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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KOMPENDIUM Neurologischer Untersuchungskurs Sprachheilpädagogik und Logopädie Diuretika in der Praxis WISSENSCHAFT UND PRAXIS: Schwangerschafts- unterbrechung an einer Frauenklinik DIAGNOSTIK IN KÜRZE: Übertragung von Hepatitis-B-Virus Perkutane Nierenbiopsie bei Kindern 4. Die Untersuchung des Kopfes und der Hirnnerven Man beachtet zunächst die Ruhe- haltung des Kopfes, wobei zum Bei- spiel eine Schiefhaltung durch zervi- kale Diskushernie oder ein Torti- collis spasticus mit den immer wie- derkehrenden, langsamen, gequäl- ten Drehbewegungen auffallen können. Der Aspekt des Kopfes kann zum Beispiel durch eine knö- cherne Prominenz bei einem kalot- tennahen Meningeom oder durch geschlängelte, stark vorstehende, eventuell dolente Arterien, zum Beispiel bei Arteriitis cranialis, auf- fallen. Eine stark hervortretende Arteria angularis kann auf einen Kollateralkreislauf bei Carotis in- terna-Verschluß hinweisen (Abbil- dung 2). Die Palpation der großen Halsgefä- ße (stets jeweils nur eine Seite, um zum Beispiel einen Karotissinusef- fekt zu vermeiden) ist selten wirk- lich aufschlußreich. Selbst bei voll- ständigem Verschluß der Carotis interna ist meist keine sichere Sei- tendifferenz der Pulsationen festzu- stellen, wohl aber bei Verschluß der Cawolis communis. Die Beweg- lichkeit des Kopfes soll durch Be- schreibung des Winkels für das Drehen (bis 90 Grad beidseits) des Ohr-Schulterabstandes für das Seitwärtsneigen (bis zwei Querfin- ger) und des Kinn-Jugulumabstan- des für die Inklination und Reklina- tion (0/20 Zentimeter) umschrieben werden. Hier sind je nach Alter und Konstitution des Patienten jedoch nennenswerte Abweichungen mög- lich. Der Meningismus bei echter Reizung der Meningen (entzündlich oder bei Subarachnoidalblutung) muß vom Pseudomeningismus bei Zervikalspondylose oder reflektori- schem Blockieren des Kopfes bei drohender Einklemmung unter- schieden werden. Nur in der erst- genannten Gruppe ist auch der Lasägue (siehe Kapitel 11) positiv. Eine Dolenz der Nervenaustritts- punkte (supraorbital, infraorbital, mental) ist vieldeutig und diagno- stisch wenig aufschlußreich. Eine Dolenz des sogenannten Subokzip- talpunktes stellt in Wirklichkeit meist eine Druckempfindlichkeit der Ansätze der Nackenmuskeln am Hinterkopf dar. *) Der 1. Teil der Arbeit ist in Heft 47/ 1974, Seite 3392 ff. erschienen. Neurologischer Untersuchungskurs II. Teil*) Marco Mumenthaler Aus der Neurologischen Universitätsklinik Bern (Chefärzte: Professoren Marco Mumenthaler, Albert Bischoff und Kasimir Karbowski) DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 48 vom 28. November 1974 3463

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

KOMPENDIUM

Neurologischer Untersuchungskurs

Sprachheilpädagogik und Logopädie

Diuretika in der Praxis

WISSENSCHAFT UND PRAXIS:

Schwangerschafts-unterbrechung an einer Frauenklinik

DIAGNOSTIK IN KÜRZE:

Übertragung von Hepatitis-B-Virus

Perkutane Nierenbiopsie bei Kindern

4. Die Untersuchung des Kopfes und der Hirnnerven

Man beachtet zunächst die Ruhe-haltung des Kopfes, wobei zum Bei-spiel eine Schiefhaltung durch zervi-kale Diskushernie oder ein Torti-collis spasticus mit den immer wie-derkehrenden, langsamen, gequäl-ten Drehbewegungen auffallen können. Der Aspekt des Kopfes kann zum Beispiel durch eine knö-cherne Prominenz bei einem kalot-tennahen Meningeom oder durch geschlängelte, stark vorstehende, eventuell dolente Arterien, zum Beispiel bei Arteriitis cranialis, auf-fallen. Eine stark hervortretende Arteria angularis kann auf einen Kollateralkreislauf bei Carotis in-terna-Verschluß hinweisen (Abbil-dung 2).

Die Palpation der großen Halsgefä-ße (stets jeweils nur eine Seite, um zum Beispiel einen Karotissinusef-fekt zu vermeiden) ist selten wirk-lich aufschlußreich. Selbst bei voll-ständigem Verschluß der Carotis interna ist meist keine sichere Sei-tendifferenz der Pulsationen festzu-stellen, wohl aber bei Verschluß der Cawolis communis. Die Beweg-lichkeit des Kopfes soll durch Be-

schreibung des Winkels für das Drehen (bis 90 Grad beidseits) des Ohr-Schulterabstandes für das Seitwärtsneigen (bis zwei Querfin-ger) und des Kinn-Jugulumabstan-des für die Inklination und Reklina-tion (0/20 Zentimeter) umschrieben werden. Hier sind je nach Alter und Konstitution des Patienten jedoch nennenswerte Abweichungen mög-lich. Der Meningismus bei echter Reizung der Meningen (entzündlich oder bei Subarachnoidalblutung) muß vom Pseudomeningismus bei Zervikalspondylose oder reflektori-schem Blockieren des Kopfes bei drohender Einklemmung unter-schieden werden. Nur in der erst-genannten Gruppe ist auch der Lasägue (siehe Kapitel 11) positiv.

Eine Dolenz der Nervenaustritts-punkte (supraorbital, infraorbital, mental) ist vieldeutig und diagno-stisch wenig aufschlußreich. Eine Dolenz des sogenannten Subokzip-talpunktes stellt in Wirklichkeit meist eine Druckempfindlichkeit der Ansätze der Nackenmuskeln am Hinterkopf dar.

*) Der 1. Teil der Arbeit ist in Heft 47/ 1974, Seite 3392 ff. erschienen.

Neurologischer Untersuchungskurs

II. Teil*)

Marco Mumenthaler

Aus der Neurologischen Universitätsklinik Bern (Chefärzte: Professoren Marco Mumenthaler, Albert Bischoff und Kasimir Karbowski)

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Abbildung 2: 60jähriger Patient. Ver-schluß der Arteria carotis interna links. Stark vorspringende und pulsierende Arteria angularis am inneren Augen-winkel

Strömungsgeräusche bei der Aus-kultation des Schädels und des Halses sind bei größeren, beson-ders oberflächlich gelegenen arte-rio-venösen Kurzschlüssen oder bei Stenosen größerer (extra- und intrakranieller) Gefäße (Abbildung 3) nicht selten. Sie sind allerdings keineswegs immer wahrnehmbar, so daß das Fehlen von Strömungs-geräuschen weder ein arterio-ve-nöses Angiom noch eine Stenose ausschließt. Die lebhafte Auslö-sung der Eigenreflexe der Ge-sichtsmuskulatur ist so gut wie ausschließlich in pathologischen Fällen möglich: Eine Steigerung der perioralen Reflexe, ein sehr lebhafter Nasopalpebralreflex oder ein auslösbarer glabello-bukkaler Reflex deuten auf eine beidseitige Läsion kortikobulbärer Bahnen hin. Der Befund läßt sich beson-ders beim Status lacunaris, bei dif-fuser Hirnschädigung, auch beim Parkinson Syndrom nachweisen.

Abbildung 4 stellt die Hirnnerven schematisch dar.

1 Nervus olfactorius

Für die neurologische Diagnostik ist einzig die Aufhebung des Ge-ruchssinnes, die Anosmie, verwert-bar und nicht seine bloße Vermin-derung (Hyposmie). Wichtig sind allerdings auch die anamnesti-schen Angaben über die Wahrneh-mung von schlechten Gerüchen, als Ktkosmie etwa nach Gripperhi-nitis oder nach Läsionen der Fila olfactoria. Ebenso müssen sponta-ne Geruchshalluzinationen bei Pro-zessen im Bereich des Uncus be-achtet werden. Zur Prüfung des Geruchssinnes ist besonders Kaf-fee geeignet (von 70 Prozent unse-

Abbildung 3: Carotisarteriogramm rechts. Hochgradige Stenose der Arte-ria Carotis interna• an der Bifurkation

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III

VI

N. nasociliaris

N. frontalis

N. lacrimalis Chiasma opt.

V

IV

S.c. ee. 0

A. carotis int.

VII

XI

,

XII E2•5 V. jugularis Li°- 8

Abbildung 4: Die Hirnnerven in ihrer Beziehung zum Hirnstamm und zur Schädelbasis (aus H. Hornbostel et al., Innere Medizin in Praxis und Klinik, Band II, Thieme Stuttgart, 1973)

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rer Patienten richtig erkannt). Ei-nen starken Geruchsstoff stellt Asa foetida dar. Zum Testen einer Schleimhauterkrankung oder einer Simulation wird dem Patienten Am-moniak unter die Nase gehalten: Es stellt keinen Geruchsstoff, son-dern einen reinen Trigeminusreiz-stoffdar und wird auch bei Anosmie als Schleimhautreiz empfunden, spätestens bei Inhalation und Rei-zung der Bronchialschleimhaut.

Eine echte Anosmie findet sich am häufigsten nach Schädeltrauma und ist dann ein recht zuverlässi-ger Hinweis auf eine kontusionelle Hirnschädigung. Beim Olfaktorius-meningeom (Abbildung 5) bleibt die Anosmie oft lange einziges Symp-tom.

Patienten mit Anosmie klagen übri-gens oft über einen gestörten Ge-schmacksinn, da sie bei den Spei-sen nur die vier Grundqualitäten wahrnehmen (süß, sauer, bitter, salzig) und nicht mehr die feineren, durch den Geruchssinn vermittel-ten Besonderheiten.

II Nervus opticus

Dieser Hirnnerv — eigentlich ein vorgestülpter Hirnteil — ist als ein-ziger einer direkten Inspektion zu-gänglich. Das Aussehen der Seh-nervenpapillen kann wichtige Hin-weise auf neurologische Erkran-kungen geben (Tabelle 3). In ge-wissem Sinne können damit parallel auch Veränderungen der Seh-schärfe einhergehen.

Ein akuter einseitiger Visusverlust kann bei einer Fraktur der vorde-ren Schädelgrube in den Canalis opticus hinein auftreten. Bei Karo-tisverschlüssen kann vorüberge-hende, kurzdauernde Erblindung als Amaurosis fugax, bei Stauungs-papille als amblyope Attacke in Er-scheinung treten. Im weiteren kann eine ischämische Optikusneuropa-thie, zum Beispiel bei einer Arterii-tis temporalis, zu plötzlicher Erblin-dung führen. Ein beidseitiger plötz-licher Visusverlust wird selten ein-mal bei allgemeiner lschämie bei-

Abbildung 5: Olfaktoriusmeningeom. Im linksseitigen Karotisarteriogramm sind die Arteria cerebri anterior und die Arteria frontopolaris durch den Tumor bogig nach hinten konvex verdrängt

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re. A.

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der Retinae (Aortenbogensyndrom) auftreten; viel häufiger wird er Aus-druck eine Ischämie der Okzipa-tallappen bei Basilarisinsuffizienz sein. Ein rasch, jedoch nicht plötz-lich auftretender Visusverlust findet sich einseitig im Rahmen der Re-trobulbärneuritis, dann bei toxi-schen Ursachen oder bei Kompres-sion des Optikus beziehungsweise des Chiasmas. Im Optikus selber kann das Optikusgliom sich ent-wickeln und häufiger bei Kindern als bei Erwachsenen zu einem rasch progredienten Visuszerfall führen. Eine der wichtigsten Ursa-chen eines progredienten Visusver-lustes ist die Stauungspapille.

Die Prüfung des Gesichtsfeldes ge- schieht orientierend mit den Fin-

gern, sei es an einem Auge allein, sei es simultan an beiden Augen (Abbildung 6). Hierbei ist zu beach-ten, daß der Untersucher sich so vor seinen Patienten setzt, daß sein eigenes Gesichtsfeld als Kontrolle für die Anforderungen dient, die an das Gesichtsfeld des Patienten ge-stellt werden dürfen. Die simultane Prüfung des Gesichtsfeldes beider Augen vermag naturgemäß nur ho-monyme Gesichtsfelddefekte (an beiden Augen gleich gerichtete) aufzudecken. Sie vermag aller-dings auch eine sogenannte Unauf-merksamkeitshemianopsie nachzu-weisen, wie sie zum Beispiel bei Parietallappenschädigungen auf-treten kann. Vielfach wird man durch instrumentelle Prüfung einen Gesichtsfelddefekt präzisieren

müssen. Die topische Bedeutung von Gesichtsfeldstörungen ist in Abbildung 7 zusammengefaßt.

III, IV, VI Nervi oculomotorius, trochlearis und abducens

Die genannten drei Augenmuskel-nerven versorgen gemeinsam die äußeren Augenmuskeln, der Okulo-motorius auch den Lidheber und den Musculus constrictor pupillae. Ein Ausfall eines oder mehrerer Augenmuskelnerven führt zu einem paralytischen Strabismus (Läh-mungsschielen) mit Doppelbildern.

Derselbe Befund wird allerdings auch bei einer Läsion im Augen- muskelkerngebiet oder bei einer

Abbildung 6 (links): Digitale Prüfung des Gesichtsfeldes — Abbildung 7 (rechts): Gesichtsfelddefekte und ihre to-pische Zuordnung (aus M. Mumenthaler, Neurologie, 4. Auflage, Thieme Stuttgart, 1973)

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Abbildung 8: Typische Okulomotoriusparese links. Linkes Bild: Linksseitige Ptose und Abduktionsstellung des Bulbus; rechtes Bild: Man sieht hier die weite linke Pupille

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Affektion der Augenmuskeln selber (wie Myasthenie) beziehungsweise bei einer mechanischen Disloka-tion des Bulbus wegen eines in-traorbitalen raumfordernden Pro-zesses erhoben. Eine genaue Ana-lyse der Augenmotilität, eventuell durch Zuhilfenahme von Farbglä-sern, erlaubt meist die Diagnose des befallenen Nervs. Die Doppel-bilder sind dann am ausgeprägte-sten, wenn der Blick in jene Rich-tung gewendet wird, in welcher der ausgefallene Augenmuskel seinen maximalen Effekt aufweist (Ta-belle 4).

Klassische Lähmungsbilder sind al-lerdings oft schon mit einem Blick zu erkennen, so zum Beispiel die voll ausgebildete Okulomotoriuspa-rese (Abbildung 8 a und b). Wo ein Schielen ohne Doppelbilder auf-tritt, wird es sich meistens um ei-nen Strabismus concomitans alter-nans bei angeborener Sehschwä-che eines Auges handeln. Dies wird durch den Abdecktest nach-gewiesen (Abbildung 9). Eine Stö-rung der Augenmotilität ohne Schielen (und somit auch ohne Doppelbilder) stellt immer eine so-genannte supranukleäre, konju-gierte Blicklähmung dar. Die Lä-sion sitzt in einem den Augenmus-keln übergeordneten Zentrum für die Blickwendungen (Abbildung 10)

Die wichtigsten Typen sind in Tabelle 5 dargestellt. Beim Prüfen der Augenmotilität achtet man üb-rigens auch auf einen allfälligen Nystagmus der als Ausdruck einer Störung des vestibulären Apparates gilt.

Die Pupillen sollen in bezug auf ihre Weite, ihre Form und ihre Symmetrie beschrieben werden (zum Beispiel rund, mittelweit, iso-cor). Die Pupillenreaktion auf Licht (helle Lichtquelle in einem nicht allzu hellen Raum) bei direkter Be-lichtung und konsensuell bei Be-lichtung der Gegenseite, sowie die Konvergenzreaktion sind zu beur-teilen. Die Normabweichungen und ihre Bedeutung sind in Tabelle 6 dargestellt.

V Nervus trigeminus

Durch den Nervus trigeminus wird die Sensibilität aus dem Gesicht und aus den meisten Schleimhäu-ten im Kopfbereich geleitet, aber auch die motorische Innervation der Kaumuskulatur. Die Sensibilität prüft man am besten mit Watte, im-mer vergleichend auf beiden Sei-ten. Objektive Rückschlüsse er-möglicht die Prüfung des Korne-alreflexes. Hierbei soll die Kornea

leicht berührt werden (ausgezoge-ner Wattebausch, dicker Glaskopf einer Nadel) unter Vermeidung der Wimpern, der Konjunktiven und ohne vor der Pupille den Patienten optisch zu erschrecken. Auch bei Fazialisparese fehlt der reflektori-sche Lidschluß beim Berühren der Kornea. Hier wird aber die Auf-wärtswendung des Bulbus, das so-genannte Bell`sche Phänomen noch nachweisbar sein. Bei einsei-tiger motorischer Trigeminusläh-

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Papillenbefund neurologisch-diagnostische Bedeutung

ophthalmologische Differentialdiagnose

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Tabelle 3: Sehnervenpapille — Häufigste für die neurologische Diagnostik bedeutungsvolle Normalabwel-chungen

global blasse Status nach traumatischer Papille Optikusläsion (Sehnervenatrophie)

Schädelröntgen, inklusive Rhese-Aufnahmen

Leber'sche Optikusatrophie

Rhese-Aufnahmen des Canalis opticum

Kompression des Nervus opticus Optikusgliom Status nach Optikusischämie

zum Beispiel bei Arteriitis cranialis

toxische Optikusschädigungen

zum Beispiel Methylalkohol

Tabak-Alkohol-Amblyopie B12-Spiegel bestimmen

temporale Papillenabblassung Stauungspapille

I Fundusblutungen

Status nach Retrobulbärneuritis intrakranielle Druckerhö-hung, zum Beispiel bei Hirntumor Papillenödem bei Kortisonmedikation bei Ovulationshemmern Sinusthrombose

flächenhaft peripapillär bei Subarachnoidalblutung bei hochgradiger Stauungspapille bei maligner Hypertonie

charakteristisch bei multipler Sklerose Visus bei Papillitis vermindert, bei Stauungs-papille lange relativ intakt

tiefe physiologische Exkavation Papillenödem bei Papillitis

Papillenveränderungen bei maligner Hyper-tonie. Zentralvenen-thrombose. Drusen-papille, persistierende markhaltige Fasern

etwa zehn Prozent der Fälle

Tabelle 4: Symptome beim Ausfall der einzelnen Muskeln des rechten Auges — (aus Mumenthaler, Neuro-logie, 4. Aufl., Thieme 1973)

Nerv Muskel Stellung des paretischen Bulbus nach ...

(primäre Abweichung)

Maximum der Doppelbil- der beim Blick nach ...

Stellung und Art der

Doppelbilder

nasal N. oculomotorius Musculus rectus internus

temporal nebeneinander, gekreuzt

schräg Musculus rectus superior

unten und temporal temporal und oben (größte Schrägstellung: nasal und oben)

temporal und unten (größte Schrägstellung: nasal und oben)

oben und temporal Musculus rectus inferior

nasal und oben (größte Schrägstellung: temporal und oben)

unten und nasal Musculus obliquus inferior

nasal und unten (größte Schrägstellung: temporal und unten)

schräg

schräg

schräg N. trochlearis oben und nasal Musculus obliquus superior

nebeneinander, ungekreuzt

nasal N. abducens temporal Musculus rectus lateralis

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Abbildung 9 (links): Abdecktest bei alternierendem konkomitierendem Strabismus. Nur das freigegebene Auge fixiert jeweils den anvisierten Gegenstand — Abbildung 10 (rechts): Die für die Augenmotilität wichtigen supranukleären Strukturen. — c. q. = Corpora quadrigemina; f. I. med. = Fasciculus longitudinalis medialis; L. = Läsion bei inter-nukleärer Ophthalmoplegie; m. r. e. = Musculus rectus externus; m. r. i. = Musculus rectus internus; nucl. P. = Nucleus perliae; nucl. p. a. = Nucleus paraabducens; nucl. v. med. = Nucleus vestibularis medialis; nucl. v. sup. = Nucleus vestibularis superior; St. g. = Stammganglien — Im Kern des III: von rostral nach kaudal Musculus levator palpebrae, Musculus rectus superior, Musculus rectus medialis, Musculus obliquus inferior, Musculus rectus inferior (aus M. Mumenthaler, Neurologie, 4. Auflage, Thieme Stuttgart 1973)

mung spürt man die unterschiedli-che Kontraktion des Musculus masseter (oder der Musculi tem-porales) durch Betasten derselben beim kräftigen Zahnschluß. Wegen des Ausfalles der Musculi pterygoi-dei weicht der Unterkiefer beim öffnen auf die gelähmte Seite hin ab. Der Masseterreflex wird durch Schlag auf den Unterkiefer von oben nach unten (oder auf einen auf die untere Zahnreihe aufgeleg-

ten Spatel) ausgelöst. Er ist gestei-gert bei beidseitiger Läsion korti-ko-bulbärer Bahnen (zum Beispiel beim Status lacunaris). Ist die er-wähnte Bahn nur einseitig geschä-digt, kann es zu einer Augen-Kie-fer-Synergie (Blinzel-Kiefertest von Wartenberg) kommen: Beim Auslö-sen des Kornealreflexes beobach-tet man nebst dem Lidschluß ein Abweichen des Unterkiefers nach der Gegenseite hin.

VII Nervus facialls

Der Fazialnerv versorgt alle mimi-schen Gesichtsmuskeln sowie den Nervus stapedius motorisch. Die Gesichtsmuskulatur wird durch Stirnrunzeln, Faltenbilden der Gla-bella („bös schauen"), kräftigen Augenschluß, Naserümpfen, Zäh-ne zeigen, pfeifen und Nachvorne-schieben des Unterkiefers mit gleichzeitigem Zähnezeigen (Mus-

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Abbildung 11: Fehlsprossung nach Läsion des Stammes des Nervus facialis. Durch Fehlsprossung der auswachsenden Axone gelangen später Impulse für den Mundast auch zum Musculus orbicularis oculi (B)

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culus platysma) getestet. Bleibt beim Augenschluß die Sklera teil-weise noch sichtbar, dann liegt im-mer eine periphere Fazialisparese vor. Kann sie ganz verdeckt wer-den, dann handelt es sich entwe-der um eine zentrale oder um eine unvollständige periphere Gesichts-lähmung. Da der Nervus facialis auf einer Strecke im Canalis Fallop-

pii auch von den Geschmacksfa-sern aus den vorderen zwei Drit-teln der Zunge (durch den Nervus lingualis und die Chorda tympani zum Fazialisstamme gelangt) be-gleitet wird, fehlt bei entsprechend lokalisierter Fazialisläsion der Ge-schmackssinn. Die vier Ge-schmacksqualitäten werden durch Aufpinseln einer 20prozentigen

Zuckerlösung, einer zehnprozenti-gen Kochsalzlösung, einer fünfpro-zentigen Essigsäure- oder Zitronen-säurelösung oder einer einprozen-tigen Lösung von Chininsulfaten geprüft. Die Hyperakusis sowie die Störung von Speichel- und Trä-nensekretion sind mit Testmetho-den nachweisbar, werden jedoch von den Patienten spontan kaum je realisiert. Klinisch wichtig ist nach (partieller) Heilung einer periphe-ren Fazialisparese die Feststellung einer Masseninnervation. Wie bei jeder peripheren Nervenläsion, sprossen einzelne Axone in ande-re, als die ihren Ursprungsgan-glienzellen entsprechenden Mus-keln aus.

Diese Fehlsprossung führt da-zu, daß die Betätigung eines Muskels zu einer mehr oder weni-ger ausgeprägten Mitinnervation eines anderen Muskels, somit zu Massenbewegungen, führt (Abbil-dung 11).

VIII Nervus statoacusticus

Der achte Hirnnerv leitet die Erre-gungen aus dem Innenohr zentral-wärts. Einerseits sind dies die vom Ohr empfangenen akustischen Si-gnale, andererseits die Erregungen aus den drei Bogengängen (für Winkelbeschleunigung) und den Maculae von Sacculus und Utricu-lus (für lineare Beschleunigung).

Die Untersuchung des Gehörs er-folgt durch Prüfung der Hörschärfe isoliert an jedem Ohr. Dies ge-schieht zum Beispiel durch das Flüstern von Zahlen mit der Resi-dualluft (normal aus sechs Metern Distanz gehört). Findet sich eine nennenswerte (einseitige) Gehörs-abnahme, dann muß zwischen ei-ner Schalleitungsschwerhörigkeit (= Mittelohrschwerhörigkeit) und einer Schallperzeptionsschwerhö-rigkeit (= Innenohrschwerhörig-keit) unterschieden werden.

Normalerweise ist die Luftleitung besser als die Knochenleitung. Mit-tels einer Stimmgabel (C = 256 Hz) wird der Weber-Test durchgeführt: Die auf die Stirne aufgesetzte

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• • •

• • 1

• • I Pupillen oft entrundet

• Augenmotilität frei. Keine Kontraktion auf Myotika.

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Tabelle 5: Einige supranukteäre Augenmotilitätsstörungen (Vergleichen Sie mit Abbildung 10)

Name Klinisches Bild Läsionsort

Kortikale, frontale Blicklähmung

Area 8 des Stirnhirns bei frischer Läsion: Döviation conjuguäe zur Herdseite hin. Später: Blick nicht über die Mittellinie vom Herd weg; blickpareti-scher Nystagmus beim Blick auf die Gegen-seite

Kortikale okzipitale Blicklähmung

Area 19 des Okzipitallappens

sakkadierte Bewegungen des Bulbus beim Verfolgen eines Gegenstandes in Richtung auf die Läsionsseite hin. Gestörter optokine-tischer Nystagmus, wenn Reiz aus der Ge-genseite der Läsion her erfolgt

Parinaud-Syndrom (vordere) Vierhügel Unfähigkeit, nach oben zu blicken

Pontine, horizontale Blicklähmung

Nucleus paraabducens in der Brücke

Unfähigkeit, auf die Seite der Läsion hin zu blicken

Internukleäre Ophthalmoplegie (L in Abbildung 10)

Fasciculus longitudinalis medialis

Bei Blickwendung kann der adduzierte Bul-bus nicht über die Mittellinie hinaus bewegt werden. Hingegen ist bei Konvergenz eine Adduktion der Bulbi möglich

Tabelle 6: Pupillenreaktion auf Licht bei direkter Belichtung und konsensuell bei Belichtung der Ge-genseite — Normabweichungen und ihre Bedeutung

Ausgangs- lage

Direkte Belichtung

Belichtung der

Gegenseite Konvergenz Besonderheiten

• Normal • •

Amaurotische Pupillenstarre • I • • • •e • Rechts blind

• Oculomotoriusläsion ( und Ganglionitis ciliaris)

• Rechts Augenmotilität nur bei Ocutomotorius-parese gestört. Kontrak-tion auf Myotika Augenmotilität frei. Tonische Erweiterung nach Konvergenz-reaktion

• • I Adie - Pupille ( Pupillotonie) •

• Argyll Robertson Reflektorische

Pupillenstarre) •

Atropineffekt • • I DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 48 vom 28. November 1974 3471

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Neurologischer Untersuchungskurs

schwingende Stimmgabel wird nor-malerweise diffus im ganzen Kopf beziehungsweise in beiden Ohren zugleich gehört. Im Rinne-Test wird die Stimmgabel auf das Mas-toid aufgesetzt. Sobald sie hier nicht mehr gehört wird, hält man sie vor den Gehörgang. Nun wird sie normalerweise etwa noch ein-mal so lange wie beim Aufsetzen auf das Mastoid gehört. Die Norm-abweichungen sind in Tabelle 7 dargelegt.

Eine vollständige Ertaubung ist im-mer Ausdruck einer Schädigung des Schallperzeptionsapparates. Der Neurologe sieht gelegentlich Patienten mit akuter Ertaubung. Ur-sächlich kommen Schädeltraumata mit Pyramidenfrakturen (quer) in Frage, dann aber auch Befall durch Mumps- oder Zostervirus, seltener Ischämien im Gebiete der Arteria labyrinthi mit einer „Apoplexia cochleae". Selten beginnt eine

multiple Sklerose mit einer akuten, eventuell beidseitigen Ertaubung. Der häufigeren, progredient verlau-fenden Ertaubung können raumfor-dernde Prozesse, besonders im Kleinhirn-Brückenwinkel, zugrunde liegen, dann aber auch heredode-generative Erkrankungen, Stoff-wechselanomalien, neurotoxische Medikamente, basale Meningitiden oder eine Lues.

Die Untersuchung des vestibulären Systems beruht auf der Tatsache, daß es die Augenmuskelfunktion beeinflußt sowie den Tonus der Skelettmuskeln und damit die Kör-perhaltung kontrolliert. Vor allem bei Vestibularaffektionen kommt es an den Augen zu einem Nystag-mus, wobei dieser nach seiner ra-schen Komponente benannt wird.

Man beachtet im weiteren, ob die Nystagmusschläge rasch oder langsam, grob- oder feinschlägig,

erschöpfbar oder unerschöpfbar sind und in welcher Richtung sie gehen (horizontal, vertikal, rotato-risch). Die Bedingungen, unter wel-chen der Nystagmus sichtbar wird, sind für seine Bewertung ebenfalls wichtig: Ohne Provokation als Spontannystagmus, nur bei Blick-wendung, beim Lagern des Kopfes in eine bestimmte Stellung (Lage-rungsnystagmus) oder dauernd in einer konstanten Stellung des Kop-fes (Lagenystagmus), nach Kopf-schütteln oder beim Drehen des Kopfes. Schließlich können Modifi-kationen im Ablauf des normalen provozierten Nystagmus (Nystag-mus nach Drehreizen und nach Kalt- oder Warmspülung des Oh-res) Hinweise auf Störungen des vestibulären Systems geben.

Auch der praktische Arzt kann sich durch eine einfache Provokations-methode, eine Warm- oder Kaltspü-lung, zumindest ein Bild darüber

Tabelle 7: Schalleitungs- und Schallperzeptionsschwerhörigkeit (rechte Seite pathologisch)

Typus Flüsterzahlen Weber'scher Versuch

Rinne-Versuch Bemerkungen

normal mit Residualluft beidseits aus sechs Metern Entfernung gesprochen

auf die Stirne auf-gesetzte Stimm-gabel „beidseits" (in der Stirne, dif-fus) gehört

Stimmgabel auf Ma-stoid. Wenn nicht mehr gehört, vor das Ohr. Hier doppelt so lange wie auf dem Mastoid gehört. Luftleitung ist besser als Knochenlei-tung. Rinne positiv = normal

Schalleitungs-schwerhörigkeit

rechts vermindertes Gehör

nach rechts lateralisiert

pathologisch, das heißt vor dem Ohr verkürzt oder gar nicht mehr wahrgenommen

nie vollständige Taub-heit. Zum Beispiel nach Otitis oder Schädel-trauma

Schallperzep-tionsschwer-hörigkeit

rechts vermindertes Gehör

nach links lateralisiert

L

Rinne positiv, das heißt normal vor dem Ohr länger als auf dem Mastoid wahrgenom-men. Bei Perzeptions-taubheit durch Kno-chenleitung auf der Ge-genseite gehört

kann bis zur vollständi- gen Taubheit führen. Zum Beispiel nach Py-

ramidenquerfraktur, Tumor im Kleinhirn-brückenwinkel

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Treten an Ort

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Abbildung 12 a (links) und b (rechts): Treten an Ort mit geschlossenen Au-gen; rechtes Bild: Sterngang nach Weil-Babinski

3474 Heft 48 vom 28. November 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Neurologische Untersuchung

machen, ob eine nennenswerte Un-tererregbarkeit eines Vestibularap-parates vorliegt. Der Kopf des lie-genden Patienten wird um 30 Grad gehoben (oder beim sitzenden Pa-tienten um 60 Grad nach hinten ge-neigt). Durch Otoskopie überzeugt man sich, daß das Trommelfell in-takt ist. Dann wird der äußere Ge-hörgang gleichmäßig während etwa 30 Sekunden mit 100 bis 200 Kubikzentimetern warmem (40 Grad Celsius) oder, einfacher, kal-tem (Zimmertemperatur etwa 20 Grad) Wasser gespült. Wie letzte-res wirkt auch eine Spülung mit zehn Kubikzentimetern Eiswasser.

Normalerweise wird Kaltspülung zum Beispiel Schwindelgefühl, Übelkeit, Horizontalnystagmus mit der raschen Komponente zur Ge-genseite, sowie ein Vorbeizeigen zur Gegenseite und im Stehen eine Falltendenz zur gespülten Seite hin erzeugen. All dies ist bei nennens-werter Untererregbarkeit eines Ve-stibularapparates gemildert und verkürzt, bei Unerregbarkeit fehlen diese Reaktionen ganz.

Aber auch ohne eine eigentliche Läsion des vestibulären Apparates kommen Nystagmusstörungen vor. Erwähnt sei zum Beispiel das Feh-len des optokinetischen Nystagmus bei Läsionen der kortikotegmenta-len Bahnen aus der optomotori-schen Area 19. Bei Beeinträchti-gung des supranukleären Appara-tes der Augenmotorik kann es zum Blickwendungsnystagmus oder zum blickparetischen Nystagmus kommen. Nichts mit dem Vestibular-apparat hat auch der als Pendel-nystagmus in Erscheinung tretende Fixationsnystagmus bei angebore-ner Störung des optischen Systems zu tun.

Einen Hinweis auf die Funktions-tüchtigkeit des Vestibularapparates geben uns auch eine Reihe von Gleichgewichtsproben. Es sei je-doch betont, daß auch eine Reihe anderer Systeme hierbei mitgete-stet werden:

Die sensiblen Afferenzen aus der Peripherie, die aufsteigenden Bah-

Abbildung 13: 56jährige Frau mit basaler Impression. Hypoglossusparese rechts. Die rechte Zungenhälfte ist atrophisch, die Zunge weicht beim Heraus-strecken nach rechts ab

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Abbildung 15: Prüfen der Kontraktion des M. sternocleido-mastoideus links. Der Kopf wird kräftig nach rechts gegen den Widerstand des Untersuchers gewendet

Abbildung 14: Kulissenphänomen bei Parese des IX. und X. Hirnnerven rechts. Das Gaumensegel wird auf die gesunde Seite hinübergezogen (aus M. Mumen-thaler, Hexagon Roche, Basel, 1974)

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nen des Rückenmarkes, das zere-belläre System, sogar die motori-schen efferenten Bahnen. Beim Rombergtest muß der Patient mit geschlossenen Augen und eng ge-schlossenen Füßen stehen. Der Test kann erschwert werden, in-dem die Füße nicht nebeneinander, sondern auf einer Linie, einer un-mittelbar vor dem anderen gehal-ten werden oder während des Test-ablaufs der Kopf gedreht oder der Rumpf nach vorne geneigt wer-den muß.

Der Normale kann den Einbein-stand mit geschlossenen Augen über mindestens fünf Sekunden ausführen. Der Strichgang (auf ei-nem Strich einen Fuß unmittelbar vor den anderen aufsetzen, Blick auf den Boden, dann an die Decke, dann sogar mit geschlossenen Au-gen) sollte dem normalen jüngeren Menschen in allen genannten Va-riationen möglich sein. Im Unterber-ger'schen Tretversuch (Abbildung 12 a) muß der Patient mit geschlos-senen Augen am Ort treten. Nor-malerweise kommt es nach etwa 50 Schritten zu einer Drehung von höchstens 45 Grad. Beim Stern-gang nach Babinski-Weil (Abbil-dung 12 b) muß der Patient mit ge-schlossenen Augen je zwei Schrit-te vorwärts und zwei Schritte zu-rückgehen. Bei einseitigem Laby-rinthausfall dreht der Patient all-mählich nach der lädierten Seite hin. Bei einer beidseitigen Aus-schaltung des Vestibularapparates wird er nicht mehr in der Lage sein, am Ort auf einer Matratze zu gehen, selbst nicht mit Augenkon-trolle.

IX, X Nervi glossopharyngicus und vagus

Durch Vermittlung der beiden Hirn-nerven erreichen die motorischen Fasern aus dem Nucleus ambiguus die Muskeln des Pharynx und des weichen Gaumens und über den Nervus recurrens vagi die Kehl-kopfmuskeln. Durch den Nervus glossopharyngicus verlaufen sensi-ble Fasern aus dem weichen Gau-men, dem Rachen, der Tonsillarni-

sche und dem Innenohr, durch den Nervus vagus vor allem solche aus dem äußeren Gehörgang. Der Glossopharyngicus enthält im wei-teren Geschmacksfasern aus den hinteren zwei Dritteln der Zunge.

Bei einer Parese des IX. und X. Hirnnervs wird eine Berührung des weichen Gaumens oder der Ra-chenhinterwand nicht empfunden und der Gaumenreflex (einseitig) nicht auslösbar sein. Beim Phonie-

ren („a") und beim Würgen wird das Gaumensegel auf die gesunde Seite hin gehoben und die Rachen-hinterwand wird wie eine Kulisse im Theater auf die gesunde Seite hinübergezogen („Kulissenphäno-men") (Abbildung 14). Die einseiti-ge Stimmbandlähmung erzeugt nur zu Beginn eine deutliche Heiser-keit. Später zeigt sich die Störung gelegentlich noch beim Singen und ist selbstverständlich jederzeit la-ryngoskopisch noch nachweisbar.>

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 48 vom 28. November 1974 3475

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XI Nervus accessorius

Der rein motorische Xl. Hirnnerv versorgt mit seinem Ramus exter-nus (spinalis) den M. sternocleido-mastoideus und in sehr variabler Überschneidung mit zervikalen Wurzeln den Musculus trapezius. Ein Ausfall von dessen oberer Portion ist bei Akzessoriusläsion kli-nisch besonders deutlich. Die Funktion des Musculus sternoclei-domastoideus prüft man, indem der Patient den Kopf gegen Widerstand auf die Gegenseite hin drehen muß und der Untersucher den sich hier-bei anspannenden Muskel tastet (Abbildung 15). Nicht selten wird unter Aussparung des Musculus sternocleidomastoideus nur der zum Trapezius ziehende Teil des Nervus accessorius lädiert (Drü-senbiopsie am Hals!). Dann wird eine Atrophie der oberen Trapezius-portion deutlich sichtbar werden und die Skapula wird mit ihrem la-teralen Ende leicht nach kaudal gekippt und etwas weiter von der Wirbelsäule abstehen („Schaukel-stellung").

XII Nervus hypoglossus

Eine einseitige Hypoglossusläsion hat eine Atrophie und Parese der entsprechenden Zungenhälfte zur Folge. Beim Herausstrecken der Zunge wird diese durch Überwie-gen des gesunden M. genioglossus auf der gesunden Seite stärker herausgeschoben und weicht des-halb auf die paretische Seite hin ab (Abbildung 13). Sie kann zur ge-sunden Seite hin weniger ausgiebig bewegt werden.

• Wird fortgesetzt

Anschrift des Verfassers:

Professor Marco Mumenthaler CH 3012 Bern Inselspital

Sprache als höchste Hirnleistungs-funktion des Menschen ist nicht nur „Sprechen", sie ist außerdem Träger der zwischenmenschlichen Kommunikation und des abstrakten Denkens. Ihre Entwicklung ist eine Summationsleistung und an unge-störte und ineinandergreifende Rei-fungsprozesse der Intelligenz, des Sprechantriebes, der Grob- und Feinmotorik und der Sinnesorgane, vor allem des Hörens, gekoppelt. Konstitutionelle und insbesondere Umweltfaktoren spielen für den Spracherwerb eine große Rolle.

Ursachen und Formen der kindli-chen Kommunikationsstörungen sind mannigfaltig. Neben Stammeln unterschiedlichen Schweregrades, Stottern und Poltern'), gibt es ver-schiedene Formen des Näselns (Rhinophonie) und des Dysgram-matismus. Vor allem sind es aber Kinder mit verzögertem Spracher-werb, die zum praktischen Arzt ge-bracht werden.

Die verschiedenen Formen des verzögerten kindlichen Spracher-werbs und ihre komplexe Genese gibt Darstellung 1 wieder. Aus die-sem Schema geht hervor, daß die Diagnostik des verzögerten Sprach-erwerbs eine ärztliche Aufgabe ist. Das gleiche gilt auch für alle an-deren Formen kindlicher Sprach-störungen.

Zahl der sprachgestörten Kinder und Jugendlichen

Exakte Angaben über die Zahl be-hinderter Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik gibt es nicht. Es wird geschätzt, daß jähr-lich 60 000 bis 80 000 behinderte Kinder geboren werden (Tabelle 1).

Da hörgestörte und taube Kinder ausnahmslos Sprache nur ver-

1 ) DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 34/ 1972, Seite 2193

KOMPENDIUM

Sprachheilpädagogik und Logopädie

Wolfgang Pascher

Aus der Phoniatrischen Abteilung (Abteilungsdirektor: Professor Dr. med. Wolfgang Pascher) der Hals-Nasen-Ohren-Klinik (Direktor: Professor Dr. med. Rudolf Link) der Universität Hamburg

Die Zahl der sprachgestörten Kinder und Jugendlichen ist groß. Die Ursache einer sprachlichen Behinderung kann vielschichtig sein, sie erfordert eine umfassende ärztliche Diagnostik. Die Rehabilita-tion erfolgt durch Sprachheilpädagogen und Logopäden. Sprachbe-hinderte können unter bestimmten Voraussetzungen das Bundesso-zialhilfegesetz in Anspruch nehmen. Eine optimale Förderung und Behandlung der sprachlich behinderten Kinder und Jugendlichen ist nur durch wirksame Zusammenarbeit im Sinne eines Teamkon-zeptes aller an der Rehabilitation beteiligten Berufsgruppen mög-lich.

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