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Der Weg zum schwedischen Modell Regulierte Selbstregulierung in Schweden 1880–1940 in einem rechtskulturellen Kontext I Die Modernisierung der schwedischen Rechtskultur Die rechtliche Moderne des 20. Jahrhunderts war in Schweden eng mit dem starken demokratischen Sozialstaat verbunden. Dessen Entwicklung begann schon Ende des 19. Jahrhunderts. Ihren Höhepunkt erreichte sie in der Nach- kriegszeit während der ersten Regierungsperiode des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Olof Palme 1969–1977. Im Jahre 1974 wurde in Schweden ein neues Grundgesetz (Regierungsform) erlassen, in dem das Prinzip der Volks- souveränität schon in der Einführungsbestimmung proklamiert wurde (»Alle öentliche Macht geht vom Volk aus.«). Recht sollte nur im Wege parlamentari- scher Gesetzgebung entstehen. Die schwedische Moderne, diese Kombination von Demokratie und Sozia- lismus, wurde in der juristischen und politikwissenschalichen Zeitgeschichte zu einem europäischen Vorbild. Schon 1928 hatte der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Per Albin Hansson, später Parteivorsitzender und Minis- terpräsident, im Reichstag Schweden »Das Volksheim« genannt, d. h. einen »Staat, der seine Bürger von der Wiege bis ins Grab betreut und gleichzeitig bevor- mundet«. Diesen modernen Staat, von Solidarität und korporatistischen Funk- tionsprinzipien geprägt, hatte 1936 der amerikanische Autor und Journalist Marquis Childs (1901–1990) in seinem berühmten Buch Sweden – The Middle Way geschildert, und dabei Schweden auch als Musterland für Franklin D. Roosevelts New Deal in den Vereinigten Staaten ausgewiesen. 1 In der Spätmoderne ab 1990 hat sich auch in Schweden sukzessive ein neues rechtskulturelles Paradigma entwickelt, in welchem die politischen und recht- lichen Strukturen immer mehr von Transnationalität, Transparenz und Privati- sierung geprägt sind. Das Rechtssystem ist nicht mehr monolithisch etatistisch, 1 M C, Sweden. The Middle Way, London 1936. Kjell Å. Modéer 1

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Der Weg zum schwedischen Modell

Regulierte Selbstregulierung in Schweden 1880–1940 in einem rechtskulturellen Kontext

I Die Modernisierung der schwedischen Rechtskultur

Die rechtliche Moderne des 20. Jahrhunderts war in Schweden eng mit dem starken demokratischen Sozialstaat verbunden. Dessen Entwicklung begann schon Ende des 19. Jahrhunderts. Ihren Höhepunkt erreichte sie in der Nach-kriegszeit während der ersten Regierungsperiode des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Olof Palme 1969–1977. Im Jahre 1974 wurde in Schweden ein neues Grundgesetz (Regierungsform) erlassen, in dem das Prinzip der Volks-souveränität schon in der Einführungsbestimmung proklamiert wurde (»Alle öffentliche Macht geht vom Volk aus.«). Recht sollte nur im Wege parlamentari-scher Gesetzgebung entstehen.

Die schwedische Moderne, diese Kombination von Demokratie und Sozia-lismus, wurde in der juristischen und politikwissenschalichen Zeitgeschichte zu einem europäischen Vorbild. Schon 1928 hatte der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Per Albin Hansson, später Parteivorsitzender und Minis-terpräsident, im Reichstag Schweden »Das Volksheim« genannt, d. h. einen »Staat, der seine Bürger von der Wiege bis ins Grab betreut und gleichzeitig bevor-mundet«. Diesen modernen Staat, von Solidarität und korporatistischen Funk-tionsprinzipien geprägt, hatte 1936 der amerikanische Autor und Journalist Marquis Childs (1901–1990) in seinem berühmten Buch Sweden – The Middle Way geschildert, und dabei Schweden auch als Musterland für Franklin D. Roosevelts New Deal in den Vereinigten Staaten ausgewiesen.1

In der Spätmoderne ab 1990 hat sich auch in Schweden sukzessive ein neues rechtskulturelles Paradigma entwickelt, in welchem die politischen und recht-lichen Strukturen immer mehr von Transnationalität, Transparenz und Privati-sierung geprägt sind. Das Rechtssystem ist nicht mehr monolithisch etatistisch,

1 M C, Sweden. The Middle Way, London 1936.

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sondern weist immer stärker polyzentrische Strukturen auf.2 In dieser neolibe-ralen Architektur finden sich rechtliche Konstruktionen, die mit den auf dieser Tagung behandelten Formen von Selbstregulierung und regulierter Selbstregu-lierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts viele Ähnlichkeiten auf-weisen.

Auch in der gegenwärtigen schwedischen Diskussion ist »Selbstregulierung« zu einem bestimmenden Thema geworden. Im Jahre 2000 wurde es auf einem Symposium behandelt, u. a. mit historischen Beiträgen.3 Aber auch für die hier behandelte Frage nach der »Regulierten Selbstregulierung in der westlichen Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts« ist das schwedische Modell von großem Interesse. Ich möchte das für den Zeitraum von 1880 bis 1940 verdeutlichen, eine Zeit übrigens, in der die schwedische Rechtskultur in starkem Maße von deutschen Ideen und Regelungsmodellen geprägt wurde.

Die Modernisierung des schwedischen Staates setzte allerdings schon mit der unblutigen Revolution und der neuen Verfassung, der Regierungsform von 1809, ein. Schweden erhielt eine von aulärerischem Gedankengut geprägte Konsti-tution, die Gewaltenteilung einführte, dabei allerdings dem Reichstag eine zentrale Stellung einräumte. Nur der Reichstag konnte staatliche Steuern fest-setzen und (durch seinen Ombudsmann) die Arbeit der staatlichen Behörden – und der Justiz – kontrollieren. Die Gesetzgebung wurde der neuen Verfassungs-ordnung angepasst. Schon 1811 wurde eine Gesetzeskommission eingesetzt, um das veraltete Gesetzbuch von 1734 zu revidieren. Der Aurag der Kommission bestand darin, nach französischen Vorbildern Entwürfe eines Zivil- und eines Strafgesetzbuches zu erstellen. Die Kommission, mit liberalen Juristen besetzt, ging in ihren Reformkonzepten weit über die für ihre Arbeit vorgegebenen Direktiven hinaus. Aufgrund kritischer Gutachten, besonders von Juristen des Obersten Gerichtshofs, die von den Ideen der historischen Rechtsschule geprägt waren, blieb den Kodifikationsentwürfen der Kommission der Erfolg versagt.4Es ist Schweden deshalb nie gelungen, eine Kodifikation kontinentaleuropäi-scher Art zu schaffen. Das veraltete schwedische Gesetzbuch von 1734 wurde stattdessen sukzessive reformiert und komplettiert.

2 H P / H Z (Hg.), Legal Polycentricity. Consequences of Pluralism in Law, Aldershot 1995.

3 C J, Lagstining eller självreglering? Olika aspekter på frågan om när och hur lagstiningsinstrumentet bör användas (Rapport von einem Rechts-symposium 23.–24. November 2000), in: Svensk Juristtidning 86,3 (2001), S. 206–218, mit mehreren Beiträgen.

4 C P, Debatten om 1826 års förslag till en allmän civillag – en svensk kodifikationsstrid?, in: J K / P L V / P P /H P (Hg.), Norden, Rätten, Historia. Festskri till Lars Björne, Helsinki 2004, S. 245–263.

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In gleicher Weise verlief auch die Verfassungsreform. Die Reform der Re-präsentationskörperschaen zog sich bis 1865/66 hin. Dann wurde der alte Ständetag durch ein Zweikammersystem ersetzt, welches sich an anderen europäischen Vorbildern orientierte; die Erste Kammer konstituierte sich nach dem Modus eines indirekten, die Zweite Kammer nach dem eines direkten Wahlsystems.

Hiermit sowie mit der Abschaffung der Stände und der Einführung der gemeindlichen Selbstverwaltung (1862), die auch die kommunale Haushalts-hoheit umfasste,5 waren wesentliche Entscheidungen getroffen. Die eigent-lichen Grundlagen für die Gestaltung des Staat-Bürger-Verhältnisses wurden jedoch erst ab den 1880er Jahren gelegt. In der Rechtsgeschichte der Vereinigten Staaten wird die Zeit vom Ende des Bürgerkriegs bis zum Beginn des New Dealals die progressive Periode, the Progressive Era, bezeichnet. Kennzeichen dieser Periode waren aggressive Marktwirtscha, Kapitalismus und Vertragsfreiheit. In Deutschland genauso wie in Schweden hingegen hielten in dieser Zeit der Staatsinterventionismus und der Sozialstaat Einzug. Diese Entwicklung bezog auch die Herausbildung eines neuen Verwaltungsrechts ein.

Damit sind die Kernprobleme unseres Themas identifiziert, die dynamischen Dichotomien der modernen Normbildung zwischen Privatrecht und öffentlich-em Recht, zwischen liberalem Kapitalismus und sozialstaatlicher Verantwortung sowie zwischen normativer Selbstregulierung und parlamentarischer Gesetz-gebung. In der hier behandelten Periode der schwedischen Rechtsgeschichte fand ebenso wie in Deutschland die Entwicklung von einer liberalen und aristokratischen zu einer demokratischen und sozialbewussten Gesellscha statt.

In der nun folgenden rechtskulturellen Analyse werden die politischen, wirtschalichen und rechtlichen Ideologien, die für diese dynamische Ent-wicklung von der Vormoderne zur Moderne relevant waren, behandelt. Danach werden die konstitutionellen und normativen Beispiele dargestellt und abschlie-ßend geht es um die Rolle der juristischen Berufe für die regulierte Selbst-regulierung.

II Ideologien

Die schwedische Rechtskultur wurde im 19. Jahrhundert vor allem von den Konflikten zwischen postrevolutionären liberalen und konservativen Ideologien geprägt.

Der erste König der Familie Bernadotte, Carl Johan XIV., war zu Beginn seiner Regierungszeit sehr liberal, sein Reformwille wurde vor allem von französischen

5 Riksdagsordning, 22. Juni 1866 (SFS 1866: 27).

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Rechtsanwälten unterstützt, die ihn berieten.6 Allerdings wurden seine Kritiker im Reichstag stärker und so blieb den königlichen Initiativen letztlich der Erfolg versagt. Im Laufe seiner Amtsperiode wurde Carl Johan XIV. immer konserva-tiver, sogar reaktionär. Erst nach seinem Tod 1844 konnten sich liberale Ideen durchsetzen und vor allem während der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts wurden viele progressive Gesetzesreformen, die schon die oben erwähnte Gesetzeskommission vorgeschlagen hatte, durchgeführt.

In der Entwicklung des liberalen Rechtstaates im 19. Jahrhundert gewann das Verhältnis zwischen Staat und Gesellscha an Dynamik, und zwar in dem Sinne, dass die Standort- und die damit zusammenhängenden Zuweisungen an Gestaltungskompetenz für die eine oder andere Seite immer stärker in die Diskussion gerieten. Auf der einen Seite verband sich mit der Entwicklung des modernen Privatrechts das Konzept einer sich selbst regulierenden Gesellscha. Vertragsfreiheit und Parteiautonomie waren hierfür wichtige Voraussetzungen. Auch in der schwedischen Rechtsgeschichte vollzog sich eine Entwicklung, die mit dem Schlagwort »From Status to Contract« umschrieben werden kann.7Schon um 1820 hatten sich die Mitglieder der Gesetzeskommission dafür ausgesprochen, in den Katalog der Grundrechte auch Garantien der Privat-rechtssphäre einschließlich der Vertragsfreiheit und der Eigentumsgarantie auf-zunehmen.8 Im Entwurf des Zivilgesetzbuches von 1826 waren die Einführung der Gewerbefreiheit und die Abschaffung der alten Korporationen mit ihren privilegierten Gerichtsbarkeiten sowie die Auebung der Höchstzinssätze für Darlehensgeschäe, also eine Deregulierung des Kapitalsektors, vorgeschlagen worden. Diese Kodifikationsentwürfe wurden aber, wie erwähnt, nie dem Reichstag vorgelegt. Die Emanzipation der bürgerlichen Gesellscha geschah stattdessen sukzessive.

Ab Beginn der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts gewannen neue ideo-logische Frontstellungen an Kontur. Die sog. Manchesterschule als Fürspreche-rin einer freien Marktwirtscha propagierte ein Gesellschasmodell, in dem sich soziale Harmonie durch gesellschalichen Interessenausgleich, also durch Selbstregulierung ohne den Staat, herstellen sollte. Die Lösung der »sozialen Frage« wurde den Kräen des Marktes überlassen, Eingriffe des Staates wurden als schädlich abgelehnt. Auch in Schweden gab es Repräsentanten des Manches-

6 T T: H, Carl XIV Johan, Bd. 3, Konungatiden, Stockholm 1960; K Å. M, Hovrätten över Skåne och Blekinge. En överrätts tillkomst-historia, Malmö 1971, S. 49ff.

7 H S M, Ancient law. Its connection with the early history of society, and its relation to modern ideas, London 1861.

8 C P, Lagstining eller självreglering i ett rättshistoriskt perspektiv, in: Svensk Juristtidning 86 (2001), S. 219–233, 225.

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terliberalismus, und die wichtigsten Arbeiten dieser Bewegung wurden in den 1850er Jahren ins Schwedische übersetzt.9

Hiergegen entwickelten sich 20 Jahre später ideologische Gegenkräe. Die sog. Kathedersozialisten stellten die destruktiven Züge einer Marktgesellscha mit dominierender Selbstregulierung heraus. Der Staat sollte mit Hilfe der Gesetzgebung gegen die Missstände der liberalen Marktgesellscha vorgehen. Der Ökonom Johan Leffler (1845–1912) war der bedeutendste Repräsentant der Kathedersozialisten in Schweden. Seine Schrien stammen aus der Mitte der 1880er Jahre.10

Mit der Zeit entstanden auch die politisierten Gewerkschaen, die für kollek-tive Lösungen, u. a. durch Tarifverträge, eintraten. Die sozialistischen Parteien entwickelten ihre eigenen Diskurse und als die schwedische Sozialdemokrati-sche Arbeiterpartei, gegründet 1889, ihr neues Programm proklamierte, fand sich dort als Zielsetzung auch die staatliche Einschränkung der Vertragsfreiheit.

Mit dem sogenannten »demokratischen Durchbruch« um 1920, der Ein-führung des allgemeinen Stimmrechts, begann eine neue ideologische Periode, in der sich das Konzept des Wohlfahrtsstaates, in der besonderen schwedischen Form des »Volksheims«, durchsetzte. In dieser Periode vollzog sich auch mit aller Konsequenz der Wandel von der liberalen – staatsabstinenten – Selbstregulie-rung zu einer staatlich regulierten Selbstregulierung.

III Verfassungsreformen

Für das hier behandelte Thema muss der verfassungsrechtliche Kontext beachtet werden, in dem sich die Entwicklung vollzog. Die Verfassung von 1809 wurde, wie erwähnt, durch eine neue Regelung der Volksrepräsentation, die Reichs-tagsordnung von 1866, komplettiert. Zur vollen Ausbildung des Parlamentaris-mus kam es in der Vormoderne allerdings nicht. Erst in der ersten Phase der Moderne (1914–1939) erhielt Schweden ein parlamentarisches System, welches sich auf das allgemeine Stimmrecht stützte und wodurch die grundlegenden Voraussetzungen für die Schaffung des starken Staates der Nachkriegszeit ge-schaffen wurden.

Allerdings war dieser Wandel nicht von weiteren Verfassungsreformen be-gleitet. Zwar war die alte Verfassungsideologie von 1809 mit der Parlamen-tarisierung praktisch obsolet geworden, dem folgten jedoch keine diesem Um-bruch Rechnung tragenden Verfassungsänderungen. Der schwedische Staats-

9 P, Lagstining eller självreglering i ett rättshistoriskt perspektiv (Anm. 8), S. 228.

10 J L, Katedersocialismen, Nationalekonomiska föreningens förhand-lingar 1885, Stockholm 1886, S. 146 f.

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rechtler Fredrik Sterzel (geb. 1934) hat deshalb die Zeit vom demokratischen Durchbruch 1920 bis zu den wichtigen Verfassungsreformen um 1970 als das »verfassungslose Halbsäkulum« bezeichnet.11

Die Entwicklung hin zum starken Interventionsstaat, welcher die gesellscha-liche Selbstregulierung immer stärker regulierte und instrumentalisierte, fand also ohne Verfassungsreformen statt. Im Jurastudium wurde das Fach Öffent-liches Recht immer weniger mit Staatsrecht, sondern mit Verwaltungsrecht gleichgesetzt. Als 1938 die Arbeitsaufgaben der Professur für Öffentliches Recht an der juristischen Fakultät in Uppsala im Reichstag diskutiert wurden, ran-gierte Verwaltungsrecht zum ersten Mal vor Staatsrecht.12

IV Normbildung: Von der Selbstregulierung zur regulierten Selbstregulierung

Nach den Ausführungen zur Herausbildung des kontextuellen Rahmens in der Vormoderne (1870–1914) und der frühen Moderne (1914–1939) soll nunmehr skizzenha dargestellt werden, wie sich in einigen ausgewählten Sektoren das normative Gefüge entwickelte, in welchem Verhältnis also Elemente der gesell-schalichen Selbstregulierung und der staatlichen Regulierung zum Tragen kamen. Zeitlicher Ausgangspunkt sind die 1860er Jahre. In dieses Jahrzehnt fallen mehrere liberale Reformen, die Selbstregulierung förderten. Eine längere Hochkonjunktur war für das Finanzwesen und die Wirtschaslage günstig gewesen. Die bis dahin begrenzte Gewerbefreiheit (1846 eingeführt) wurde mit der Gewerbeordnung 1864 in vollem Umfang gewährt.13

Eisenbahnwesen: Den technischen Innovationen jener Zeit folgten die großen infrastrukturellen Investitionen, z. B. in Eisenbahnen. Die staatlichen Eisenbah-nen wurden mit ausländischem Kapital finanziert, wodurch es möglich wurde, die privaten Eisenbahnen mit inländischem Kapital zu finanzieren. Im Reichstag wurden die staatsfinanzierten Projekte vor allem von den Mitgliedern der Ersten Kammer unterstützt; in der Zweiten Kammer, wo die Bauern dominierten, war die Eisenbahnpolitik eher zögerlich.14 Die privaten Eisenbahnen in Schweden

11 F S, Författningens föränderlighet, in: M B /M I (Hg.), Maktbalans och kontrollmakt. 1809 års händelser, idéer och författningsverk i ett tvåhundraårigt perspektiv, Stockholm 2009, S. 455–483, 470.

12 S J, Professuren i offentlig rätt – förvaltningsrätt, in: G H (Hg.), Juridiska fakulteten vid Uppsala universitet, Stockholm 1976, S. 153–166, 157.

13 KF ang. utvidgad näringsfrihet, 18. Juni 1864 (SFS 1864:41).14 S O, Järnvägarna och det allmänna. Svensk järnvägspolitisk fram

till 1890, Gleerups Lund 1969; I N, Rez. von Oredssons Arbeit, in: Statsvetenskaplig tidskri 74,2 (1971), S. 193–210.

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wurden im 19. Jahrhundert zum größten Teil mit kommunalen Geldern finan-ziert. Die staatlichen und gemeindefinanzierten Eisenbahnen waren also öffent-lich-rechtlich legitimiert, aber im Übrigen selbstreguliert. Ein Eisenbahngesetz gab es in Schweden nicht, lediglich die Frage des Schadenersatzes bei Eisen-bahnunfällen wurde im Schadensersatzgesetz von 1886 geregelt.15

Finanzdienstleistungen: In Schweden entwickelte sich seit der Jahrhundert-mitte ein schnell expandierendes Bankensystem. Die liberale Verordnung von 1864 enthielt großzügige Regelungen zur Zulassung neuer Banken und räumte Privatbanken das Recht ein, Banknoten auszugeben. Für das schwedische Bankwesen, sowohl für Aktien- als auch Privatbanken, waren damit rechtliche Rahmenbedingungen hergestellt, innerhalb derer sie sich weitgehend autonom entwickeln konnten.16

Innerhalb dieser liberalen Bankenverfassung entstanden allerdings Interessen-konflikte, die nur durch gesetzliche Intervention gelöst werden konnten. Dies betraf zum einen den Gläubigerschutz. Schon in einer Arbeit von 1872 hatte der Professor für Privatrecht Johan Hagströmer (1845–1910) darauf aufmerksam gemacht. Nach Hagströmers Auffassung waren staatliche Eingriffe zum Schutz der Gläubiger bei Konkurs der Aktiengesellscha und zur Verhinderung einer Täuschung der Öffentlichkeit über den Wert von Aktien notwendig.17 Hagströ-mers Empfehlungen zielten auf Einschränkung der Vertragsfreiheit mit Hilfe sogenannter indispositiver Gesetzgebung, d. h. auf staatliche Regulierung eines bisher der privaten Selbstregulierung überlassenen Raumes.

In diese Tendenz lässt sich auch die Entwicklung der Wuchergesetzgebung einordnen. Noch 1862 hatte der Ständetag beschlossen, eine Regelung von 1734, die das Zinsmaximum bei 6% festgesetzt hatte, aufzuheben. Damit war auch das traditionelle Wucherverständnis obsolet geworden. Es setzte sich ein neuer Wucherbegriff durch, der sich am deutschen Modell orientierte, welches zu-nächst im Gesetz, betreffend den Wucher, vom 24. Mai 1880 seinen Niederschlag gefunden hatte. Unter Art. dieses Gesetzes hieß es:

»Wer unter Ausbeutung der Nothlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines Anderen für ein Darlehen oder im Falle der Stundung einer Geldforderung sich oder einem Dritten Vermögensvortheile versprechen oder gewähren lässt, welche den üblichen Zinsfuß dergestalt überschreiten, dass nach den Umständen des Falles die Vermögensvortheile in auffälligem Missverhältnisse zu der Leistung

15 E H, Om ansvarighet för skada i följd av järnvägsdri, 1887.16 E S, Skandinaviska Banken i det svenska bankväsendets historia

1864–1914, Stockholm 1964, S. 78ff.17 J H, Om aktiebolag enligt svensk rätt, Stockholm 1872, S. 139;

P, Lagstining eller självreglering i ett rättshistoriskt perspektiv (Anm. 8), S. 231.

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stehen, wird wegen Wuchers mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und zugleich mit Geldstrafe bis zu dreitausend Mark bestra. Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.«18

Die Regelung erfasste anfangs nur den sogenannten Kreditwucher, erstreckte sich aber nach einer Gesetzesänderung von 1893 auch auf den gewerblichen Sachwucher. Zu dieser Kriminalisierung des Wuchers im Strafgesetzbuch gesellte sich mit dem Inkratreten des BGB 1900 die zivilrechtliche Nichtigkeits-bestimmung des § 134.

Schweden erhielt 1901 eine gleichartige Straestimmung.19 Wie in Deutsch-land wurde das (objektive) Zinsmaximum durch eine strafrechtliche Regelung ersetzt, die auf subjektive Momente abstellte, was in den Reichstagsdebatten kontrovers diskutiert wurde. Denn die Entscheidung über die Erfüllung des Tatbestandes wurde hierdurch de facto der Einschätzung des Richters über-lassen. In der Praxis kam das Wucherstrafrecht auch nur wenig zur Anwendung. Das neue Wucherverständnis mit seiner moralischen Aufladung forderte aber auch eine zivilrechtliche Armierung, die dieser sozialstaatlichen Tendenz Rech-nung trug. Daher wurde 1915 eine vertragsrechtliche Regelung erlassen, die sich – wie schon die strafrechtliche Bestimmung – am deutschen Recht, also an der Regelung des § 134 BGB, orientierte.20 Die schwedische Regelung muss auch vor dem Hintergrund der massiven Ausbreitung von Pfandleihanstalten am Ende des 19. Jahrhunderts gesehen werden, in welchen die Pfandgeber hohe Zinsen zahlen mussten, um an lebensnotwendiges Kleinkapital zu gelangen.

Armengesetzgebung: Ein weiteres wichtiges Rechtsgebiet, auf dem der Streit zwischen staatsinterventionistischen und selbstregulativen Konzepten zum Aus-trag kam, war die Armengesetzgebung. Hier lagen Befürworter eines aktiven öffentlichen Eingreifens mit Vertretern einer Position im Konflikt, die auf Freiwilligkeit setzte – gegründet auf christliche Barmherzigkeit, einen philan-thropischen Ansatz und liberale Werte. Zu dieser Gruppe gehörten nicht nur die liberalen »Non-Interventionisten«, sondern auch Vertreter konservativ-patriar-chalischer Konzepte.

Das Ende der 1860er Jahre war in Schweden wirtschalich von schlechten Ernten und finanzieller Not geprägt. Die Armenfrage beschäigte zunehmend den privaten Fürsorgesektor und den Reichstag. Verstärkt wurden Forderungen laut, auf das Armutsproblem mit gesellschalichen Maßnahmen zu reagieren.

18 Gesetz betreffend den Wucher vom 24. Mai 1880 (RGBl. S. 109) (in der Neu-fassung des StGB § 302a).

19 Lag om ocker, 14. Juni 1901; K Å. M, »God affär« eller »brottslig gärning«. Om tillkomsten av 1901 års lag om ocker, in: P-E W u. a. (Hg.), Festskri till Hans Thornstedt, Stockholm 1983, S. 519–556.

20 Lag om avtal och andra rättshandlingar på förmögenhetens område, 11. Juni 1915 (SFS 1915:218).

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Diese Forderungen hatten zur Folge, dass Schweden 1871 eine neue Armenver-ordnung erhielt.21 Die politischen Diskussionen im Vorfeld der Gesetzgebung hatten dabei klar die Grenzlinien zwischen auf Selbstregulierung und Gesetz-gebung setzenden Konzepten einerseits und den Modus regulierter Selbstregu-lierung bevorzugenden Konzeptionen andererseits gezeigt. Das Modell eines lediglich auf Freiwilligkeit setzenden Armenrechts, welches noch um 1870 wesentlich die Debatten bestimmte, konnte sich in der Armenverordnung von 1871 nicht mehr durchsetzen. Das Gesetz sah sowohl freiwilliges Engagement als auch obligatorische Maßnahmen und staatliche Kontrolle vor. Freiwilligkeit betraf das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinde, Kontrolle bedeutete Über-wachung durch die Landeshauptmänner.

Ein wichtiger Bestandteil der Armenhilfe war also auch weiterhin das philanthropische Engagement. In immer stärkerem Maße wurden hierbei Stiungen aktiv, die sich vor allem auf testamentarische Bestimmung gründeten. Diese Stiungen waren weitgehend frei von Staatseinfluss, also selbstregulierte Einrichtungen. Erst um 1900 wurde eine Kommission beauragt, den Entwurf eines Gesetzes über öffentlich anerkannte Stiungen zu erstellen. Dies war eine besondere Herausforderung, da es sich um die Regulierung einer genuin privatrechtlichen und damit der Selbstregulierung überlassenen Organisations-form handelte. Andererseits bestand ein vitales staatliches Interesse an der rechtlichen Regelung der Kontrolle der Stiungsverwaltung. Eine Regelung musste zudem berücksichtigen, dass Stiungsaktivitäten nicht zu den öffent-lichen Aufgaben gehörten, sondern sich ausschließlich auf die freiwillige Ent-scheidung zur uneigennützigen Hilfe gründeten. Die Gesetzgebung musste darauf achten, dass sie sich nicht mit allzu starken Restriktionen lähmend auf die Stiungsbereitscha auswirkte.

Erst 1929 wurde ein Stiungsgesetz – allerdings mit sehr begrenzten staat-lichen Einwirkungsmöglichkeiten – erlassen. Im Kern etablierte man eine staatliche Kontrolle über die Erfüllung des Stiungszwecks. Die Landeshaupt-männer wurden als Kontrolleure bestimmt. Der Stier konnte allerdings in seinen Statuten festlegen, die Stiung solle von dieser Kontrolle befreit sein.22

Der schwedische Gesetzgeber war – besonders während der Periode des starken Wohlfahrtsstaates – bereit das Stiungsrecht zu regulieren, vor allem hinsichtlich der sog. Familienstiungen. Dieses Rechtsgebiet ist immer noch zum größten Teil selbstreguliert.

Arbeitsrecht: Ein weiteres wichtiges Feld regulierter Selbstregulierung in der schwedischen Rechtskultur ist das Arbeitsrecht. Aus diesem Gebiet hat sich der Gesetzgeber in der Moderne weitgehend herausgehalten.

21 KF ang. fattigvården, 9. Juni 1871 (SFS 1871:33).22 Lag om tillsyn över stielser, 24. Mai 1929 (SFS 1929:116).

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In den letzten Jahrzehnten des 19. und den beiden ersten des 20. Jahrhunderts wurde Schweden von einer Vielzahl schwerer Arbeitskämpfe erschüttert. Um die Jahrhundertwende hatten sich die Interessenverbände auf Landesebene orga-nisiert, die Arbeiter in der Landesorganisation (LO) und die Arbeitgeber im Schwedischen Arbeitgeberverband (SAF). Im sog. Dezemberkompromiss von 1906 einigten sich die Parteien auf zwei wichtige Prinzipien. Erstens akzeptierte die Landesorganisation § 23 der Statuten des Arbeitgeberverbandes, welcher die Direktionsbefugnis des Arbeitgebers statuierte sowie das Recht, Arbeiter einzu-stellen und zu entlassen. Zweitens erkannten die Arbeitgeber die Vereinigungs-freiheit der Arbeiter und den Tarifvertrag als neues Instrument des Interessen-ausgleichs an.23 Arbeitsrechtliche Konflikte wurden mit Hilfe eines permanen-ten Schiedsausschusses, der mit Vertretern beider Parteien besetzt war, gelöst. Diese neben den staatlichen Gerichten bestehende privatrechtliche Konflikt-lösungseinrichtung wurde 1928 durch die neugeschaffenen Arbeitsgerichte ersetzt. Im selben Gesetz wurde auch der Tarifvertrag geregelt.24 Allerdings wurde dieser staatliche Eingriff von den Gewerkschaen sehr kritisch gesehen. Sie wollten die Selbstregulierung behalten.25

Ein neues Kapitel in der Entwicklung des schwedischen Arbeitsrechts wurde mit dem sogenannten Saltsjöbad-Vertrag von 1938 eingeläutet. Um einen staat-lichen Eingriff in das Arbeitsleben zu vermeiden, wurde (im Hotel Saltsjöbaden bei Stockholm) zwischen den Parteien eine zentrale Verhandlungsordnung beschlossen und eine Vereinbarung getroffen, den Arbeitsmarkt nach gemein-samen Interessen zu regulieren. Im Geiste dieses Vertrages haben die arbeits-rechtlichen Zentralinstanzen in der Nachkriegszeit das Arbeitsleben reguliert. Der Arbeitsfrieden wurde für Jahrzehnte ein wichtiger Bestandteil des schwedi-schen Modells.

Zur Debatte stand auch, ob die Regelung des Urlaubs der Selbstregulierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern überlassen werden sollte. Schon 1909 wurde diese Frage zwischen den Parteien diskutiert. Dabei war zunächst umstritten, ob der Urlaub im Tarifvertrag geregelt werden oder der individual-vertraglichen Vereinbarung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber vorbehalten bleiben sollte; die Arbeitgeberseite stand einer tarifvertraglichen Regelung lange kritisch gegenüber.

Um 1920 wurde der Entwurf eines Urlaubsgesetzes ausgearbeitet. Allerdings kam dies in den turbulenten Jahren der Nachkriegszeit nicht zustande. Statt-

23 A A, Kollektivavtalet. Studier över dess tillkomsthistoria, Lund 1954.

24 Lag om arbetsdomstol, 22. Juni 1928 (SFS 1928:254); Lag om kollektivavtal, 22. Juni 1928 (SFS 1928:253).

25 A K, Normbildning och konfliktlösning. En studie om SAF:s roll i växelspelet mellan lag och avtal, Stockholm 1987.

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dessen entschied man sich für eine tarifvertragliche Lösung. 1936 wurde eine neue Kommission eingesetzt. Die von ihr ausgearbeitete Regelung sah zwölf Tage Urlaub pro Jahr vor. Das entsprechende Gesetz wurde 1938 verabschiedet. Es demonstrierte die gewachsene Rolle des Gesetzgebers im modernen Wohl-fahrtsstaat.26 Die Selbstregulierung der Parteien wurde in den Hintergrund gedrängt. Moderne Sozialpolitik sollte von Reichstag und Regierung bestimmt werden und nicht privater Willkür überlassen bleiben. Interessanterweise wur-den die gesetzlichen Regelungen in die Tarifverträge übernommen, wobei die Arbeitgeber einige Urlaubstage mehr gewährten. Auch in dieser Hinsicht ent-wickelte sich die Rechtskultur also im Geist überwiegender Selbstregulierung des Saltsjöbads-Vertrages.

V Rechtliche Akteure

Auch der Juristenstand spielte in dieser von Gemeinsinn, Autonomie und Selbstverwaltung geprägten Rechtskultur eine wichtige Rolle. Die Profession der Rechtsanwälte ist ein gutes Beispiel. Die Diskurse über die »freie Advokatur« fanden auch in Schweden statt.27 Um 1870 war die schwedische Anwaltscha weder organisiert noch reguliert. Bestimmungen über die Qualifikation der Anwälte fehlten im schwedischen Prozessrecht. Das Ergebnis war ein wenig professionalisierter Berufsstand mit sehr schlechtem Ruf28 – und dies in einer Zeit, in der eine professionelle Anwaltscha überall in den europäischen Rechtskulturen als essentieller Bestandteil des modernen Rechtsstaates galt.

1887 wurde der schwedische Anwaltsverband von 38 gut ausgebildeten Anwälten gegründet. Der Verband war ein ideeller, freiwilliger Verein, der es sich zum Zweck gesetzt hatte, das öffentliche Ansehen der schwedischen Rechtsanwälte zu verbessern. Schon in der Anfangsphase des Anwaltsverbandes begannen die Gemeinden in den größten Städten sogenannten Armenanwälten Honorare zu zahlen, damit diese armen Parteien halfen, Konflikte außerge-richtlich zu lösen. Zweck dieser Initiative war freilich, diese Klientel von den Gerichten fernzuhalten. Eine besondere Organisationsform der Armenanwälte entstand 1919 in Gestalt von den Gemeinden gegründeter und finanzierter

26 Lag om semester, 17. Juni 1938 (SFS 1938:287); vgl. die Vorarbeiten des Urlaubsgesetzes: Betänkande med förslag till lag om semester (SOU 1937:49).

27 K Å. M, Det fria advokatyrket. Kampen för en modern juridisk yrkesroll, in: M M / S L / S U (Hg.), Festskri till Sveriges Advokatsamfund 1887–1987. Rättsvetenskapliga studier, Stockholm 1987, S. 11–52.

28 Siehe z. B. Nya lagberedningens betänkande angående rättegångsväsendets om-bildning, Stockholm 1884, S. 62ff., 69.

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Page 12: Der Weg zum schwedischen Modell · Der erste König der Familie Bernadotte, Carl Johan XIV., war zu Beginn seiner Regierungszeit sehr liberal, sein Reformwille wurde vor allem von

Anwaltsbüros, Rättshjälpsanstalter, in welchen diese Anwälte von den Gemein-den angestellt waren.29

Die neue Prozessordnung von 1948 erhob den schwedischen Anwaltsverband in den Rang einer öffentlich-rechtlichen Organisation, nunmehr kontrolliert vom Obersten Gerichtshof und dem Justiz-Kanzler.30 Gleichwohl handelte es sich um einen Fall von, wenn auch regulierter, Selbstregulierung. Denn der Anwaltsverband bestimmte weiterhin selbst über die Aufnahme von Mitglie-dern und behielt das Disziplinarrecht.

VI Zusammenfassung

Der schwedische rechtliche Sonderweg in die Moderne ist nur vor dem Hinter-grund spezifischer rechtskultureller Kontexte verständlich. Die Metapher vom »schwedischen Volksheim« knüp nicht nur an sozialdemokratische Überzeu-gungen an, sondern auch an Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen einer traditionellen Bauern- und Dorfgesellscha. Begriffe wie Solidarität und Koope-ration legitimierten und beschrieben den schwedischen Wohlfahrtsstaat nicht nur in der hier behandelten Periode, sondern auch – und besonders – in der Nachkriegszeit.

Der gesellschaliche Wandel von liberaler Selbstregulierung zu staatlicher Regulierung oder regulierter Selbstregulierung wurde auch von den schwedi-schen Professoren für öffentliches Recht (Reuterskiöld, Fahlbeck) aufmerksam beobachtet. Wichtige Debatten dazu fanden in den 1930er Jahren statt. Die Überweisung öffentlicher Aufgaben an private Akteure war charakteristisch für die Veränderungen im schwedischen Modernisierungsprozess.31

In der Rechtswissenscha der Nachkriegsperiode war das Verwaltungsrecht der Ort, an dem man die die wohlfahrtsstaatliche Regulierung thematisierte und weiter ausarbeitete. Interessanterweise war das ohnehin wenig entwickelte Staatsrecht hieran kaum beteiligt.

Im Rahmen dieses Aufsatzes konnten die Entwicklungslinien des schwedi-schen Rechtssystems nur im Überblick dargestellt werden. Besonders die gegen-wärtige Situation des schwedischen Rechtslebens wäre von Interesse. Denn die

29 Ein Modell für diese von den Gemeinden finanzierten Anwaltsbüros für die Armen war das Büro in Stockholm, Stockholms stads rättshjälpsanstalt 1920, in: Svensk Juristtidning 1920, S. 57.

30 Kap. 8. Rättegångsbalk, 18. Juli 1942 (SFS 1942:740); in Kra ab 1. Januar 1948.31 C-A R, Statsförvaltning genom enskilde, in: Festskri tillä

gnad Axel Hägerström, Uppsala / Stockholm 1928, S. 62–70; E F, Offentlig förvaltning genom enskilda, in: Statsvetenskaplig tidskri 43,1 (1940), S. 1–45.

12 Der Weg zum schwedischen Modell

Page 13: Der Weg zum schwedischen Modell · Der erste König der Familie Bernadotte, Carl Johan XIV., war zu Beginn seiner Regierungszeit sehr liberal, sein Reformwille wurde vor allem von

derzeitigen Prozesse der Deregulierung und Privatisierung fordern geradezu zu einem Vergleich mit der schwedischen Vormoderne heraus.32

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32 K Å. M, Juristernas nära förflutna. Rättskulturer i förändring, Stock-holm 2009.

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