Der Spiegel Magazin No 26 Vom 25 Juni 2016

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    h u g o b o s s . c o m

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    D ie Nacht von Donnerstag auf Freitag war lang, für EuropasPolitiker, für die politisch Interes-sierten auf der ganzen Welt, natür-lich auch für Journalisten. Chris-toph Scheuermann war mit vielenKollegen in London, Berlin undBrüssel unterwegs, um Fakten undMeinungen zu sammeln zum Bre-xit, zur Tatsache, dass sich die Bri-ten mehrheitlich für einen Austrittaus der EU entschieden haben. Die-

    ser Tag, der als schwarzer Donnerstag in die Geschichte der EU eingehen wird,

    bedroht das erfolgreiche Projekt europäischer Integration, er ist zugleich abernur der Einstieg in den Ausstieg. Vor Großbritannien, vor der EU liegen kom-plizierte, womöglich quälend lang dauernde Verhandlungen über die genauenModalitäten des Austritts. Warum es zum Brexit kam, wie es nun weitergehensollte, beschreibt das Titelstück dieser Ausgabe; der Leitartikel dieses Hefts undein Essay bewerten ebenfalls die Konsequenzen dieser historischen Zäsur. Zusätzliche Reaktionen, Analysen, Videos bietet die aktualisierte digitale Aus-gabe des (magazin.spiegel.de). Seiten , ,

    E s gibt keinen guten Moment, sich einen Armzu brechen, aber zu den unwidersprochenschlechten gehört ein Arbeitstag, an dem ein Redakteur einen Text mit einer Länge von 4500Wörtern zu schreiben hat. Das sind rund 32000Zeichen, die getippt werden müssen. Tobias Be-cker hatte gerade den Anfang seines Texts überdas Zeitalter des Narzissmus geschrieben, als ersich auf sein Rad setzte, um Hemden aus derReinigung zu holen. Zehn Stunden später kehrteer mit eingegipstem Arm heim, der Ellenbogenwar gebrochen. Becker hielt das zunächst füreine Katastrophe, bis er ein Selfie von sich mitGips bei Facebook postete, dazu die Zeile „GipsiKing“. Innerhalb weniger Stunden bekam er Dut-zende Mails, SMS, Anrufe. „So viel Aufmerksamkeit hätte ich gern immer“,sagt Becker. Seinen Text hat er auch einhändig zeitig genug fertig bekommen.Nun hofft er auf noch mehr Aufmerksamkeit, freut sich auf Leserbriefe – als bekennender Narzisst natürlich besonders auf aufmunternde. Seite

    Z eit ist unser kostbarstes Gut – und schon darumimmer knapp. Zum Glück kann man lernen, dieHektik zu zähmen. Wie die Entschleunigung gelingt,erklärt die neue - -Ausgabe „EndlichZeit!“. Der Grünen-Spitzenpolitiker Robert Habeckplädiert für eine intelligente Zeitpolitik; neue Arbeits-zeitmodelle bei Bosch zeigen, wie flexibel heute derAchtstundentag aussehen kann. Doch was wir wirk-lich wollen, sagt der britische Intellektuelle TomHodgkinson, sei Nichtstun. Hodgkinson muss es wissen, er hat den Müßiggang zu seinem Lebensziel

    erklärt. „Endlich Zeit!“ erscheint am Dienstag.

    5DER SPIEGEL /

    Betr.: Titel, Narzissmus,

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    Hausmitteilung

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    P E T E R

    N I C H O L L S

    / D E R

    S P I E G E L

    Scheuermann

    Becker

    www.spiegel-geschichte.de

    FORUM GESCHICHTEEine Kooperation vonSPIEGEL GESCHICHTE unBUCERIUS KUNST FORUM

    Die Eintrittskarte (€ 10,–/€ 8,–) berechtigt am Veranstaltungs-tag zum Besuch der Ausstellung „Verkehrte Welt. Das Jahrhun-dert von Hieronymus Bosch“ (4. Juni bis 11. September 2016).Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von 19.00 bis19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste geöffnet. Ticketssind im Bucerius Kunst Forum und in allen bekannten Vorver-kaufsstellen erhältlich.

    „Deutsche Fragen.

    Vom Werden einer Nation“

    Montag · 4. Juli 2016 20 Uhr

    Prof. Dr. Jörn Leonharddiskutiert mit den

    SPIEGEL-Redakteuren

    Nils Klawitter und Dietmar PieperBUCERIUS KUNST FORUM

    Hamburg

    Jörn Leonhard, geboren 1967,ist Professor für Neuere Ge-schichte in Freiburg und Expertefür das westliche Europa. Vielbeachtet wurde u. a. sein Buchüber den Ersten Weltkrieg.

    © H a n s p e t e r T r e f z e r

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    6/1406 Titelbild: Montage ; Foto D. Kitwood/Getty Images

    C H R I S J R A T C L I F F E / G E T T Y I M A G E S

    J O H N M A C D O U G A L L / A F P

    2 0 1 6 W A R N E R B R O S . E N T .

    P A U L L A N G R O C K / A G E N T U R Z E N I T

    Stresstest in WolfsburgAutoindustrie Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den ehemaligen VW-Chef,Aktionäre fordern Schadensersatz, unddie Großaktionäre streiten um den Kurs:Der Volkswagen-Konzern steckt im Stress-test. Dabei müsste er sich eigentlich umdie Autos der Zukunft kümmern. Seite

    Denk ich an DeutschlandKino „Was bedeutet Deutschland für dich?“Diese Frage stellte Regisseur Sönke Wort-mann der Öffentlichkeit, und TausendeBürger antworteten mit kurzen Videos. Ausden Schnipseln ist der Kinofilm „Deutsch-land. Dein Selbstporträt“ entstanden. Welches Land sieht man da? Seite

    Das Sterben der BienenLandwirtschaft Hummeln, Schmetterlinge,Honigbienen – Insekten bestäuben mehrals drei Viertel der wichtigsten Nutzpflan-zen. Doch die fleißigen Flieger schwinden;Pestizide und Seuchen setzen ihnen zu.Ohne die Dienste der Bestäuber hätte dieWelt nicht mehr genug zu essen. Seite

    Der historische BruchGroßbritannien Das Volk hat ent -schieden, der Brexit kommt. Und mitihm stellen sich viele Fragen: Wielange wird der Prozess der Ablösungdauern? Wer wird nach CameronPremierminister? Und muss sichEuropa nun auf weitere Aussteiger

    einstellen? Seiten ,

    Journalisten in der Nacht zum Freitag vor der Downing Street 10

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    In diesem Heft

    7DER SPIEGEL /

    TitelGroßbritannien Der schwarze Donnerstagdes Austritts aus der EU und seine Folgen Essay Wie sich Europanach dem Brexit reformieren sollte

    DeutschlandLeitartikel Wenn die Politik nicht richtig reagiert, kann der Brexit einenökonomischen Flächenbrand auslösen Meinung Kolumne: Im Zweifellinks / So gesehen: Eine Mail-Antwortan Donald Trump Seehofer will Lockerung der Russland-sanktionen / Auslandseinsätze der Bundes-wehr deutlich teurer als veranschlagt / Verfassungsschutz nutzt Gesichtserkennung Extremismus Hass und Gewalt gegenPolitiker werden zur Bedrohungder Demokratie Umwelt Wie die Bundesregierungden Ausstieg aus dem Kohlezeitalter plant Opposition Das prekäre ProjektRot-Rot-Grün Sahra Wagenknecht zeigt sich offen für Gespräche über ein Links-Bündnis Karrieren Wird Außenminister Frank-Walter Steinmeier, einer der populärstenPolitiker Deutschlands, Bundespräsident? Gesellschaft Zehn Deutschtürken berichten,wie sie der Streit um Erdoğan belastet Serientäter Warum der KrankenpflegerNiels H. so viele Menschen töten konnte Steuern Winzer haben den Fiskus umMillionen Euro betrogenArchäologie Der Goldschatz von Bernstorf könnte eine Fälschung seinStrafjustiz Warum der Mann, der angeblichein Attentat auf ein Radrennen verübenwollte, keine hohe Strafe fürchten muss

    GesellschaftFrüher war alles schlechter: Terror inWesteuropa / Verschimmeln wir, Herr Böge? Eine Meldung und ihre Geschichte JannaJihad, 10, die jüngste Journalistin Palästinas Kino Für den Film „Deutschland.Dein Selbstporträt“ hielten TausendeBürger ihren Alltag fest –was für ein Land sieht man da? Homestory Internet futsch, Leben futsch

    WirtschaftBayer wirbt in den USA für Monsanto-Übernahme / Lufthansa Cargo verschärft Sparkurs / Rekordbußgeld gegenDeutsche Bank Autoindustrie Seit dem Dieselskandal gehtein Riss durch den Aufsichtsratvon Volkswagen, an der Spitze herrschtein Machtvakuum Weltwirtschaft Joachim von Amsberg,Vizechef der asiatischen Entwicklungsbank,über deren Ziele und die Rolle PekingsTextilindustrie Was Betroffene eines Fabrik-brands in Pakistan bei einem Besuch inder Heimat des Billiganbieters Kik erleben Zukunft Die BeteiligungsgesellschaftPermira hat mit der SoftwarefirmaTeamviewer aus Göppingen Großes vor Finanzen Schiffsfondsanleger sollenfrühere Ausschüttungen zurückzahlen –und das sogar zweifach Gesundheit Das Verbot der Fernbehandlungbehindert die moderne Onlinemedizin

    AuslandMachtkampf bei der nigerianischen Terror-gruppe Boko Haram / Was Putins„Nachtwölfe“ auf dem Balkan vorhaben Philippinen Ein linker Rambo wird Präsident Ukraine Das Ringen um Frieden ander russischen Grenze Griechenland Migranten fliehen aus Europa USA Eine Feindin der Bankiers könnteHillary Clintons Vizepräsidentin werden

    SportDeutsche Beachvolleyballer trainieren fürRio auf Copacabana-Sand-Imitat /Warum autoritäre Regime Offensivfußball

    propagieren Deutsche Elf Mario Götze willseine ins Stocken geratene Karrierewieder in Schwung bringen Gewalt Radikale Fans, korrupte Funktionäre –Kroatiens Nationalteam schlepptdie Probleme des Landes in die Stadien Frankreichs Doping Stabhochsprung-WeltrekordlerinJelena Issinbajewa über denOlympia ausschluss russischer Leichtathleten

    WissenschaftNeue Gentherapie gegen Krebs? / Heimische

    Austern zurück in die Nordsee / Kommentar:Bremst das vollautonome Auto! Landwirtschaft Bienentod undHummelsterben – das dramatischeSchwinden der BestäuberMusik Der berühmte KlangdesignerYasuhisa Toyota über das Geheimnis derperfekten Konzertsaalakustik Medizin Ist das Kriegstrauma vielerSoldaten ein Hirnschaden, ausgelöst durchDetonationen? Luftfahrt Rettung aus der Eishölle – um zweischwer kranke Forscher zu bergen, wagtenPiloten den gefährlichsten Flug der Welt

    Kultur Aufregung an der Berliner Volksbühne / Kochbuch vom Starkünstler /Kolumne: Besser weiß ich es nicht Kunst Im -Gespräch erzähltGeorg Baselitz, wie er als junger Maler rebellierte, und beklagt die Mentalitätder DeutschenVisionen J.G. Ballards kühner Hochhaus-roman „High-Rise“ kommt ins Kino Zeitgeist Narzisst ist der Lieblings-vorwurf der Selfie-Gesellschaft,

    dabei kann Narzissmus gesund sein

    Wie selbstverliebt sind Sie? Zeitgeschichte Eine neue Biografieporträtiert Richard Nixon alsDunkelmann unter den US-Präsidenten Lyrikkritik Ein bislang unveröffentlichtesGedicht von Bertolt Brecht

    Bestseller Impressum, Leserservice Nachrufe Personalien Briefe Hohlspiegel /Rückspiegel

    E I B N E R / I M A G O S P O R T F O T O D I E N S T

    S A U L L O E B / A F P

    T I M

    W E G N E R / D E R S P I E G E L

    Mario GötzeEr spielt um seine Zukunft,zu viel lief schief für den An -greifer des FC Bayern seit seinem Finaltor von Rio. Ge-gen den Vorwurf, er wirkewie eine Kunstfigur, wehrt sichGötze: „Ich spreche für mich,ich bin erwachsen.“ Seite

    Elizabeth WarrenSie ist links, klug, aggressiv:

    Die US-Senatorin gilt als eineKandidatin für den Postender Vizepräsidentin unter Hil-lary Clinton. Aber die beidensind absolut keine Freundin-nen. Und könnten zwei Frauendie Wahl gewinnen? Seite

    Georg BaselitzEr ist weltberühmt wie seineGemälde, nun wird sein spek-takuläres Frühwerk ausgestellt.Im -Gespräch schil-dert er, wie Deutschland seinLeben und Werk geprägt hat –und dass das Land ihm heuteAngst bereitet. Seite Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ

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    Sie haben es tatsächlich getan, allen Warnungen derÖkonomen zum Trotz. Denn selten waren sich dieFachleute derart einig wie im Fall des Brexit: Wenndie Briten die Europäische Union verlassen, so die (fast)einhellige Meinung, werde das schwerwiegende Folgenfür die Wirtschaft haben, für die europäische, aber mehrnoch für die britische.

    Bislang hat Großbritannien jedenfalls stark von der Ein-bindung in die EU profitiert. Unternehmen aus aller Weltinvestierten gern in dem Land, das ihnen einen liberalenArbeitsmarkt und zugleich unbegrenzten Zugang zum europäischen Binnenmarkt bot. Nur deshalb siedeltensich nach dem Niedergang der britischen Autoindustrieso viele internationale Hersteller auf der Insel an. Ähn -liches gilt für die Finanzindus-trie. Sie kann von London ausungehindert in ganz Europaihre Produkte anbieten. Nurso konnte die britische Haupt-stadt zum wichtigsten Finanz-zentrum weltweit aufsteigen.

    Natürlich profitieren auchdie übrigen Mitglieder der Europäischen Union von derVerbindung, vor allem die

    Exportnation Deutschland.Großbritannien ist unser dritt-größter Handelspartner, 2015stammte jedes zweite neu zu-gelassene Auto auf der Inselaus deutscher Produktion.

    Das wird so nicht bleiben,wenn Großbritannien als Fol-ge des Brexit aus dem Binnen-markt ausscheidet. Dann wer-den Zölle die Produkte ver-teuern, Direktinvestitionenwerden sich weniger lohnen,Fabriken und Niederlassungen werden schlechter ausge-lastet sein und ganz oder teilweise verlagert werden.BMW, um das populärste Beispiel zu nennen, wird sichüberlegen müssen, ob es den europäischen Kontinent mitAutos der Marke Mini aus der Fabrik in Oxford bedient,auf deren Einfuhr in die EU dann ein Zoll von zehn Pro-zent erhoben wird, oder ob es nicht sinnvoller ist, dieProduktionsstätte in den Niederlanden auszubauen.

    Aber all das wird verkraftbar sein. Auch die Finanz-märkte werden nach dem ersten Schock wieder zur Tagesordnung übergehen, sobald sich zeigt, dass die Konjunktur in der Europäischen Union keineswegs einbricht, sondern allenfalls das jährliche Wachstum einwenig gedämpft wird.

    Voraussetzung ist jedoch, dass schnell geklärt wird,wie es weitergeht – damit keine Illusionen aufkommen.Zunächst müssen die Modalitäten des Austritts geregelt

    werden und dann die Frage, welche Regelungen künftigfür den gemeinsamen Handel gelten sollen. Viele Britenleben offenbar in dem Glauben, dass sich nach ihremAusstiegsbeschluss nicht viel ändern wird, weil auch dieEuropäische Union ein Interesse an einem weiter unge-hinderten Warenverkehr hat. Die Anhänger dieser Theseverweisen gern auf Norwegen oder die Schweiz, die jaauch nicht Mitglied der Europäischen Union sind unddennoch freien Zugang zum Binnenmarkt haben.

    Wer so argumentiert, verkennt allerdings zweierlei:Erstens müssen die Schweizer und die Norweger EU- Regeln akzeptieren, von denen sich die Briten doch gerade losgesagt haben. Zweitens kann die EU kein Interesse daran haben, dass Großbritannien der Ausstieg

    so leicht gemacht wird. DieGefahr, dass das britische Beispiel Schule machte, wäreviel zu groß.

    Schon jetzt spüren die popu-listischen EU-Kritiker in vie-len Ländern Europas Auftrieb,sie würden bestärkt, wennauch nur der Anschein ent-stünde, die britische Wirt-schaft könne den Abschied

    vom gemeinsamen Europaweitgehend unbeschadet über-stehen. Wenn aber nach demBrexit ein Frexit oder ein Öxitdrohen würde, wäre die Euro-päische Union am Ende. Undder Euro sowieso.

    Schon die Spekulation aufeine solche Entwicklung wür-de die Eurokrise wieder auf-leben lassen. Dann müsstedas OMT-Programm der Eu-ropäischen Zentralbank zum

    Aufkauf von Staatsanleihen, das vom Bundesverfassungs-gericht in dieser Woche durchgewinkt wurde, tatsächlichin die Praxis umgesetzt werden. Und die Frage ist, obdas Versprechen von EZB-Präsident Mario Draghi, imErnstfall „whatever it takes“ einzu setzen, tatsächlich aus-reichen würde, um das Schlimmste zu verhindern.

    Deshalb ist es so wichtig, dass Europas Politiker allestun, um einen solchen Flächenbrand zu verhindern.Sie müssen dafür sorgen, dass der Brexit ein isoliertes Ereignis bleibt. Das aber setzt voraus, dass sie in denVerhandlungen nach der Devise handeln, die Bundes -finanzminister Wolfgang Schäuble so formuliert hat:„Drinnen ist drinnen, und draußen ist draußen.“ Die Briten haben sich für draußen entschieden. Nun müssensie auch die Konsequenzen tragen. Sonst könnten diewirtschaftlichen Folgen des Brexit tatsächlich unbe-herrschbar werden. Armin Mahler

    10 DER SPIEGEL /

    Britisches ExempelDie ökonomischen Folgen des Brexit sind beherrschbar – wenn die Politik richtig reagiert.

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    Leitartikel

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

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    Schwarzer DonnerstagGroßbritannien Das Volk hat entschieden, der Brexit kommt. Die Insel steht voreiner Phase politischer Unsicherheit. Europa muss sich auf zermürbende Jahreder Verhandlungen einstellen und auf andere Staaten, die es den Briten gleichtun.

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    Titel

    Drei Wochen vor dem großen Knallsteht Michael Gove auf einer Dach-terrasse im Londoner East End underzählt, wie toll er Europa findet. DeutscheMusik, italienisches Essen, französische Le-benslust, ach, er liebt diesen herrlichenKontinent. Gove ist Justizminister im Ka-binett von David Cameron und ein Vor-denker der Brexit-Kampagne. Er sagt: „Ichhabe in Frankreich geheiratet, meineSchwiegereltern leben in Italien. VorigesJahr waren wir in Bayreuth im Urlaub,wunderschön.“ Er findet aus dem Schwär-men gar nicht mehr heraus.

    Nur eines stört ihn an Europa: die ver-dammte EU. Gove nennt die Union eine„Job vernichtende, Elend erzeugende, Ar-beitslosigkeit schaffende Tragödie“. SeitJahren kämpft er für den Austritt. Goveist ein Überzeugungstäter, ein Ideologe.Seinem strategischen Geschick ist zu ver-danken, dass die EU-Gegner in den Wo-chen vor dem Referendum immer mehrZuspruch bekamen.

    In einem Raum nebenan warten Brexit-Aktivisten mit Plakaten und „Vote Leave“-T-Shirts, Gove soll sie für den Endspurtmotivieren. Er rückt seine Krawatte zu-recht und sagt, bei den Bayreuther Fest-spielen habe er eine Woche lang auf einerHolzbank gesessen und Wagner gehört.„Das war absolute Hingabe.“ Noch ein Be-leg, wie sehr er den Kontinent mag. Dannbittet ihn ein Berater auf die Bühne.

    Man muss sich Gove und seine Anhän-ger seit Freitagmorgen als glückliche Men-

    schen vorstellen. Sie sind am Ziel. AmDonnerstag stimmten laut dem aktuellenStand vom Freitagmorgen 52 Prozent derBriten für den Austritt aus der EU. Es isteingetreten, was viele in Europa zunächstnicht ernst nahmen, dann fürchteten undschließlich nicht mehr verhindern konn-ten.

    Um kurz nach vier Uhr Londoner Zeittritt Ukip-Chef Nigel Farage als einer derersten in der Nacht zum Freitag vor dieKameras und sagt, dies sei ein Sieg für ech-te, normale, anständige Menschen. Faragefordert Premierminister Cameron zum sofortigen Rücktritt auf. Zu diesem Zeit-punkt sind erst 237 von 382 Wahlbezirkenausgezählt. Wenige Minuten später fälltdas britische Pfund gegenüber dem Dollarauf den tiefsten Stand seit 1985.

    Schottland, London und Nordirlandstimmen zwar eindeutig für den Verbleibin der EU, aber das reicht nicht. Im Restdes Königreichs sieht es düster aus, dasBrexit-Lager baut in der Nacht kontinuier-lich und eindeutig seinen Vorsprung aus.Um 5.40 Uhr legt sich die BBC erstmalsfest: Es wird den Brexit geben. Der ein-

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    London am Morgen nach der AbstimmungVon nationalen Egoismen und Furcht befeuert

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    Titel

    flussreiche Labour-Abgeordnete Keith Vaznennt das Ergebnis „eine Katastrophe“;EU-Parlamentspräsident Martin Schulzspricht kurze Zeit später von „einer echtenKrise“. BBC-Journalisten erklären betrof-fen, nie hätten sie gedacht, ein solches Vo-tum kommentieren zu müssen. Großbri-tannien wird der erste europäische Staatsein, der die Gemeinschaft verlässt.

    Der 23. Juni wird als schwarzer Don-nerstag in die europäische Geschichte ein-gehen. Es ist der Tag, an dem sich eine Na-tion entschloss, einem Impuls von Nostal-gie und Freiheitsdrang zu folgen und gegendie Vernunft zu handeln. Gegen die Mehr-heit des Parlaments, gegen den Rat vonÖkonomen, Politikern, Wissenschaftlern,Freunden und Verbündeten in aller Welt.Es ist eine von nationalen Egoismen ge-prägte, von Furcht und Weltmüdigkeit be-feuerte, aber nichtsdestotrotz demokrati-sche Entscheidung.

    Für Europa ist der größte anzunehmen-de Unfall der jüngeren Vergangenheit ein-getreten. Ein politisches Desaster, das überdie europäischen Grenzen weit hinaus-reicht, ein selbst gemachtes Unglück auch.Es hilft nicht mehr zu wünschen, das Refe-rendum hätte nie stattgefunden, es hilftauch nicht, David Cameron zu verfluchen.Denn die bittere Wahrheit dieses Donners-tags ist: Die Europäische Union, wie sieheute ist, konnte die Briten nicht begeis-tern. Das ist die wichtigste Lektion.

    Für Europa geht es nun darum, denSchaden zu begrenzen und den Verlust zu

    minimieren, indem es die Trennung vor-bereitet. Großbritannien steht vor einerwirtschaftlich wie politisch turbulentenPhase, mit einem stark angeschlagenenPremierminister, der sich vermutlich nichtmehr lange wird halten können. Für beideSeiten, für Briten wie Europäer, wird dieTrennung zäh und schmerzhaft werden.

    Der 23. Juni ist auch der Tag, an demdie Idee eines vereinten und sich engerverbindenden Kontinents verwelkt. Nie-mand weiß genau, was nun kommen wird.Gewiss ist nur, dass die Versprechen derBrexit-Kämpfer von einer Reduzierung derEinwanderung, von Handelsverträgen mitIndien und China, von einem neuen Lebenin Freiheit, Sicherheit und Wohlstand sichnicht erfüllen werden. Jedenfalls nicht inden nächsten fünf oder zehn Jahren.

    Mit Großbritannien geht nicht irgendeinLand, sondern die zweitgrößte Wirt-schaftsnation der EU und das nach Ein-wohnern drittgrößte Mitglied. Es geht einStaat, der Europa politisch, kulturell undwirtschaftlich geprägt hat und den Hori-zont des Kontinents weitete. Die Britenhalfen, Europa von Hitler zu befreien, sietrieben den Binnenmarkt voran und or-chestrierten die Erweiterung. Die britisch-europäischen Beziehungen stehen vor ei-ner neuen Eiszeit.

    Nach innen wird die Union durch dieEntscheidung der Briten womöglich aufJahre gelähmt. Staats- und Regierungschefs,Minister und Diplomaten werden viel Kraftund Zeit aufwenden müssen, um die Mo-dalitäten des Ausstiegs zu verhandeln undeine neue Form der Kooperation zu finden.Der Brexit sendet zudem das Signal, dassEuropa bröckelt und nicht in der Lage ist,in einer Phase größter Umwälzungen zu-sammenzustehen – selbst dann nicht, wennin der Nachbarschaft Autokraten wie Putin

    und Erdoğan ihre zynischen Spiele treiben.Die Europäische Union hat ihre Wur-zeln in der Nachkriegszeit, als verfeindeteStaaten nach einer Möglichkeit suchten,blutige Konflikte zu verhindern, indem sie

    wirtschaftlich miteinander kooperierten.Großbritannien zählte von Anfang an zuden Förderern des Bündnisses, auch wenndie Insel stets Abstand zum Kontinenthielt. Erst 1973 trat das Land der Europäi-schen Wirtschaftsgemeinschaft bei, zweiJahre später bestätigte das Volk in einemReferendum die Mitgliedschaft.

    Jahrzehnte des Zusammenseins werdenmit dem Ausstieg hinweggefegt. VorEuropa liegen zermürbende Jahre. DieVerhandlungen beginnen offiziell, wennGroßbritannien dem Europäischen Rat dieAbsicht des EU-Austritts nach Artikel 50des Lissabon-Vertrags mitteilt. Das kannMonate dauern. Von diesem Moment anbleiben der EU und Großbritannien zweiJahre, um die Trennung zu vollziehen, so-

    fern die Frist nicht einstimmig verlängertwird. Zwei Jahre, in denen die britischeRegierung europäisches von britischemRecht entflechten muss. Zwei Jahre, umTausende kleiner und großer Fragen zuklären und das Austrittsabkommen abzu-schließen. Gleichzeitig wird zu klären sein,wie sich das britisch-europäische Verhält-nis gestalten soll.

    Wie werden sich die Handelsbeziehun-gen entwickeln? Was geschieht mit denrund drei Millionen EU-Bürgern, die in

    Großbritannien leben? Was mit den unge-fähr zwei Millionen Briten in Europa? Wel-ches Arbeitsrecht gilt für sie, welches Auf-enthaltsrecht? Verfassungsexperten gehendavon aus, dass die Verhandlungen bis zuzehn Jahre dauern könnten.

    Für Premierminister David Cameron istder Brexit eine politische wie persönlicheKatastrophe. Wie kein anderer Politikerhat er sein Schicksal mit dem Referendumverknüpft. Er wollte die Europafrage inseiner Partei ein für alle Mal klären undwurde unfreiwillig zum Ausstiegshelfer. Ergeht jetzt als britischer Premier in die euro -päische Geschichte ein, der sein Land ausder EU führte und damit Wohlstand, Jobsund Sicherheit riskierte. Nicht nur für Eng-land, auch für Europa.

    Keine Frage, dass er bald abtritt; wennnicht in den nächsten Tagen, dann spätes-tens im Herbst vor dem Parteitag der Kon-servativen. Für Großbritannien wäre einverzögerter Abgang des Premiers noch diebeste Option, um das Chaos und die Un -sicherheit der kommenden Wochen zumin-dest einzudämmen. Schwer vorstellbaraber, dass Cameron die Verhandlungenmit der EU als Premier führen wird.

    Das Amt könnte Boris Johnson über-nehmen. Der frühere Londoner Bürger-meister war neben Michael Gove der zwei-

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    Großbritannien geht!Man muss das nocheinmal schreiben, um eszu glauben.

    Ukip-Chef Farage in der Nacht zum Freitag: „Ein Sieg für anständige Menschen“

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    te entscheidende Kämpfer für den EU-Aus-tritt. Johnson gilt als schlauer, erbarmungs-los ehrgeiziger, gleichzeitig aber unbere-chenbarer Politiker. Beim Volk ist er be-liebt. Als Chef der britischen Unterhändlerin Brüssel ist er schwer vorstellbar.

    Großbritannien geht! Man muss dasnoch einmal schreiben, um es zu glauben.Der Brexit ist kein Stammtischthema mehr,sondern die Realität. Der Albtraum istwahr geworden, und Europa fragt sich, wiees eigentlich so weit kommen konnte.

    Seit Anfang der Neunzigerjahre gärtedie Idee eines EU-Austritts unter Konser-vativen. Anfangs nur als Wunschfantasieeiniger Tory-Hinterbänkler, die ihrem Pre-mierminister John Major das Leben schwergemacht hatten. Sie wollten damals ver-hindern, dass Großbritannien den Maast -richt-Vertrag ratifizierte, der den Euro alsGemeinschaftswährung festschrieb. AmEnde unterlagen die Rebellen zwar, aberdie Saat des Aufstands war gestreut.

    Als Cameron 2005 zum Vorsitzendender Konservativen gewählt wurde, war sei-ne Partei vor allem wegen der Europafragetief zerstritten. Auf der einen Seite standenSkeptiker wie Michael Gove, ein langjäh-riger Freund Camerons, auf der anderenPro-Europäer wie Kenneth Clarke. Came-ron wollte, dass sich die Tories öffnen undsich wieder der Realität zuwenden.

    „Während Eltern sich über die Betreu-ung ihrer Kinder Gedanken machen, ihrenNachwuchs zur Schule bringen und dasArbeits- mit dem Familienleben vereinba-ren, lassen wir uns endlos über Europaaus“, sagte er in seiner ersten Rede als Par-teivorsitzender. Es war ein Aufruf, sichendlich zusammenzureißen. Cameronwusste, dass den meisten Briten Europaherzlich egal ist. Seit 1974 stellen die De-moskopen von Ipsos Mori den Wählern re-

    gelmäßig dieselbe Frage: „Was ist aus IhrerSicht das größte Problem, vor dem diesesLand steht?“ Europa und die EU rangierenauf der Problemliste meistens weit unten.Selbst einen Monat vor dem jetzigen Re-ferendum sagte weniger als ein Drittel,Europa sei das relevanteste Thema.

    Britische Europapolitik vollzieht sich inZyklen. Phasen großen Engagements wech-seln sich mit solchen der Enttäuschung, derFrustration und des Rückzugs ab. Der letz-te engagierte Europäer in der Downing

    Street war Tony Blair, zumindest in denAnfangsjahren. Noch 2002 warb er für ei-nen Beitritt zum Euro, was den meistenseiner Landsleute im Nachhinein verrückterscheint. Blair trieb die Osterweiterungder Union voran, weil er glaubte, dadurchdie Integration zu bremsen. Er hatte wenigErfolg: Die EU-Verträge von Amsterdam,Nizza und Lissabon führten schrittweise inein immer engeres Bündnis. Großbritan-nien folgte widerwillig. Je mehr Macht sichnach Brüssel verlagerte, desto lauter wurdeder Unmut der Tories. Viele der heutigenEuropagegner entwickelten ihren Furor in

    jenen Blair-Jahren aus dem Gefühl heraus,einem schleichenden Machtverlust ausge-liefert zu sein.

    Als Cameron 2010 an die Macht kam,musste er die Tories besänftigen. Er galtals schwacher Premier, weil er die Wahlnicht mit einer Mehrheit gewonnen hatte,sondern auf die Unterstützung der Libe-raldemokraten angewiesen war. Zuvor hat-te er die Tory-Abgeordneten aus der EVP-Fraktion im Europaparlament abgezogen,zum Ärger von Angela Merkel. Doch auchdas beruhigte die parteiinternen Hardlinernicht, zumal die Rechtspopulisten der Un-abhängigkeitspartei Ukip den Tories beiLokalwahlen Stimmen wegnahmen. Ca-meron ging deshalb eine gewagte Wette

    ein. Er kündigte für den Fall seiner Wie-derwahl eine groß angelegte Neuverhand-lung der britisch-europäischen Beziehun-gen an, der ein Plebiszit folgen sollte.

    In einer Rede im Januar 2013 verspracher einen „fundamentalen Wandel“ im Ver-hältnis zur EU. Vor allem stellte er in Aus-sicht, die Zahl der Migranten aus den EU-Ländern massiv zu beschränken.

    Die Europaskeptiker entwickelten nuneinen Plan, um den Premier zu erpressen.Sie formulierten Maximalforderungen, dieCameron unmöglich erfüllen konnte. EinAustritt aus der EU wäre dann nahezu un-ausweichlich. Einer, der sich Gedankenmachte, wie sich die Regierung möglichsteffizient unter Druck setzen ließe, war einruhiger, zurückhaltender Mann mit rand-loser Brille und der Aura eines Sparkas-senangestellten.

    Matthew Elliott sitzt eine Woche vordem großen Knall in einem Caféan der Themse. Er hat hervor -

    ragende Laune. Gegenüber leuchtet derPalast von Westminster wie eine Spielzeug-kiste. Elliott gründete 2013 die Initiative„Business for Britain“, in der er europa -skeptische Unternehmer vereinte. Es warder erste wichtige Schritt auf dem Wegzum Brexit. Die Unternehmer sollten denEU-Gegnern zu mehr Seriosität verhelfen.

    Elliott glaubte schon damals nicht, dassCamerons „fundamentaler Wandel“ kom-men würde. Dafür kannte er die EU zugut. Anfang der Nullerjahre hatte er in

    Brüssel als Berater eines Tory-Europa-abgeordneten gearbeitet, später kämpfteer auf der Insel gegen zu hohe Staatsaus-gaben und gegen die Demokratisierungdes Wahlrechts. Inzwischen ist er der Chefder „Vote Leave“-Kampagne. Von der EUspricht er wie von einer radioaktiv konta-minierten Zone. „Glaube ich, dass Groß-britanniens Zukunft besser außerhalb derUnion liegt? Hundert Prozent.“ Der Klubsei überreguliert, die Eurozone werde überkurz oder lang implodieren. Er lächelt.

    Elliott lag richtig mit der Annahme, dassCameron zwar Zugeständnisse in Brüsselbekam, die ihm aber innenpolitisch nichtviel helfen würden. Schnell wurde deutlich,dass die restlichen Europäer nicht bereitwaren, den Briten allzu sehr entgegenzu-kommen. Bundeskanzlerin Merkel machteCameron persönlich klar, dass das Rechtder EU-Bürger, ihren Aufenthaltsort undArbeitsplatz innerhalb der Union frei zuwählen, nicht verhandelbar sei.

    Cameron speckte daraufhin seine Forde-rungen für die Verhandlungen deutlich ab.Im vorigen Dezember verlangte er nur noch,dass Arbeitnehmern aus der EU bis zu vierJahre die Sozialleistungen gestrichen wer-den dürfen. Außerdem sollte die Präambelaus dem Lissabon-Vertrag, die alle Länderder EU dem Ziel einer „immer engeren Uni-

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    C A R L C O U R T / G E T T Y I M A G E S

    EU-Gegner Johnson nach Stimmabgabe: Wird er der nächste Premierminister?

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    Titel

    on“ verpflichtet, für sein Land nicht mehrgelten. Zudem wollte er die Wettbewerbs-fähigkeit erhöhen und die Benachteiligungvon Nicht-Euro-Ländern aufheben.

    Schließlich kam die lange Brüsseler Gip-felnacht vom 19. auf den 20. Februar, dieCameron als harten Verhandler zeigen soll-te. Kurz vor Mitternacht verkündete er:„Großbritannien ist nun dauerhaft draußenaus einer immer engeren Union und wirdnie Teil eines europäischen Superstaatessein.“ Er habe auch eine „rote Karte“ aus-gehandelt, mit der nationale ParlamenteBrüsseler Entscheidungen stoppen könn-ten. Die Antwort aus London folgteschnell. „Das soll ein Deal sein, Dave?“,stand auf der Titelseite der „Daily Mail“.Damit waren die Kampflinien abgesteckt.

    Matthew Elliott glaubt, dass der Brexitnur der Anfang ist. „Hinter uns wird sicheine Schlange bilden“, sagt er. Etliche Staa-ten würden dieselben Konditionen verlan-gen, die Großbritannien bei den anstehen-den Verhandlungen in Brüssel unweiger-lich bekommen werde. Dänemark, Schwe-den, Irland und viele Länder mehr würdenebenfalls Sonderrechte verlangen. Daskönnte das Ende der EU als politischesProjekt einläuten. Europa wäre dann end-lich frei. Elliott lächelt wieder.

    Allerdings dürften die kommenden Wo-chen nicht ganz so harmonisch werden,wie sich die Brexit-Bewegung das vorstellt.In der Bundesregierung gilt nach dem Re-ferendum gegenüber den Briten die Devi-se: Härte zeigen. „In is in. Out is out“, hat-

    te Wolfgang Schäuble im -Ge-spräch vorvergangene Woche gesagt. EinEntgegenkommen werde es nicht geben.

    Für Merkel ist das britische Votum eineNiederlage. Sie hat sich wie keine Zweitefür einen Verbleib Londons in der EU ein-gesetzt. Schon früh sagte die Kanzlerin ih-rem Amtskollegen Cameron, dass sie zwarkeine grundlegende Änderung der Verträgemittragen könne, aber unterhalb dieserSchwelle alles tun würde, um ihm zu helfen.Umso enttäuschter war sie, als sie von Ca-meron keine Unterstützung für ihre Flücht-lingspolitik erhielt. Zwar sieht man imKanzleramt, dass eine Politik der offenenGrenzen den Brexit-Befürwortern in dieHände gespielt hätte. Dennoch hat man inMerkels Umgebung das Gefühl, von denBriten im Stich gelassen worden zu sein.

    Der Ausstieg der Briten soll gemäß desLissabon-Vertrags erfolgen. Allerdings ha-ben sich Merkel und Steinmeier darauf ver-ständigt, London nicht zu drängen, die Prozedur formell in Gang zu setzen. Zu-nächst müsse die innenpolitische Lage ge-klärt werden. „Wir müssen ja erst mal je-manden haben, der die Legitimation hat,die Briten aus der EU zu führen“, sagt einRegierungsmitglied. „Wir wollen Londondie nötige Zeit geben, die Dinge zu Hausezu klären.“

    Vor allem in der CDU, aber auch imKanzleramt gibt es Überlegungen, wieman die Briten trotz Brexit langfristig wei-ter an die EU binden könne. Es nütze nie-mandem, die wirtschaftlichen Beziehun-gen unnötig zu beschneiden, heißt es inder Regierung. Allerdings sei klar, dass esfreien Zugang zum Binnenmarkt nur ge-ben werde, wenn die Briten den EU-Bür-gern auch weiterhin die gleichen Rechtezubilligten. Das heißt: kein Zutritt zumMarkt ohne Freizügigkeit, ohne die Ak-

    zeptanz von Einwanderern aus Europa.Der Brexit hat Auswirkungen bis tief indie deutsche Politik hinein. Nach der Ent-scheidung der Briten will CSU-Chef HorstSeehofer auch in Deutschland bundesweiteReferenden durchsetzen. „Bürgerbeteili-gung ist der Kern moderner Politik“, sagtSeehofer. Das gelte auch für große Fragen,wie eine Änderung des Grundgesetzesoder bei der Europapolitik. Daran ändereauch die Tatsache nichts, dass die Britenfür den Austritt gestimmt hätten. „Mankann nicht sagen, wir sind für Volksent-scheide, solange sie in unserem Sinne aus-gehen. Wenn man verliert, war die Politiknicht gut oder man sie hat sie nicht gut ge-nug erklärt.“

    Für die europäische Wirtschaft werdendie kommenden Monate ungemütlich. DieNotfallpläne der Europäischen Zentral-bank (EZB) und anderer Notenbanken ma-chen einen Crash, ausgelöst durch Fehl-spekulationen, zwar unwahrscheinlich.Ausgeschlossen ist er jedoch nicht. Gravie-render dürften die mittelfristigen Folgenfür die Finanzbranche sein.

    Seit der Gründung des Binnenmarktshaben Investoren und Finanzinstitute ausaller Welt London als Brücke in die EUgenutzt. Kein Land exportiert so viele Fi-nanzdienstleistungen wie Großbritannien,

    ein Drittel davon in die EU. Folglich sei esfür den Finanzsektor eine große Gefahr,wenn er den Zugang zum Binnenmarktverliere, warnt der Internationale Wäh-rungsfonds. Die EZB wird kaum zulassen,dass große Teile des Euro-Devisenhandelswie bisher in London betrieben werden –Euro-Devisengeschäfte im Wert von täg-lich über 750 Milliarden Dollar. Geht derEuro-Handel, gehen auch die Händler.Ähnlich ist es mit vielen Finanzprodukten.Die größte britische Bank HSBC erwägt,

    Teile nach Luxemburg zu verschieben. Dieamerikanische Bank J. P. Morgan hat an-gekündigt, bis zu 4000 britische Jobs könn-ten dem Brexit zum Opfer fallen. Die meis-ten US-Konkurrenten sehen das ähnlich.Konzerne wie die Deutsche Bank prüfen,ganze Abteilungen auf den Kontinent zuverlagern. Der britische Finanzsektorkönnte – im Vergleich zum „Remain“-Sze-nario – zwischen 70 000 und 100000 Ar-beitsplätze einbüßen, schätzt die Bera-tungsgesellschaft PwC.

    Die Phase der Unsicherheit wird Europaökonomisch lähmen. Die Frage ist, wiegeht es nun weiter?

    Zwei Tage vor dem Knall steigen vierFrauen und zwei Männer in der Lon-doner Wembley-Arena auf die Bühne. Die BBC hat zu einer Abschluss-debatte geladen, unter den Kontrahentenan den Stehpulten sind Boris Johnson unddie deutschstämmige Labour-Frau Gisela Stuart, die beide für den Brexit kämpfen.Für die Gegenseite treten der neue Lon-doner Bürgermeister Sadiq Khan und RuthDavidson an, die Chefin der schottischenKonservativen.

    Es dauert nicht lange, bis in Wembleydeutlich wird, wie tief das Land gespaltenist. Boris Johnson ruft: „Wir müssen wie-

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    Börse in Chicago nach der Abstimmung: Das britische Pfund fällt und fällt

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    erlebt. Die Völker und ihre Politiker schauen zuerst aufsich selbst und den eigenen Nutzen. Das lässt die Solida-rität zerbröseln. Zunächst zeigten sich die Deutschen nichtgerade begeistert davon, den Griechen aus ihrer Finanznotzu helfen. Dann ließen die Nachbarn die Deutschen inder Flüchtlingskrise weitgehend allein.

    Europa ist immer noch eine große Insel des Wohl-stands und des Friedens in der Welt. Aber schautman auf die Herausforderungen, die vor ihm liegen,kann einem mulmig werden.Frankreich, neben Deutschland die stärkste Macht der

    EU, ist arg von Problemen gebeutelt, wirtschaftlicheSchwäche, Streik, Terror. Das stolze Land schafft es derzeitnicht, auf Augenhöhe mit Deutschland KraftzentrumEuropas zu sein.

    Der Rechtspopulismus ist auf dem Vormarsch, in Frank-reich, Österreich, Deutschland, den Niederlanden. Er ent-springt nationalem Denken und ist damit mindestens skep-tisch gegenüber der EU, manchmal auch offen feindlich.

    In Polen und Ungarn zeigen sich antidemokratischeTendenzen. Presse und Justiz stehen unter Beschuss. Weraber die Freiheit und Unabhängigkeit von Journalistenund Richtern angreift, macht den ersten Schritt in den autoritären Staat.

    In Rumänien, Bulgarien und Kroatien sind die Staatenimmer noch schwach, ist die Politik stark von Korruptionunterwandert, von gutem Regieren kann kaum die Redesein.

    Griechenland ist ökonomisch nicht reif für den Euround kann nur mit Finanzhilfen in der Währungsunion ge-halten werden. Der Reformprozess kommt kaum voran.In Ländern wie Italien oder Spanien sehnen sich vielenach dem autonomen Wirtschaften zurück, ohne deut-schen Spar- und Reformdruck.

    Der Kontinent liegt nahe an den arabischen Kriegs- und

    Krisenstaaten, die Millionen Flüchtlinge produzieren oderFlüchtlinge aus südlicheren Teilen Afrikas nicht aufhaltenkönnen. Über die Flüchtlingskrise ist Europa zudem mitder Türkei und seinem zunehmend autoritären HerrscherErdoğan verstrickt.

    So sieht es aus. Und das sind nur die großen Probleme.Für jedes gibt es eigene Gründe, aber wer auf das Gesamt-bild schaut, muss den Eindruck haben, dass hier eine Mengenicht zusammenpasst, dass dieser Kontinent disparat ist,dass es bislang weder ökonomisch noch politisch gemein-same Standards gibt. Dazu kommt der wachsende Unwille,sich von einem Zentrum – Brüssel, Berlin – hineinregierenzu lassen, sich dessen Standards zu unterwerfen.

    Die große europäische Vision zielt auf einen Bun-desstaat. Die Länder geben schrittweise ihre Sou-veränität und Staatlichkeit auf und werden schließ-

    lich von Brüssel aus regiert, als Vereinigte Staaten vonEuropa. Das ist ein schöner Traum, aber er schafft es nichtin die Realität hinein. Die Briten haben diesem Traumnie angehangen. Sie wollten einen losen Zusammen-schluss, von dem sie wirtschaftliche Vorteile haben. Nunwollen sie gar nichts mehr von der EU. Andere könntenfolgen. Auch in den Niederlanden liebäugelt mancher miteiner Volksabstimmung. Viele Deutsche sind ebenfallsskeptisch, wissen aber wohl, dass sie als Exportnationstark von der EU profitieren, und sollten wissen, dass ihnen der europäische Vereinigungsprozess geholfen hat,von der Parianation der Welt zu einem geschätzten undgemochten Land zu werden.

    Deutschland braucht Europa, und deshalb sollte es eineMenge tun, um die Europäische Union zu erhalten. Aberwas für eine Union sollte das sein?

    Es geht immer noch darum, die Einheit zu erhalten.Der Brexit ist zwar furchtbar, weil Großbritannien ein sowichtiges Land ist, mit tief verankerten liberalen und demokratischen Werten. Aber man muss sich um diesesLand ohne EU nicht sorgen. Es bleibt eine Demokratie,es bleibt im westlichen Lager. Russland wird Großbritan-nien nicht auf seine Seite ziehen können. Bei anderenStaaten kann man sich da nicht sicher sein. Sollte Grie-chenland die Eurozone verlassen, wird es anderswo An-lehnung suchen.

    Dennoch gilt das eingangs Gesagte, die Stunde nullkann eine Befreiung sein, und das heißt nach dem Brexit:Es ist nicht gelungen, die europäische Einheit zu erhalten,weshalb es nicht mehr nötig ist, die Fiktion einer Einheitunter allen Umständen zu erhalten. Die Welt weiß nun,dass dieses Konstrukt brüchig ist. Es gibt in dieser Hinsichtnichts zu verteidigen. Aus dieser Erkenntnis kann man etwas machen.

    Es ist jetzt möglich, kühl darauf zu schauen, wo Einheitnötig ist und wo nicht. Das bedeutet: Abschied von derIdeologie des Gleichschritts. Europa braucht noch immereine große Zahl von Menschen, um im Konzert der Welt-mächte ernst genommen zu werden. Aber es kann ver-schiedene Stufen der Einheit geben.

    Für Deutschland bleibt Frankreich der wichtigste Part-ner. Seit dem Ausscheiden der Briten ist er nochwichtiger geworden. Europa kann nur funktionieren,wenn die deutsch-französische Achse halbwegs intakt ist.Das ist sie derzeit nicht, weil Frankreich wirtschaftlichden Anschluss verloren hat und Augenhöhe nur noch eineBehauptung ist, an die niemand glaubt. Deutschland mussFrankreich helfen, durch politische und ökonomische So-

    lidarität. Das Beste wäre ein Plan für einen noch engerenpolitischen und ökonomischen Zusammenschluss, zuerstin der Finanz- und Sicherheitspolitik.

    Die anderen europäischen Partner werden eingeladenmitzumachen. Aber sie dürfen nur mitmachen, wenn siekönnen. Das heißt, wenn sie die Standards erfüllen. Sokönnte sich ein Kerneuropa herausbilden, eine Koalitionder Willigen und Fähigen. Die anderen können natürlichin der EU bleiben, müssen sich aber anstrengen, um ihreInstitutionen und ihre Wirtschaft zu reformieren. Wer esnicht schafft, hinkt halt hinterher. Und Standard heißt dies-mal Standard. Schummeleien und Aufweichungen wie beiden Aufnahmekriterien für den Euro werden nicht geduldet.

    Der Euro bleibt die europäische Währung. Es ist dasZiel, alle Mitglieder im Euro zu halten, aber es gilt nichtmehr der Grundsatz, dass die Einheit um jeden Preis er-halten werden muss. Wer sich nicht reformieren will, wervon einem Rettungspaket ins nächste schlittert, wird nichtmehr aufgehalten, wenn er meint, mit eigener Währungbesser klarzukommen. Das ist bitter, aber Einheit an sichhat seinen Wert verloren. Es geht jetzt um die Fakten,um das Miteinanderkönnen. Das zählt dann doch mehrals russische Versuchungen.

    Auch dieses neue Europa ist eine Utopie, ein Traum.Es wird schwer genug sein, eine deutsch-französische Ein-heit zu bilden, einen festen Kern, von dem aus sich Europaentwickeln kann. Aber es lohnt sich, einen europäischenTraum zu haben, auf ein Ziel hinzuarbeiten. Der Brexitist kein Ende, sondern ein Beginn, eine Stunde null, dieder Kontinent gut nutzen muss.

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    22/14022 DER SPIEGEL / Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel

    Außenpolitik

    Sanfte Töne Richtung MoskauSeehofer springt Außenminister Steinmeier wegen Lockerung der Russlandsanktionen bei.

    CSU-Chef Horst Seehofer hat sich in der Russlandpolitik aufdie Seite Frank-Walter Steinmeiers geschlagen. „Die CSU istfür den Abbau der Russlandsanktionen“, sagte Seehofer.

    „Sanktionen dürfen kein Dauerzustand sein. Blockdenken istnicht mehr zeitgemäß.“ Steinmeier hatte sich wie SPD-ChefSigmar Gabriel für einen schrittweisen Abbau der wegen derUkrainekrise verhängten Sanktionen ausgesprochen. Bun-deskanzlerin Angela Merkel fordert vor jeglicher Lockerungdie Umsetzung des Minsker Friedensabkommens. Unter-stützung erhielt Steinmeier auch von EntwicklungsministerGerd Müller. Auf der Sitzung der CSU-Landesgruppe imBundestag sagte Müller am Montag, die Warnung des Au-ßenministers vor Säbelrasseln des Westens gegenüber Mos-

    kau sei 75 Jahre nach dem Überfall Deutschlands auf dieSowjetunion berechtigt. Gegen die Linie Müllers und See -hofers regt sich in der Partei indes heftiger Widerstand. „Ge-

    rade wegen der Geschichte müssen wir deutlich machen,dass wir glasklar an der Seite Polens und des Baltikums ste-hen“, sagte CSU-Außenpolitiker Florian Hahn in der Landes-gruppe. „Wenn wir wegen der Menschenrechtslage denFlüchtlingsdeal mit der Türkei kritisieren, dann müssen wirauch bei Putin stehen.“ Auch CSU-LandesgruppenchefinGerda Hasselfeldt stellte sich gegen Seehofer. Einen Abbauder Sanktionen dürfe es erst geben, wenn das Minsker Ab-kommen erfüllt sei, sagte sie. Die Äußerungen Steinmeiersseien in Wortlaut und Inhalt nicht angebracht gewesen. ran

    S V E N

    H O P P E / P I C T U R E A L L I A N C E / D P A

    Seehofer, Edmund Stoiber im Februar bei Wladimir Putin

    BundeswehrAuslandseinsätzeteurer als gedachtDas Bundesverteidigungs-ministerium hat in den ver-gangenen zehn Jahren dieKosten für Auslandseinsätzeder Bundeswehr stets zu nied-rig veranschlagt. Die einge-planten Mittel mussten jedesJahr nach oben korrigiertwerden, oft um mehrere Hun-dert Millionen Euro, wie auseinem bisher unveröffentlich-ten Bericht des Ministeriumsan den Haushaltsausschuss

    des Bundestags hervorgeht.Im Jahr 2009 hatte das Wehr-ressort für den Afghanistan-einsatz und andere internatio-nale Missionen 580 MillionenEuro eingeplant, tatsächlichlagen die Kosten bei 1,1 Mil-liarden Euro. Im folgendenJahr korrigierte das Ministe -rium den „Soll-Ansatz“ zwarnach oben, die realen Kostenüberstiegen aber auch diesePlanungszahlen deutlich: um527 Millionen Euro. 2011 wa-ren es sogar 647 MillionenEuro. Und selbst im vorigenJahr, die Auslandseinsätze

    waren schon deutlich redu-ziert, lagen die Kosten knapp50 Prozent über der Planung.

    Weil sich „kurzfristig“ dieRahmenbedingungen für Aus-landseinsätze änderten, soheißt es in dem Schreiben anden Haushaltsausschuss, lie-ßen sich Kosten nur „einge-schränkt prognostizieren“.Gesine Lötzsch (Linke), Vor-sitzende des Haushaltsaus-schusses, vermutet, dass dieKosten „vorher künstlichkleingerechnet werden“, umdie Zustimmung der Abge-ordneten zu den Auslands -einsätzen zu bekommen. Dassei „eine systematische Täu-schung des Parlaments“. was

    J O H A N N E S

    A R L T / L A I F

    Deutsche Soldaten in Kunduz

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    NPD-VerbotRichter-NeuwahlverschiebenUnionsgeführte Länder imBundesrat wollen offenbardie Chancen auf ein Verbotder NPD dadurch wahren,dass sie die überfällige Neu-wahl eines Bundesverfas-sungsrichters weiter hinaus-zögern. Die Amtszeit deseinst von der CDU nominier-ten Richters Herbert Landaulief eigentlich schon im Aprilaus. Landau sitzt im ZweitenSenat des Bundesverfassungs-gerichts, der über den Ver-botsantrag des Bundesrats ge-gen die rechtsextremistischeNPD berät. Der Bundesratist auch für die Wahl seinesNachfolgers zuständig, bisdieser gewählt ist, mussLandau weiter im Amt blei-ben. Scheidet Landau aus,bevor ein Urteil unterschrifts-

    reif ist, würden sich dieChancen auf ein Verbotder NPD zumindest rechne-risch verringern – denndafür braucht es mindestenssechs Stimmen der achtursprünglich am Verfahrenmitwirkenden Richter.Aus dem Bundesrat heißtes nun, ein Landau-Nach-folger solle nicht gewählt wer-den, solange das Verbots-verfahren läuft.

    Das „Bestreben, durch Verschieben einer Richter-wahl den Antrag abzu- sichern, den der Bundesratselbst gestellt hat“, sagtder Düsseldorfer Parteien-rechtler Martin Morlock, „berührt die Fairnessdes Verfahrens und könntedessen erfolgreichen Ab-schluss wiederum selbstgefährden“. Mit einem Urteilist frühestens im August zurechnen. hip, stw

    UmweltGefährlicheStickstoffbelastungDas Bundesumweltministe-rium warnt vor den dramati-schen Folgen von Stickstoff-belastungen für die Umwelt.„Die ökologische Tragfähig-keit unserer Erde in Bezugauf die Stickstoffbelastung istüberschritten“, heißt es in ei-nem achtseitigen Eckpunkte-papier aus dem Haus vonBarbara Hendricks (SPD).„Erhöhte Emissionen reakti-ver Stickstoffverbindungen inWasser, Luft und Boden“führten auch hierzulande zu

    „Schädigungen von Men-schen, Natur und Umwelt“.Hauptursachen seien die über-mäßige Nutzung von Mineral-dünger in der Landwirtschaft,die Kohleverstromung undder „hohe Anteil von Diesel-fahrzeugen“. Hohe Belastun-gen von Stickstoffverbindun-gen in der Umwelt könnendie Ozonschicht schädigenund die Artenvielfalt gefähr-den. Das Umweltministeriumschlägt vor, etwa nach demVorbild der CO²-Einsparzieleeine „nationale Zielgröße“zu vereinbaren. Außerdemwird erwogen, den Ökoland-bau stärker zu fördern. csc

    FreihandelsabkommenBundestag sollabstimmenDer Bundestag soll nun dochüber das europäisch-kana-dische HandelsabkommenCeta abstimmen. Bundes-kanzlerin Angela Merkel sagte im Kabinettsfrühstückder Unionsminister am Mitt-woch, angesichts der hitziggeführten öffentlichen De-batte über internationaleHandelsverträge sei eine Befassung des Parlamentssinnvoll.

    Auch in der jüngstenCDU-Präsidiumssitzung er-klärte Merkel den Bundes-tagsbeschluss für unverzicht-bar. Sonst werde es nochschwieriger, später auchdas FreihandelsabkommenTTIP zwischen der EU undden USA durchzusetzen.Ob der Bundestag zustim-men muss, ist rechtlich umstritten. Nach Auffassungder EU-Kommission mussnur das Europäische Par-lament über die Handels -verträge abstimmen, nichtdie nationalen Parlamente.

    Herbert Reul, Chefder Unionsgruppe im EU-

    Parlament, warnt, die Ab-kommen könnten „zerredet“ werden: „Wenn Europanicht mehr allein entscheidet,wird Ceta scheitern.“Die SPD hingegen fordertschon lange, dass derBundestag sich mit Cetabefasst. ama, ran

    23DER SPIEGEL /

    Deutschland

    T H O M A S R A U P A C H

    Kohlekraftwerk in Neurath

    MigrationMehr Flüchtlingeüber die SchweizDie Bundespolizei verzeich-net eine gestiegene Zahl vonFlüchtlingen, die über die

    Schweiz nach Deutschlandgelangen. So wurden ander Grenze zwischen Baden-Württemberg und derSchweiz laut Bundespolizei-direktion Stuttgart bisher imJuni 503 illegal Eingereistefestgestellt, im gleichen Zeit-raum 2015 waren es nur 320.

    Von Januar bis Mai 2016 reis-ten 975 Menschen auf diesemWeg ein. Die Migranten kä-men zum Großteil aus denLändern Nordafrikas und derSub-Sahara, sagt Steffen Zai-ser, Sprecher der Bundespoli-

    zeidirektion Stuttgart. Zwaretabliere sich dieser Wegnoch nicht als Alternative fürdie Balkanroute, gleichwohlplant die Bundespolizei, naheder Schweizer Grenze eineBearbeitungsstraße einzurich-ten, wo Asylbewerber regis-triert werden sollen. fri

    GesetzgebungGroKo auf SpeedDie Große Koalition will um-strittene Vorhaben mit einemVerfahrenstrick noch vor derSommerpause durch den Bun-desrat bringen. Die Regie-rungsfraktionen von Unionund SPD haben die Länder-kammer gebeten, die Gesetzezu erneuerbaren Energien(EEG), Fracking und Integra-tion fristverkürzt zu beschlie-ßen. Aus einer Mail der Uni-onsfraktion geht hervor, dassdas EEG am 8. Juli erst imBundestag und sofort danachim Bundesrat beschlossenwerden soll. Beim Integra-tionsgesetz läge nur ein Tagzwischen der Entscheidungbeider Kammern.

    Normalerweise hat derBundesrat drei Wochen Zeit,Gesetze aus dem Bundestagzu beraten. Über die Fristver-kürzung entscheidet der Stän-dige Beirat des Bundesrats,in dem die Bevollmächtigtender Länder sitzen. Wider-stand gegen die Gesetzge-bung im Schnelldurchlauf istkaum zu erwarten: 14 der 16Vertreter kommen von Unionund SPD. Am Mittwoch

    stimmte der Ständige Beiratder Fristverkürzung beim Antiterrorgesetz und der Erb-schaftsteuer zu. Eigentlichsoll das Instrument nur in be-sonders dringenden Fällen an-gewandt werden. In diesemJahr wurden schon 28 Vorha-ben fristverkürzt beraten. sve

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    KriminalitätWeniger Polizistenam Kölner Bahnhof Die Sicherheitsmaßnahmenim Kölner Hauptbahnhof,die nach den Silvesterüber-griffen gesteigert worden wa-ren, sind deutlich reduziertworden. Wie aus einem ver-traulichen Bericht der Bun-despolizei hervorgeht, kla-gen die dort eingesetzten Be-amten inzwischen über zuwenig Personal. Es bestehe„dauerhafter Unterstützungs-bedarf“ gerade an den Wo-chenenden, heißt es in demPapier. Mehrfach seien zu-letzt Polizisten abgezogenworden, um an anderen Stel-len im Bundesgebiet Lücken

    zu füllen. Die Reviere derBundespolizei in Bonn, Sie-gen und Siegburg hätten zeit-weise vollständig geschlossenwerden müssen, so der Ver-merk. Auch die nach der Sil-vesternacht auf dem KölnerBahnhofsvorplatz installier-ten Lichtmasten wurden ab-gebaut. Die Zahl der Dieb-stähle im Bahnhof ist immernoch hoch. Es handle sichin dieser Hinsicht um einen„absoluten Brennpunkt“,heißt es in dem Papier. Köl-ner Bundespolizisten ärgertvor dem Hintergrund beson-ders, dass sie auch die VillaHammerschmidt bewachenmüssen, den selten genutz-ten zweiten Amtssitz desBundespräsidenten – und

    zwar auch, wenn Privatleutedie Räume etwa für Hoch-zeiten mieten. Ein Sprecherder Bundespolizei teilte mit,man habe nach Silvester Ein-satzkonzepte überarbeitet.Der Personalbedarf werde

    ständig bewertet und den Er-fordernissen angepasst. Esgebe daher keine Sicherheits-defizite für die Bevölkerung.Allerdings sei die Belastungfür die Beamten „zweifels -ohne größer geworden“. jdl

    24 DER SPIEGEL /

    Deutschland

    AtomraketenVertraut uns!Die Bundesregierung ist ineiner misslichen Lage. DieUS-Regierung beschuldigtRussland, den INF-Vertragzur Abrüstung aller atoma-ren Mittelstreckenraketenaus dem Jahr 1987 zu verlet-zen. Angeblich hat Moskaueinen atomaren Marschflug-

    körper vertragswidrig entwi-ckelt. Washington will aberweder kundtun, um welchesWaffensystem es geht, nochBeweise vorlegen.

    Mit dem INF-Vertrag hat-ten sich beide Supermächteverpflichtet, alle landgestütz-ten nuklearen Mittelstrecken-waffen zu verschrotten undkünftig auf diese zu verzich-

    ten. Das Abkommen hatteeinst das Ende des KaltenKrieges eingeläutet. DieAmerikaner wollen mit derGeheimniskrämerei ihrenachrichtendienstlichen Me-thoden schützen. Die Verbün-deten sollen ihnen vertrauen.Bislang hat Berlin sich dieUS-Vorwürfe nicht zu eigengemacht. Westliche Expertenfürchten, dass Russlands Prä-

    sident Wladimir Putin denINF-Vertrag kündigt, falls dieNato auf ihrem Gipfel imJuli die geplante Aufrüstungin Osteuropa beschließt. DieKündigungsfrist des INF-Vertrags beträgt sechs Mona-te, anschließend könnte Pu-tin den neuen Marschflugkör-per produzieren – wenn esihn denn wirklich gibt. klw

    N O V O S T I / S Y G M A

    Verschrottung sowjetischer SS-20-Mittelstreckenraketen 1988

    Kölner Bahnhofsvorplatz in der Silvesternacht 2015

    VerfassungsschutzGesichtserkennungim EinsatzDas Bundesamt für Verfas-sungsschutz (BfV) setzt Sys-teme zur automatischen Gesichtserkennung mutmaßli-cher Extremisten und auslän-discher Spione ein. Das gehtaus der Antwort auf eineKleine Anfrage der Bundes-

    tagsfraktion der Linken her-vor. Entsprechende Softwarewerde „in Analyseanwendun-gen mit dem Ziel der Perso-nenidentifizierung“ genutzt,heißt es in der Antwort derBundesregierung, die als ver-traulich eingestuft ist („nurfür den Dienstgebrauch“).Diese Systeme könnten dazudienen, Personen auf Fotos,in Überwachungsvideos undin Filmen aus sozialen Netz-werken zu erkennen, zumBeispiel in Propagandavideosdes „Islamischen Staats“.Der russische kommerzielleAnbieter FindFace etwa hatmit seinem AlgorithmusFaceN nach Analysen vonUS-Forschern bereits Treffer-quoten von etwa 70 Prozent.Wo genau und wie erfolg-reich das BfV seine Systemeeinsetzt, ist unklar. Manbeobachte den Markt für sol-che Systeme „regelmäßigmit dem Ziel der Verbesse-rung“, heißt es in der Ant-wort. fis, rom

    AsylverfahrenMangelhafteKontrolleFachleute des Bundesamtsfür Migration und Flücht-linge (Bamf) kritisieren in ei-nem internen Papier diemangelhafte Qualitätssiche-rung der Asylverfahren. Imvergangenen Jahr habe dashierfür zuständige Referat

    gerade mal 0,01 Prozent der282700 Asylentscheidungenstichprobenartig überprüfenkönnen. Die Beschleunigungder Verfahren und die großeZahl neuer, unerfahrenerMitarbeiter in der Behördekönnten nun zu einer „signi-fikanten Ausweitung“ vonProblemen führen. Um nichtzu einer reinen „Alibifunk -tion“ zu verkommen, müssedie Qualitätssicherung drin-gend aufgestockt und verbes-sert werden, so die Forde-rung in dem auf März datier-ten Papier. Bisher hätten dieKontrolleure deutlich weni-ger Mitarbeiter als vergleich-bare Einheiten in Großbri-tannien und Schweden, wodie Zahl der Asylanträge umein Vielfaches geringer ist.Das Bamf sagte auf Nachfra-ge, es gebe ein Konzept derQualitätssicherung, „das wiran die Bedingungen einerstark gewachsenen Organisa-tion anpassen und das jetztin die Umsetzung geht“. wow

    M A R K U S B O E H M

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    Neulich wollte ein deutscher BürgerClaudia Roth sprechen. Es war 4.59Uhr in der Nacht, als er zum Hörergriff und die Nummer ihres Büros wählte.Er ahnte wohl, dass um diese Zeit niemandrangehen würde, aber er ahnte wohl auch,dass es einen Anrufbeantworter gibt – unddass seine Nachrichten die Richtige errei-chen würden. Mehr als 20-mal sprach derMann in dieser Nacht aufs Band. „Du blö-de Möse“, sagte er, „du Warzenschwein“,„du bist zu dumm zum Scheißen“. Am frü-hen Morgen gab er auf.

    Roth ist seit über 30 Jahren in der Poli-tik, sie war Vorsitzende ihrer Partei, jetztist sie Vizepräsidentin des Bundestags. Siewar schon häufig Ziel von Spott und An-feindungen, aber was in letzter Zeit vorsich geht, hat auch sie noch nicht erlebt.

    Neben dem Holztisch in ihrem Bundes-tagsbüro steht jetzt ihre Mitarbeiterin, siehält einen Zettel in der Hand, darauf die

    Abschrift der Anrufe aus jener Nacht. Rothwürde sie gern sehen, aber die Mitarbeite-rin hält die Blätter fest. „90 Prozent derSachen erzählen wir dir lieber gar nicht,Claudia“, sagt Roths Büroleiterin.

    „90 Prozent?“, ruft Roth. „Ich fass esnicht!“Was sie weiß, genügt eigentlich. Sieweiß, dass Lutz Bachmann öffentlich sagte,

    jemand wie Claudia Roth solle standrecht-lich erschossen werden. Roth wurde „Tür-kenflittchen“ genannt, „dumme Fotze“.Sie sitzt an ihrem Holztisch und sagt, dasssie eigentlich klarkomme mit dieser neuenDimension des Hasses. Immer häufigeraber fragt sie sich, wenn sie Bürger trifft:„Sieht der mich nun gerade auch nur alsTürkenflittchen?“ Manchmal schließt siedie Tür in ihrem Zimmer, setzt sich unddenkt: „Es kommt immer näher.“

    Wohin die Verschärfung des gesellschaft-lichen Klimas führen kann, die Verrohung

    des Umgangs, die Radikalisierung des poli-tischen Diskurses, das wurde vor einer Wo-che im nordenglischen Birstall sichtbar.Auf offener Straße tötete ein Mann die 41-

    jährige Labour-Abgeordnete Jo Cox mitMesserstichen und Schüssen. Cox’ Mörderhatten ihre politischen Überzeugungennicht gepasst, ihr Werben für Humanitätgegenüber Flüchtlingen, ihr Kampf gegenden Brexit. „Britain first!“, brüllte derMann, als er auf Cox schoss.

    Man muss kein Schwarzmaler sein, umsich in diesen Tagen Sorgen um die De-mokratie zu machen – nicht nur in Groß-britannien. In der Weimarer Republik je-denfalls, dem ersten demokratischen Ex-periment in Deutschland, gehörte ungezü-gelter Hass auf politisch Andersdenkendeebenso zum Alltag wie die Einschüchte-rung von Politikern und Morde an Amts-trägern. Es dauerte nicht lange, dann hattedieser Hass auch die Demokratie getötet.

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    Galgen auf Pegida-Demonstration in Dresden: Die Temperatur steigt

    „Deutschland erwache!“Extremismus Der Hass auf Politiker nimmt dramatische Formen an. Morddrohungen sind nichtselten, es entsteht eine Verrohung, die demokratiegefährdend ist. Die Behörden sind überfordert.

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    Deutschland

    Selbst ein besonnener Denker wie derkonservative Historiker Paul Nolte dia -gnostiziert inzwischen eine „quasirevolu-tionäre“ Unruhe im Deutschland der Ge-genwart.

    Die drastische Zunahme von Hass undGewalt gegenüber Politikern in den ver-

    gangenen Monaten ist Teil dieses Erosi-onsprozesses. Der Hass trifft nicht nurBundeskanzlerin Angela Merkel, die we-gen ihrer anfänglich liberalen Flüchtlings-politik zum Hauptfeind der selbst ernann-ten „besorgten Bürger“ wurde. Er trifftBundestagsabgeordnete wie Lokalpoliti-ker, Bezahlte wie Ehrenamtliche, Linkewie Rechte.

    So hat das Klima der Republik eine Tem-peratur erreicht, die Schlimmeres befürch-ten lässt. Noch hat es in der Bundesrepu-blik keinen politischen Mord wie in Eng-land gegeben. Aber die Versuche warenda, etwa in Köln, wo ein rechtsradikalerTäter die heutige OberbürgermeisterinHenriette Reker mit einem Messer tötenwollte und sie schwer verletzte.

    Das Bundeskriminalamt (BKA) hat ineinem internen Bericht kürzlich erstmalsausgewertet, wie oft es im Zusammenhangmit der Flüchtlingsdebatte zu Straftatengegen „Amts- und Mandatsträger“ kommt.Für das erste Vierteljahr 2016 zählte man115 Taten – mehr als eine pro Tag. StandEnde Juni waren es 202. Volksverhetzung.Sachbeschädigung. Nötigung. Es stehe zubefürchten, dass die rechte Szene ihre Agi-tation gegen Politiker „weiter intensiviert“,

    schreibt das BKA, wobei „in Einzelfällenauch mit Tötungsdelikten zu rechnen ist“.Die Messerattacke auf Reker belege dieseEinschätzung „auf dramatische Weise“.

    Doch die Zahlen der Polizei bilden nureinen Bruchteil des Hasses ab, der sich ge-gen Politiker richtet. Eine Zeitschrift desStädte- und Gemeindebundes befragte ge-rade 1000 Bürgermeister. Knapp die Hälfteberichtete von Beleidigungen, weil dieKommune Flüchtlinge aufgenommen habe.Dazu gehören böse Briefe und Drohmails,aber auch tote Ratten vor der Haustür.Auch Gewalt gegen Mitarbeiter der Ver-waltung ist keine Seltenheit mehr.

    Die Wurzeln für diese Eruption von Ge-walt wurden dabei von Politikern selbstgepflanzt. Es sind meist völkisch gesinnteDemagogen, die in ihren Interviews undReden den Bürgern erst die Rechtfertigungzur Anwendung von Gewalt verschaffen.

    Es sind Männer wie der britische Rechts-ausleger Nigel Farage, der erklärte, es seilegitim, wenn Bürger den Eindruck hätten,„dass Gewalt der nächste Schritt sei“.Wenn AfD-Spitzenleute wie Björn Höckeoder Alexander Gauland dem Volk ein-bläuen, dass es nun darum gehe, Deutsch-land „vor seinen Feinden“ oder gar „vordem Untergang“ zu verteidigen, mussman sich nicht wundern, wenn sich deut-

    sche Bürger ermutigt fühlen, zur Tat zu schreiten.

    „Rhetorik hat Konsequenzen“, sagte derbritische Labour-Abgeordnete StephenKinnock, der ein Büro mit Jo Cox teilte,während seiner Trauerrede im Parlamentvon Westminster.

    Zu den Konsequenzen in Deutschlandgehört inzwischen, dass ein prominenterSpitzenpolitiker permanent Angst um sei-ne Kinder hat. Ihm wurde angekündigt,dass er sich deren Verbrennung bald auf Video anschauen könne. Wie viele derPoli tiker, mit denen der für dieseRecherche sprach, wollte er seinen Namennicht nennen – aus Angst, potenzielle Ge-walttäter noch stärker auf sich aufmerksamzu machen.

    Im Vergleich zu Morddrohungen gegenKinder wirkt der Hinweis, den Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD)erhielt, beinahe harmlos. Seine Jogging-strecke werde von Leuten aus dem gewalt-bereiten Milieu ausgespäht, hieß es. Jägerverlegte daraufhin seinen Frühsport auf den Weg zur Arbeit: So genießt er nämlichPersonenschutz.

    Die neue Angst verändert nicht nur Jog-gingzeiten, nicht nur den Alltag von Man-datsträgern. Die neue Kultur des Hasseshat längst Auswirkungen auf den politi-schen Diskurs im Land. Wenn es so wei-tergeht, verändert sie auch das Wesen derliberalen Demokratie.

    Schon jetzt hat die Strategie der Ein-schüchterung konkrete Folgen. Seit Beginn

    der Flüchtlingskrise habe sich etwa die„Bedrohungssituation der Bundeskanzle-rin“ deutlich verschärft, verrät ein Sicher-heitsexperte des Innenministeriums. AlsBeleg dienen den Sicherheitsleuten Hass-mails, konkrete Drohungen wie öffentlichzur Schau getragene Galgen mit einer er-

    hängten Merkel-Puppe oder Straßentrans-parente, auf denen sie als „Volksverräterin“beschimpft wird.

    Auch Angela Merkel verhält sich nichtmehr so wie früher. Da gab es für die Kanz-lerin bei Wahlkampfveranstaltungen seltenAbsperrgitter, die sind inzwischen Pflicht.

    Heute tritt Merkel im Wahlkampf mög-lichst nur noch in Hallen auf, sie verzichtet,wo es geht, auf Open-Air-Veranstaltungen.

    Fast täglich gibt es neue Schauerge-schichten aus dem Alltag deutscher Politi-ker und Funktionsträger. Es scheint dabeiegal zu sein, ob sie am Berliner Kabinetts-tisch sitzen, in der sächsischen Kommunal-politik oder in der Stadtverwaltung Düs-seldorf.

    Michael Richter wurde 2009 für die Par-tei Die Linke in den Stadtrat von Freitalgewählt, 40000 Einwohner, im SchattenDresdens gelegen. Richter ist zudem Mit-glied der „Initiative für Weltoffenheit undToleranz“ in Freital und Umgebung – erist pro Flüchtlinge. So wurde er zur Ziel-scheibe der Fremdenfeinde.

    Im vergangenen Jahr schlugen Unbe-kannte nachts die Seitenscheibe seines grü-nen VW Golf ein und ließen im Innereneinen Sprengsatz der Marke „Super Cobra12“ detonieren. Kurz darauf flog die Brief-kastenanlage seiner Stellvertreterin in dieLuft, zerstört durch „Super Cobra 6“.Dann knallte es im örtlichen Büro der Lin-ken, die Scheiben gingen zu Bruch. ZehnTage später klebten zwei Zettel an der not-dürftig mit Sperrholz gesicherten Fenster-

    öffnung. Auf einem stand: „Im Osten istes Tradition, da knallt es vor Silvesterschon.“ Auf dem anderen: „To Do List …“Dann kamen vier Namen, darunter dervon Richter und seiner Stellvertreterin.Beide Namen waren mit einem Haken ver-sehen. Die Spur der Täter führte ins Um-

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    A R I J A L A L / R E U T E R S

    Grünen-Politikerin Roth mit Flüchtlingskindern im Nordirak: Anrufe in der Nacht

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    feld der rechtsextremen Terrorgruppe Freital.

    Richter sagt, dass er inzwischen nichtmehr derselbe sei, dass die Gewalt ihn undseinen Alltag verändert habe. „Ich lassekeine Routine mehr aufkommen, nehmeunterschiedliche Wege und verlasse zu un-terschiedlichen Zeiten das Haus.“ Vergan-genen Freitag hingen an Richters Haustürwieder Zettel. „Richter, wir wissen, wo Duwohnst“, stand auf dem einen. Auf demanderen: „Richter, wir kriegen Dich“.

    Immer mehr Bürger sehen in ihrenVolksvertretern vor allem Verbrecher.Dass zu ihren Biografien meist viele JahreEngagement für das Gemeinwohl gehö-ren, dass sie Tausende Stunden unbezahltbei Diskussionsrunden, Gremiensitzun-gen oder Demonstrationen verbrachten,bei Veranstaltungen also, die den Wesens-kern einer lebendigen Demokratie aus-machen, scheint egal zu sein. Die Parteienkonnten sich zuletzt ohnehin nicht überallzu großes Interesse an Mitarbeit freuen.Wenn es nun aber nicht nur uncool, son-dern gar gefährlich ist, sich für das Ge-meinwohl zu engagieren, verliert die Par-teiendemokratie endgültig ihren Nach-wuchs.

    Das Landeskriminalamt Sachsen führteine Statistik, in der Angriffe auf Wahl-kreisbüros von Mitgliedern des sächsischenLandtags erfasst werden. 2013 gab es 20solcher Übergriffe. 2014 waren es 28 Vor-fälle, im vergangenen Jahr 43. Neben denBüros der Linken werden inzwischen die

    Räume der AfD am häufigsten attackiert.Die radikale Linke schlägt zurück – undträgt so zur Eskalation der Gewalt bei. Esist ein Gewöhnungsprozess im Gang, andessen Ende der Einsatz von Gewalt alslegitimes Mittel der politischen Auseinan-dersetzung stehen könnte.

    In den ersten fünf Monaten des Jahres2016 verzeichnete das LKA Sachsen bereits37 politische Angriffe. Im Rest der Repu-blik mag es zwar etwas weniger gewalttätigzugehen, aber die Tendenz ist auch imWesten eindeutig.

    Der Shitstorm gegen die DüsseldorferFlüchtlingsbeauftragte Miriam Koch be-gann, als sie ehrenamtliche Helfer suchte.Zuvor war eine Messehalle abgebrannt,die Flüchtlingen als Unterkunft diente.Koch rief über ihre Facebook-Seite zu Hil-fe bei der Essensverteilung in der neuenUnterkunft auf. Die rechte Internetseite„Politically Incorrect“ veröffentlichteKochs Mailadresse und verlinkte unterdem Titel „Deppen zum Schleppen ge-sucht“ auf ihre Seite.

    Der Mob nannte Koch „Asylanten-Hure“ und Ähnliches, mal war es rassis-tisch, mal sexistisch, meist beides. „Es wur-de auch thematisiert, was ich vermeintlichtun müsse, damit meine Schützlinge mich‚bespringen oder befummeln‘“, sagt Koch.

    Sie ist seit 2004 im politischen Betrieb undhat „so etwas noch nicht erlebt“.

    Die Sicherheitsbehörden verfolgen dieBrutalisierung in den sozialen Netzwerkenseit Monaten mit größter Sorge. „Was wirsehen, ist ein hemmungsloser, massenhaf-ter Ausdruck von Hass“, sagt ein hochran-giger Beamter. „Jegliche Form von Hemm-schwelle“ sei außer Kraft gesetzt.

    Seit Monaten warnen Strafverfolger undGeheimdienste intern vor neuen rechtster-

    roristischen Strukturen – die nicht nurFlüchtlinge, sondern auch Politiker ins Vi-sier nehmen könnten. Problematisch fürdie Sicherheitsbehörden ist, dass möglicheTäter nicht aus bekannten Strukturen zukommen scheinen. „Niemand sollte glau-ben, dass radikale Einzeltäter eine Erfin-dung der Islamisten sind“, sagt ein hoherBeamter. „Kleine Anschlagstrupps, die wirkaum erkennen können, können Linke,Rechte und Islamisten leicht organisieren.“

    Wie sehr der Anstieg von Hass und Ge-walt die Sicherheitsbehörden inzwischenüberfordert, mussten neulich jene elf tür-kischstämmigen Abgeordneten erleben,die wegen der Armenien-Resolution desBundestags bedroht wurden.

    Die Beamten benötigten mehrere Tage,um das Ausmaß des Hasses zu begreifen.Ihre Einschätzung änderte sich erst nacheinem denkwürdigen Treffen der Abge-ordneten mit Vertretern des BKA und derBerliner Polizei am Freitag vor zwei Wo-chen in Raum 1554 des Jakob-Kaiser-Hau-ses. Zunächst versuchte man zu beschwich-tigen: Es habe es schon andere Länder ge-geben, die den Völkermord an den Arme-niern als solchen benannt hätten, ohnedass Politikern dort etwas passiert sei.

    Doch dann trugen die Parlamentariervor, wie massiv die Bedrohungen gegen

    sie seien: Beschimpfungen im Netz, aufder Straße, im Taxi. Morddrohungen. Man-che erzählten, dass sie sich nicht mehr inihr Wahlkreisbüro trauten. Andere gehennicht mehr mit ihren Kindern in dieStamm-Eisdiele, aus Angst, dass sich derHass auch gegen ihre Familie richtet.

    Inzwischen schicken die Abgeordnetenihre Terminkalender an die 500 Mitarbei-ter starke Sicherungsgruppe des BKA, diefür den Schutz der Verfassungsorgane inDeutschland zuständig ist. Je nach Anlasswerden die Politiker von Personenschüt-zern begleitet, zum Teil müssen nun auchihre Privatwohnungen geschützt werden.

    „Wir brauchten dringend hundert zusätz-liche Personenschützer“, sagt ein hochran-giger Sicherheitsmann in Berlin – alleinfür den Schutz von Bundespolitikern. DasGrundgesetz mag das freie Mandat der Ab-geordneten garantieren – aber wie freikann jemand sein, der Angst hat?

    Dass Hass und Gewalt den politischenDiskurs zum Verstummen bringen, das de-mokratische Prinzip des Austauschs, vonRede und Gegenrede, ließ sich am 1. Maiauf dem Marktplatz von Zwickau beob-achten. Als Redner war Justizminister Hei-ko Maas angereist, eine der größten Hass-figuren der neuen Rechten.

    Maas war der Erste, der die Pegida-Mär-sche als „Schande für Deutschland“ be-zeichnete und die Tiraden von AfD-MannBjörn Höcke gegen Flüchtlinge als „wider-lich“. Als Maas nach Zwickau reiste, wuss-te er, dass seine Gegner dort sein würden.

    „Lasst uns das Maas-Männchen aus derStadt jagen!“, hatten rechte Gruppen imNetz geschrieben. Die Polizei hatte Maasvon der Kundgebung abgeraten, doch erkam trotzdem. Videos, per Handy gefilmt,dokumentieren auf YouTube, wie der SPD-Mann mit zusammengekniffenen Lippenauf der Bühne steht, wie er sich bemüht,den Chor der gellenden Pfiffe und Schreie(„Volksverräter! Hau ab!“) zu übertönen:„Je länger ihr schreit, je länger bleibe ichhier stehen!“

    Doch irgendwann hielt Maas dem Hassnicht mehr stand. Er beendete seine Rede.Im Anschluss war ein Meet and Greet mitden Zwickauern geplant, ein Austauschmit den Bürgern, aber dazu kam es nichtmehr. Maas floh, eskortiert von BKA-Be-schützern, zu seiner Dienstlimousine. Erlief nicht, diesen Gefallen wollte er seinenGegnern nicht tun, aber er wirkte gehetzt.Zum Abschied traten einige Bürger gegensein Auto. Im Netz werden die Videos vonMaas’ „Flucht“ gefeiert: „Bravo Zwick-au!“, „Weg mit der verrotteten, korrupten,fettgefressenen Politikerriege!“

    Gefeiert wurde die Flucht aus Zwickauauch auf dem AfD-Parteitag in Stuttgart.Ein Mitglied trat spontan an ein Saalmikro.Es gebe sehr gute Nachrichten aus Sachsen:„Justizminister Heiko Maas wurde soeben

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    D A N K I T W O O D / G E T T Y I M A G E S

    Gedenkort für Politikerin Cox in London

    „Rhetorik hat Konsequenzen“

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    Deutschland

    von mutigen sächsischen Bürgern ausZwickau vertrieben.“ OhrenbetäubenderJubel brach aus. Kein AfD-Führungsmit-glied griff ein oder rief zur Mäßigung.

    Zwar würde der Vorstand der Rechts -populisten selbst nie direkt zur Gewalt auf-rufen. Doch klare Urteile gegen Hetze, Ag-

    gressivität und Attacken wie in Zwickaubleiben aus. „Wissen Sie, was wir an Steck-briefen von Linksextremisten erleben, dieunbescholtene Mitglieder verfolgen?“, ant-wortet AfD-Chefin Frauke Petry routine-mäßig, wenn sie nach Gewaltaufrufen ihrerKlientel gefragt wird.

    Es gehört zum Gründungsmythos derAfD, dass nur die eigenen Leute Opfersind. Wurden nicht Farbbeutel und Molo-towcocktails auf Parteibüros geworfen?Wurden nicht auf linksradikalen Seiten Na-men und Daten Tausender AfD-Mitgliederveröffentlicht, in Hamburg sogar auf La-ternenpfählen die Namen von Familien-mitgliedern einer AfD-Politikerin?

    Die Spitzen der Partei wollen den Zornüber die linken Täter keineswegs dämpfen,sie wollen ihn in die richtigen Bahnen len-ken, sprich: instrumentalisieren. Kürzlichrichtete die AfD eine Datenbank für dieErfassung von Angriffen auf die eigenenMitglieder ein. Ihr Name: „Zentrale Erfas-

    sungsstelle Salzgitter“. Es ist eine Anlehnung an die „Zentrale Beweismit-tel- und Dokumentationsstelle“ in Salz -gitter, die das DDR-Unrecht dokumentierthat.

    Mehr oder weniger subtil setzt die Parteiso die Botschaft, dass Deutschland ein Un-

    rechtsstaat sei, dessen Volk sich daher auchmit eigentlich verbotenen Mitteln zurWehr setzen dürfe. Auch sonst trägt dieAfD gezielt zur Verrohung des politischenDiskurses bei. Zum Beispiel, wenn BjörnHöcke auf Marktplätzen fordert, AngelaMerkel müsse „in einer Zwangsjacke ausdem Kanzleramt abgeführt werden“. Par-teivize Alexander Gauland wirbt derweildafür, „Widerstand“ zu leisten, die „Kanz-ler-Diktatorin“ zu stürzen.

    Erich Pipa hat der Hass nun in die Kniegezwungen, er mag nicht mehr. Pipa,Landrat im hessischen Main-Kinzig-Kreis,erhielt im Sommer vergangenen Jahres dieersten Morddrohungen. Der SPD-Politikerhatte im Juli ein Bauprojekt vorgestellt,die Erweiterung eines Flüchtlingswohn-heims. Dabei hatte er den Satz gesagt:„Das Boot ist nicht voll.“

    Kurz darauf ging es los: „Kanaken-Land-rat verpiss Dich“, begann ein anonymerBrief. Das Boot sei „übervoll“, „der Blitz“

    solle Pipa treffen: „Wir wissen fast allesüber Dich. Du Ratte. Fühle dich nur nichtzu sicher!“ Als Absender zeichnete eine„Initiative Heimatschutz Kinzigtal“.

    „Im Schnitt kommt alle zwei Wochen soein Brief“, sagt er. Vor der Kommunalwahlim März wurde ein Pipa-Großplakat mit

    Farbe beschmiert und durchgestrichen.„Volksverräter“, habe jemand auf das Pla-kat geschrieben, erzählt Pipa, dazu dieNeonazi-Parole „Deutschland erwache!“

    Vor eineinhalb Wochen saß Pipa mitPoli zeibeamten vom Staatsschutz zusam-men und fragte, warum es bis heute nichtgelungen sei, einen Täter zu fassen. DieBeamten zuckten mit den Schultern. „Daswar für mich das i-Tüpfelchen.“

    Nach dem Gespräch entschied Pipa, beider Landratswahl im kommenden Jahrnicht mehr anzutreten. „Ich bin zu demSchluss gekommen, dass ich das mir undmeiner Familie nicht zumuten kann“, sagter. „Ich mach den Zirkus nicht mehr mit.“

    Wenn Männer wie Pipa gehen, gehtauch ein Stück von der Demokratie, wiewir sie kannten.

    Melanie Amann, Matthias Bartsch,Markus Feldenkirchen, Horand Knaup,

    Fidelius Schmid, Britta Stuff,Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter

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    Wenn die Kanzlerin in diesen Ta-gen öffentlich auftritt, gibt siegern die Mutmacherin. Von ei-

    nem „großen Auftrag“ spricht AngelaMerkel dann, von „ehrgeizigen Zielen“ so-wie der Zusage, dass „wir als Deutscheweiter mit gutem Beispiel vorangehen wol-len“. So oder so ähnlich ist sie derzeit zuvernehmen, ganz gleich, ob sie in Pekingzum Ehrendoktor ernannt wird oder inDüsseldorf auf dem Deutschen Sparkas-sentag spricht.

    Ein neues „Wir schaffen das“ ist ihre Lo-sung, nur dass es diesmal nicht um EuropasFlüchtlingskrise, sondern um ein anderesbedeutendes Thema geht: den Kampf ge-gen die Erderwärmung, dem sich die in-

    ternationale Staatengemeinschaft auf ih-rem historischen Gipfel Ende vorigen Jah-res in Paris verpflichtet hat. Einen „großenErfolg“ nennt das die Kanzlerin, der nun„intensiv umgesetzt werden“ müsse.

    Die Gelegenheit ist gekommen. AufMerkels Schreibtisch liegt ein gut 60 Seitenstarkes Papier ihrer Minister Barbara Hendricks (Umwelt) und Sigmar Gabriel(Wirtschaft), das die Konsequenzen derPariser Beschlüsse für Deutschland aus-buchstabiert. Wochenlang haben die beiden Sozialdemokraten über Maßnah-men gestritten, die das Klimaversprechenvon Paris mit den wirtschaftlichen Rea-litäten einer exportstarken Industrie -gesellschaft in Einklang bringen sollen.

    Hendricks wollte deutlich mehr, Gabrielweniger.Jetzt haben sie sich auf einen Kompro-miss verständigt, der noch immer weitrei-chend genug ist, aus der Bundesrepublikein anderes Land zu machen. Geht es nachHendricks und Gabriel, soll die größteVolkswirtschaft Europas in nur drei Jahr-zehnten nahezu vollständig auf das Ver-feuern fossiler Brennstoffe wie Öl und Gasverzichten und in eine „treibhausgas -neutrale“ Republik verwandelt werden.

    Dass gehandelt werden muss, ist unbe-stritten. Der vergangene April war lautNasa weltweit der wärmste April, der je-mals registriert wurde. Schon zeichnet sichab, dass 2016 zum dritten Mal hintereinan-

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    Große TransformationKlima Mit einem Plan zum Umbau der Industriegesellschaft setzen die SPD-Minister Hendricksund Gabriel die Kanzlerin unter Druck. Wer ist der bessere Koalitionspartner für die Grünen?

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    Deutschland

    der der globale Hitzerekord gebrochenwird. Und in diesem Jahr sind in der Ant-arktisluft CO²-Konzentrationen gemessenworden, die so hoch sind wie nie zuvor inden vergangenen vier Millionen Jahren.

    Um die Entwicklung zu stoppen, sollDeutschland nun zur Ökogesellschaft wer-den, Schritt für Schritt bis zum Jahr 2050.Wer dann seine Schreibtischlampe ein-schaltet, darf sicher sein, dass der Stromdafür nahezu vollständig regenerativ er-zeugt wird. Auf den Straßen fahren fastausschließlich Elektro- oder Brennstoffzel-lenautos. Steuersystem und Staatsausga-ben sind konsequent auf die FörderungCO²-armer Technologien ausgerichtet.Und die Menschen, für die Wachstum undKonsum heute oft das Wichtigste sind, sol-len lernen, sich in der Stadt vornehmlichmit dem Fahrrad fortzubewegen und deut-lich weniger Fleisch zu essen.

    Der Plan, so viel ist sicher, wird die poli-tische Debatte der nächsten Jahrzehnteprägen. Was Umwelt- und Klimaschützernlängst nicht ausreicht, um die Pariser Zu-sagen einzulösen, geht vielen Gewerk-

    schaftern und Wirtschaftslobbyisten schonzu weit. Die einen sehen das Konzept alsChance, die Bundesrepublik zum Vorreitereiner klimaneutralen Hightech-Ökonomiezu entwickeln. Die anderen fürchten denEinstieg in eine Art ökologische Planwirt-schaft, die unter dem Schlagwort der De-karbonisierung den wirtschaftlichen Ab-stieg Deutschlands organisiert.

    Nicht zuletzt wird der sogenannte Kli-maschutzplan 2050 den heraufziehendenWahlkampf bestimmen. Wenn sie nichtwieder eine Große Koalition bilden wol-len, brauchen Merkel wie Gabriel die Grü-nen, um im nächsten Jahr das Kanzleramtzu erobern. Entsprechend gut ist die Ver-handlungsposition der Ökopartei, wenn esgegen den Industrieflügel bei Union wieSPD geht. Ganz gleich, wem die Grünenam Ende den Vorzug geben: Die Beschleu-nigung des Klimaplans wird der Preis sein,den sie für eine Regierungsbeteiligung for-dern. So viel ist gewiss: Der nächste Kanz-ler wird ein Klimakanzler sein.

    Und so beschreibt das Konzept der bei-den Ressortchefs in Wahrheit eine ArtMinimalprogramm, mit dem DeutschlandsUmweltpolitiker den Umstieg auf eine „grü-ne Ökonomie“ (Hendricks) durchsetzenwollen. Von der Stromerzeugung über denVerkehrs- und Wohnungssektor bis zurLandwirtschaft: In fast allen energieinten-siven Sektoren soll der CO²-Ausstoß biszum Jahr 2030 im Vergleich zu 1990 nahe-zu halbiert werden.

    Um das zu schaffen, sollen Heizungen

    von Gebäuden sowie der Autoverkehr ei-ner „umfassenden Elektrifizierung“ unter-zogen werden. Nicht mehr ganz so enga-giert wie vor dem Paris-Abkommen undin einer ursprünglichen Fassung des Plansnoch vorgesehen, will die Regierung denAusstieg aus der Kohle vorantreiben. DieEnergieerzeugung solle „spätestens bis 2050nahezu vollständig CO²-neutral“ erfolgen,die Kohleverstromung werde „schrittweisean Bedeutung ab- und die Erneuerbarenweiter an Bedeutung zunehmen“. Für diebetroffenen Braunkohleregionen soll es ei-nen sogenannten Regionalfonds geben, mitdem die Wirtschaft vor Ort angekurbeltwerden soll. Das Problem dabei: Nimmtdie Bundesregierung ihren eigenen Planernst und will sie künftig beträchtliche Tei-le des Energieverbrauchs beim Reisever-kehr oder in Gebäuden durch Strom er-setzen, wird der geplante Ausbau der er-neuerbaren Energien bei Weitem nichtausreichen.

    Ein ganzes Land wird umdenken müs-sen, Hausbesitzer zum Beispiel. Neue öl-oder gasb