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    Deutsche in Russland/UdSSRVolk auf dem Weg

    Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.

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    Deutsche in

    Russland/UdSSR

    Volk auf dem Weg

    herausgegeben von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. StuttgartRaitelsbergstrae 49 7000 Stuttgart 1

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    Vorwort

    Jahrzehntelang haben Politiker aller Schattierungen die Sowjetunion aufgefordert, denDeutschen in der Sowjetunion die Freizgigkeit und vor allem das Recht auf

    Selbstbestimmung zu gewhren.Jahrzehntelang blieben den Deutschen in der Sowjetunion diese Menschenrechteverwehrt.Sie haben darunter gelitten, haben Gefngnis und Straflager erdulden mssen, Hungerund Not waren ihre stndigen Begleiter.Tausende sind in den Straflagern Sibiriens und Zentralasiens elendiglich zugrundegegangen.Die Sowjetunion ffnet jetzt den Eisernen Vorhang" und unsere Landsleute erhalten ingrerem Umfang die Mglichkeit, von ihrem Recht auf Freizgigkeit Gebrauch zumachen.Dies wird ihnen durch den aufkeimenden Nationalismus v. a. im asiatischen Teil derSowjetunion schwer gemacht. Sie werden dort als Fremdkrper empfunden - es wird auf

    sie Druck ausgebt, doch in ihr Land" zu gehen, d. h. nach Deutschland. DerVertreibungsdruck hlt also trotz aller Bemhungen um Liberalisierung an. VieleDeutsche streben deshalb nach wie vor die Ausreise an.Sie kommen wie auch ihre Landsleute aus Polen und Rumnien mit dem Wunsch, unterDeutschen zu leben und ihren Kindern die deutsche Kultur zu vererben zu uns. Sie habenoftmals keine genauen Vorstellungen vom westlichen Leben und mssen sichmentalitts- und berufsmig umstellen. Dabei wollen wir ihnen helfen.Diese Broschre ist eine der mglichen Hilfen. Sie gibt Informationen ber dieGeschichte der Rulanddeutschen, weist aber auch einheimische Brger, die sich fr ihreNachbarn interessieren in die Problematik des Russlanddeutschtums ein.Wir hoffen, hiermit einen Beitrag zum gegenseitigen Verstndnis zwischen Aussiedlernund Einheimischen geleistet zu haben.

    Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.

    Stuttgart

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    Daten zur Geschichte der Deutschen inRussland/UdSSR

    1702 Anwerbung von auslndischen Spezialisten durch Peter I. zumAufbau des Russischen Reiches

    1721 Frieden zu Nystadt. Das Baltikum wird in den russischenStaatsverband unter Bewahrung politischer Sonderrechte mitlutherischen Kirche, deutscher Sprache und Verwaltung eingegliedert

    1725-1740 Katharina I. und Anna. Deutsche Periode" der Zarenherrschaft,verursacht durch die deutschen Gnstlinge Mnnich und Ostermann

    22.7.1763 Manifest der Kaiserin Katharina II. (1762-1796). Aufruf an alleAuslnder zur Einwanderung nach Russland

    6.9.1800 Gnadenprivileg Pauls (1796-1801) zugunsten der Mennoniten

    20.2.1804 Manifest Alexanders (1801-1825). Einladung zur AnsiedlungDeutscher im Schwarzmeergebiet

    25.10.1819 Generalkonsistorium fr die evangelischen Kirchen in Saratow/Wolgagegrndet

    9.11.1883 Nikolaus I.(1825-1855) besttigt die Privilegien der Kolonisten;Kodifizierung aller Freiheiten, Pflichten und Privilegien der Kolonistenund Verleihung der Brgerrechte an die Kolonisten im ganzen

    Zarenreich

    4.6.1871 Aufhebung des Kolonistengesetzes durch die Zarenregierung

    7.10.1879 Deutsch-sterreichisches Bndnis (Zweibund). Folge:Verschlechterung der Lage der Deutschen in Russland

    3.3.1881 Thronbesteigung Alexanders II. (1881-1894). Beginn derRussifizierung

    1.8.1914 Ausbruch des Ersten Weltkrieges

    2.2.1915 Liquidatonsgesetze: Die Deutschen sollen enteignet und nach Sibirienverbannt werden

    13.12.1915 Deportation von Wolhyniendeutschen

    15.3.1917 Abdankung Nikolaus II. (Februarrevolution). Alsbald Aufhebung derLiquidationsgesetze

    20.-23.4.1917 Erster Gesamtdeutscher Kongress in der Geschichte der Deutschen inRussland Grndung eines Zentralkomitees aller Deutschen inRussland

    7.11. Bolschewistische Revolution (Oktoberrevolution)(25.10.1917)

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    3.3.1918 Frieden von Brest-Litowsk (Repatriierungsklausel zugunsten der

    Deutschen in Russland

    19.10.1918 Grndung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) der

    Wolgadeutschen

    1921-1927 Neue konomische Politik (NEP). Vorbergehende Erholung in dendeutschen Kolonien, allgemeiner Aufschwung

    1928 Beginn der Kollektivierung, Entkulakisierung und Schlieung derKirchen

    Nov./Dez. 1929 6000 Deutsche erhalten die Ausreiseerlaubnis nach Deutschland, vonwo die meisten nach Nord- Lind Sdamerika weitergeleitet wurden

    22.6.1941 Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges

    Ab Juli 1941 Deportation der Deutschen aus den westlichen Teilen derSowjetunion (Krim, Kaukasus, Teile des Schwarzmeergebietes)

    1941-44 Deutsche Militrverwaltung in der Ukraine

    28.8.1941 Ukas des Obersten Sowjets der UdSSR ber die Umsiedlung derWolgadeutschen

    10.4.1944 Sowjetische Truppen besetzen Odessa. Ein Teil derSchwarzmeerdeutschen wird im Warthegau angesiedelt

    12.1.1945 Beginn der Sowjetischen Winteroffensive. Viele Deutsche auf derFlucht

    8.5.1945 Bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. MassenweiseZurckverschleppung der Deutschen aus Russland aus allenBesatzungszonen nach Sibirien

    23.5.1949 Grndung der Bundesrepublik Deutschland

    9.-13.9.1955 Besuch des Bundeskanzlers Adenauer in Moskau. Folge: Dekret desObersten Sowjets ber die Aufhebung der Beschrnkung in derRechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehrigen, diesich in der Sondersiedlung befinden". Aber: Keine Rckgabe des beider Verbannung konfiszierten Vermgens und Verbot der Rckkehr indie ehemaligen Heimatkolonien

    8.4.1958 Deutsch-sowjetische bereinkunft ber Familienzusammenfhrungund Zusammenarbeit der Rot-Kreuz-Gesellschaften beider Staaten

    24.4.1964 Deutsch-sowjetisches Abkommen ber dieFamilienzusammenfhrung

    29.8.1964 Erlass ber die Teil-Rehabilitieruung der Wolgadeutschen undAufhebung des Dekrets vom 28.8.1941 (gilt auch fr alle anderenDeutschen in der UdSSR)

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    12.8.1970 Abschlu des Moskauer Vertrages zwischen der Bundesrepublik

    Deutschland und der UdSSR ber gegenseitigen Gewaltverzicht.Folge: Aussiedlerzahlen steigen

    1.8.1975 Unterzeichnung der KSZE-Vereinbarungen von Helsinki. Weiteres

    Ansteigen der Aussiedlerzahlen ist nur von kurzer Dauer

    8.11.1984 und Debatten im Deutschen Bundestag ber die Lage der Deutschen in28.3.1985 der UdSSR und ber den starken Rckgang der Aussiedlerzahlen.

    Einmtige Aufforderung an die Bundesregierung, Manahmen zurVerbesserung zu ergreifen

    28.11. bis Eine Bundestagsdelegation unter Leitung von Dr. Philipp Jenninger3.12.1985 spricht in Moskau u.a. ber Aussiedlung von Deutschen aus der

    Sowjetunion.

    1.1.1987 Das neue Gesetz ber Einreise und Ausreise von Sowjetbrgern ist in

    Kraftgetreten. Demnach drfen nur Verwandte ersten Gradesauswandern.

    1987 Grndung der ev. Kirche der Deutschen in der UdSSR mit Sitz in Riga

    24. bis Bundeskanzler Kohl traf sich in Moskau zweimal mit Gorbatschow26.10.1988 unter vier Augen und sprach ber das Problem der Aussiedlung und

    der kulturellen Rechte der Deutschen in der UdSSR.

    31.12.1988 Die Aussiedlerzahlen sind auf einen Rekord der Nachkriegszeitgestiegen. Seit dem 1.1.1988 kamen ber 45 000 Deutsche aus derUdSSR in die Bundesrepublik Deutschland.

    Gem Informationen des DRK gibt es z.Zt. in der UdSSR ca. 600000ausreisewillige Deutsche.

    Mrz 1989 Grndung der Allunionsgesellschaft Wiedergeburt"(Interessenvertretung der Deutschen in der UdSSR)

    Herbst 1989 Offizielle Erlaubnis zur Rckkehr und Wiederbesiedlung des Gebietsan der Wolga. Protestaktionen der dort lebenden russischenBevlkerung.

    3.10.1990 Wiedervereinigung Deutschlands; anschlieend Grundlagenvertragzwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland.

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    Historische Aspekte

    Die Anfnge des Deutschtums in Russland

    Bis zum Beginn der Russifizierungspolitik Mitte des 19. Jahrhunderts war die Geschichteder Deutschen im Russischen Reich von Privilegien bestimmt. Die Privilegierung entstandaus der Not der Anwerbungspolitik heraus, mit deren Hilfe, sich die russischen Herrschereine Stabilisierung der innenpolitischen Verhltnisse und den Aufbau Russlands nach derber zweihundertjhrigen Mongolenherrschaft erhofften. Peter d. Groe setzte hierfrmagebende Richtlinien, in dem er Spezialisten aus dem Ausland anwarb. Diegesetzliche Grundlage dafr bildete das Manifest von 1702, das der Deutschbalte Patkulverfasste. Es lockte aus dem deutschen Sprachraum vor allem Handwerker undtechnische Spezialisten an. Fhrend war die Gruppe der rzte, die in St. Petersburg dasMonopol inne hatten. Die deutsche Bevlkerung, die seit 1728 ihr eigenes Presseorgan,die St. Petersburger Zeitung, hatte, stieg bis Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Hlfteder auslndischen Bevlkerung Petersburgs an. Der Anschluss des Baltikums ansRussische Reich 1725/1795, der die Integration einer deutschen adligen Oberschicht mitsich fhrte und die auf Deutschland ausgerichtete Politik der Heiratsallianzen stellteWeichen fr die dynastische Politik der Romanows. Die sogenannten Ostseeprovinzenblieben selbstndig, der deutschbaltischen Oberschicht gelang durch das Inkrafttretender Rangtabelle von 1722 der rasche Aufstieg in den hheren Staatsdienst. Diedynastische Verbindung zu den deutschen Teilreichen ermglichte Peter den Ausbauseiner Gromachtstellung. Die Holstein-Gottorpsche Linie des Hauses Romanow, die bis1917 Russland regierte, heiratete von diesem Zeitpunkt an bis auf eine Ausnahmeimmer in deutsche Frstenhuser ein. Seither wurde Russland von einerdeutschfreundlich gesonnenen Dynastie regiert. Besonders intensiv wurden im 19.Jahrhundertdie Beziehungen zu Wrttemberg, in deren Krftefeld eineEinwanderungswelle wrttembergischer Untertanen nach Sdrussland einsetzte.

    Planmige Siedlungspolitik

    Katharina d. Groe, die erste Deutsche auf dem Zarenthron - sie war eine geborenePrinzessin von Anhalt-Zerbst - , sah sich als politische Tochter Peters d. Groen. Sieverfolgte intensiv sowohl seine Ansiedlungs- und Anwerbungspolitik, als auch die derHeiratsallianzen.Unter Katharina II. und auch ihrem Enkel Alexander I. vollzog sich erstmalig dieplanmige Ansiedlung von Deutschen in dem territorial stark erweiterten RussischenReich.

    Prischib/Ukraine Dorfansicht ca. 1930

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    Sie warb in ihrem 1763 verfassten Manifest mit Steuererleichterungen, Religionsfreiheit,Befreiung von Militrdienst und politischer Selbstverwaltung der Gemeinden. Ihre Werberhatten vor allem im deutschen Raum Erfolg. Die Folgen des Siebenjhrigen Krieges undder napoleonischen Herrschaft, den drckenden Heeres- und Frondiensten, Misserntenund Hungerjahren machten eine potentielle Bauern- Lind Handwerkerschaft hierfr

    ansprechbar. Die deutschen Siedler kamen vor allen Dingen aus Hessen, ausSdwestdeutschland, Rheinland Pfalz, aus dem Elsa, aber auch aus Danzig,Westpreuen und dem donauschwbischen Raum. Deutsche Siedlungen (nemetzkajaSloboda) gab es in den Stdten in St. Petersburg, Moskau, Saratow und Odessa. DieSiedlungen der Mutterkolonien und ersten Tochterkolonien befanden sich imGouvernement Petersburg, an der Wolga, in der Ukraine (Schwarzmeeergebiet undWolhynien), im Kaukasus, auf der Krim und in Bessarabien. Die durch Binnenwanderungentstandenen Siedlungen der Tochterkolonien entstanden im Ural, in Sibirien und inMittelasien. Genaue Zahlen und Statistiken ber die Bevlkerungsstruktur im Zarenreichliegen erst 1897 mit der ersten allgemeinen Volkszhlung vor. Die deutschen Siedlertrafen in Russland auf eine durchwachsene Bevlkerungsstruktur. In seiner grtenAusdehnung vereinigte das Russische Reich vom 18. bis zum Beginn des 20.

    Jahrhunderts insgesamt 22 grere Vlkerschaften und ber 100 kleinere Nationalitten.Nach Grorussen, Ukrainern, Usbeken, Bjelorussen, Tataren, Kasachen,Aserbaidschanern, Armeniern, Georgiern, Moldauern, Litauern, Juden, Tadschiken stehendie Deutschen an 14. Stelle. Die Deutschen hoben sich von den anderen Vlkerschaftendurch ihre Privilegierung und Andersglubigkeit ab.

    Katharinenfeld/Kaukasus Picknick mit Einheimischen ca. 1913

    Die staatlich garantierte Autonomie der Gemeinde, wirtschaftliche, konfessionelle undkulturelle Unabhngigkeit bestimmten Mentalitt und Eigencharakter der Deutschen inRussland Dementsprechend verschieden war die Entwicklung der einzelnen Gemeinden.Das durch das Einwanderungsedikt garantierte Selbstverwaltungsrecht galt in denGemeinden in dem Sinne, als sie den Dorfschultzen und seine Helfer aus ihrer Mittewhlten. Die Gesamtheit aller Schultzen whlte den Oberschultzen, der das Bezirks-bzw. Kreisamt leitete. Die Amtssprache war deutsch. Die Aufgaben des Dorfschultzenumfassten fiskalische Verwaltung, niedere Gerichtsbarkeit sowie die Durchfhrung dervon der Gemeinde beschlossenen Arbeiten. Der Oberschultze versah den hnlichenAufgabenbereich auf Kreisebene. In den Stdten waren deutsche Handwerker undSpezialisten in der so genannten Auslndergilde zusammengefasst.

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    Kirchliches Leben

    Die deutschen Gemeinden waren konfessionell streng getrennt voneinander angelegtworden. Das deutsche Stdtebrgertum organisierte sich anfnglich im Unterschied zuden deutschen Kolonistengemeinden multinational. Hier schlossen sich Reformierte und

    lutherisch Getaufte Zusammen. Die Deutschen begannen sich erstspter mitanwachsenden finanziellen Eigenmitteln in eigenstndigen Gemeinden zu organisieren.Die Kolonistendrfer befanden sich in der Diaspora. Zwei Drittel waren protestantisch,ein Drittel katholisch. Fr die christlichen Westkirchen bestand striktes Missionsverbot.Die Stadt- und Landgemeinden unterstanden zwar dem persnlichen Schutz des Zaren,hatten aber keinen Anspruch auf materielle Zuwendungen. Die Entwicklung derdeutschen Gemeinden erfolgte eigenstndig auf Privatinitiative hin. Whrend sich die ka-tholischen Gemeinden anfnglich schwerer als die anderen Gemeinden entwickelten,konnten sie in der Bltezeit der deutschen Kultur Ende des 19. Jahrhunderts dieevangelischen Gemeinden hinsichtlich der seelsorgerischen Betreuung und der Anzahlder Priester sogar berrunden. Die Vielfalt der evangelischen Gruppen lie jedeGemeinde ein besonderes Eigenleben fhren. Allen gemeinsam war die relativeAbgeschlossenheit gegenber dem russischorthodoxen Kulturkreis. Die deutschenevangelischen Gruppen gliederten sich in das lutherische reformierte und mennonitischeBekenntnis, die an der Wolga und in Sdrussland siedelten, als auch in so genannteseparatistische Gruppen, wie die Stundenbrder in Bessarabien und im Kaukasus. AlsEinzelfall gilt die

    Neu-Strymba/Bessarabien ev.-luth. Kirche ca. 1920

    Brdergemeinde in Sarepta an der Wolga. Die Diasporasituation hatte hauptschlich

    zweierlei Folgen fr das Gemeindewesen der Deutschen. Erstens wurden die Gemeindenauf sich selbst zurckgeworfen, ihre Kultur blieb aufgrund der Abgeschiedenheit religisgeprgt. Zweitens behinderte die religise Intensitt 10 zum Teil den nationalenZusammenschluss Und Austausch benachbarter deutscher Gemeinden, besonderssolcher mit anderer religiser Nuancierung. Der Absoluttsanspruch, der in ihremGlaubensbekenntnis lag, regelte das moralische, gesellschaftliche und wirtschaftlicheLeben der Gemeinde und des Einzelnen, er ermglichte aber auch die relativ hoheSelbstndigkeit und kulturelle Autonomie der Gemeinde sowie des Einzelnen. Eineinheitliches Schulsystem gab es nicht. Die Tatsache, dass es bis Mitte des 19.Jahrhunderts kaum russische Schulen gab, geschweige denn Elementarschulen, und dieDeutschen ein Dasein in der Diaspora fhrten, lie das Schulwesen zu einerKirchenangelegenheit werden. Es entstand der Beruf des so genannten Ksterlehrers. Er

    vermittelte den Kindern Rechnen, Schreiben, Lesen und Religion. Grundlage dafr bildeteoftmals die Bibel. Weiterfhrende Schulen existierten in Form der Zentralschulen, dieberregional eingerichtet wurden.

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    Wirtschaftsleben

    Die Haupterwerbsquelle der deutschen Kolonisten Sdrusslands lag im Getreideanbauund in der Viehzucht. In zweiter Linie folgte Wein-, Obst- und Gemseanbau. Weinanbauwurde vorzugsweise in Bessarabien, auf der Krim und im Kaukasus betrieben. Die

    Industrie war in Sdrussland verhltnismig schwach entwickelt. Sie bestand aus einerso genannten landwirtschaftlichen Bedarfsindustrie, die schwererhltlichelandwirtschaftliche Gerte, wie Rechen, Pflge, Mh- und Dreschmaschinen produzierte.Ebenso wie in Sdrussland lag im Wolgagebiet der Schwerpunkt der landwirtschaftlichenProduktion der Deutschen in der Getreideerzeugung und Viehzucht.

    Hoffnungstal/b. Odessa Krbisfeld ca. 1940

    Wolgagebiet typisch deutsches Fuhrwerk ca. 1926

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    Sarepta/Wolga Sarpinkaweber ca. 1930

    berregionale Bedeutung erlangte die deutsche Landwirtschaft durch den Exportberschssigen Getreides. 45,5 % des berschusses ging allein nach Zentralrusslandund nach Moskau. Die wichtigsten Industriezweige entstanden in der Mhlen- undSarpinka- (Baumwollgewebe)industrie. Gute Anstze machte bis zum Ersten Weltkriegauch der Tabakanbau. Es gab insgesamt drei Tabakfabriken, eine in Sarepta, inWittmann und in Katharinenstadt. Von Sarepta breitete sich auch der Senfanbau aus.Die Prioritt der deutschen Bauern in Sdrussland und an der Wolga und spter inSibirien, war einerseits bedingt durch fortschrittlichere Arbeits- und Anbaumethoden, die

    sie gegenber ihren ukrainischen, russischen, tatarischen und anderen Nachbarnkannten, andererseits durch den verhltnismig hohen Anteil an Landbesitz, den siesich im Laufe der Jahre erwarben. Dies trifft besonders fr Bessarabien und Sdrusslandzu, wo unter den Kolonisten das Erbhofprinzip herrschte. Es stand im Gegensatz zumMir-System an der Wolga, das von den Russen bernommen wurde. Es teilte Grund undBoden in der Weise auf, dass das Eigentum von ursprnglich einer Familie auf dieDorfgemeinschaft berging. Diese verteilte nach unterschiedlich definierten Magabendie Landflche nach Leistung. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten waren die deutschenKolonisten in Feldbestellung und Viehzucht ihren Nachbarn berlegen. Innerhalb desdeutschen Kolonistenstandes nahmen die Mennoniten einen Sonderstatus ein. Sie warenbekannt fr rationale Wirtschaftsweise. Cornies (1789-1848) gelang es sogar, die denDeutschen zugedachte Funktion von Musterwirten, gegenber den Tatarenwahrzunehmen, in dem er sie sesshaft machte und sie den Feldbau lehrte.

    Russifizierung

    Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die oben genannten Privilegien durch die nationaleKrise in Frage gestellt. Der so genannte Panslawismus erhielt in Russland durch den frdie Russen negativ verlaufenden Krimkrieg (1853-1856), der als nationale Demtigungempfunden wurde und die Grndung des Deutschen Reichs 1871, dauerhaftenAufschwung. Die Forderung einer nationalstaatlichen Ordnung fr die Russen warverbunden mit einer demokratischen Freiheitsforderung nach dem Beispiel derFranzsischen Revolution. Alexander II. beugte sich diesem Druck mit der Aufhebung derLeibeigenschaft der russischen Bauern 1861 und der Einrichtung der landschaftlichenSelbstverwaltung (Semstwo). Mit Inkrafttreten der Semstwo bten die freien deutschen

    Bauern, die den russischen Staatsbauern rechtlich gleichgestellt waren, ihreSonderstellung ein. Fortan wurden alle wahlberechtigten Untertanen einer Gebietseinheitin drei Kategorien geteilt: Eigentmer privater Landgter (hauptschlich Adelige), Stadt-

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    bewohner und kollektive Grundbesitzer, d.h. im weiter bestehenden Mir-Systemdiejenigen Bauern, die in ihrer Gemeinde ein Landlos gezogen hatten. Hauptschlich vonden Semstwogefrdert wurde die Einrichtung russischer Volks- und Elementarschulen,deren Aufbau Unterrichtsminister Golowin untersttzte. Von 1864-1880 konnten imeuropischen Teil Russlands fast 18000 Volksschulen erffnet werden, ohne staatlicheSubventionen in Anspruch nehmen zu mssen. Die Reformgesetzgebung, die eine

    tiefgreifende Umwandlung Russlands zur Folge hatte, lste allerdings das sozialeProblem der russischen Bauernschaft, die Leibeigenschaft, nicht. Einerseits blieben dieBauern im Mir-System verhaftet, andererseits reichte das Land, das zum Verkaufanstand, nicht aus. Landadel und freie Bauernschaft besaen den grten Teil desLandes. Fr die Deutschen gipfelte die extreme kulturelle Bedrohung in der Einfhrungder russischen Sprache im Schulunterricht 1891. Damit war die Pflege der deutschenKultur auf den engsten Familienkreis zurckgeschnitten.Das durch den Landhunger entstandene Stadtproletariat, die Verarmung und Ver-elendung der Bauern sowie die anhaltende Identittskrise russischer Intelektueller, botSozialrevolutionren das Feld zur Agitation. Die Mobilmachung im Ersten Weltkriegschwchte die letzten widerstehenden Krfte im Lande. Der Zar musste 1917 abdanken.Die einsetzende Umstrukturierung der Gesellschaft, fortschreitende Russifizierung und

    die Kollektivierung der Wirtschaft, hatten Massenabwanderungen zur Folge. Fast dasgesamte deutsche Stdtebrgertum setzte sich in den Westen ab. Das gleiche geschahunter den Deutschen Sdrusslands. Ziel war das Deutsche Reich oder Amerika.Diejenigen, die zurckbleiben mussten, widersetzten sich den Zwangsabgaben und derunter Stalin ein setzenden Zwangskollektivierung.

    Marxstadt/Wolga Zentralbibliothek ca. 1930

    Als Sonderbeispiel fr die Entwicklung und Entfaltung deutscher Wirtschaft und Kulturgilt die Republik der ASSR der Wolgadeutschen, die Lenin noch kurz vor seinem Tod1924 einrichtete. Trotz der unter seinem Nachfolger Stalin vorgenommenen sogenannten Entkulakisierung und Zwangskollektivierung erlebte die Republik in denersten Fnfjahresplnen eine auerordentliche wirtschaftliche Belebung.Es entstanden Verlage, eine bedeutende Schulbuchindustrie und landwirtschaftlicheBedarfsindustrie. Hinsichtlich der Einfhrung der modernen Produktionsmethoden in derLandwirtschaft, nahm die Republik der Wolgadeutschen einen fhrenden Platz in derUdSSR ein. Von Jahr zu Jahr stiegen die Ernteertrge. Mit dem Wachstum und denWandlungen in der Volkswirtschaft der Republik begann sich hier auch die Kultur zuentfalten. In anderen Gebieten wurden deutsche nationale Bezirke (Rayons) gegrndet.

    In der RSFSR sechs, davon einer auf der Krim und einer im Altaigebiet, neun in derUkraine, einer in Georgien, einer in Aserbaidschan.

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    Zwangssuberungen und Zweiter Weltkrieg

    Mit Stalin setzte eine neue Welle zur Durchsetzung der Zwangskollektivierung ein. Beider so genannten Entkulakisierung wurden besonders in den Jahren 1929, 1930 unddann 1936-1939 Tausende von Deutschen und Russen aus den Kolonien nach Sibirien

    und Mittelasien umgesiedelt, verschleppt, meistens aber liquidiert und umgebracht.Selten kam jemand aus der Verbannung zurck. In den Kolonien verblieben Frauen undKinder. Die Bevlkerung ging besonders in den beiden grten Siedlungsgebietenwesentlich zurck. Laut Volkszhlung von 1926 waren im Wolgagebiet nur noch 379 630Deutsche gegenber 650000 im Jahre 1914. Fr das Schwarzmeergebiet lauteten dieentsprechenden Zahlen 355000 gegenber 650000. Mit der Einfhrung der Kolchosenund der Enteignung und Zusammenlegung des Landes begann die Durchsetzung dereinstmals rein deutschen Drfern mit Einwohnern anderer Nationalitt.

    Die Missachtung des Nichtangriffspaktes zwischen dem Deutschen Reich und derSowjetunion, der 1939 geschlossen wurde und dem Einmarsch der Hitlerschen Truppen1941 in die Sowjetunion hatte die zwangsweise Verschleppung der restlichen deutschenBevlkerungsteile mit dem Ziele der Zerstreuung und Liquidierung zur Folge. Zuerst

    wurden die Deutschen auf der Krim und an der Wolga erfasst. Die Deutschen in derUkraine blieben bis zum Westwrtsrcken der Roten Armee unter der deutschenVerwaltung im Reichskommissariat Ukraine. Augenzeugenberichten zufolge, sollen diedeutschen Soldaten erstaunt darber gewesen sein, dass sich die Bevlkerung in denDrfern dermaen dezimiert htte. Im Reichskommissariat bereitete man dieVolksdeutschen auf die Rckfhrung ins Reich vor. Das schnelle Westwrtsrcken derRoten Armee erforderte zum Teil eine berhastete Flucht. Tausende machten sich inTrecks auf den Weg nach Westen, wo sie im Warthegau angesiedelt werden sollten. Dieschnell nachrckenden Truppen der Roten Armee sonderten die Volksdeutschen ausRussland aus und fhrten sie angeblich an die alten Siedlungsgebiete, tatschlichaber in die Verbannungsgebiete nach Sibirien und Mittelasien zurck. Sie wurdenrepatriiert. Diejenigen Volksdeutschen, die sich auf dem Gebiet der spteren

    Bundesrepublik befanden, wurden zum groen Teil von den Alliierten an die Sowjetsausgeliefert. Sie ereilte das gleiche Schicksal. Die Russlanddeutschen blieben bis zumEnde des Krieges und bis zum Besuch Adenauers in Moskau 1955 unterSonderkommandantur.

    Deutsche Mnner und Frauen in der Trudarmja (Arbeitsarmee)

    Sie lebten hinter Stacheldraht in Holzbaracken und in Erdhhlen, die sie sich selbstgruben. Sie hatten Schwerstarbeit zu verrichten, Holz zu fllen, Eisenbahnlinien zubauen, untertage zu arbeiten. Die Lebensmittelrationen waren gering. Frauen wurden

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    von ihren Kindern und Mnnern getrennt. Viele starben unter diesen katastrophalenVerhltnissen. Die Deutschen blieben bis 1955 rechtlos. Auch nach derWiederherstellung ihrer menschlichen Wrde war es ihnen lange verwehrt, Verwandtein benachbarten Drfern zu besuchen. 1964 konnte eine Teilrehabilitierung erreichtwerden, die Deutschen durften nun ihre Drfer verlassen. Allerdings bleibt es ihnenbis zum heutigen Tage verwehrt, in die alten Siedlungsgebiete zurckzukehren. Die

    Pflege deutscher Kultur wurde staatlicherseits unterdrckt. MuttersprachlicherUnterricht in der Schule war unmglich. Die Nachkriegsgeneration erlebte eineErziehung mit deutsch-nationaler Komponente im familiren Bereich, ohne dieMglichkeit gehabt zu haben, sprachliche Identitt zu entwickeln. Als sowjetischeBrger deutscher Nationalitt war man lange Zeit ein Mensch zweiter Klasse.

    Soziale und sprachliche Umschichtungen

    Ein wesentlicher Aspekt der mangelhaften Entfaltung deutscher Kultur in derSowjetunion nach 1964 ist das schwache sprachliche Ausdrucksvermgen der Deutschenin ihrer Muttersprache. Das liegt einerseits daran, dass durch die Deportation die dieZukunftstragende Generation, also die in den 30er/40er und teilweise 50er Jahren

    geborene Generation keine oder nur eine unzureichende Schulbildung genossen hat.Wenn berhaupt deutsch in den Familien gesprochen wurde, dann hufig nur im Dialekt.Andererseits entfielen fr gut zwei Jahrzehnte nach der Deportation die die Hochsprachefrdernden Institutionen wie Schule und Kirche.

    Erstmals wurde die Frage des muttersprachlichen Unterrichts fr deutsche Kinder nachdem Kriege in der Verordnung des Erziehungsministeriums der RSFSR im Jahr 1957/58angesprochen. Hierin wird zugestanden, dass in Klassen, die eine berwiegendeMehrheit von deutschen Kindern haben, der Unterricht in der Muttersprache, und zwar inallen Fchern, durchgefhrt werden kann, wenn es die Eltern wnschen. Ansonsten solleDeutsch als Fremdsprache ab der zweiten Klasse angeboten werden. Allerdingsscheiterte diese theoretische Zusage oft an den rtlichen Behrden oder am Fehlenqualifizierter Lehrer. Deutsche wurden bis in die 70er Jahre nur schwer zum Studiumzugelassen. Auerdem herrschte Mangel an deutschen Schulbchern, so dass teilweisedeutsche Zeitungen aus der DDR als Unterrichtsmaterial genommen wurden.Dementsprechend schlecht blieben die Kenntnisse in der deutschen Muttersprache,zumal die Lehrinhalte, die sich meistens auf ideologische Themata beschrnken, fr dentglichen Gebrauch der Sprache nutzlos sind.

    Die wichtigsten Presseorgane fr die deutsche Bevlkerung in der UdSSR sind die 1957gegrndete Zeitschrift Neues Leben und die 1966 gegrndete Freundschaft. Die ersteerschien in Moskau, die zweite in Zelinograd. Die Freundschaft wurde zurTageszeitung. Ebenfalls 1957 richteten Radio Moskau und Radio Alma-Ata einendeutschsprachigen Sender ein. Das Programm ist wie auch in den Zeitungen gefllt mitbersetzungen linientreuer Artikel. Die Redaktionen bestehen teils aus Russen, teils aus

    deutschen Sowjetbrgern.

    Neben kleineren Lokalbhnen besteht seit 1968 das erste deutsche Berufsensemblenamens Freundschaft in Karaganda, das erhebliche Existenzprobleme hat. Vor allemBudgetprobleme bereiten dem Ensemble Sorgen. Da es schwierig ist, dem deutschenPublikum Stcke von hohem Niveau in deutscher Hochsprache zu verkaufen, musste dasTeam auch Stcke in anderen Sprachen aufnehmen, was dem deutschen Theaterwiederum abtrglich ist.

    Seit 1980 existiert ein deutsches Schauspieltheater heute in Alma-Ata, das sich diversenThemen widmet. Der- Spielplan umfasst sowohl Historisches, wie das Stck Auf denWogen der Jahrhunderte", das die Geschichte der Wolgarepublik zum Thema hat, alsauch klassisches Schauspiel wie Emilia Galotti, Die Ruber, Kabale und Liebe",

    Hnsel und Gretel" usw. Die Aktivitten auf dem Gebiet des deutschen Schauspielsbleiben jedoch nach wie vor bescheiden. Volksnher und zugkrftiger sind diekirchlichen Organisationen. Nach wie vor bildet die evangelische Konfession und die

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    der Mennoniten und Baptisten die grte Gruppe der deutschen Glubigen. DasZentrum liegt in Kasachstan, vor allem in Akmolinsk und Karaganda. Dort grndeteEnde der 50er Jahre Pastor Bachmann die erste evangelische Gemeinde. Weiterefolgten. Die Gottesdienste wurden zunchst in Privathusern hinter verschlossenenFenstern abgehalten, spter lie man die Gemeinden registrieren, da nur dadurch derBau von offiziellen Gotteshusern mglich wird. Allerdings ist das noch lange keine

    Garantie fr das Gedeihen des kirchlichen Lebens. Die atheistische Staatsauffassungdes kommunistischen Regimes versuchte durch Einschchterungen und erhhteSteuerforderungen, die kirchlichen Aktivitten lahm zu legen, so dass durch zu-stzliche Beschattung der Gottesdienste stets Angst vor der Auflsung der Gemeindebesteht. Leben und Gedeihen der Gemeinde hing von dem Ermessen des Staates ab.

    Karaganda/Kasachstan Frauenseite in der luth. Kirche 1987

    Entsprechend gestaltete sich die Lage der katholischen deutschen Gemeinde, vondenen 1985 13 registriert sind. Die erste katholische Gemeinde entstand 1969 inFrunze und wurde von dem letzten geweihten deutschen Priester Prlat Khlerbetreut. Die nachfolgenden Priester (auch der anderen Gemeinden) kommenberwiegend aus den katholischen Zentren der Sowjetunion, aus der Ukraine, ausPolen, Litauen oder Lettland. Ansonsten besteht zu ihnen kein Kontakt, ebenso wenigwie zum Vatikan. Das Nachwuchsproblem ist bei allen Konfessionen gro. Auerdemfehlen Bibeln und Gesangbcher.

    Die diplomatische Stabilisierung des Verhltnisses zwischen der Sowjetunion und derBundesrepublik Deutschland in Form der Ostvertrge und der Vertrge von Helsinki,ermutigten viele Russlanddeutsche ihre Benachteiligung selbst zu artikulieren. Esformierten sich im Untergrund Kreise, die entsprechende Flugblattaktionen undDemonstrationen vorbereiteten. Der Kampf um die verweigerte Ausreise wurde zumTeil mit drastischen Mitteln gefhrt. Man versuchte in die bundesdeutsche Botschaftin Moskau einzudringen, auf dem Roten Platz fanden Demonstrationen statt. Siewurden allerdings vom KGB schnellstens unterdrckt. Auch der Kontakt zu russischenDissidentenkreisen blieb ohne ffentlichen Einfluss. Die sowjetischen Behrdenreagierten mit brutalen Diskriminierungen und strafrechtlicher Verfolgung. Diemassive, unter nationalen Gesichtspunkten zu verstehende Unterdrckung derDeutschen in der Sowjetunion, hatte ein enges Zusammenhalten der Volksgruppe zur

    Folge.

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    Mitglieder des Deutschen Schauspieltheaters diskutieren ber die Nationale Identitt" derDeutschen in der UdSSR

    Beschrnkung auf das Familienleben und die Flucht in die innere Emigration prgendas Psychogramm des Russlanddeutschen. Tiefe Religiositt, wie sie von denGroeltern, die oft die Kinder in den Lagern behteten, tradiert wurde, vermitteltepositive berlebensstrategien. Die Idee der kirchlichen Kultur lebte wieder auf. DieSprache wurde eben- falls von der Gromutter oftmals i m Dialekt bruchstckhaftbermittelt. Dem fast aussichtslosen Kampf in der Sowjetunion stand die Mglichkeitder Ausreise im Rahmen der Familienzusammenfhrung gegenber. Viele Kinder

    wurden bereits mit dem Gedanken grogezogen, einmal in die BundesrepublikDeutschland auszuwandern. Es setzte eine Westwrtswanderung der Familien vonMittelasien und Sibirien in den europischen Teil der Sowjetunion ein, mit derHoffnung von hier aus ein besseres Sprungbrett in den Westen zu haben. DasDeutschtum verteilte sich auf diese Art und Weise ber das gesamte Gebiet derSowjetunion.

    Ausreise oder Autonomie

    Die Lockerung der Diskriminierung unliebsamer Vlkerschaften in der Sowjetuniongegen Ende der Siebziger Jahre und das Heranwachsen der neuen unbefangenerenGeneration der Russlanddeutschen lieen offizielle Petitionen immer hufiger werden.

    ber die Untergrundpresse und die Samizdatkanle gelangten entsprechendeInformationen ber die Lage der Russlanddeutschen in der Sowjetunion ins westlicheAusland. Immer strker kristallisierten sich zwei Strmungen, die eine nach demWunsche der Ausreise, die andere nach dem Wunsch der Rehabilitierung undWiedererrichtung der wolgadeutschen Republik heraus.

    Mit dem Regierungsantritt Gorbatschows 1985 konnten sie frei in der ffentlichkeitartikuliert werden. Die Ausreiseantrge in die Bundesrepublik Deutschland schnelltenab 1987 in die Hhe. Gleichzeitig formierte sich die Interessenvertretung derDeutschen in der Sowjetunion, die so genannte Allunionsgesellschaft Wiedergeburt".Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Wiedererrichtung der wolgadeutschen Republik, dieWiederherstellung der autonomen Rechte zu erreichen. Forderungen nach politischenund sozialen Verbesserungen verstrkten sich. Sie wurden nunmehr ffentlich

    diskutiert. Fr die Russlanddeutschen war besonders die Verbesserung desmuttersprachlichen Unterrichts und die Erleichterung religiser Ausbung wesentlich.Zum Dauerbrenner entwickelte sich die Diskussion um die Entbrokratisierung des

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    Ausreisens. Es begann sich eine ffentliche Diskussion um das Problem derRusslanddeutschen zu entspannen. 1988 erschien zum ersten Mal ein gro angelegterArtikel in einer sowjetischen Zeitschrift, der auf die aktuellen Probleme derRusslanddeutschen hinwies. Die deutsche Frage wurde zum ffentlichen Interesse.Dies hatte zur Folge, dass 1987 die evangelische Kirche der Deutschen in derSowjetunion mit dem Sitz in Riga gegrndet worden ist, die religises Leben auf der

    Gemeindeebene ffentlich zulsst. In diesem Rahmen wurde ein neues Gesangbuchfr die neue evangelische Kirche in Russland verffentlicht. Auerdem haben dieRusslanddeutschen die Mglichkeit erhalten, ihre Forderungen politisch zuartikulieren. Der neu geschaffene Nationalittensowjet hat deutsche Mitglieder. ImHerbst 1989 wurde die Wiedereinsetzung der Wolgadeutschen in ihre frheren Rechtedekretiert.

    Mitglieder der Moskauer Ortsgruppe der Wiedergeburt" vor dem Kreml 1989

    Die praktische Wiederbesiedlung der Wolgadeutschen Republik war aufgrund vonProtesten der einheimischen Bevlkerung nicht mglich. Die Diskussion um dieErnsthaftigkeit der Bemhungen von Regierungsseite aus kulminiert in der offenenFrage zwischen Gehen oder Bleiben.ber diese Kontroverse hin entwickelten sich verschiedene Strmungen innerhalbder Wiedergeburt. Die Existenzfrage der Deutschen wurde kontrovers diskutiert.Einige Krfte pldierten fr die Besiedlung neuen Raumes, wie z.B. das Gebiet inOstpreuen, andere halten an der wolgadeutschen Version fest, wieder anderesehen nur die Ausreise als Mglichkeit, ihr kulturelles Erbe zu erhalten. Sie sind in

    der Mehrzahl. Insofern fhrt der Kampf um eine Wiedereinfhrung der Autonomieins Leere, wenn diese Gruppe auswandert oder schlichtweg nicht mehr existiert. Mankann es aber wohl einer Volksgruppe, die jahrzehntelang diskriminiert wurde, nichtverdenken, einen endgltigen Schlussstrich unter die Vergangenheit in ihremHeimatland zu setzen.Schon lange ist die Bundesrepublik Deutschland zum Fernziel selbst der jungenLeute geworden. Die gleichzeitig bestehende Unsicherheit hinsichtlich der Li-beralisierung und Demokratisierung in der Sowjetunion frdert diese Entscheidung.Der Integration in Deutschland liegen daher folgende Gegebenheiten zugrunde:

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    1. Soziale Umstrukturierung

    Vor dem Ersten Weltkrieg war das Russlanddeutschtum zu 95% buerlichlndlich.Zwischen den Kriegen nahm der Anteil der Stadtbewohner allmhlich zu (1926: 15,4%;1939: 19%; 1941: 27%). Bei der Volkszhlung 1959 lebten 636 189 (39,3 %) Deutsche

    in Stdten, 1970 waren es bereits 838 515 (45,4 %). Dementsprechend kommt derheutige Anteil der Russlanddeutschen vorwiegend aus dem handwerklich-technischenBereich, der sich in den Stdten konzentriert. Die schlechte Versorgung auch zum Teilvon Grundnahrungsmitteln veranlasste allerdings viele Deutsche eine kleineNebenerwerbswirtschaft zu halten. Hier kooperierte vor allem der Familienverband,oftmals wurde sogar zusammen ein Haus gebaut. Dieser Teil der Nebenbeschftigung istbesonders unter dem Aspekt nicht zu verachten, als er im alltglichen Leben besonderenRaum einnimmt. Er kompensierte oftmals die mangelnde Mglichkeit sich am eigenenArbeitsplatz zu entfalten, da hier oftmals der Nachschub an Kleinmaterialien auf sichwarten lie.

    2. Das Psychogramm der Russlanddeutschenbesteht aus mehreren Schichten. Traditionelle berlieferungen und Verhaltensnormenwerden berlagert von sozialen Strukturen der sowjetischen Gesellschaft. Kirche undFamilie sind fr viele seelischer Stabilisator. Sie besonders vermitteln auf ihrer Ebene dasZusammengehrigkeitsgefhl der Deutschen untereinander. Das Selbstbewusstsein derDeutschen in der Sowjetunion wird sowohl von einem ausgeprgten Nationalbewusstsein,als auch tiefer Religiositt geprgt, was ihnen die schwere Zeit der Deportationerleichterte. Die nachfolgende Unterdrckung und Diskriminierung sind Bestandteil derbestehenden Ausreisemotive. Minderwertigkeitsgefhle und Introversion des Einzelnenverschrfen das Bewusstsein Deutscher zu sein und darauf stolz zu sein. Die nationaleIdentifikation, als auch persnliche Entfaltung und das Ergreifen von Eigeninitiative sindauf den familiren Rahmen reduziert.Dementsprechend fllt den traditionellen Festen, wie Weihnachten und Ostern eine ganzbesondere Bedeutung zu. Hier wird berliefertes deutsches Brauchtum gelebt. Diemeisten Russlanddeutschen lassen ihre Kinder taufen und feiern die christlicheBeerdigung. Dies steht im besonderen Gegensatz zur atheistischen Staatsordnung derSowjetunion.

    3. Ausreisemotive

    Obwohl die Deutschen in der Sowjetunion heute in die Sowjetgesellschaft integriert sindund wirtschaftliche Not nicht als Ausreisegrund angeben knnen, er gibt sich aus derhistorischen Entwicklung der Volksgruppe eine systemkritische Haltung. Sie besteht ausreligisen, ethnischen und politischen Komponenten. Sie erweisen sich bei der Bewertungder Ausreisegrnde, als wichtiger denn die wirtschaftlichen.Es war und ist fr das berleben der Volksgruppe von besonderem Interesse die religiseund sprachliche Identitt zu wahren. Beides bedingte im Zarenreich einander.Dementsprechend sorgsam pflegt man Freundschaften untereinander, dementsprechendsorgsam ist das Heiratsverhalten. Systemkritische und wirtschaftliche Komponenten, wiez.B. die Kritik am Kolchossystem, der Behinderung der Zulassung von Privatwirtschaftund besseren Mglichkeit Rechte geltend zu machen, gewinnt vor allem vor demHintergrund der aktuellen Nationalittendebatte weniger an Gewicht. DieEntspannungspolitik strkt das Selbstbewusstsein der mittelasiatischen Vlker, so dassdie Deutschen im mittelasiatischen Raum immer mehr unter einen Vertreibungsdruckgeraten. Die ungeklrte Zukunft des bislang bestehenden Sowjetstaates lsst viele ihre

    Entscheidung berprfen, im Lande zu bleiben.

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    Integration in die Bundesrepublik Deutschland

    Der Verlust der deutschen Sprache und das Festhalten an Glaube und Tradition lie diedeutsche Volksgruppe in der Sowjetunion besonders zusammenwachsen. Man ging in dieinnere Emigration und hielt zusammen. Es ist ein ausgeprgtes Nationalbewusstsein zu

    beobachten. Es wurde verstrkt durch den kulturellen Abstand der Nationalitten imVielvlkerstaat der Sowjetunion, der besonders im mittelasiatischen Raum zum tragenkommt. Die Kirche und der Glaube waren der seelische Stabilisator, der auch aufemotioneller Ebene ein Zusammengehrigkeitsgefhl frderte. SchlechteSprachkenntnisse und juristische Unterdrckung der Deutschen in der Sowjetunionschren Minderwertigkeitskomplexe. Das Psychogramm der Russlanddeutschenbeinhaltet auerdem eine sowjetimanente Prgung. Die berufliche Umstrukturierung, diedie Bevlkerung insgesamt im Laufe der Industrialisierung durchgemacht hat, drngteden Beruf des Landwirts an die Seite. Das Loslsen von der Scholle, die Aufgabe vonprivatem Eigentum frderte Interessen- Lind Initiativlosigkeit.Die in der Sowjetunion nach innen hin integrativ auf das Gruppenleben wirkendenEigenschaften stellen sich bei der Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland alsintegrationshemmend dar. Die auf dem Boden der Bundesrepublik entstandeneWohlstandsgesellschaft, die aufgrund der Niederlage im Zweiten Weltkrieg demdeutschen Nationalgefhl eher skeptisch gegenbersteht und das innige Verhltnis zurReligion aus ueren lebensbedrohenden Grnden wie das bei den Deutschen in derSowjetunion der Fall ist, weniger pflegt, tritt den Lebensauffassungen der Deutschen ausder Sowjetunion, die zudem meistens schlecht deutsch sprechen und aus Desinformationals Auslnder angesehen werden, oft verstndnislos gegenber. Die Enttuschung berdie Unkollegialitt ihrer Landsleute und das Vorfinden einer beginnenden multinationalenGesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, der die Deutschen in der Sowjetuniongerade entflohen sind, um, wie sie sagen, als Deutsche unter Deutschen zu leben, lstunter den Aussiedlern aus der Sowjetunion Unmut und Apathie aus. Auch die Kirche kannhier keine Heimatbieten, die sie auffngt. Das Festhalten am Bibeltext, die erhaltenenaltkirchlichen Formen, die die Russlanddeutschen pflegen, werden hier nicht mehr

    akzeptiert. Die Aussiedler brechen alle Brcken zum Herkunftsland ab. Sie behalten ihrenFamiliensinn und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich vllig in die neue Gesellschaft zuintegrieren. Abgesehen von der kulturellen und individuellen Eingliederung in diebundesrepublikanische Gesellschaft, hat der Russlanddeutsche, wenn er hier eintrifft vorallen Dingen administrative Probleme zu bewltigen. Wenn er das Registrierverfahren,das ihm die deutsche Staatsbrgerschaft anerkennt, absolviert hat, steht er vor derAufgabe, sich eine Wohnung Lind Arbeit zu suchen. Als bergangsstation werden ihm sogenannte bergangswohnheime angeboten. Da in der Bundesrepublik Deutschlandbesondere Engpsse im Wohnungsbau bestehen, mssen die Aussiedler oft bis zu zweiJahren in den bergangswohnheimen und Ausweichunterknften warten, bis sie eineeigene Wohnung zugewiesen bekommen.Das Arbeitsamt gewhrt ihnen Hilfe bei der beruflichen Integration und bei der

    sprachlichen Frderung. Engpsse bei der beruflichen Vermittlung entstehen vor allenDingen fr Akademiker, weniger fr technische Arbeiter und Handwerker. Zurzeitangebotene Sprachkurse knnen lediglich eine minimale Basis zur weiteren bung derdeutschen Sprache sein. Oftmals werden diese Kurse auch abgebrochen zugunsten einerArbeitsvermittlung. Dies kann spter zu erheblichen sozialen und kulturellenIntegrationsschwierigkeiten fhren. Ein besonderes Problemfeld bieten die Jugendlichen.Sie htten alleine ohne ihre Familie oftmals nicht an eine Ausreise gedacht. Sie sindherausgerissen worden aus ihrem Freundes- und Lebenskreis. Deutschkenntnissebesitzen sie kaum. Der enge Familienzusammenhalt und die Autoritt der Eltern stellt siehier bei der Eingliederung in die Schule vor groe Schwierigkeiten. Die bundesdeutscheKleinfamilie sowie das traditionslosere Leben in der modernen Gesellschaft erschwertenihnen den Anschluss an Freunde und deren kulturellem Verstndnis.

    Eben aber die Kinder sind es oft, die auf Grund ihres Alters schneller lernen und in derFamilie als Brcke zwischen Einheimischen und ausgesiedelten Verwandten dienen.

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    Erfahrungswerte zeigen, dass man ca. 3-5 Jahre ansetzen muss, bis dasEmigrationsverhalten abgebaut ist.Der Bewltigung dieser eben aufgefhrten Schwierigkeiten stellen sich die Liga derWohlfahrtsverbnde heutzutage, die Landsmannschaften, die Jugendverbnde,Privatpersonen, die in familirem Rahmen Patenschaften pflegen sowie die staatlicheAdministration. Sie alle sind bemht, Aufklrung zu betreiben und um gegenseitiges

    Verstndnis zu werben.

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