen keine Diskussionen darüber, wer teilnehmen soll oder darf; auch fühlen sich Schülerinnen und Schüler ohne Ganztagsbesuch nicht be-nachteiligt, für andere ist klar, dass nicht nur sie auch nachmittags Schule haben.

• In gebundenen, für alle verpfl ichtenden Ganztagszeiten können Schülerin-nen und Schüler auch über den Stundenplan hinaus noch reichlich lernen, die erweiterte Zeit besteht nicht nur aus Freizeit.

• Mit allen Schülern kann das Schulleben gemeinsam gestaltet, Gemein-schaft entfaltet und soziales Lernen ermöglicht werden; die Schülerinnen und Schüler müssen ab mittags nicht auf verschiedene Gruppen aufgeteilt werden.

• Schüler brauchen Orte, wo sie kontinuierliche Zuwendung und Lernhilfe sowie stabile Beziehungen und integrierende Grup penbezüge vorfi nden. Die Lerngruppe und die Lehr- und Erziehungspersonen können nicht dau-ernd wechseln, auch Weiterlernen aus sachlichen Inhalten und Problem-stellungen des Vormittags heraus muss möglich sein.

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• Der Schultag kann anders zeitlich organisiert und lern- und kindgemäß rhythmisiert werden, weg von dem starren Stundentakt, im Wechsel von Anspannung und Entspannung, Ruhe und Bewegung, Lernarbeit und Spiel.

• Für eine eff ektive Lernförderung sind ein Mix aus unterschiedlich lernen-den Schülern und auch unterschiedliche Niveaus erforderlich; auch für soziales Lernen ist eine gewisse soziale Mischung der Schülerschaft not-wendig.

• Schulen können ihre Lernkultur im Unterricht und im Schulleben eben-so weiterentwickeln wie das Schulklima mit Eltern und Schülern entfalten; Lehrkräft e gewinnen ein umfassenderes Verhältnis zu den Schülern, ihren Lernbedürfnissen und ihrer Entwicklung und handeln auch erzieherisch.

4. Forschungsergebnisse zur Elternakzeptanz und zur Elternnachfrage

Bei Bevölkerungs- und Elternumfragen unterscheiden wir zwischen Akzep-tanzstudien, Nachfragestudien und Forschungen zu Einschätzungen und Mo-tiven von Eltern.

Akzeptanz von Ganztagsschulen in der Gesellschaft

Die Akzeptanz von Ganztagsschulen ist in Deutschland im letzten Jahrzehnt erheblich gestiegen: Die alle zwei Jahre vom Institut für Schulentwicklungsfor-schung Dortmund (IFS) durchgeführte Repräsentativumfrage in der bundes-deutschen Bevölkerung und bei Schülereltern verdeutlicht, dass immer mehr Bundesbürger, vor allem Eltern, eine Politik der verstärkten Einrichtung von Ganztagsschulen unterstützen: Die Quote der Bürger, die meinen, „es sollten mehr Ganztagsschulen eingerichtet werden“, steigerte sich von 39 % in 1991 (als tiefstem Stand) bis auf 56 % in 2004; der Anteil der Gegner hat sich seit 1981 kontinuierlich verringert, von 40 % auf 21 % fast halbiert. Bei den Schü-lereltern beläuft sich der Anteil der Befürworter auf 51 % im Westen und 46 % im Osten, was bedeutet, dass dieser Anteil in diesem Jahr nicht noch einmal anstieg; vermutlich hält ein Teil der Eltern das Erfordernis weiteren Ausbaus angesichts der derzeit laufenden Ausbauprogramme für abgearbeitet. Der An-teil der Gegner liegt bei 22 % im Westen und 25 % im Osten. Die Zustimmung

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bei Grundschülereltern liegt – off enbar aufgrund des höheren Betreuungs-drucks für jüngere Kinder - spürbar höher, vor allem im Osten.

Die aktuelle forsa-Umfrage vom September 2003 (forsa 2003) bei 1.012 Bun-desbürgern im Alter von 20 bis 50 Jahren fi ndet sogar eine Zustimmung von 79 % zur fl ächendeckenden Einführung von Ganztagsschulen (als Angebot neben Halbtagsschulen). Sämtliche Umfragen ermitteln allerdings lediglich die Zustimmung zu ganztägigen Schulen (in gebundener oder off ener Form) als Wahlmöglichkeit neben Halbtagsschulen, nicht aber zur fl ächendeckenden Umwandlung aller Schulen in eine Ganztagsform.

Nachfrage der Eltern nach ganztägigen Schulen und Angebotsformen

Was die Organisationsformen für Ganztagsangebote anbetrifft , so ziehen El-tern von den institutionellen Ganztagsformen mehrheitlich die Schule jenen in Horten, Zentren oder Betrieben vor; von den Eltern werden aber off ene Ganztagsangebote mit freiwilliger Teilnahme überwiegend bevorzugt (s. Bar-gel/ Kuthe (1991, S. 221 ff .). Ein obligatorischer Ganztagsschulbesuch mit verpfl ichtender Teilnahme an vier Wochentagen trifft bei einem Drittel auf Zustimmung, ein Pfl ichtganztag von fünf Tagen bei nur etwa einem Sechstel (ebenda, S. 225). In zeitlicher Hinsicht votieren 71 bis 88 % der Eltern für 16 Uhr als Schulende einer Ganztagsschule, während ein Siebtel eine Öff nung bis 17 Uhr wünscht. Bis zu 40 % der Eltern wünschen jedoch auch für Halbtags-schulen eine Verlängerung der Öff nung über 13 Uhr hinaus (ebenda, S. 225 f.).

Aktuellere lokale Bedarfserhebungen der 90er Jahre (vgl. HOLTAPPELS 1994, S. 184 ff .) weisen teilweise eine noch höhere Elternnachfrage nach schulischen Organisationsformen mit zeitlicher Erweiterung aus, was am ehesten am Bei-spiel der wohl größten Regionalstudie für die Stadt Oldenburg (vgl. ebenda 1994, S. 202 ff .) bei 3.722 befragten Grundschüler-Eltern sichtbar wird: Drei Viertel aller Eltern wollen regelmäßige und verlässliche pädagogische Ange-bote für Schulkinder über die stundenplanmäßige Schulzeit hinaus, also mehr als Unterricht nach Stundenplan, wobei der Schule seitens der Eltern eine zen-trale Rolle in der Ganztagsversorgung zugeschrieben wird.

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Elternpräferenzen für die Gestaltung

Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der pädagogischen Angebote (vgl. Holtappels 1994) war lange Zeit für rund vier Fünft el der Eltern die täg-lich „verlässliche Versorgung“ der Kinder der mit Abstand bedeutsamste As-pekt. Gleichaltrigen-Kontak te und Freundschaft sbildungen, vielfältige Spiel-, Sport- und Freizeitangebote, Haus auf gabenbetreuung, Lernförderung, musi-sche Angebote sowie Mög lichkeiten der Mitgestaltung des Schullebens durch Schülerinnen und Schüler folgen als weitere für „sehr wichtig“ erachtete An-gebotselemente. Weniger wichtig sind den meisten Eltern dagegen zusätzliche Wahlfächer/AGen und erzieherische Hilfen der Schule.

Die neue IFS-Umfrage ermittelte die konkrete aktuelle Nachfrage der Eltern, deren Kind (noch) keine Ganztagsschule besucht: Auf das Statement „Ich wünsche mir für mein Kind einen Ganztagsschulplatz“ antworten 17 % mit „trifft zu“ ohne nennens werte West-Ost-Unterschiede (Grundschülereltern jedoch zu 28 % im Westen und im Osten sogar zu 39 %). Zusammen mit El-tern, deren Kind bereits eine Ganztagsschule besucht, beläuft sich die Quote derer, die aktuell eine Ganztagsschule für ihr eigenes Kind nutzen oder nutzen möchten, auf insgesamt 22,4 %.

Die neue IFS-Umfrage 2004 verdeutlicht ein teilweise gewandeltes Bild bei den Schülereltern: Eltern wurden zur Bewertung der Wichtigkeit mittels einer vierstufi gen Skala fünf Gestaltungsaspekte vorgelegt. Danach haben für Eltern Gemeinschaft serfahrungen und soziales Lernen sowie Unterstützungsaspek-te zur Leistungsförderung mit Abstand höchste Relevanz. Erst dann folgen erweiterte Neigungsangebote sowohl zur Freizeitgestaltung als auch in Form zusätzlicher Lerngelegenheiten. Reine Betreuungs- und Versorgungsaspek-te bleiben für Eltern wichtig, aber belegen hier erst den fünft en Rang. Auch Grundschülereltern sehen in etwa diese Reihenfolge. Sie präferieren ebenfalls soziales Lernen und Leistungsförderung, allerdings erlangen für sie alle Ge-staltungselemente höhere Wichtigkeit. Im Osten liegen die Elterneinschätzun-gen zu den einzelnen Aspekten dichter beieinander, Förderung und Soziales werden wiederum am wichtigsten eingestuft , aber Freizeit und Betreuung erhalten nahezu ähnliche Relevanzwerte. Grundschülereltern im Osten ge-wichten alle Gestaltungsbereiche deutlich stärker als andere Eltern und auch

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als Grundschülereltern im Westen; dabei kommen Freizeit und Sport sowie Leistungsförderung auf die ersten Plätze.

Die Bedeutung der Ganztagsschule für die soziale und kognitive Lernent-wicklung der Schüler wird demnach von Eltern off enbar erkannt. Ihre Kinder sollen im Ganztagsbetrieb vor allem für Kernkompetenzen lernen, eine erwei-terte Schulzeit wird dagegen weniger in der Freizeit- und Betreuungsfunktion gesehen – ein Auft rag, dem off ene Ganztagsformen keineswegs durchgängig Rechnung tragen.

Elternmotive und Elterneinschätzungen für ganztägige Beschulung

Ein weiteres Resultat der IFS-Umfrage 2004 bezieht sich auf die von Eltern antizipierten Eff ekte des Ganztagsschulbesuchs auf das Familienleben; dabei wurden den Befragten drei Items mit möglichen Eff ekten zur Einschätzung auf einer dreistufi gen Skala vorgelegt: Dass die Ganztagsschule für die Familie generell eine Entlastung sein würde, glauben 18 %, zusätzlich teilweise noch 30 %. Ein Viertel der Eltern erwartet günstige Wirkungen für die Erledigung der Hausaufgaben , teilweise glauben dies 38 %. Positive Eff ekte für die Weiterfüh-rung oder Neuaufnahme einer Erwerbstätigkeit erwarten 19 % und zum Teil nochmals 24 %, womit für einen beträchtlichen Teil der Eltern das Ziel der verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch den Ganztagschulbe-such erreicht würde. Grundschülereltern sehen deutlich stärker eine familiäre Entlastung und Eff ekte für die Erwerbstätigkeit. Weitaus höher schätzen ost-deutsche Grundschülereltern im Vergleich mit westdeutschen die Wirkungen ein, auch spürbar höher als sonstige Eltern im Osten. Keine Unterschiede zwi-schen Ost und West bestehen bei den restlichen Eltern.

Ein Drittel aller befragten Bundesbürger und Eltern befürchtet indes, dass bei Besuch einer Ganztagsschule, die Schule zu viel Einfl uss auf die Erziehung gewinnen würde. 28 % glauben dies teilweise, während 39 % ablehnend ant-worten. Auf ein entsprechendes Statement konnten die Befragten mittels fünf-stufi ger Skala der Zustimmung/Ablehnung reagieren. Bevölkerung, Eltern bzw. Grundschülereltern unterscheiden sich kaum. Alle ostdeutschen Befrag-tengruppen stimmen weniger (5 bis 7 Prozentpunkte) zu und sind deutlich stärker ablehnend.

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Bei den Elternmotiven für den Ganztagsschulbesuch stehen bei Eltern mit Kindern an Ganztagsschulen die Förderungsaspekte mit Quoten zwischen 49 % und 42 % an der Spitze (vgl. Bargel/Kuthe 1991, S. 199). Dazu gehören die bessere Lernunterstützung, mehr Angebote der Freizeitgestaltung, Kontakt-/Spielmöglichkeiten, mehr kulturelle Anregungen und breitere Bil dung. Neben den Förderungsaspekten erzielt nur noch die sichere Nachmittagsbetreuung eine hohe Quote (von 45 %), während andere Entlastungsargumente wie das Entfallen der Haus aufgaben (32 %) und freiere Einteilung des Tagesablaufs (15 %) als vorrangige Motive weniger gewichtig sind. Als relevante Motive tau-chen jedoch wiederum die Berufstätigkeit beider Eltern (38 %), volle Erwerbs-tätigkeit der Mutter (32 %), alleinerziehendes Elternteil (29 %) und Rückkehr der Mutter in den Beruf (22 %) auf.

Hinsichtlich der pädagogischen Leistungsfähigkeit schneiden Ganztagsschulen in der Beurteilung von Eltern und Lehrkräft en - über fast alle den Befrag-ten vorgelegten Kriterien - erheblich besser ab als Halbtagsschulen (Bargel/Kuthe 1991, S. 154 ff .). Dies bezieht sich nicht nur auf soziale Entlastungs-aufgaben der Schule wie Betreuung, Freizeitangebote und Hausaufgabenhilfe, die von großen Mehrheiten als Stärken der Ganztagsschule angesehen werden. Auch die Förderung von Schülern im Lernbereich wie im Sozialverhalten, kul-turelle und musische Anregungen, die Stärkung der Schulgemeinschaft und die Kooperation von Lehrern und Schülern ste chen als überaus positiv be-wertete Merkmale zugunsten der Ganztagsschule hervor. Abstri che werden allenfalls hinsichtlich der Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern gemacht

Als besondere Vorteile der Ganztagsschule nennen jeweils 60 % der Eltern zum einen die Aufsicht und Betreuung der Kinder am Nachmittag, zum anderen die Entlastung von Hausaufgaben. Die Hälft e der Eltern sieht zudem eine För-derung der Schülerinnen und Schüler durch intensive Betreuung als gewichti-gen Vorteil. Die Breite des Freizeitangebots (40 %), eine „spürbare Entlastung der Familie“ (34 %) und das „Einwirken auf das kindliche Sozialverhalten“ (38 %) folgen als weitere Vorteile. Als Nachteile sehen Eltern besonders die Ein-schränkung der außerschulischen Freizeit (48 % nennen dies) und die Länge des Schultages (45 %); bei jeweils nur gut einem Viertel der Eltern werden „Belastungen des Kindes durch die Schule“, eine geringere Leistungskontrol-le durch Eltern und die Abwesenheit während des Mittagessens als Nachteile

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empfunden. Die Vor- und Nachteile werden von Lehrkräft en tendenziell ähn-lich bewertet (Bargel/Kuthe 1991, S. 188 ff .). Neuere Befragungen in der Bevölkerung (s. forsa 2003) zeigen hohe Erwartungen bei 20- bis 50-Jährigen: Es glauben 68 %, dass sich durch das Mehr an Zeit die individuelle Förderung verbessere, 55 % nehmen dies für die Kreativitätsförderung und 44 % für die Unterrichtsqualität an.

Eltern- und Lehrerurteile variieren off enbar entscheidend nach der eigenen Erfahrung mit der Praxis. Eltern ohne Ganztagsschulerfahrung äußern weit-aus mehr Befürchtungen und betonen stärker vermutete Nachteile als Eltern mit Kindern an Ganztagsschulen, die wiederum die bessere Leistungsfähigkeit dieser Schulart positiver als andere Eltern beurteilen. Auch in der Bilanz der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (vgl. Ipfling 1981, S. 58 f.) zu den Modellversuchen mit Ganztagsschulen wird über Elternbefragungen eindeutig bestätigt, dass die Eltern nach gewonnenen Erfahrungen mit dieser Schulart Ganztagsschulen breit akzeptieren; die Quoten der Befürwortung la-gen zwischen 50 und 90 %.

5. Forschungserkenntnisse zur Pädagogik und Organisation von Schulen mit erweiterter Lernzeit

Im Folgenden werden die wesentlichen Forschungserkenntnisse zusammen gefasst, wobei neben den wenigen spezifi schen Ganztagsschulstudien auch re-levante Befunde aus der Schulqualitäts- und Innovationsforschung Bedeutung für die Einschätzung von Ganztagsschulen haben.

Erkenntnisse zur Schulqualität aus Forschungen in Ganztagsschulen

Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung legte 1981 eine zusam-menfassende Auswertung vor, aus der hier die wichtigsten Ergebnisse vorge-stellt werden sollen (Ipfling 1981, S. 6 f.):

• Im Hinblick auf Schulleistung, Schulerfolg, Disziplinprobleme und Schul-angst ergeben sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen Ganztags- und Halbtagsschulen.

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• Lernorganisation, individuelle Förderung und außerunterrichtliche Akti-vitäten haben teilweise positive Rückwirkungen auf den Unterricht, Leis-tungsbereitschaft und Lernerfolg.

• Erholung und Freizeitaktivitäten benötigen hinreichende Zeiten. Fragen der Zeitrhythmisierung wurden ebenso wenig gelöst wie die Integration von Hausaufgaben, die Lehrerbelastung und konkurrierende Angebote.

• Eine Verbesserung des Sozialklimas, des Gemeinschaft slebens und des So-zialverhaltens wird berichtet.

Problemfelder zeigten sich (ebenda, S. 68 f.) in der ungelösten Rhythmisie-rung, der Tagesorganisation, der Gefahr der Verplanung und Verschulung der Lernenden, der höheren und andersartigen Lehrerbelastung und in äußeren Bedingungen und Einfl ussfaktoren, etwa baulich-räumliche Aspekte, soziale Schülerzusammensetzung, Konkurrenz außerschulischer Freizeitangebote. Wesentliche Erkenntnisse decken sich mit der Evaluation österreichischer Ganztags- und Tagesheim schulen (vgl. Dobart u.a. 1984).

Hinsichtlich der pädagogischen Leistungsfähigkeit schneiden Ganztagsschu len in der Beurteilung von Eltern und Lehrkräft en erheblich besser ab als Halb-tagsschulen (s. Bargel/Kuthe (1991, S. 154 ff .). Dies bezieht sich nicht nur auf soziale Entlastungsaufgaben der Schule wie Betreuung, Freizeitangebote und Hausaufgabenhilfe, die von großen Mehrheiten als Stärken der Ganz-tagsschule angesehen werden. Auch die kognitive und soziale Förderung der Lernenden, kulturelle und musische Anregungen, die Stärkung der Schulge-meinschaft und das Lehrer-Schüler-Verhältnis stechen als überaus positiv be-wertete Merkmale zugunsten der Ganztags schule hervor.

Studien zu besonderen Organisationskonzepten

Neuere Studien widmen sich zum einen den additiven Modellen von Schulen mit Betreuungsangebot als off ene Formen eines schulischen Ganztagsbetriebs, zum anderen gebundenene Konzepten erweiterter Schulzeit.

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Schulen mit Ganztags- oder Betreuungsangebot

Die Studie von Glumpler/Luig-Arlt (1995) an schleswig-holsteinischen Schu-len verdeutlicht pädagogische Probleme in Konzeptionen ohne festes Ganz-tagspersonal. Personalausfälle und organisatorische Belastungen beeinträch-tigen die Kontinuität der Arbeit der pädagogischen Fachkräft e. Die auf der Basis von Arbeitsbeschaff ungsmaßnahmen und Honorarkräft en organisierte Betreuung zwängt die Grundschule in das Spannungsfeld von elterlicher Be-treuungsnachfrage und Diskontinuität der personellen Absicherung.

Die Auswertung der landesweiten Erhebung in Nordrhein-Westfalen (vgl. MSW 1997) an Schulen Betreuungsgruppen (57 % der Grundschulen als „Schule von acht bis eins“) zeigte, dass nur 21 % der Betreuungskräft e über Angestelltenverträge (davon 9 % über ABM), aber 57 % auf Honorarbasis und 22 % in sonstigen Arbeitsverhältnissen beschäft igt waren; 29 % waren zudem ohne pädagogische Qualifi kation. Die pädagogische Gestaltung der Betreuung hatte vornehmlich freizeitpädagogische und kompensatorische Schwerpunk-te: 84 % der Betreuungsformen wiesen Freizeit- und Sportangebote und 43 % Hausaufgabenhilfe auf, jedoch nur 11 % erweiterte Lernmöglichkeiten in AGs und nur 17 % Fördermaßnahmen.

Eine aktuelle Untersuchung über schulische Ganztagsangebote in NRW (vgl. Haenisch 2003) zeigt für Nachmittagsangebote in Primar- und Sekundar-stufe (Programm „Dreizehn plus“) folgende Ergebnisse: Zwar handelt es sich überwiegend um eine schulische Maßnahme, jedoch nur in 9 % der Fälle in der Primarstufe und in 35 % in der Sekundarstufe I ist die Schule Träger; zu-meist sind Förder- oder Betreuungsvereine und Jugendhilfe die Träger. Im Schulkonzept schien bei zahlreichen Schulen das Ganztagsangebot nicht zen-tral verankert, denn nur bei etwa einem Drittel der ganztägigen Formen gab es in der Schule Kooperationsbeauft ragte und nur in der Hälft e der Fälle ein festes Gremium für das Ganztagsangebot. 41 % der Stundenanteile in der Pri-marstufe und 31 % in der Sekundarstufe I wurden von Personal auf Honorar-basis oder mit geringfügigen Beschäft igungsverträgen bestritten, Lehrkräft e haben nur Anteile von 3 % bzw. 20 % (Sekundarstufe I).

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Lediglich gut ein Fünft el der Schülerinnen und Schüler nahm im Durchschnitt am erweiterten Angebot teil, somit ist bei etwa einem Drittel der Schulen die soziale Zusammensetzung disproportional. Die seitens der Schulen benann-ten Ziele liegen deutlich überwiegend im sozial- und freizeitpädagogischen Bereich (Betreuung, Verbesserung des Sozialverhaltens, Freizeit, interkultu-relle Verständigung, gesunde Ernährung); die Verbesserung der Hausaufga-ben wird nur von Minderheiten als sehr wichtiges Ziel genannt. Gleichwohl gehören Hausaufgabenbetreuung, künstlerisch-musische und sportliche An-gebote bei den weitaus meisten Ganztagsangeboten zum Programm, weitere Medien- und Freizeitangebote und interkulturelle Aktivitäten kommen bei ei-nem Drittel bis zur Hälft e der Schulen hinzu. Die seitens der Schulen berichte-ten Wirkungen erreichen nur durchschnittliche Werte, besonders im Hinblick auf das Lernverhalten, das Lerngruppenklima und die Sprachkompetenz von Migranten; leicht höher werden Wirkungen im sozialen Bereich angegeben (ebenda 2003).

Schulen mit erweiterter Schulzeit im gebundenen Modell

Mit der Entwicklung von Ganztagsschulformen durchaus vergleichbar ist die Entwicklung zeitlich erweiterter Schulmodelle im Grundschulbereich. Die Ent-wicklung von Halbtagsgrund schulen, die den Schultag über den Stundenplan hinaus bis mittags gestalten, konnte in mehreren Bundesländern voran schrei-ten - in unterschiedlicher Konzeption jedoch: Während in Baden-Württem-berg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein additive Betreuungsange-bote vorherrschen, wurden in Bremen, Hessen und Niedersachsen sowie in Hamburg und Rheinland-Pfalz integrierte Modelle mit einem Halbtag für alle Schüler geschaff en, in den letzten beiden Ländern sind sie noch voll existent.

Die Wirkungen hinsichtlich Veränderungen in der Lernorganisation und Lernkultur sind in mehreren Ländern dokumentiert und ausgiebig erforscht. Forschungsergebnisse aus eigenen Studien in Niedersachsen, Hamburg und Bremen sind relevant für die Einschätzung von Wirkungen im Ganztagsbe-reich. So werden in Grundschulen mit erweitertem Zeitrahmen in Nieder-sachsen und Hamburg nach Einführung der neuen Zeitstruktur insgesamt spürbare Qualitätszuwächse in der Lernkultur, sowohl im Unterricht als auch im außerunterrichtlichen Schulleben, feststellbar (vgl. Holtappels 1997 und

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2002): Insbesondere vollzieht sich ein Innovationsschub hinsichtlich der Viel-falt, Variabilität und Diff erenziertheit der Lehr-Lern-Formen. Im Unterricht wird dies sichtbar in deutlich höheren Anteilen off ener und anspruchsvoller Unterrichtsformen wie Wochenplan, Freiarbeit, Projektlernen und Erkun-dung. Verstärkt werden außerschulische Lernorte und Institutionen in Unter-richtsaktivitäten einbezogen. Über den Fachunterricht hinaus zeigen sich im Schulleben erweiterte Erfahrungsfelder durch Schulprojekte und Lernangebo-te nach Neigung sowie Spiel- und Freizeitformen.

In Ankopplung an die internationale PIRLS-Untersuchung und IGLU zei-gen Ergebnisse einer vergleichenden Systemevaluation im Land Bremen (vgl. Holtappels u.a. 2004), dass im Vergleich zu Schulen mit Betreuungsangebot die Halbtagsgrundschulen im gebundenen Modell mit rund 20 % mehr Lern-zeit und Beschulung aller Kinder der Schule nicht nur Kollegien aufweisen, die innovationsbereiter sind und intensiver in Teams kooperieren, sondern dass auch die Lernkultur diff erenzierter und die Lernförderung intensiver betrieben wird. Zudem sind die Lernleistungen im Leseverständnis und im Sachunterricht in gebundenen Halbtagsschulen – bei allerdings nur geringem Leistungsvorsprung - signifi kant besser und die Leistungsstreuungen gerin-ger; außerdem vermögen sie eher als Betreuungsschulen Bedingungen der so-zialen Herkunft und des Migrationshintergrundes auszugleichen.

Schulen mit Ansätzen der pädagogischen Öff nung

Jene Schulkonzeptionen, die in der Tradition von Community Education Ganztagsformen mit der Öff nung von Schule verbinden, könnten über die Kooperation der Schule mit Institutionen der Jugend- und Kulturarbeit eine pädagogische Alternative bilden. Für Schulen, die den Ganztagsbetrieb mit Angebotselementen durch gemeinwesenorientierte Ansätze und Kooperati-onspartner der Jugend- und Kulturarbeit realisieren wollen, zeigen empiri-sche Studien zu Ansätzen der Schulöff nung (vgl. für NRW: Haenisch 1998 und 2001): Schulische Projekte, die außerschulische Kooperationspartner und Lernorte einbeziehen und gemeinwesenorientierte Bildungsinhalte verfolgen, tragen spürbar bei zur Entwicklung der Lernkultur in der ganzen Schule und haben aus Schulsicht Auswirkungen auf den Unterricht; zudem initiieren Öff -

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nungsprojekte teilweise längerfristige Schulentwicklung. Die Projekte waren aber stets in der Hand der Schule.

Bestandsaufnahme über Konzeptionen der Ganztagsschule in Deutsch-land – Eigene Schulleitungsbefragung in den Bundesländern

Von Dezember 2003 bis Februar 2004 führten die Autoren eine bundeswei-te Befragung von Schulleitungen an bestehenden Schulen in Ganztagsform statt. Es wurden Schulen aller Schulformen mit Ausnahme der Berufskollegs befragt. Auswahlkriterium waren die Schulen, die dem Institut von den Kul-tusministerien genannt wurden und die bereits vor dem 1. August 2003 als Ganztagsschulen geführt worden sind. Mit Ausnahme von Sachsen haben sich alle Bundesländer an der Befragung beteiligt. Auff ällig ist, dass es große Diff e-renzen gibt zwischen diesen genannten Zahlen und den Zahlen die aus ande-ren Quellen zu entnehmen sind (z.B. KMK, Ganztagsschulverband).

In den Ländern mit einem relativ breiten Ganztagsangebot wurden Stichpro-ben gezogen. Dies traf für NRW und Niedersachsen zu. Ansonsten fand eine Vollbefragung in den Ländern statt. Insgesamt 83 Schulen meldeten sich mit dem Hinweis zurück, dass sie keinen Ganztagsbetrieb an ihrer Schule anbie-ten. Tabelle IX/5 gibt Aufschluss über die von den Ministerien genannten und befragten Ganztagsschulen sowie über den Rücklauf:

Hauptziel der Befragung ist es, eine Bestandsaufnahme über pädagogische Profi le, Gestaltungsansätze und Organisationsvarianten von Schule mit ganz-tägiger Konzeption zu erstellen, um daraus für zukünft ige Ganztagsschulen Erkenntnisse für Impulse und Wissenstransfer zu gewinnen. Von den Minis-terien der Länder wurden insgesamt 1.759 ganztägige Schulen benannt. Die Schulleitungen von 1.361 Schulen wurden auf schrift lich-postalischem Wege befragt, der Rücklauf liegt bei fast 49 % (n= 663). Eingesetzt wurde ein Fra-gebogen mit einigen off enen Antwortformaten und überwiegend standardi-siert-quantitativen Formaten, bestehend aus vornehmlich neu entwickelten Instrumentarien sowie bewährten Itemlisten aus der Schulentwicklungs- und Qualitätsforschung. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse präsen-tiert, die im Kern vor allem die unterschiedlichen Organisationsformen der Ganztagsschule (i.F. oft abgekürzt: GTS) vergleichen.

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Dialog 19140

Strukturdaten und Organisation der ganztägiger Schulen

Öff entliche Schulen sind mit 96 % in der Stichprobe etwas überrepräsentiert, private Schulträger fi nden wir bei nur 4 %. Träger des Ganztagsbereichs ist in 94 % der Fälle der Schulträger, andere Träger (6 %) sind Wohlfahrtsverbände, kirchliche Einrichtungen oder Eltern- bzw. Fördervereine der Schulen. Bei ge-bundenen Ganztagsschulen sind fast durchgängig die Schulträger auch Träger des Ganztagsbetriebs, bei off enen Modellen nur zu 87 %.

In 84 % der Fälle geben die Schulleitungen an, dass die soziale Zusammenset-zung jener in der gesamten Schülerpopulation der Schule entspricht, nur 13 % konstatieren leichte und 3 % starke Abweichungen, deutlich überwiegend in Richtung größerer Problemgruppen. Disproportionale Verhältnisse wer-den weitaus eher (zu 76 bis 77 %) in teilgebundenen und off enen Organisati-onsformen der GTS mit zumindest zum Teil freiwilliger Teilnahme sichtbar, während die gebundenen Modelle ohnehin alle Schüler ganztags beschulen. Zudem sagen diese Zahlen noch nichts über Lage und Einzugsgebiet der Ganztagsschulen. Unter den Schulleitungen berichten in der Befragung je-doch 40 % von häufi gen Problemen mit Arbeitslosigkeit in Familien, 12 % von häufi g registrierter sozialer Verwahrlosung, 26 % von hoher Schülerquote mit nichtdeutscher Muttersprache. Ein Drittel der Schulleitungen gibt an, dass die Quote ihrer Schüler, bei denen zu Hause nicht deutsch gesprochen wird, 20 % und höher liegt. Nach Angabe von über der Hälft e der Schulleitungen liegt die Quote der Schüler aus Haushalten Alleinerziehender bei 25 % und höher.

Gründungsbedingungen

Was den Gründungstyp der befragten Schulen anbetrifft , so wurden 30 % der Schulen direkt als Ganztagsschule (vor allem Gesamtschulen) gegründet, 70 % von einer Halbtags- in eine Ganztagsform umgewandelt. Unter den voll gebundenen Organisationsformen mit verpfl ichtendem Ganztagsbesuch für alle Schüler fi nden sich mit 46 % deutlich mehr in Ganztagsform gegründete Schulen, schwerpunktmäßig Gesamtschulen; unter den teilgebundenen und off enen Modellen sind dies nur 19 % bzw. 16 %. Ein Viertel der befragten Ganztagsschulen wurde in den letzten fünf Jahren gegründet, jede sechste be-

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Der Saarländische Schulpreis 2007/2008 141

steht seit fünf bis zehn Jahren, ein Drittel 10 bis 20 Jahre, ein Fünft el seit über 20 Jahren.

Betrachtet man die Anlässe für die Gründung bzw. Umwandlung zur Ganz-tagsschule, so dominieren bei je drei Fünft el der Fälle die Anlässe „sozialer Bedarf im Stadtteil“ und bessere Umsetzungsmöglichkeit des Leitbildes der Schule (einschließlich Förderung). Bei einem Drittel war der Wunsch des Kol-legiums nach entsprechendem pädagogischen Konzept der Motor. Anreize durch verbesserte Sachausstattung (11%) bzw. Personalausstattung (20%) wer-den eher seltener angegeben. Elterninitiativen spielten nur in einem Sechstel der Fälle eine Rolle. Während bei Gründungen als GTS etwas häufi ger (22 %) eine Elterninitiative den Ausschlag gab, kamen Umwandlungen zum Ganz-tagsbetrieb deutlich häufi ger (65 %) aufgrund des sozialen Bedarfs zustande, aber auch eher aus Motiven der Leitbild- und Konzeptrealisierung (66 bzw. 41 %). Bei den „Umwandlungstypen“ bahnten allerdings auch Aussichten auf Verbesserung der Sachmittellage (13 %) und der Personalausstattung (24 %) manches Mal den Weg zur Ganztagsschule.

Personaleinsatz und Kooperation in der Schule

Zum Personaleinsatz zeigt die Befragung, dass Ganztagsschulen einen erhöh-ten Personalbedarf haben, um ein Ganztagsangebot anbieten zu können. Über die Lehrkräft e hinaus kommen weitere Professionen zum Einsatz. In mehr als der Hälft e der befragten Schulen (54 %) arbeiten Sozialpädagogen und Sozial-arbeiter unterstützend im Ganztagsbereich, oft mals in vollem Stellenumfang. Unter den pädagogisch ausgebildeten Professionen werden Sonderpädagogen (24 %) und Erzieher (24 %) angegeben. Etwa ein Viertel aller Schulen arbeitet zusätzlich mit Honorarkräft en (29 %) und Personal mit geringfügigem Be-schäft igungsverhältnis (23 %) im außerunterrichtlichem Ganztagsangebot. Sieht man dabei auf die Durchführung und Anleitung von typischen Ganz-tagselementen wie Arbeitsgemeinschaft en (AGs) und Freizeitangebote, so zeigt sich, dass die meisten organisierten AG-Angebote vom Lehrpersonal (89 %) durchgeführt werden. Sozialpädagogen (37 %) und Fachpersonal auf Ho-norarbasis (35 %) runden dieses Angebot ab. Im Bereich der Freizeitangebote obliegt die Anleitung in gleichen Maßen dem Lehrpersonal (54 %) und den Sozialpädagogen (53 %).

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Dialog 19142

Um die Lernkultur entwickeln und Fördermaßnahmen wirksam organisieren zu können, sind intensive Formen der Kooperation zur Steuerung sowie in-stitutionalisierte Teambildungen notwendig. Auch hierzu wurden die Schul-leitungen befragt. Fast durchgängig zeigen sich signifi kante Unterschiede zwischen den Ganztagsschultypen, da voll gebundene Modelle intensivere Lehrerteamarbeit im Schulalltag pfl egen, gefolgt von teilgebundenen Model-len: Doppelbesetzungen im Unterricht und Jahrgangsteams existieren jeweils zu fast drei Fünft eln in gebundenen GTS, in der Hälft e der teilgebundenen, aber nur zu 37 % bzw. 42 % in off enen. Klassenleitungstandems fi nden sich in gebundenen Formen mit 72 % doppelt so häufi g wie in off enen, in teilgebun-denen sind es 52 %.

In gut zwei Drittel der voll- und teilgebundenen GTS (72 % bzw. 67 %) besteht eine Steuergruppe für die Entwicklungsarbeit der Schule, etwas seltener in of-fenen Systemen (60 %). Arbeitsgruppen im Kollegium für die Entwicklungs-arbeit existieren sogar in vier Fünft el der gebundenen GTS, zu 72 % in den off enen. Eine Arbeitsgruppe speziell zur Koordination des Ganztagsbetriebs existiert hingegen häufi ger bei den teilgebundenen (69%) und den off enen GTS (51%), nur in 40 % der gebundenen, wo dies aber off ensichtlich weniger erforderlich wird. Noch bedeutsamer in off enen Systemen sind Koordinati-onsgremien mit außerschulischen Trägern oder Partnern für den Ganztags-betrieb. Jedoch nur in jeder sechsten off enen GTS besteht ein Arbeitskreis zur Konzeptentwicklung (in vollgebundenen nur 9 % in voll-/teilgebundenen) und nur in jeder fünft en off enen GTS ein Gremium zur Angebotskoordinati-on (11 % bzw. 18 % in voll-/teilgebundenen). Dies erscheint als nicht unprob-lematisch, wenn man bedenkt, dass nur durch eine intensive Kooperation zwi-schen dem Nachmittags- und Vormittagsbereich off ene GTS überhaupt in die Lage versetzt werden, ihre Angebotsstruktur als Bildungskonzept entwickeln und pädagogisch auf die Schülerschaft abstimmen zu können.

Schulentwicklung in ganztägigen Schulen

Die Schulleitungen sollten ihre Schule nach der KMK-Defi nition einordnen: 44,5 % ordnen ihre Schule der voll gebundenen Ganztagsschulform zu, 17 % haben eine teilweise gebundenen Form und 38,5 % werden in off ener Form betrieben. Bei Diff erenzierungen der folgenden Daten werden diese Einord-

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nungen für die Analyse von Unterschieden zwischen den Formen (mit An-gabe, falls vorhanden) verwendet. Weitere Informationen zu diesen Schulen zeigen, dass 4 % lediglich ein off enes Angebot mit fl uktuierenden Gruppen vorhalten, 8 % führen die Ganztagsschule als Mischmodell (Halbtagsbetrieb plus Ganztagsklassen).

Schulkonzeption

Danach befragt, ob für den Ganztagsbetrieb ein schrift liches Konzept vorliegt, geben 62 % der Schulleitungen an, über ein eigenständiges Ganztagskonzept in schrift licher Form zu verfügen. In zwei Drittel (69 %) der Fälle ist die Ganz-tagskonzeption Bestandteil des Schulkonzepts oder Schulprogramms, was ein Indikator für die konzeptionelle Integration in die Arbeit der ganzen Schule darstellt. 20 % arbeiten auf der Basis einer Kooperationsvereinbarung mit au-ßerschulischen Trägern oder Partnern; in off enen GTS wäre eine solche Ver-einbarung dringend nötig, fi ndet sich aber dort auch nur in 25 % der Fälle (in anderen GTS-Formen zu 15 bzw. 20 %). In voll gebundenen Modellen ist das Ganztagskonzept mit 82 % deutlich häufi ger in das Schulkonzept oder –pro-gramm der Schule integriert als in teilgebundenen (71 %) und off enen Sys-temen (56 %). Bemerkenswert ist bei teilgebundenen und off enen Systemen jedoch das Bestehen einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit außerschuli-schen Partnern (Vereinen, Organisationen) zu 85 % bzw. 78 %, voll gebundene GTS (zu 60 %) gehen etwas zurückhaltender zur Sache.

Inwieweit auch der Unterrichtsbereich entwickelt und mit außerunterricht-lichtlichen Ganztagselementen verzahnt wird, wurde über Statements geprüft , die dichotom von den Schulleitungen zu beantworten waren: In 29 % der Schulen wurden inhaltlich-curriculare Profi lbildungen vorgenommen und entsprechende Schwerpunkte für Unterricht und außerunterrichtliche Be-reiche ausgebildet, signifi kant häufi ger in den gebundenen Ganztagsformen. Ebenfalls in 29 % der Schulen werden Projekt- und AG-Th e men mit dem Fach-unterricht verknüpft . In 40 % der Schulen wurden Zeitkonzepte entwickelt, um eine schüler- und lerngerechte Rhythmisierung zu erzielen; in voll- und teilgebundenen Schulen geschah dies (mit rund 50 %) doppelt so häufi g wie in off enen. Immerhin arbeiten in gut der Hälft e der Schulen Lehrpersonen und sonstiges Personal bei der Schülerbegleitung und –förderung eng zusammen,

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Dialog 19144

häufi ger ist dies im gebundenen System. Allerdings tauschen sich Lehrkräft e und anderes Ganztagspersonal kontinuierlich über den Unterricht oder über erweiterte Angebote in 41 % aller Schulen nicht aus. In einem beträchtlichen Teil der Ganztagsschulen zeigen sich zwar konzeptionelle Verbindungen zwi-schen normaler Unterrichtsarbeit und zusätzlichen Ganztagsformen, was aber nicht durchgängig der Fall ist, intensiver jedenfalls in gebundenen Systemen.

Innere Steuerung, Partizipation und Akzeptanz

Die Schulleitungen geben zu knapp drei Vierteln (72 %) an, dass der Ganz-tagsbereich durch verantwortlich zuständige Gremien oder Personen koordi-niert wird. Hierdurch wird deutlich, dass entweder dem Ganztagsbetrieb in der Schule hohe Bedeutung beigemessen wird oder der Koordinationsbedarf hoch ist, was in teilgebundenen und off enen Systemen der Fall ist (Quote bei 83 bzw. 81 %). Zugleich wird sichtbar, wer Steuerungskompetenz hat: Von Schulen mit Koordinationsgremium/-person ist in 58 % der Fälle die Schul-leitung zuständig, in anderen Fällen wurde dies delegiert (an Didaktischen Leiter 19 %, Fachbereichsleiter 7 %, Lehrer des Kollegiums 27 %); in knapp jeder vierten Schule (24 %) sind sozialpädagogische Fachkräft e für die Koor-dination verantwortlich. Ein spezielles Ganztagsgremium existiert in 18 % der Schulen, jedoch überproportional in den gebundenen Systemen. In 13 % ist die Steuergruppe verantwortlich, was dafür spricht, dass der Ganztagsbereich im Rahmen der Schulentwicklung gesteuert und somit gegebenenfalls zu den Entwicklungsschwerpunkten gehört. Schulübergreifende Koordinierungsgre-mien (Schule mit Träger 4 %, Schule mit außerschulischen Partnern 2 %) fal-len nicht ins Gewicht.

Akzeptanz und schulweite Partizipation in der Lehrerschaft sind bedeutende Indikatoren für die Integration und Tragfähigkeit des Ganztagsbetriebs in der Schule. Zwei Drittel der Schulleitungen geben an, dass über 75 % der Lehrkräf-te mit Akzeptanz hinter dem Ganztagsbetrieb stehen (davon bei einem Viertel der Schulen mit 100%iger Akzeptanz); in jeder sechsten Schule liegt die ge-schätzte Akzeptanzquote zwischen 50 und 75 %, in 15 % der Schulen sehen die Schulleitungen bei höchstens 50 % ihrer Lehrer entsprechende Akzeptanz für die bestehende Ganztagskonzeption (davon 4 % Schulen mit weniger als 25 % Akzeptanz).

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Die Partizipation an Konzeptentwicklung und Alltagsarbeit sieht dagegen be-scheidener aus: An der Umsetzung des Ganztagskonzepts beteiligt waren in einem Drittel der Schulen immerhin mehr als 75 % der Lehrkräft e (davon 26 % mit voller Beteiligung des Kollegiums); in 39 % der Fälle war weniger als ein Viertel der Lehrerschaft an der Konzeptentwicklung beteiligt. In der All-tagsarbeit wirken in knapp einem Drittel der Schulen mehr als 75 % der Lehr-kräft e aktiv in außerunterrichtlichen Gestaltungselementen mit; bei 21 % der Schulen zeigt sich eine aktive Mitarbeit nur bei einem Viertel der Lehrerschaft .

Formen der Schulentwicklungsarbeit

Danach befragt, welche Formen systematischer Schulentwicklungsarbeit in den letzten zwei Jahren in der Schule praktiziert wurden, antworten die Schulleitungen wie folgt: In 75 % der Schulen wurde ein Schulprogramm mit Entwicklungsplan erarbeitet, in 40 % der Fälle eine systematische Organisati-onsentwicklung betrieben, in 42 % der Fälle gezielte Personal- und Teament-wicklung, Unterrichtsentwicklung geschah nach Angabe der Schulleitungen in 60 % der Schulen. Formen interner Evaluation wurden bereits in 55 % der Schulen praktiziert, Formen externer Evaluation erfolgten in 17 % der Schu-len. Insgesamt wird damit in den Ganztagsschulen ein durchaus hoher Ent-wicklungsstand systematischer Weiterentwicklungsarbeit berichtet. Gut drei Viertel (78 %) aller Schulleitungen gibt für ihre Schule an, dass der Ganztags-betrieb bzw. einzelne Elemente im Laufe der Zeit zu pädagogischen Weiter-entwicklungen der Schul- und Lernkultur geführt haben. Die drei Ganztags-schulformen unterscheiden sich in der Schulentwicklungsarbeit lediglich in drei Aktivitäten: Unter den gebundenen GTS verfügt ein höherer Anteil über ein Schulprogramm und über Erfahrungen mit interner und externer Evalua-tion als Schulen im off enen Modell.

Betrachtet man die Ergebnisse der Befragung in Bezug auf Personalentwick-lung und –einsatz so zeigt sich, dass mehr als ein Drittel (38 %) der Ganztags-schulen in den letzten zwei Jahren Unterstützung zur Beratung in Personal-fragen beim Schulträger bzw. der Schulaufsicht nachgefragt haben. Besonders Grundschulen (24 %), Hauptschulen (31 %) und integrierte Gesamtschulen (21 %) zeigen hier erhöhtes Beratungsinteresse. Gefragt nach schulinternen Fortbildungen im Zeitraum der letzten zwei Jahre, wird deutlich, dass Schul-

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Dialog 19146

programm/Schulkonzept (68 %) und Unterrichtsentwicklung in Bezug auf Methodenwerkstatt oder fachliche Curricula (53 %) als thematische Schwer-punkte kollegiumsinterner Fortbildung galten. Als weitere Th emenschwer-punkte wurden Fortbildungen im Bereich zur Förderung leistungsschwacher Schüler (37 %), zur Gestaltung des Ganztagsbetriebs (37 %) und zum Sozia-len Lernen (35 %) durchgeführt. Typische Personalentwicklungsthemen wie „Teamarbeit“ wurden in der schulinternen Fortbildung jedoch nur an einem Fünft el der Schulen durchgeführt (21 %). Eine geringe Rolle spielten Th emen wie Begabtenförderung (9 %), Schulversagen (9 %) und Th emen zur Koopera-tion mit anderen Trägern (9 %).

Lernkultur

Welche grundlegenden Gestaltungselemente weisen ganztägige Schulen auf? Nach Schulleitungsangaben wird eine überaus vielfältige Schulkultur sichtbar, aber auch Unterschiede zwischen den Modellen. Th emenbezogene Projekte werden in gut der Hälft e der Schulen jeglicher Organisationsform praktiziert. Lerngelegenheiten in Dauerprojekten (wie Schulzeitung oder Schulgarten) zeigen sich ebenso wie obligatorische Arbeitsgemeinschaft en als verbindliches erweitertes Bildungsangebot stärker in gebundenen Modellen. Auch gebunde-ne Freizeitangebote werden in Schulen mit verpfl ichtender Ganztagsschulzeit für alle Schüler intensiver praktiziert. Durch den höheren Bindungsgrad hal-ten gebundene Systeme als Ausgleich in höherem Maße freiwillige Pausenan-gebote vor. Soziale Gemeinschaft saufgaben haben ebenso wie Fördermaßnah-men in allen Formen hohen Stellenwert.

Aus der wissenschaft lichen Diskussion lässt sich die Th ese ableiten, dass ge-bundene Ganztagsschulkonzeptionen ein besseres Förderpotenzial besitzen als off ene GTS. Die Befragung zeigt, dass Förderung in allen Ganztagsschulva-rianten ein wichtiges Element darstellt. Während es in der Gesamtgestaltung des Ganztagsbetriebs viele Gemeinsamkeiten zwischen den Ganztagselemen-ten gebundener und off ener GTS gibt, fallen im Bereich der Förderung deutli-che Unterschiede zwischen diesen Formen auf.

Vergleicht man die Organisation von Fördermaßnahmen nach GTS-Formen, so zeigt sich: Spezifi sche Fördermaßnahmen (74 %) und Förder-/Arbeitsstun-

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den (82 %) werden in allen Modellen sehr häufi g praktiziert. Zur Hausaufga-benbetreuung („Förderungsform“ in 77 % der Schulen) wird eine größere Dif-ferenz erkennbar: 61 % der gebundenen GTS bieten Hausaufgabenbetreuung an gegenüber 87 % und 91 % in teilgebundenen bzw. off enen Ganztagsformen. Dies ist damit zu erklären, dass die Funktion, die die ausgewiesenen Haus-aufgabenzeiten in den off enen Modellen haben, in den gebundenen Modellen teilweise in den Unterricht integriert sind und an einigen Sonderschulformen nicht mit Hausaufgaben gearbeitet wird. In voll- und teilgebundenen GTS werden - häufi ger als in off enen - als Ort der Förderung zusätzliche fachge-bundene Unterrichtsstunden (57 bzw. 54 %) als Ort der Förderung angegeben (off ene nur zu 44 %). In der Hälft e der voll- und teilgebundenen GTS, aber nur in knapp einem Drittel der off enen wird Förderung konzeptionell in den Fach-unterricht integriert. Gesonderte Förderstunden bestehen in allen Modellen in hohem Maße, häufi ger aber in gebundenen (87 %) als in off enen (77 %).

Förderangebote wenden sich in vor allem an Schülerinnen und Schüler mit Leistungsdefi ziten bzw. drohendem Schulversagen (86 %) sowie bei psycho-sozialen oder motorischen Problemen (73 %). Nicht einmal die Hälft e der Angebote richtet sich an Schüler mit besonderen Begabungen. In 55 % aller Schulen kommen ohnehin nur Schüler, die das freiwillige Angebot nutzen, in den Genuss von Förderung. Die Förderung von Schülern im Klassenverband (insgesamt zu 35 % angegeben) wird fast zur Hälft e in gebundenen GTS als Organisationselement von Förderung genannt (48 %). In off enen GTS ist es mit 23 % nicht einmal ein Viertel, in teilgebundenen GTS sind es mit 35 % gut ein Drittel der Schulen, die ihre Förderung so verorten. Diese Diff erenzen sind erklärbar: Die individuelle Förderung von Schülern im Klassenverband be-dingt eine veränderte Lernkultur, vor allem auch die Öff nung des Unterrichts. Die Ergebnisse zeigen, dass gebundene GTS diese Formen deutlich häufi ger praktizieren als off ene GTS. Erkundungen an außerschulischen Lernorten werden an mehr als der Hälft e der gebundenen Systeme regelmäßig zumindest monatlich praktiziert, (51%), die Leitungen der teilgebundenen nennen dies nur zu 38 % und die der off enen GTS zu 36 %. Fächerübergreifende Projekte werden in 38 % der gebundenen, aber nur in 27 % der teilgebundenen und in 23 % der off enen GTS mindestens monatlich praktiziert. Auch bei klassen- und jahrgangsübergreifenden Projekten fi ndet sich in gebundenen GTS (33

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%/ 27 %) eine intensivere Praxis als in teilgebundenen und off enen Systemen (je 20 % bzw. je 13 % mindestens einmal monatlich).

Wenn Förderung nicht explizit im Klassenverband und im Unterricht statt-fi ndet, bedarf es anderer Formen, um Förderung zu organisieren und zu in-itiieren. Die Unterschiede zwischen der gebundenen bzw. teilgebundenen Ganztagsschulform auf der einen und der off enen Form auf der anderen Seite werden diesbezüglich sehr deutlich sichtbar: In gebundenen und teilgebunde-nen Systemen fi ndet sich etwa zur Hälft e ein schrift lich niedergelegtes Förder-konzept, in off enen GTS nur zu 30 %. Zwei Drittel der gebundenen und der teilgebundenen GTS arbeiten mit Förderplänen für einzelne Schüler, off ene Systeme seltener, aber immerhin sind es gut die Hälft e. In off enen und teilge-bundenen GTS spielen im Gegensatz zu vollgebundenen Systemen Freiwillig-keit der Teilnahme an Förderung und Kontrakte mit Eltern eine wesentliche Rolle, was aber zu Lasten erkannter Förderungsnotwendigkeiten gehen und die Zusammensetzung von Lerngruppen in der Förderung beeinträchtigen kann. Zu diesem Befund passt, dass in off en-freiwilligen Modellen auch Pla-nungen für AGen und Freizeitangebote eher mit Eltern abgestimmt werden. Die Organisation von Förderung ist also in gebundenen Modellen in elabo-rierteren Formen anzutreff en, erkennbarer in den Schulalltag integriert und nicht additiv und freiwillig, basieren eher auf Förderkonzeptionen.

Wer arbeitet im Bereich der Fördermaßnahmen außerhalb des Unterrichts in der Schule mit? Die Daten zeigen, dass sowohl in den gebundenen als auch den off enen GTS nach wie vor Lehrer im Förderbereich die größte Rolle spie-len. In jeder der drei Ganztagsschulformen arbeiten zu über 90 % Lehrkräft e im Ganztagsbereich mit. Dass so viele Sonderpädagogen in gebundenen GTS im Nachmittagsbereich und in Fördermaßnahmen involviert sind, hängt mit der besonderen Situation der meist ganztägig geführten Sonderschulen sowie der GTS, die Integrationsschulen sind, zusammen. An gebundenen GTS ar-beiten 41 % Sonderpädagogen im Bereich von Fördermaßnahmen mit, aber nur 28 % bzw. 29 % an teilgebundenen bzw. off enen GTS. In off enen GTS sind deutlich mehr Honorarkräft e als an den gebundenen tätig. Neben den Sonderpädagogen kommt speziell geschultes pädagogisches Personal (z.B. LRS-Lehrkräft e) in Fördermaßnahmen zum Einsatz. 24 % der gebundenen, 35 % der teilgebundenen und 30 % der off enen GTS arbeiten mit Kräft en aus

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diesem Bereich zusammen. ErzieherInnen und SozialpädagogInnen machen eine weitere größere Gruppe im Kontext von Fördermaßnahmen aus. Anderes Personal (z.B. Honorarkräft e) fallen in diesem Bereich mit überwiegend unter 5 % nicht ins Gewicht.

Etwas anders sieht dies im Bereich der Hausaufgabenbetreuung aus: Zwar sind hier weit überwiegend auch Lehrer involviert. Im Gegensatz zu Fördermaß-nahmen hat anderes Personal im Bereich der Hausaufgabenbetreuung eine deutlich größere Relevanz. So sind in gebundenen GTS zu 7 %, in teilgebunde-nen zu 16 % und in off enen GTS zu 16 % Honorarkräft e eingebunden, womit sich aber Qualitätsfragen stellen.

Es wird deutlich, dass sich die drei Organisationsformen von Ganztagsschule auf der Ebene der Gestaltungselemente und Förderaktivitäten teilweise nicht stark unterscheiden. Anders sieht dies aus, wenn man die konkrete Förder-konzeption und Faktoren des Förderklimas und der Förderbedingungen mit in den Blick nimmt wie zum Beispiel Förderformen, konzeptionelle Einbin-dung, Lehrereinsatz, Teambildung und die Individualisierung von Unterricht. Analysiert man diese Faktoren ergänzend, scheinen gebundene GTS bessere Förderbedingungen aufzuweisen. Insgesamt gesehen wird in gebundenen Mo-dellen nicht nur eine stärkere Schulentwicklungsorientierung und ausgebau-tere Teambildung sowie ein intensiveres Bemühen um konzeptionelle Fundie-rung als in off enen sichtbar. Gebundene Modelle weisen auch einen höheren Entwicklungsstand in den Kernbereichen schulischer Ganztagsbildung - im Unterricht und in den Förderansätzen – auf, ebenso in der Verbindung von Unterricht und zusätzlichen Angeboten.

6. Ganztagsschullandschaft in Bewegung: Aktuelle Entwicklungsszenarien und Perspektiven

Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bildungs-politisch im Ganztagsschulbereich aktiv. Explizit weist das BMBF in seiner Öff entlichkeitsarbeit darauf hin, dass die Ursache für das Engagement „die Ergebnisse der intenationalen PISA-Studie zur Schulleistung sind“ und in die-

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sem Zusammenhang vor allem der erschreckende Zusammenhang von Bil-dungserfolg und sozialer Herkunft . Mit Blick auf andere Nationen geht man von der Th ese aus, dass die Erweiterung des Ganztagsangebots der Förderung von Schülerinnen und Schülern dient.

Welche möglichen Entwicklungsszenarien ergeben sich für die nahe Zukunft aus Schulentwicklungsperspektive? Die Ambivalenz der Ganztagsschulent-wicklung soll in Th esen verdeutlicht werden:

• Die Anstrengungen zur Entwicklung der Ganztagsversorgung sind in den weitaus meisten Ländern durchaus erkennbar. Die aufmerksamer gewor-dene Öff entlichkeit sowie die intensiver gewordenen wissenschaft lichen Debatten könnten durchaus für einen förderlichen Ausbau- und Qualitäts-wettbewerb in den Ländern sorgen.

• Im Hinblick auf die pädagogisch-organisatorische Gestaltung stellt sich al-lerdings die Qualitätsfrage umso schärfer, als die Neugründung von Schu-len zunächst im Wesentlichen mit Praxistransfer auskommen muss, da die Wissensbasis empirischer Erkenntnisse für Implementation und Schulbe-ratung noch unzureichend bleibt, die Unterstützungssysteme insgesamt auch zu lückenhaft erscheinen. Die Implementation von Ganztagsschulen wird so zum Teil Experimentierfeld und für zahlreiche Schulen „Expediti-on in Neuland“ bei unklaren Zielen und Wirkungen.

• Die öff entliche Th ematisierung und der forcierte Ausbau führen zu einem Sog und induzieren eine sich selbst ausweitende Nachfrage, was auch die hohen Akzeptanz- und Nachfragequoten schon nahe legen.

• Dabei deutet sich an, dass angesichts des noch geteilten Elternwillens (vgl. Wunder 2004), der begrenzten Finanzmittel und des „Innovationstem-pos“ von Schule und Jugendhilfe Ganztagsschulen in gebundener Form bestenfalls Angebotsschulen werden, weit häufi ger aber innerhalb der meisten Schulen nur ein fakultatives Ganztagsangebot neben der Struk-tur der Halbtagsform entsteht (Doppelstruktur). Zugleich zeigen die Länderkonzepte überwiegend, dass die kustodiale und sozialerzieheri-sche Funktion betont und vornehmlich über Jugendhilfe realisiert wird.

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• Schulentwicklung im Sinne der Entwicklung von Lernkultur und Intensi-vierung von Förderung wird allenfalls in gebundenen Modellen mit ent-sprechenden pädagogischen Konzeptionen und dezidierter Teambildung erwartbar. Gleichwohl wird eine sozialpädagogische Orientierung manche Schulen mittelfristig durchaus nachhaltig verändern, traditionelle Struktu-ren aufb rechen und die Erziehungsfunktion stärken können. Hier könn-ten sich die in der Lehrerschaft noch verbreiteten Vorstellungen von einer traditionellen Lehrerrolle des Fachvermittlers mit weitgehend halbtägiger Präsenz am Vormittag als größte Hindernisse erweisen, vor allem auch in Verbindung mit eingenommenen Teilzeitstellen.

• Zahlreiche Fälle deuten darauf hin, dass sich aus Angebotsformen päda-gogisch anspruchsvollere Konzeptionen entwickeln, also sich Schulen mit Ganztagsangebot als off enes Modell bei innovativer Ausrichtung und El-ternakzeptanz in ein gebundenes Modell entfalten. Ganztagsschulen in Angebotsform als Einstieg zu wählen, könnte demnach eine erfolgreiche Implementationsstrategie sein (Wandel durch Annäherung). Unter ge-genwärtigen Bedingungen könnte ein fl ächenhaft er Ganztagsausbau mit der Präferenz für Ganztagsangebote in off ener Form jedoch ebenso dazu führen, dass diese Organisationsform langfristig zementiert wird, weil aus Gleichbehandlungsgründen die Mittel primär für den weitergehenden Aus-bau in der Fläche eingesetzt werden und im Hinblick auf Finanzmittel, El-ternnachfrage und Etablierung additiver Modelle von Schule und Jugend-hilfe ein späterer „Systemwechsel“ immer unwahrscheinlicher wird.

Insgesamt betrachtet führen diese Szenarien zu folgendem Fazit: Die Ganz-tagsschulentwicklung gerät damit in die „Ausbau-Qualitäts-Falle“, zumal ein-heitliche Qualitätsstandards nicht einmal innerhalb der meisten Länder in Sicht sind. Druck und Tempo hinsichtlich eines quantitativen Ausbaus von Ganztagsplätzen könnte am Ende den Weg für eine echte Ganztagsschule für alle Schüler behindern, wenn nicht bald Standards greifen, die Beliebigkeit und instabile Organisationsformen in die Schranken weisen. Zu hoff en bleibt, dass die jetzige Expansion nicht auf Dauer innovative Entwicklungen blo-ckiert. Für Verbesserungen in der Schul- und Unterrichtsqualität wäre sonst mit der erweiterten Schulzeit wenig gewonnen.

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Dialog 19152

Von einem Ganztagsbetrieb kann nicht erwartet werden, dass er automatisch die Schulqualität auf allen Ebenen zu steigern vermag und direkt bessere Lern-leistungen und Sozialverhaltensweisen hervorbringt. Nicht nur die Anforde-rungen an Schulen sind je nach Einzugsgebiet unterschiedlich, sondern auch Einfl ussfaktoren und Wirkungsgefüge auf wünschenswerte pädagogische Ef-fekte erweisen sich als derart diff erenziert und vielschichtig, sodass sich eine durch Ganztag verlängerte Schulzeit nicht schon allein als wirksam erweisen dürft e. Zudem haben Ganztagsschulen real eine äußerst unterschiedliche Schulkultur mit jeweils speziellen Schwerpunkten entfaltet, deren Qualität durch empirische Forschung bislang nicht hinreichend nachzuweisen ist. Vie-lerorts wird ein attraktives Ergänzungsprogramm unterbreitet, ohne dass die schulischen Kernaufgaben von Unterricht und Förderung spürbar verbessert werden.

Verfasser:Heinz Günter Holtappels, Jahrgang 1954, Dr.rer.soc., Dipl.Soz.Wiss., seit 2001 Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaft , Schwerpunkte Bil-dungsmanagement und Evaluation, an der Universität Dortmund, Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS)1975-1980 Studium an der Berg. Universität-GHS Wuppertal, 1982-1991 nebenamtlich Lehrer in der Erzieherfort bildung, von 1980 bis 1996 in Lehre und Forschung tätig an den Universitäten Wuppertal, Dortmund (IFS) und Bielefeld, Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Essen und Osnabrück 1993-1995; Univ.-Professor für Schulpädagogik an der Hochschule Vechta 1996-2001.Arbeitsschwerpunkte: Sozialisations- und Schultheorie, Bildungs- und Schul-forschung; schulbezogene Beratung und Fortbildung, Organisationsentwicklung und EvaluationAdresse: Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS), Universität Dortmund, D-44221 Dortmund, Tel. 0231 755-5519, Sekretariat 755-5503, Fax 755-5517; E-mail: [email protected]

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Prof. Dr. Anne Ratzki

Jeder Schüler ist anders... Vielfalt wertschätzen – individuelles Lernen fördern:

Können wir von der nordischen Lernkultur lernen?

Vortrag beim „Bildungsforum zum Sarländischen Schulpreis“ in St. Wendel am 21. Februar 2008

Ich möchte mit einer Fabel beginnen, die einige irritierende Botschaft en ent-hält. Dort wird eine Schule für Tiere beschrieben. Für alle Tiere stehen die gleichen Fächer Rennen, Klettern und Schwimmen auf dem Stundenplan. Der Lehrer besteht darauf, dass alle Schülerinnen und Schüler in der gleichen Weise lernen: Das Kaninchen soll ebenso schwimmen wie die Ente, die Ente ebenso rennen wie das Kaninchen, der Adler ebenso klettern wie das Eich-hörnchen. Wer das nicht kann, bekommt Nachhilfe, muss immer wieder üben, was er nicht kann, und verlernt, was er kann. Wer die Aufgabe auf seine eigene Art erfüllt – wie der Adler, der lieber auf den Baumwipfel fl iegt als klettert – wird gemaßregelt. Das Ziel ist ein gemeinsames Mittelmaß. Klassenbester wird ein angepasster mittelmäßiger Aal, der gut schwimmen, etwas klettern und rennen kann.

In dieser Fabel zeigen sich einige typische Probleme im Umgang mit Hetero-genität. Jedes Tier hat seine individuellen Stärken, doch der Lehrer sieht nur die Schwächen. Weil er nur an den vermeintlichen Schwächen arbeitet, ver-kümmern die Stärken. Die Tiere haben auch ihre eigenen Wege, Aufgaben zu erfüllen, aber der Lehrer besteht auf seinem Weg, dem gleichen Weg für alle, und erntet Widerstand und mäßigen Erfolg. Die Fabel macht deutlich: ohne individualisiertes Lernen kann eine Schule ihre Schülerinnen und Schüler nicht motivieren und die Schülerinnen und Schüler können keine guten Leis-tungen erbringen, sie bleiben bestenfalls mittelmäßig wie der angepasste mit-telmäßige Aal – oder wie die deutschen Schülerinnen und Schüler bei PISA.

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Dialog 19154

Aber warum tun wir uns eigentlich so schwer mit dem individualisierten Ler-nen in heterogenen Gruppen? Es ist eine zentrale Frage der Schule heute.

Heterogenität – ein Problem in Deutschland

Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte der Pädagogik ist aufschlussreich:Johann Friedrich Herbart, einer der großen Didaktik-Th eoretiker, wurde etwa um 1800 einmal gefragt, was denn aus seiner Sicht das Hauptproblem des Un-terrichts sei. Das sei „die Verschiedenheit der Köpfe“, hat er geantwortet. Und Ernst Christian Trapp, der erste Pädagogik-Professor der deutschen Geschich-te, hatte auch schon eine Empfehlung für die Lehrerinnen und Lehrer, wie sie mit diesem Problem umgehen sollten. Trapp schlug vor, „den Unterricht auf die Mittelköpfe zu kalkulieren“ (vgl. Klaus-Jürgen Tillmann, nach Sandfuchs 1994, S. 340 .Vortrag auf dem Kolloquium des BildungsForums der Friedrich-Ebert-Stift ung am 13. Juni 2005 in Hamburg, S.2)Diese Sichtweise von Unterricht hat sich in deutschen Schulen bis heute erhal-ten, ist zu einer starken Tradition geworden.

Wenn aber auf diese Weise der Unterricht „auf die Mittelköpfe“ ausgerichtet ist, gibt es immer Unterforderungen und Überforderungen. Dabei gelten als besonders problematisch die Schülerinnen und Schüler, denen die Leistungs-ansprüche zu hoch erscheinen. Hier hat die Schule in langen Jahren ein viel-fältiges Instrumentarium ausgebildet, um Schülerinnen und Schüler mit Leis-tungsproblemen aus der jeweiligen Lerngruppe zu entfernen: Zurückstellung vom 1. Schulbesuch, Sitzenbleiben, Sonderschulüberweisungen, Sortierung nach Schulformen, Abschulungen, Fachleistungsdiff erenzierung. Auch die Grundschulen und die Gesamtschulen, die nach ihrem Selbstverständnis ei-gentlich Schulen für alle Kinder sind, sind nicht frei von diesen Bemühungen um homogenere Lerngruppen. Heterogenität wird beschnitten – und zwar am unteren Ende des Leistungsspektrums. Je geringer die Kompetenzunter-schiede zwischen den Schülern, je angeglichener ihr Vorwissen, je ähnlicher die Verhaltensweisen, desto besser kann mein Unterricht – für die Mittelköp-fe! – funktionieren. Der Unterricht orientiert sich dabei an Schülergruppen, Klassen, Kursen, nicht an Einzelnen. Selbst Diff erenzierung, wie wir sie bisher verstanden, meint Diff erenzierung nach Leistungsgruppen.

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TIMSS und PISA haben gründlich mit dem Mythos aufgeräumt, das ausle-sende deutsche Schulsystem erreiche Spitzenleistungen. Stattdessen gehört Deutschland zu den Bildungssystemen mit mittelmäßigen Leistungen, bei de-nen der Schulerfolg besonders stark von der sozialen Herkunft abhängt.

Pädagogik der Vielfalt – ein internationales Erfolgskonzept

Die Länder, deren Schülerinnen und Schüler bei TIMSS und/oder PISA am besten abgeschnitten haben und bei denen der Einfl uss der sozialen Herkunft gering ist, kennen keine Homogenisierung. Lehrerinnen und Lehrer unter-richten in heterogenen Lerngruppen und fi nden das „normal“. Sie haben in-zwischen eine mehr als 40-jährige Erfahrung mit individuellem Lernen und individueller Förderung.

Ich möchte Ihnen jetzt das schwedische Konzept des individualisierten Ler-nens vorstellen, dann das Konzept der individuellen Förderung und Selbstbe-urteilung in Finnland.

Das schwedische Konzept des individualisierten Lernens

Dazu möchte ich Ihnen einen Filmausschnitt aus dem Unterricht einer schwe-dischen Schule zeigen. Dieser Film entstand im Rahmen eines internationalen Comenius-Projekts „European Mixed Ability and Individualised Learning“, kurz EU-Mail, auf deutsch: „Heterogenität und individualisiertes Lernen in Europa“, das wir von 2003 bis 2006 mit fünf Ländern durchführten. Beteiligt waren Unis, Lehrer-fortbildungsinstitute und Schulen in Finnland, Schweden, Norwegen, England und Deutschland. Koordiniert wurde es vom Forum Eltern und Schule, einer Fortbildungseinrichtung der GGG in NRW. Die Ergebnisse liegen als Buch vor oder können im Internet abgerufen werden. (www.Eu-Mail.Info )

Film (12´)

Bevor ich näher auf den Film eingehe, etwas zur Entwicklung des individuali-sierten Lernens in Schweden.

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Dialog 19156

Schon bei meinem ersten Besuch in einer schwedischen Schule war dies der stärkste Eindruck: Überall in der Schule saßen Schülerinnen und Schüler, al-lein, zu zweit, in Gruppen und lernten. Der Stundenplan enthielt nur verein-zelt Klassenunterricht, dazwischen viel Zeit zum individuellen Lernen.

Individualisiertes Lernen – darunter verstanden die Schweden im Lauf ihrer Schulentwicklung zunächst die individuelle Lernfähigkeit eines Kindes, dann noch andere Faktoren, die das Lernen beeinfl ussen: Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern, die Menge des Stoff s, die Lernzeit. Schließ-lich das unterschiedliche Verständnis von Inhalten. Der Unterricht muss so arrangiert werden, dass Schüler mit verschiedenen Lernkonzepten in der glei-chen Gruppe lernen und sich entwickeln können. Die Schweden nennen das „adapted education“. Das neue Instrument dafür ist seit 2006 der Persönliche Entwicklungsplan (Personal Development Plan, PDP) für jeden Schüler und jede Schülerin. Er soll Verantwortlichkeit und Mitsprache stärken, Schülern helfen, den eigenen Fortschritt zu sehen, ihre Motivation stärken und auf Ziele orientieren. Er hilft als Dokumentation des Lernweges Lehrerinnen und Leh-rern bei der Diagnose und Beratung und als Grundlage beim Gespräch mit den Eltern, auf das im Film immer wieder hingewiesen wird.

Das neue Konzept der individualisierten Lernentwicklung

Die Bestandteile des neuen Konzepts der individualisierten Lernentwicklung sind:

• Lernentwicklungsgespräch zwischen Eltern, Klassenlehrern und Schülern

• Individueller Entwicklungsplan, • Schultagebuch, • Portfolio,• Erneutes Lernentwicklungsgespräch nach einem halben Jahr.

Wie wird damit gearbeitet?

Eine zentrale Bedeutung hat das Lernentwicklungsgespräch, das zweimal im Jahr zwischen den Eltern, dem Kind und dem Klassenlehrer oder der Klas-

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senlehrerin stattfi ndet. Die Fachlehrer informieren die Klassenlehrer vor dem Gespräch – bereits vorher haben sie mit den Schülern über mögliche Defi zite gesprochen, denn diese sollen nicht im Eltern-Lehrer-Schüler-Gespräch im Mittelpunkt stehen. Die Schülerinnen und Schüler wählen besonders gelun-gene Arbeiten aus ihrem Portfolio aus, die sie den Eltern zeigen wollen. Sie müssen auch begründen, warum sie diese Arbeit gewählt haben. Eltern und Schüler erhalten einen Fragebogen zur Vorbereitung. Das Lernentwicklungs-gespräch selbst dient vor allem der Zukunft splanung.

Eltern, Kind und Klassenlehrer legen gemeinsam Ziele für die wöchentliche und monatliche Arbeit in den Hauptfächern, in Englisch, Schwedisch und Mathematik fest, aber auch persönliche und soziale Ziele. Zugleich wird ent-schieden, wer welche Aufgaben übernimmt, um die Ziele zu erreichen. Eltern z.B. können dafür verantwortlich sein, jeden Tag mit ihrem Kind zu lesen, Schülerinnen und Schüler, zum Lehrer zu gehen um ihre Arbeiten zu zeigen. Die Vereinbarungen über Ziele und Verantwortlichkeiten werden von den Eltern, dem Schüler und dem Klassenlehrer unterschrieben. Dann wird das nächste Gespräch vereinbart. Im Gespräch geht es aber nicht nur um Lernzie-le, sondern auch um Fragen des Wohlbefi ndens. Die Schülerinnen und Schü-ler werden danach gefragt, wie es ihnen geht. „Wie fühlt sich das Kind, welche Hilfen braucht es?“

Diese Lernentwicklungsgespräche sind im Schulgesetz verankert. Sie dauern je nach Schule 20 bis 40 Minuten und sind Teil der Lehrer-Arbeitszeit. Auf der Grundlage dieses Gesprächs wird der Individuelle Entwicklungsplan erstellt oder fortgeschrieben. Auch er wird vom Schüler, seinen Eltern und dem Klas-senlehrer unterschrieben.

Jeder Schüler, jede Schülerin führt ein Schultagebuch, in das auf der jeweils linken Seite die Ziele für die Woche eingetragen werden. Auf der rechten Seite notiert der Schüler, die Schülerin am Ende der Woche, was er gelernt hat und ob er seine Ziele erreicht hat. Der Lehrer oder die Lehrerin kommentiert, dann geht das Schultagebuch über das Wochenende zur Unterschrift an die Eltern.

Zugleich haben alle Schüler ein Portfolio, in das sie ihre besten Arbeiten ein-heft en, samt einer Begründung, warum sie gerade diese Arbeit ausgewählt ha-

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Dialog 19158

ben. Das Portfolio ist öff entlich, andere Schüler, Eltern und Besucher können es sich ansehen.

Nach etwa einem halben Jahr fi ndet das nächste Lernentwicklungsgespräch zwischen Eltern, Schülern und Klassenlehrern statt. In diesem nächsten Ge-spräch geht es um die Frage, was gelungen ist, was nicht, und was ein Gelingen verhindert hat. Portfolio und persönlicher Entwicklungsplan sind Grundlagen des Gesprächs, neue Ziele werden vereinbart.

Dieses Konzept des individualisierten Lernens ist eingebettet in eine Lernkul-tur, die sich aus dem Umgang mit Heterogenität in Schweden entwickelt hat.

In den schwedischen Grundschulen hängt in jedem Klassenraum ein Poster mit den Begriff en „responsibility, respect and trust“. Der Fokus liegt auf dem Individuum, das für sein Lernen selbst verantwortlich ist, dem Vertrauen und Respekt entgegengebracht werden. Das schließt misstrauische Kontrolle und sanktionierendes Verhalten aus. Die Schule muss demokratische Grundregeln beachten und vor allem die Jugendlichen zu verantwortlichen Mitgliedern der demokratischen Gesellschaft erziehen. Alle Kinder sollten gleiche Chancen erhalten, sollten gleichberechtigte Mitglieder einer demokratischen Gemein-schaft werden. Deshalb wurden die unterschiedlichen Schulformen abge-schafft und bereits 1962 eine gemeinsame Schule eingerichtet. Um jedes Kind optimal zu fördern, wurde der Unterricht immer individueller.

Was genau heißt nun individualisiertes Lernen für Schüler und Lehrer? Im Projekt haben wir Schüler dazu interviewt, wie sie lernen und Lehrer, wie sie ihre Rolle verstehen. Aus den Ergebnissen kann ich hier nur einen Ausschnitt wiedergeben.

Bei unseren Recherchen stießen wir auch auf eine interessante Untersuchung, die viel Einfl uss auf die Gestaltung des individualisierten Lernens hatte.

Was motiviert Schülerinnen und Schüler zum Lernen?

Auch in Schweden machte man die Erfahrung, dass Kinder voller Wissbegier in die Schule kamen und bald die Lust am Lernen verloren. Welche Grün-

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de gab es dafür? In einer Untersuchung gingen 1999 Schulforscher der Frage nach, was Schülerinnen und Schüler zum Lernen motiviert.

Die Forscher befragten Kinder, Lehrer und Eltern nach wichtigen Faktoren für das Interesse am Lernen. Hier die Ergebnisse in der Reihenfolge der Ge-wichtungen:

A. Having the possibility to choose. B. Learning new things C. Having an infl uence over time spent on workD. Having possibility to work with tasks in diff erent levelsE. Having good friendsF. Having a committed teacher who can vary and innovate classroom workG. Having a good environment H. Feeling confi denceJ. Being noticed by the teacher

Ein wörtliches Zitat aus dem Interview mit einer Schülerin erläutert das Ergeb-nis: “I like to work in my own tempo and I like when I have infl uence over what I do” (Dimenäs u.a., S. 114).

Der Einfl uss auf den eigenen Lernprozess scheint entscheidend für die Moti-vation. Wahlmöglichkeiten, eigenes Lerntempo und Wahl der Anspruchsebe-ne fi nden sich unter den vier häufi gsten Nennungen. Dazu kommt an zweiter Stelle, als inhaltlicher Schwerpunkt, der Wunsch, etwas Neues zu lernen. Wei-tere Nennungen unter den ersten zehn gelten den Beziehungen zu Mitschüler-Innen und Lehrerinnen und Lehrer, dass man Vertrauen haben kann, und einer guten Lernumgebung.

Wenn wir bei EU-Mail Schüler befragten, wie sie lernen, was sie zum Lernen motiviert, war die Antwort immer: sie wollten eine Auswahl haben, wollten über die Art und Weise ihres Lernens selbst entscheiden, am liebsten auch ihre Partner wählen. Zum Vergleich: In den Interviews deutscher Schülerin-nen und Schüler äußerten sich diese besonders positiv über Freiarbeit, weil sie dort die Möglichkeit hatten, Aufgaben, Weg und Zeit zu wählen.

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Die Rolle der Lehrer: Von der Wissensvermittlung zur Lernberatung.

Wie verändert sich die Rolle der Lehrkräft e, wenn Schülerinnen und Schüler ihren Lernprozess selbst steuern? Wir haben Lehrkräft e danach gefragt, wie sie ihre Aufgabe verstehen. Am eindrucksvollsten fanden wir die Interviews mit norwegischen Lehrern . Auf die Frage nach ihrer wichtigsten Aufgabe ant-worteten sie: „Meine wichtigste Aufgabe ist es, das Selbstwertgefühl meiner Schülerinnen und Schüler zu stärken.“

Sie haben viele Ideen entwickelt, wie sie die „Selbstwertschätzung“ (self-esteem) der Lernenden stärken können. Fehler z.B. werden bei schwäche-ren Schülerinnen und Schülern nicht alle korrigiert, um ein Kind nicht zu entmutigen. Nur solche Fehler werden angestrichen, mit denen der Schüler, die Schülerin arbeiten soll. Oder altersgemischte Gruppen werden gebildet, damit auch die Schwächeren erfahren können, dass sie gegenüber den Jün-geren schon mehr gelernt haben. Oder die Lehrkräft e fördern die Stärken ei-nes Schülers, damit er sich nicht zurückgesetzt fühlt, wenn andere in anderen Gebieten besser sind. Den Lernweg eines Kindes zu verstehen, ist vor allem wichtig.

Aus den Interviews möchte ich einen Schüler der 7. Klasse zitieren: „It is never embarrassing to make mistakes or ask for help. Our teacher says that it is a school and we´ve got the right to make mistakes. We learn from our mistakes and because there is no pressure in the class or from the teacher, we feel safe.”

Kinder können sich „sicher“ fühlen, weil sie nie wegen Leistungsschwächen aus ihrer Lerngruppe herausgerissen werden und Fehler machen dürfen. Der Lehrer vermittelt ihnen, dass sie sogar das Recht haben, Fehler zu machen und dass die Schule dazu da ist, ihnen zu helfen, aus ihren Fehlern zu lernen.

Zugleich betonten alle befragten Schüler, dass die Lehrkräft e der wichtigste Grund seien, warum sie gerne zur Schule gehen. Es herrscht gegenseitiges Ver-trauen. Lehrer können ihnen am besten helfen, weil sie die beste Fachkenntnis haben, weil sie am besten wissen, wie Schüler lernen und wie sie ihnen helfen können, selbst Antworten zu fi nden. Der Lehrer, die Lehrerin vertraut den Schülern, dass sie immer versuchen ihr Bestes zu tun. Dieses gegenseitige Ver-

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trauen, diese Wertschätzung dürft e auch einer der Gründe für das freundliche, entspannte Klima in den schwedischen Schulen sein, über das alle Besucher berichten.

Individualisierende Lernmethoden

Generell kann man feststellen, dass Methoden in Skandinavien nicht die do-minierende Rolle spielen wie in der deutschen Diskussion. Sie sind nur ein Teil der Lernkultur. Die Philosophie, die Haltung, das Lernumfeld insgesamt un-terstützen individualisiertes Lernen. Wir konnten jedoch auch überzeugende Unterrichtsmethoden für individualisiertes Lernen beobachten.Einige Beispiele aus Schweden und Norwegen:

• Wahlaufgaben. Lehrer bereiten in ihrem Fach Aufgaben für zwei oder mehr Wochen vor. Diese Aufgaben sind unterschiedlich lang und schwierig. Der Aufgabenpool wird am Anfang einer Lerneinheit vorge-stellt, so dass die Aufgaben allen bekannt sind. Die Schüler müssen nun eine bestimmte Anzahl auswählen – sie bestimmen selbst, welche Aufga-ben sie wählen, und entscheiden selbst, ob sie leichtere oder schwierigere Aufgaben bearbeiten wollen. Die Lehrkräft e schreiben das nicht vor, beraten aber die Schüler beim individuellen Lernen.

• Anders als bei der deutschen Konzeption von Binnendiff erenzierung ordnen die Lehrer nicht diff erenzierte Aufgaben bestimmten Schü-lergruppen zu, die sie als unterschiedlich leistungsfähig einschätzen, sondern diff erenzieren durch das Ergebnis. Ein schwächerer Schüler, der eine schwierigere Aufgabe gewählt hat, wird nicht das gleiche Ergebnis erreichen wie ein besonders guter Schüler. Das wird akzeptiert. Aber ein Vorteil ist, dass sich jeder auch an schwierige Aufgaben machen kann. Die Lernleistungen gerade der schwächeren Schüler erreichen ein höhe-res Niveau.

• Arbeit mit diff erenzierenden Büchern: Alle Schüler arbeiten mit demsel-ben Buch. Das Buch ist so strukturiert, dass Schüler verschiedene Wege und verschiedene Ebenen wählen können. Sie starten z.B. mit der „basic class“. Wenn sie damit fertig sind, entscheiden sie nach einer „Diagnose“, ob sie mit „class 1“ oder „class 2“ weitergehen wollen. Die Abfolge der Schritte ist den Schülern überlassen.

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• Hausaufgaben werden nicht von Lehrerinnen und Lehrern kontrolliert, sondern wechselseitig von den Schülern.

Das Konzept individualisierten Lernens prägt in Schweden und Norwegen die gesamte Schule. Durch den Persönlichen Entwicklungsplan kommt jetzt hin-zu, dass Lehrer mit Schülern und Eltern Ziele vereinbaren und beim Lernen darauf achten, dass die Ziele im Blick bleiben.

Wo liegen die Probleme beim individualisierten Lernen?

Individuelles Lernen heißt in den Hauptfächern oft , alleine zu lernen. Die Schüler und Schülerinnen kennen zwar den eigenen Lernfortschritt, aber nicht den der anderen. Da jeder etwas anderes lernen kann, ist es nicht mög-lich, die Lernergebnisse in einer gemeinsamen Präsentation vorzustellen. Die Klassen sind praktisch aufgelöst, wie Sie es auch im Film gesehen haben. In den künstlerischen und handwerklichen Fächern arbeiten die Schülerinnen und Schüler häufi g in Gruppen, Projektunterricht fi ndet sich in Sozialkunde und Geschichte. Die Schüler schätzen jede Art von Kooperation sehr, das ha-ben sie in Interviews immer wieder hervorgehoben.

Das fi nnische Konzept der individuellen Förderung

Wenn man in eine fi nnische Schule geht, sieht es zunächst ähnlich aus wie bei uns, Kinder lernen in Klassen, oft steht der Lehrer oder die Lehrerin vorn. Auf den zweiten Blick erkennt man die Unterschiede – die individuelle Förderung und die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung.

Es beginnt mit Neuvola. Neuvola heißt Beratungsstelle. In freundlich gestal-teten Räumen werden schwangere Frauen beraten und auf die Geburt vorbe-reitet, auch ärztlich betreut. Immer mehr Väter kommen mit. Nach der Ge-burt gibt es weitere Treff en in Gruppen, wo gesundheitliche und erzieherische Fragen behandelt werden. Bis zum Schuleintritt stellen die Mütter einmal im Jahr die Kinder in Neuvola vor. Entwicklungsstörungen und Behinderungen werden auf diese Weise frühzeitig erkannt und die Kinder können bei Bedarf gleich an Ärzte oder Th erapeuten weitergeleitet werden. Neuvola ist fl ächen-

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deckend, die Teilnahme ist freiwillig und kostenlos. Die Teilnehmerquote ist 100%. So lernen sich auch alle Eltern eines Stadtteils oder Bezirks mit ihren Kindern kennen. Es leuchtet sofort ein, dass hier auch eine große Chance der Integration für zugewanderte Familien besteht. Die Kinder haben von Anfang an die gleichen Möglichkeiten wie die fi nnischen Kinder.

Neuvola arbeitet mit dem Kindergarten und den Grundschulen zusammen, und die Krankenschwestern und Th erapeutinnen der Beratungsstellen treff en sich auch mit den Lehrern der Grundschulen und Sekundarschulen. Sie ken-nen alle Kinder von Geburt an und können Kindergärtnerinnen und Lehrern Hilfen geben.

Schon in der frühkindlichen Erziehung wird sehr anspruchsvoll gearbeitet, wenn die Vorschulllehrer mit Kindern Portfolios anlegen und Kinder Selbst-einschätzung ihrer sozialen Fähigkeiten und Lernleistungen üben. Sobald die Kinder in die Grundschule kommen, setzt Förderung ein für die, die Probleme mit dem Lesenlernen haben. In ganz kleinen Gruppen, sogenannten Starter-gruppen, werden diese Kinder gefördert und an die Klasse herangeführt. In jeder Schule arbeitet ein Förderteam, das schnell hilft und Sitzen bleiben und Abschulung in die Sonderschule überfl üssig macht.

In Portfolios und Lerntagebüchern dokumentieren die Schülerinnen und Schüler ihren persönlichen Lernprozess. Ein kurzer Filmausschnitt macht deutlich, wie das aussehen kann. Bezeich-nend ist auch, dass dies nicht nur für Hauptfächer gilt.

Film Portfolio (5´)

Portfolios werden als Mittel der Refl exion und Selbstevaluation eingesetzt. Von klein auf werden Kinder daran gewöhnt, ihren eigenen Lernprozess zu verstehen und zu refl ektieren. Sie gewinnen damit über die Jahre eine große Selbständigkeit und werden unabhängige Lernende, was man vor allem in der Oberstufe beobachten kann. Portfolios geben außerdem den Lehrkräft en die Möglichkeit, den individuellen Lernweg der Schüler zu verstehen und sie zu beraten.

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Dialog 19164

Im aktuellen fi nnischen Curriculum von 2004 wird festgestellt: Die vorrangi-ge Aufgabe der Schule ist es, Faktoren zu beseitigen, die den Lernprozess der Schüler behindern oder begrenzen. Das Curriculum gibt Standards vor für das Wohlbefi nden der Schülerinnen und Schüler. Das ist eine befremdliche Erfah-rung für deutsche Pädagogen: Nicht strenge erzieherische Bemühungen um Disziplin stehen im Mittelpunkt, sondern die Schule muss dafür sorgen, dass sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen. Dazu gehören Gesundheitsprojekte und Programme gegen Mobbing, aber auch bunte Vorhänge an den Fenstern und ein gutes Mittagessen.

Das fi nnische Konzept der individuellen Förderung geht davon aus, dass Schü-ler mit Lern- und Verhaltensproblemen zeitnah individuelle Hilfe bekommen. Förderteams stehen in jeder Schule zur Verfügung. Entscheidend ist, das Fördergruppen sich nicht verselbständigen, sondern nur zeitlich begrenzt die Schüler wieder an den Lernstoff der Klasse heranführen. Zugleich individua-lisiert Finnland dadurch, dass Schüler ihren Lernprozess immer wieder selbst einschätzen und damit immer selbständiger werden, die Lehrer immer weni-ger brauchen.

Schulentwicklung –

ein Spiegel gesellschaft licher Entwicklung

Wie konnten sich solche Schulen entwickeln? Das ist ja für uns die Frage, wenn wir nach der Übertragbarkeit fragen.

Ganz wichtig sind die Ziele, die nicht nur in den Richtlinien stehen, sondern an denen sich alle orientieren. In Finnland ist es Chancengleichheit und Qua-lität. „Wir sind so wenige, wir können es uns nicht erlauben, jemand zurück-zulassen“, hatte es schon vor mehr als 30 Jahren geheißen. Damit ist Finnland von einem Holzfällerland zu einem High-Tec-Land geworden. Die fi nnische PISA-Koordinatorin Pirjo Linnakylä sagt dazu: „Wenn Lehrer keinen Schü-ler mehr wegschicken können, dann müssen sie sich um jedes einzelne Kind kümmern“. Das bedeutet, dass sich die Pädagogik in Finnland in ihrer heuti-gen Form entwickelt hat, als es nur noch eine Schule gab, in die alle Kinder

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gingen. Eine gute Lehrerausbildung, die Praxis und Th eorie verknüpft , ist eine weitere Voraussetzung. Dort heißt es „Nicht das Kind muss den Lehrer verste-hen, sondern der Lehrer das Kind“.

In Schweden heißt das oberste Ziel Erziehung zur Demokratie. Von Anfang an begegnen die drei Begriff e „Responsibility, Respect and Trust“ den schwe-dischen Primarstufenschülern in jedem Klassenraum. Sie gelten als Basis demokratischen Verhaltens. „Alle Aktivitäten in der Schule müssen in Über-einstimmung mit den grundlegenden Werten gestaltet werden“, heißt es im schwedischen Schulgesetz. „Der Unterricht muss demokratische Arbeitsfor-men verwenden und die Schüler darauf vorbereiten, persönliche Verantwor-tung für ihr Tun und Lassen zu übernehmen.“

Demokratie braucht Bürger, die sich verantwortlich fühlen, jeder Einzelne muss bestmöglich ausgebildet sein, um in einem demokratischen Staatswe-sen mitzuwirken. Auch hier werden Lehrer zuerst in Pädagogik ausgebildet und dann in Fächern, jede Lehrerinnen und jeder Lehrer studiert ein Semester Sonderpädagogik. Grundlage der Schule ist also in beiden Ländern die Päda-gogik, das Kind steht im Mittelpunkt, der respektvolle Umgang der Lehrkräft e mit den Kindern als Lernenden ist selbstverständlich.

Was wir von der nordischen Lernkultur lernen könnenBildungssysteme kann man nicht klonen, sie haben ihre eigene Entwicklungs-geschichte und ihr eigenes politisches und gesellschaft liches Umfeld. Aber wir können voneinander lernen und damit Wege abkürzen und Umwege vermei-den.

Was können wir von den nordischen Ländern und ihrer Lernkultur lernen?

• Achtung und Respekt vor dem Lernenden• Lernen soll mit Spaß und angenehmen Emotionen verbunden sein• Fehler sind Teil des Lernprozesses

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• Stärkenorientierung• Ziele vereinbaren• Schüler am Lernprozess beteiligen, Wahlmöglichkeiten schaff en• Eltern in den Lernprozess positiv und verbindlich einbeziehen• Teamarbeit• Förderung schnell einsetzen, Förderressourcen bündeln

Literatur

Dimenäs,J/ Andresen, R/ Cruickshank, M./Ojala, J./ Ratzki, A.(Hrsg) (2006): Our Children –How can they succeed in school? Jyväskylä: University Press

Sandfuchs, U.(1994): Unterricht. In: Keck, R./Sandfuchs, U. (Hrsg.): Wörterbuch Schulpädagogik. Bad Heilbrunn 1994, S. 340

Tillmann, K-J. (2007): Lehren und Lernen in heterogenen Schülergruppen. For-schungsstand und Perspektiven. In: Schulleitungshandbuch. Berlin: Raabe-Verlag. S. E.119

Das Kapitel über das schwedische Lernkonzept wird demnächst in erweiterter Form veröff entlicht in: Ulf Preuss-Lausitz (Hrsg.): Gemeinschaft sschule als Ausweg aus der Schulkrise? Beltz-Verlag, Weinheim. Herbst 2008

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