Die Gesellschaft und ihre Jugend...benssituationen und Konstellationen herausbildet, die Jugendliche...

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Die Gesellschaft und ihre Jugend

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Gabriele Bingel • Anja Nordmann • Richard Münchmeier (Hrsg.)

Die Gesellschaft und ihre Jugend Strukturbedingungen jugendlicher Lebenslagen

Verlag Barbara Budrich Opladen & Farmington Hills 2008

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte vorbehalten. © 2008 Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills www.budrich-verlag.de

eISBN 978-3-86649-908-9 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver-wertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim-mung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigun-gen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Beate Glaubitz, Redaktion + Satz, Leverkusen Umschlaggestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal – www.disenjo.de Druck: paper & tinta, Warschau Printed in Europe

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die Gesellschaft und ihre Jugend .......................................... 7

Richard MünchmeierJugend im Spiegel der Jugendforschung .................................................. 13

Karin BöllertJugend in der Arbeitsgesellschaft ............................................................ 27

Hans GänglerJugend in Ostdeutschland ........................................................................ 41

Anja NordmannZwischen Fremd- und Selbstbestimmung. GesellschaftlicheAmbivalenzen im Leben von Mädchen und Frauen ................................ 53

Ursula Winklhofer/Claudia ZinserJugend und gesellschaftliche Partizipation .............................................. 71

Gabriele BingelGesellschaftliche Lebensräume für Jugendliche. Aufwachsen in einerDynamik von Raumzuweisung und Raumaneignung .............................. 95

Titus SimonJugend und Protest ................................................................................... 113

Karin Bock/Wolfgang SchröerJugend und Generationengerechtigkeit. Ein zukunftsfähiges Konzept? .. 123

Richard MünchmeierJugend – politisch desinteressiert, aber sozial engagiert .......................... 137

René Bendit/Jan MarbachJugend und Jugendpolitik in den Ländern der EU ................................... 153

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Inhaltsverzeichnis6

Claus J. TullyJungsein in der mobilen Gesellschaft. Zum Projekt Jugend alsEinbettung zum Beginn des neuen Jahrtausends ...................................... 171

Werner Helsper/Susann Busse/Merle Hummrich/Rolf-Torsten KramerZur Bedeutung der Schule für JugendlicheAmbivalenzen zwischen Schule als Lebensform und Schuldistanz ......... 189

René BenditIntegrationsstrategien für jugendliche MigrantInnen und Angehörigeethnischer Minderheiten in den EU-Mitgliedsstaaten .............................. 211

Katrin FauserJugendliche im Verband .......................................................................... 223

Christian von WolffersdorffZurück zur Disziplinierung? Über den Wandel der pädagogischenPrioritäten im Umgang mit erziehungsschwierigen Jugendlichen ........... 241

Autorinnen und Autoren .......................................................................... 259

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Zur Einleitung: Die Gesellschaft und ihre Jugend

Noch ein Buch über Jugendliche heute? Angesichts der Fülle neuerer Studienund Veröffentlichungen über Jugend bedarf dies einer Erläuterung. In ihremBericht über das vom Deutschen Jugendinstitut veranstaltete 18. Symposiummit dem Thema „Wo steht die Jugendforschung heute?“ bilanziert SybilleHübner-Funk deren wissenschaftlichen Ertrag folgendermaßen: „Als Gesamt-eindruck der Debatte über den aktuellen ‚Standort‘ der deutschen Jugendfor-schung (im Jahre 13 nach der deutsch-deutschen Vereinigung) ist die Grund-stimmung von Ratlosigkeit, Verwirrtheit und Resignation haften geblieben –vor allem das Gefühl des ‚Schwindens‘ von klaren Begriffen, wichtigen Fra-gen und handlungsleitenden Normen, sei es im forschungspolitischen, prakti-schen oder politischen Feld“ (Hübner-Funk 2004: 13)1. Diesem Bericht zu-folge kommentierte Christian Lüders die Situation ironisch: „Jugendfor-schung ist die einzige Schwundform, von deren Produkten man erschlagenwerden kann. Wir haben nie mehr Veröffentlichungen über Jugend gehabt,als wir sie momentan haben“ (ebd.: 14).

Selbstverständlich steht auch das vorliegende Buch in diesem Dilemmaund kann an dieser Situation nichts Nachhaltiges ändern. Sein Erscheinen be-gründet sich mit dem Vorhaben, eine Konsequenz aus der Diagnose derschwindenden Aussagekraft von Jugendforschung zu ziehen. In diesem Buchwird der Blick wieder stärker auf die konkreten gesellschaftlichen Lebensbe-dingungen junger Menschen gerichtet und es werden deren Veränderungenund Verwerfungen untersucht. Wir gehen davon aus, dass die Befunde derJugendforschung in diesem Rahmen wieder verständlicher werden und ihregesellschaftlichen und politischen Botschaften entfalten können.

Es mag viele Gründe haben, dass das Thema „Jugend als gesellschaft-lich-geschichtliches Phänomen“ (Hornstein 1984: 506)2 in der gegenwärtigen

1 Hübner-Funk, Sybille (2004): Wo steht die Jugendforschung heute? In: soFid Jugendfor-

schung: Jugendforschung ohne Biss, oder: Die Zukunft ist europäisch (oder gar nicht). Einekritische Nachlese. Nr. 2, S. 9-18.

2 Hornstein, Walter (1984): Artikel Jugend: Strukturwandel und Problemlagen. In: Eyferth,Hanns/Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpäda-gogik. Neuwied; Darmstadt, S. 506-521.

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Diskussion etwas aus dem Blickfeld geraten ist. Einer der besonders wichti-gen Gründe liegt wohl darin, dass in der zeitgenössischen Jugendforschungdie Untersuchung von Einstellungen, Lebensorientierungen und Wertüber-zeugungen dominiert und die Erforschung der gesellschaftlichen Lebensbe-dingungen von Jugend im Hintergrund bleibt oder allenfalls zur Erklärungder gemessenen Einstellungs- und Wertewandelphänomene herangezogenwird. Jugendforschung präsentiert sich überwiegend als Einstellungs- undWerthaltungsforschung. Sie kann zwar Änderungen von Werten und Lebens-zielen konstatieren. Sie kann aber die Dynamik dieser Wandlungen nicht un-tersuchen. Insbesondere kann sie nicht wirklich analysieren, ob der Wandeleher im Bereich des Wandels von gesellschaftlichen Lebensbedingungen vonJugendlichen liegt oder tatsächlich auf der Ebene von Überzeugungen undAnsichten junger Menschen. Hierfür müsste Jugendforschung im Sinne einerLebenslagenforschung nicht nur Informationen über die Einstellungen undOrientierungen Jugendlicher sammeln, sondern mithilfe von differenziertenStrukturdaten die Bedingungen der alltäglichen Lebensverhältnisse untersu-chen, auf die sich diese Einstellungen beziehen.

Natürlich muss jugendtheoretisch davon ausgegangen werden, dass essich immer um ein komplexes Zusammenspiel der beiden Dimensionen han-delt. Aber diese Interdependenz ist forschungsstrategisch kaum umgesetztund berücksichtigt. Die empirischen Befunde werden deshalb in der Regeleher vor dem Hintergrund genereller und großflächiger Gesellschaftsdiagno-sen (z.B. Annahmen über postmoderne Dienstleistungs- und Wissensgesell-schaften) oder mithilfe von gesellschaftlichen Megatrends (z.B. dem Indivi-dualisierungs- und Pluralisierungstheorem) interpretiert.

Hinzu kommt, dass der öffentliche und politische Diskurs über die jungeGeneration das Verhältnis von Jugend und Gesellschaft nach wie vor unterbe-lichtet behandelt. Jugend wird in anachronistischer Weise vor allem unter demGesichtspunkt ihrer Funktionalität für Politik und andere Gesellschaftssystemebetrachtet. Die Betrachtung von Problemen im Jugendalter verknüpft sich dabeiin unglücklicher Weise mit einer hartnäckigen Defizitperspektive auf Jugendli-che und ihren Bewältigungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Realität.

Immer noch wird vorwiegend die Integrationsbereitschaft der Jugendli-chen diskutiert und als Anpassungsproblem in einer pluralen Gesellschaftthematisiert, während die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft für dienachwachsende Generation eher übergangen oder (wie im Fall der Arbeits-marktpolitik) die Verantwortung für einen gelingenden Lebenslauf auf dieJugendlichen selbst abgewälzt wird. Das Jungsein „auf eigenes Risiko“(Hornstein) bedeutet auch, dass Jugendliche zwar konkrete Vorstellungendavon haben, wie sie leben wollen, ihnen die Ressourcen, diese zu verwirkli-chen aber verwehrt bleiben. Mit der Abwälzung der Verantwortung auf dieJugendlichen selbst wird der fatale Umgang der Gesellschaft mit ,ihrer‘ Ju-gend aus dem Ursachenkontext herausgenommen und werden die Gründe fürProbleme Jugendlicher verdeckt.

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Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht deshalb die Frage, wie Ju-gendliche (als Personen) die Jugend (als gesellschaftliche Anforderungs-struktur) bewältigen.

Im Umgang mit den vorgefundenen Lebensbedingungen entwickeln Ju-gendliche eigene und oft gesellschaftlich nicht anerkannte Bewältigungsfor-men, die wiederum eine Problemsicht auf die Jugendphase verstärken, die in-dividuelle Bewältigungsprobleme statt die gesellschaftlichen Bedingungenund die gesellschaftliche Lebenslage betonen. Erst mit der systematischenBerücksichtigung gesellschaftlicher Strukturbedingungen für das Aufwach-sen werden subjektorientierte Perspektiven auch ertragreich. Die Verknüp-fung dieser beiden Analyseschritte ist das zentrale Anliegen dieses Buches.

Das Verhältnis von Jugend und Gesellschaft ist einem permanentenWandel unterworfen und muss nach verschiedenen Gesellschaftsbereichen aus-differenziert werden. Jugend ist eine vor allem gesellschaftlich verortete Le-benslage: Arbeitsmarkt, Bildungssystem, sozioökonomische Lebensbedingun-gen, Medien und öffentlicher Raum bestimmen die Lebenslagen von Jugend-lichen ungleich mehr als ihre individuellen Dispositionen und persönlichenFähigkeiten.

Das Buch entwirft in den einzelnen Beiträgen eine aktuelle Standortbe-stimmung von Jugend und widmet sich den Fragen und Problemen, die dasVerhältnis zwischen der Gesellschaft und ,ihrer‘ Jugend bestimmen. Es wer-den viele für die Lebenslage Jugend relevante gesellschaftliche Strukturbe-dingungen thematisiert und deren Bedeutung für die Lebensphase Jugendanalysiert. Dabei wird die Perspektive der Homogenisierung jugendlicherLebenslagen („die“ Jugend) verlassen und die Unterschiedlichkeit jugendli-cher Lebenslagen nach eben diesen Strukturbedingungen aufgezeigt.

In der Formulierung, die Gesellschaft habe ,ihre‘ Jugend, steckt auch dieIdee, Gesellschaft müsse Jugend zu ,ihrer‘ Sache machen. Jugend sei tat-sächlich ein relevanter Teil der Gesellschaft, eine wichtige Personengruppe,der besondere Unterstützung zukommen muss. Stattdessen gerät der Umgangverschiedener Institutionen (Jugendpolitik, Schule, Arbeitsmarktpolitik, Ju-gendhilfe) mit der Gruppe der Jugendlichen immer wieder in die Kritik.

Vieles spricht also dafür, die bisherige einstellungsbezogene Jugendfor-schung in Richtung auf eine „Lebenslagenforschung des Jugendalters“ zuerweitern und damit die Analyse der gleichsam objektiven Bedingungen desJungseins zu intensivieren, von denen die subjektive Bewältigung der Jugendabhängig ist. Die Anfang der 1980er Jahre (9. Shell Jugendstudie 1981) voll-zogene so genannte „subjektive Wende“ in der Jugendforschung soll damitkeineswegs aufgegeben oder gar rückgängig gemacht, sondern im Gegenteilweitergeführt werden. Damals hatte das ForscherInnenteam um Jürgen Zin-necker und Arthur Fischer einen neuen ‚subjektorientierten Ansatz‘ entwi-ckelt. Sie wandten sich ab von der damals üblichen Forschung, die ihre Fra-gen aus der Perspektive und anhand der Erwartungen der erwachsenen Gene-ration an die Jugend richtete. Die traditionellen Studien versuchten gewis-

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sermaßen von einer Art Normalvorstellung von „integrierter“ (und damit ge-lingender) Jugend ausgehend deren Integrationsbereitschaft und deren Ak-zeptanz gesellschaftlicher Regulationen und sozialer Vorgaben zu untersu-chen. Von solchen „Integrationsbilanzstudien“ (wie sie nachträglich oft spöt-tisch bezeichnet wurden) sich abkehrend versuchten die ForscherInnen imTeam von Arthur Fischer eine Analyse des subjektiven Blicks der Jugendli-chen selbst („wie sehen die Jugendlichen die Gesellschaft“) vorzulegen.

Dieser bedeutende und verdienstvolle Perspektivenwechsel darf nichtwieder aufgegeben werden. Er ist ja auch noch längst nicht in allen aktuellenJugendstudien (insbesondere bei solchen im Bereich der Umfrageforschung)vollzogen. Aber die Themen und Sichtweisen der jungen Menschen heuteerweitern und ändern sich. Das hängt einmal damit zusammen, dass sich in-nerhalb der verlängerten Jugendzeit eine Vielzahl von unterschiedlichen Le-benssituationen und Konstellationen herausbildet, die Jugendliche je nach ih-rer Situation und den Ressourcen, die sie erreichen können, nachhaltig be-schäftigt. Manches, was von Politik und Gesellschaft als Chance interpretiertwird (z.B. die erweiterten Bildungsgelegenheiten und biografischen Wahl-möglichkeiten), erweisen sich im Blick der jungen Leute als Herausforderun-gen und mitunter schwer zu lösende Aufgaben. Vor dem Hintergrund dergewandelten strukturellen Bedingungen der Jugendphase muss sich Jugend-forschung – gerade wenn sie sich als subjektorientiert verstehen will – mitder Untersuchung von alltäglichen Belastungen und Problemen der Lebens-bewältigung beschäftigen.

So erstrecken sich die Themen, die Jugendliche heute beschäftigen, vonJugendkultur über Lebensstile, Zukunftserwartungen, neue Lebensformen,Wertewandel bis hin zu den gegenwärtigen sozio-ökonomischen Krisen wieArbeitslosigkeit, Umweltschutz und Gewaltakzeptanz. Es scheint eine Ent-grenzung von jugendspezifischen Themen im Gange zu sein: Welche The-men spezifisch für Jugendliche sind und welche (im Prinzip oder analog)auch für Erwachsene zutreffen und zu konstatieren sind, lässt sich nicht mehrin einer altersspezifischen Logik entscheiden.

Dieser Band verdankt sich der Kooperation von mehr als zwanzig Auto-rinnen und Autoren, die in ihren Beiträgen unterschiedliche Aspekte der Le-benssituation der Jugend in unserer Gesellschaft untersuchen. Ihnen allen seiganz herzlich gedankt für ihre Bereitschaft, sich auf diesen ungewöhnlichenZugang zur jungen Generation einzulassen und ihre Überlegungen in ein Ge-samtbild einzupassen. Hinter der großen Zahl der Kooperierenden verbirgtsich noch einmal die gerade erwähnte Entgrenzung der Jugendthemen. Siekönnen nicht mehr durch eine Studie allein, geschweige denn durch eineAutorin oder einen Autor allein bewältigt werden, sondern verlangen die Zu-sammenarbeit vieler und die Kombination unterschiedlicher Zugänge. DasKonzept des Buches ließ den AutorInnen die Möglichkeit, ihr eigenes Themadarin zu positionieren. So reichen die Ausgestaltungen von einer Schwer-punktsetzung auf empirische Ergebnisse aktueller Jugendforschung, über Ju-

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gendpolitik oder soziologische Muster der Bewältigung bis hin zu eher ju-gendtheoretischen Zugängen.

Nicht alle relevanten Jugendthemen und gesellschaftlichen Bereiche, diejugendliche Lebenslagen betreffen, sind in diesem Buch durch einen eigenenBeitrag vertreten. Wir hoffen jedoch, dass die Einzelkapitel zumindest diezentralen und besonders bedeutsamen gesellschaftlichen Zusammenhängeaufgegriffen haben.

Für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts des Bandesmöchten wir uns bedanken. Wir danken Lena von Krosigk, Meike Hamannund Brit Heyer für ihre Verlässlichkeit, ihre Sorgfalt und die kritische Mitar-beit.

Arthur Fischer hat maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der hier ver-folgten subjektorientierten Konzeption. Als Initiator, Organisator und Metho-denfachmann, aber auch als verantwortlicher Autor einer Vielzahl von The-menkapiteln war er für die Shell Jugendstudien, von der 9. Studie angefangen(1981) bis zur das letzte Jahrhundert abschließenden 13. Studie (2000), einengagierter Vertreter für den immer wieder neu zu unternehmenden Versuch,dem Blick der Jugend so gut es geht zu folgen. Vermutlich hätte er selbst die-ses Buch statt „Die Gesellschaft und ihre Jugend“ vielleicht „Die Jugend undihre Gesellschaft“ genannt. Weil wir und viele andere ihm zahllose Anregun-gen verdanken, widmen wir ihm dieses Buch.

Gabriele Bingel, Anja Nordmann, Richard MünchmeierBerlin im Frühjahr 2008

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Richard Münchmeier

Jugend im Spiegel der Jugendforschung

Zeichnet die moderne Jugendforschung überhaupt ein klares ‚Bild der Jugendheute‘? Daran kann man mit einigem Recht zweifeln. Jugendforschung prä-sentiert sich als ein in sich zersplittertes, organisatorisch wie paradigmatischuneinheitliches, schwer zu überblickendes Feld. Es ist institutionell nicht ein-deutig verortet, sondern von verschiedenen Auftraggebern initiiert und so-wohl an Universitäten, Umfrageinstituten, außeruniversitären Einrichtungenaber auch bei Verbänden oder Wirtschaftsunternehmen angesiedelt. Zudemfassen unterschiedliche Disziplinen – Soziologie, Psychologie, Kultur-, Er-ziehungswissenschaft – ‚Jugend‘ theoretisch höchst unterschiedlich, konzi-pieren also den ‚Gegenstand‘ von Jugendforschung paradigmatisch sehr hete-rogen. Für die psychologische Adoleszenzforschung etwa stehen eher dieEntwicklungsaufgaben und -dynamiken des Jugendalters im Vordergrund,die Jugendsoziologie geht eher von einem Verständnis von Jugend als einerbesonderen Lebenslage bzw. einem besonderen Generationsverhältnis aus,kulturtheoretische Ansätze interessieren sich primär für jugendliche Teil- undSubkulturen und ErziehungswissenschaftlerInnen schließlich fokussieren aufBildungs- und (Selbst-)Lernprozesse im Jugendalter. Schon allein dies machtJugendforschung schwer überschaubar, führt zur Zersplitterung der Vorge-hensweisen, zu unabgesprochener Doppelarbeit und erschwert die Rezeptionder Ergebnisse.

Angesichts der gesellschaftlichen und politischen Interessen, die von Sei-ten der verschiedenen Auftraggeber von Jugendstudien eingebracht werden,charakterisiert Zinnecker Jugendforschung als ein „dezentralisiertes, abhän-giges Wissenschaftsfeld“ (Zinnecker 2003: 7) mit der Tendenz „stark seg-mentierte, spezialisierte Wissens- und Diskursbestände über Jugend“ zu prä-sentieren (ebd.: 9). Schon 1999 hat Hornstein auf die Abhängigkeit der Ju-gendforschung von jugendpolitischen Interessen und Prioritätensetzungenhingewiesen und Jugend als „Steuerungs- und Bewertungskategorie im ge-sellschaftlichen Prozess“ (Hornstein 1999: 323) bezeichnet. Der gesellschaft-liche Blick auf Jugend sei angetrieben von der Hauptsorge, ob deren sozialeIntegration gelinge oder nicht. Dies gebe der Forschung bestimmte Perspek-tiven vor und nehme sie politisch in den Dienst.

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Tatsächlich ist die geschichtliche Entwicklung im Bereich Jugendfor-schung immer wieder dahingehend bilanziert worden, dass die gesellschaftli-chen Ängste um Jugend in der letzten Zeit eine nahezu unübersehbare Zahlvon Jugendstudien hervorgebracht hätten, deren immer wieder als ‚ganz neu‘behaupteten Befunde de facto einen ‚Schwund‘ an verlässlichem Wissen überJugend bedeuteten: „Jugendforschung ist die einzige Schwundform, von de-ren Produkten man erschlagen werden kann. Wir haben nie mehr Veröffentli-chungen über Jugend gehabt als wir sie momentan haben“ (Hübner-Funk2003: 37). So gesehen ist Jugendforschung keineswegs nur ein wissenschaft-liches, sondern immer auch ein gesellschaftliches und politisches Diskursfeldder Verständigung über Jugend (Deutsches Jugendinstitut 1982).

Wie kann man sich in einem so widersprüchlichen Feld bewegen? Wielassen sich die heterogenen Perspektiven sichten, bündeln und zu einem über-schaubaren Profil zusammenfügen? Wer dies versuchen will, steht vor einerDoppelaufgabe: Er/sie muss sich zunächst jugendtheoretisch vergewissern,wie der ‚Gegenstand Jugend‘ zu fassen und zu differenzieren ist; hierbei sinddie gesellschaftliche Konstituierung und der gesellschaftliche Wandel der Ju-gendphase heranzuziehen. Erst auf dieser Grundlage können anschließend die‚Befunde‘ der Jugendforschung gewichtet und zu einem theoriegeleitetenBild zusammengefasst werden. Beides kann hier nur angedeutet werden.

Jugend als gesellschaftliches Muster

Nach dem Alltagsverständnis scheint die Jugendforschung es leicht zu haben.Sie scheint ihren Gegenstand leicht definieren und abgrenzen zu können. Ju-gend – das sei doch ‚ganz einfach‘ das Lebensalter zwischen Kindheit undErwachsensein, in dem die Phase der Pubertät und der Ablösung von derHerkunftsfamilie, also der Verselbständigung zu durchlaufen sei. Allenfallskönnten die JugendforscherInnen darüber streiten, innerhalb welcher Alters-grenzen die Jugend zu fassen sei, in welchem Alter sie (durchschnittlich) be-ginne und wann sie ende. Nach dem üblichen Alltagsverständnis wird die So-zialgruppe Jugend vor allem durch ihr Alter bestimmt. Jugend wird als spezi-fische ‚Lebensaltersgruppe‘ begriffen.

Freilich stellen sich bei genauerem Hinsehen für eine solche altersspezi-fische Definition von Jugend einige Probleme. Sie betreffen nicht nur die al-tersmäßige Eingrenzung. Denn selbst wenn sich ein Konsens über die Gren-zen der Altersphase Jugend erzielen ließe, so wäre damit noch nicht beant-wortet, was die JugendforscherInnen die Jugendlichen fragen sollten oder garfragen müssten, damit man Jugend versteht. Das Lebensaltersmodell von Ju-gend ist nur scheinbar eindeutig; es gewinnt seine Eindeutigkeit aus einer in-haltsleeren, rein formalen Definition, die man so formulieren könnte: Jugendbedeutet die Gruppe jener Menschen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt jung

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sind und einer bestimmten Altersspanne angehören. Was aber bedeutet ‚jungsein‘, welche Inhalte, Chancen und Probleme machen Jugend aus, welcheBedingungen des Aufwachsens durchziehen dieses Alter, welche Anforde-rungen und Ressourcen finden Jugendliche vor? Viele derartige inhaltlicheFragen ließen sich stellen und werfen das Problem auf, welche dieser Fragendie zentralen und wichtigen sind, weil sie die Jugendphase gesellschaftlichstrukturieren und ausmachen.

Die Frage, wie das Jugendalter von der Kindheit einerseits, vom Erwach-senenalter andererseits abzugrenzen sei, wann Jugend beginnt und in wel-chem Alter sie endet, ist also keineswegs die Hauptfrage. Wichtiger ist es,von der Erkenntnis auszugehen, dass Jugend ein Strukturmuster ist, eine ge-sellschaftlich entwickelte und ausgestaltete Lebensform, die den Zweck hat,bestimmte gesellschaftliche Erfordernisse und Funktionen zu gewährleisten.Was Jugend bedeutet – und zwar sowohl für die Gesellschaft als auch für diejungen Menschen selbst – wird weitaus stärker durch diese gesellschaftlichenMuster, durch die ‚Vergesellschaftung‘ der Jugendphase bestimmt als durchdas Lebensalter selbst.

So zu formulieren schließt an einen alten, wenn auch immer wieder ver-gessenen Erkenntnisstand jugendtheoretischer Reflexion an. Zu erinnern wä-re etwa an die klare Feststellung der französischen Soziologin Nicole Ab-boud, die schon zu Beginn der siebziger Jahre gegen jeden Versuch einer‚Vergegenständlichung‘ der Jugend argumentierte: Jugend sei vergesell-schaftet als „gesellschaftlich entwickelte und ausgestaltete Lebensform zumZweck der Gewährleistung bestimmter gesellschaftlicher Erfordernisse undFunktionen“ (Abboud 1971: 32). Deshalb lasse sich feststellen: „Jugend exis-tiert nicht als Strukturprinzip per se, sondern vielmehr als mehr oder wenigerdirektes Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis“ (ebd.: 40).

Unser Verständnis von Jugend, das sie als biografische Phase zwischenKindheit und Erwachsensein betrachtet, mit jugendspezifischen Ordnungenund sog. „Entwicklungsaufgaben“ (Fend 2001: 201ff.), hat sich erst seit demBeginn des Industrialisierungsprozesses im 19. Jahrhundert entwickelt und isteines der Projekte, mit deren Hilfe die europäische Moderne ihren ‚Fort-schritt‘ voranzutreiben suchte. In jener Zeit beginnend hat sich ein Modellvon Jugend, etabliert zwischen Kindheit und dem ökonomisch und sozialselbständigen Erwachsenenleben, herausgebildet und ist allmählich universa-lisiert worden. Jugend bedeutet in diesem Modell erstens, sich für später zuqualifizieren, sich auf das spätere Leben, vor allem auf Arbeit und Beruf,vorzubereiten (Jugend als Qualifikationsphase). Ziel von Jugend ist aberzweitens die Entwicklung einer stabilen, selbststeuerungsfähigen Persönlich-keit und von sozialen Fertigkeiten und Kompetenzen für das Leben in derArbeitsgesellschaft, damit die einzelnen Subjekte in einer sich individualisie-renden Gesellschaft bestehen können, die soziale Orientierungsmarken sowieRegulative und Kontrollen durch soziale Milieus immer weiter abbaut (Ju-gend als Entwicklungsaufgabe).

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Die Etablierung und gesellschaftliche Dissemination einer Jugendphasein diesem Sinn nahm lange Zeit in Anspruch. Jugend als eigene biografischePhase, als vom Zwang zur Lohnarbeit freigestellte Vorbereitungszeit, warzunächst ein Privileg der bürgerlichen Jugend. Und weil Aufgabe und ‚Sinn‘von Jugend in der Herstellung von Arbeitsvermögen lagen, wurde sie zu-nächst nur auf den männlichen Teil der Arbeiterjugend ausgeweitet. Im Un-terschied zu den Jungen sollten die Mädchen nicht auf die Lohnarbeitswelt,sondern auf ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Ihre‚Jugend‘ unterschied sich deshalb beträchtlich von derjenigen ihrer männli-chen Altersgenossen. Ähnlich lagen die Verhältnisse für die ländliche Ju-gend: Aufgrund der durch Familienbetriebe geprägten ökonomischen Struk-tur des Landes wurden Jugendliche dort sehr viel früher dem Zwang zur‚Mitarbeit‘ ausgesetzt als in der Stadt. Entsprechend wenig bildete sich dorteine eigenständige Jugendkultur aus und blieb ländliche Jugend stark ‚er-wachsenenorientiert‘ (vgl. Planck 1970).

Jugend im gesellschaftlichen Wandel

Unmittelbare Folgen für die gesellschaftliche Gestalt von Jugend ergabensich aus den in den 1960er Jahren einsetzenden, zunehmend widersprüchli-cher werdenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, die zusam-mengefasst als „Sozialer Wandel“ bezeichnet werden (Weymann 1998; Glat-zer u.a. 2002). Einerseits wurde Jugend erneut zur Adressatin und Hoff-nungsträgerin der Modernisierung, weil die ökonomische Modernisierungzunehmend von der sozialen Modernisierung der Lebensverhältnisse abhän-gig geworden ist (Böhnisch/Schefold 1985). Die soziale Modernisierungnämlich (Verbesserung der Bildungsvoraussetzungen, Erhöhung der Mobili-tätsbereitschaft, Verwirklichung von Chancengleichheit, Abbau ungleicherLebensverhältnisse, Demokratisierung, gesellschaftliche Partizipation durchpolitische Bildung usw.) sollte ja vor allem durch die Erweiterung und Mo-dernisierung des Konzeptes Jugend bewirkt und vorangetrieben werden(Böhnisch 2005). Dies wird einerseits an der damals einsetzenden Bildungs-reformpolitik wie andererseits an der Ausweitung des Konzepts Jugend auchfür Arbeiterjugendliche, Mädchen und die Jugend auf dem Lande ablesbar.Auf der subjektiven Ebene wird Jugend dadurch zu einer Bildungs- und Ori-entierungsphase. Sie wird vergleichsweise stärker als früher aus den konven-tionellen und traditionellen Zusammenhängen der Generationenabfolge undsozio-kulturellen Integration herausgelöst und freigesetzt.

Andererseits zehrt der Modernisierungsprozess gerade jene Strukturenauf, die soziale und gesellschaftliche Voraussetzungen und Bedingungen fürdas Gelingen der Jugendphase sind. Im Sozialen Wandel werden die Grund-lagen und die Zukunftsversprechen, die mit dem Konzept von Jugend ver-

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knüpft worden waren, ambivalenter, brüchiger, ungewisser. Das betrifft dasVerhältnis der Generationen in Familie und Gesellschaft genauso wie dieVerlängerung von Schul- und Ausbildungszeiten bei gleichzeitig destabili-sierten beruflichen Chancen, die Pluralisierung von Lebensmustern undWertorientierungen ebenso wie die steigenden Anforderungen an Selbstän-digkeit, Mobilität und Anpassungsfähigkeit (einen Überblick über diese Ver-änderungen gibt Schröder 1995).

Jugendliche müssen Jugend bewältigen

Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass dieser Soziale Wandel auf dieKonfiguration Jugend Auswirkungen hat und zwar sowohl auf deren gesell-schaftliche Organisation und Struktur wie auf die Altersgruppe derer, dieheute ‚ihre Jugend leben‘ müssen. Denn es ist jungen Menschen ja keines-wegs freigestellt, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Sie müssen vielmehrmit den gesellschaftlichen Vorkehrungen und Bedingungen umgehen, durchwelche die Lebensphase Jugend gesellschaftlich organisiert und strukturiertwird. In diesem Sinne ist Jugend den Jugendlichen vorgegeben. So gesehenist Jugend in erster Linie eine „Bewältigungsaufgabe“ (Böhnisch 2005;Schröer 2004). Die Subjekte, die Jugendlichen müssen sich Jugend als gesell-schaftlich vorbereitete Struktur und Lebensform aneignen und bewältigen.„Jugend ist eben nicht nur gesellschaftliches und wissenschaftliches Kon-strukt, sondern gelebte Realität für Personen in dieser Lebenslage und Le-bensphase, die es zu bestimmen gilt“ (Tamke 2007: 21).

Die Chancen und Risiken der Bewältigung jugendspezifischer Aufgabenund Herausforderungen sind abhängig von personalen und sozialen, aberauch materiellen und sozialräumlichen Ressourcen, die in unserer Gesell-schaft unterschiedlich verteilt und zugänglich sind. Vor diesem Hintergrundfinden sich neue Ausdifferenzierungen der Lebenslage Jugend, die viele –trotz der Egalisierung und Angleichung verschiedener Gruppen von Jugend-lichen durch die Bildungsmobilisierung – von unterschiedlichen „Jugenden“sprechen lassen (Olk 1985: 294; Schröder 1995: 20; Münchmeier 1998: 13;Reinders 2002: 30; Tamke 2007). So bilanzieren Ferchhoff und Neubauer:„Die Differenzen innerhalb der heutigen Jugendkohorte scheinen größer undbedeutsamer als die zwischen ‚Generationen‘ zu sein“ (Ferchhoff/Neubauer1997: 139). In jüngster Zeit sind Analysen der Jugenden aus der Perspektiveungleichheitstheoretischer Ansätze vorgelegt worden (Tamke 2007).

Der oft zitierte Satz: ‚die Jugend gibt es nicht’, scheint deshalb sowohltreffend wie unzutreffend. Einerseits nämlich sind heute nahezu ausnahmslosalle Gruppierungen der Jugendlichen jenen Anforderungen, institutionali-sierten Regeln, Strukturen und gesellschaftlichen Erwartungen obligat unter-worfen, die ihnen ein bestimmtes Jugendleben vorgeben. Andererseits diffe-

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renziert sich Jugend entlang von geschlechts-, schicht-, kultur- und regional-spezifischen Dimensionen aus, die unterschiedliche Ressourcen, Risiken undChancen, Verläufe und Konkretisierungen der Jugendphase implizieren. Werdie Ergebnisse der Jugendforschung bilanzieren will, kann sich also keines-wegs nur auf eine oberflächliche Einstellungs- und Umfrageforschung stüt-zen, wie es leider noch oft geschieht. Er bzw. sie muss vielmehr Jugend imEnsemble und Zusammenhang ihrer gesellschaftlichen Lebenslage betrach-ten. „Zu wünschen wäre nun, dass auch eine Diskussion über die grundle-genden Veränderungen in der Lebenslage Jugend – aus der Perspektive deralltäglichen Bewältigungsanforderungen der Jugendlichen – beginnt“ (Schröer2006: 32).

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen derJugendphase heute

Die Krise der Arbeitsgesellschaft

Seit der 12. Shell Jugendstudie (1997) haben verschiedene Jugendstudien(zuletzt die 15. Shell Jugendstudie 2006) gezeigt, dass die traditionelle Vor-stellung vom „Schonraum Jugend“ brüchig und trügerisch geworden ist. Dieneuere Jugendforschung zeigt deutlich und an vielen Stellen, dass von allenProblemen am meisten die Probleme der Arbeitswelt die Jugend beschäftigenund nicht die klassischen Lehrbuchprobleme der Identitätsfindung, Partner-wahl und Verselbständigung. In qualitativen Studien äußerten die Jugendli-chen ihre Sorgen, dass die derzeit bestehenden Probleme mit Massenarbeits-losigkeit, Lehrstellenmangel, Sozialabbau und Verarmungsprozessen von derPolitik nicht angegangen werden, ja dass in absehbarer Zeit Lösungen nichterwartbar sind. Dies macht sie skeptisch und betroffen; sie fühlen sich vonder Politik und den Erwachsenen im Stich gelassen und einflusslos.

Die Krisen im Erwerbsarbeitssektor, Arbeitslosigkeit, Globalisierung,Rationalisierung und Abbau oder Verlagerung von Beschäftigung sind inzwi-schen nicht mehr ‚bloß‘ eine Randbedingung des Aufwachsens. Sie sindnicht mehr ‚bloß‘ Belastungen des Erwachsenenlebens, von denen Jugendli-che in einem Schonraum entlastet ihr Jugendleben führen können. Sie habeninzwischen vielmehr das Zentrum der Jugendphase erreicht, indem sie ihrenSinn in Frage stellen. „Wenn so aber überkommene Bestimmungen von Ju-gend problematisch werden, wird auch Jugendhilfe selbst problematisch“ –so schon der 8. Jugendbericht (1990: 78).

Dies zeigt die neue Schwierigkeit der Jugendphase an: Problematischwird es, sie beenden zu können, wenn der Arbeitsmarkt den Übergang in dieSelbständigkeit des Erwachsenseins ökonomisch nicht mehr verlässlich si-chert. So erklärt sich wohl auch, dass bereits Berufstätige mit 64% am häu-

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figsten (häufiger noch als Beschäftigungslose) Arbeitslosigkeit als Hauptpro-blem der Jugend bezeichnen (Shell Deutschland Holding 2006: 74ff.). Wer es‚geschafft‘ hat und bereits berufstätig ist, hat offensichtlich Angst davor, dassdas erreichte Ufer nicht so sicher ist, wie es sollte und man wieder zurück-fallen könnte. Es scheint so, dass hier ein Konsens in der gesamten jungenGeneration liegt, gewissermaßen eine ‚prägende Generationenerfahrung‘.

Dies zeigt sich auch dann, wenn man die Werte für „Angst vor Arbeitslo-sigkeit“ nach Schichtzugehörigkeit abträgt (ebd.: 76). Zwar haben Jugendli-che aus der Unterschicht im Vergleich zu solchen aus der Mittel- oder Ober-schicht deutlich größere Angst. Aber die Unterschiede sind nicht so groß,dass man davon sprechen könnte, dass Oberschichtjugendliche ohne Ängstein die Zukunft sehen. Vielmehr scheint es so, dass ‚alle‘ Gruppen von Ju-gendlichen Angst vor der prekären Situation auf dem Erwerbsarbeitsmarktausdrücken (insofern also ihre ‚Generationenerfahrung‘ artikulieren), dassdiese Angst – verständlicherweise bei Unterschichtjugendlichen – aber nochkräftiger ausfällt.

Wie realistisch diese – bei aller generellen Übereinstimmung – differen-zierte Haltung ist, zeigt ein Blick in den aktuellen Berufsbildungsbericht.Dort zeigt sich, dass von allen denjenigen, die die Schule ‚nur‘ mit Haupt-schulabschluss verlassen, nur etwa die Hälfte einen Ausbildungsplatz imdualen oder im schulischen System erhalten, wohingegen bei den Abiturien-tInnen (sofern sie denn AusbildungsnachfragerInnen sind) nahezu alle erfolg-reich sind. Und 84% derer, die keinen Schulabschluss haben, gehen leer ausund bleiben auf das sog. Übergangssystem mit seinen berufsvorbereitendenFördermaßnahmen bzw. Auffangangeboten angewiesen (Konsortium Bil-dungsberichterstattung 2006: 81, 83).

Jungsein heißt heute: SchülerIn sein

Ein besonderes Problem liegt darin, dass Jugendliche heute nicht daran glau-ben, dass sich in absehbarer Zukunft am Problem Arbeitslosigkeit etwas än-dern wird. Vielmehr sind sie davon überzeugt, dass sie sich also an die neueSituation mit verstärkten Anstrengungen anpassen müssen. Es wundert des-halb nicht, dass nach den Befunden der letzten Jugendstudien die Leistungs-bereitschaft junger Menschen deutlich angestiegen ist; ein Befund der quer zuden oft zu hörenden Erwachsenen(vor)urteilen über die junge Generationliegt. Insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen finden sich deutlicheAnstiege (Deutsche Shell 2000: 134ff.).

Diese Leistungsbereitschaft schlägt sich nicht unbedingt im Bereichschulischer Leistungen nieder. Jedoch haben Eltern wie Jugendliche ein kla-res Bewusstsein darüber, dass Schulabschlüsse ‚der‘ Schlüssel für beruflicheund gesellschaftliche Chancen sind. Die durchschnittliche Bildungsbeteili-gung hat sich deshalb in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Nach dem

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Mikrozensus waren 1962 bereits fast 40% der Jugendlichen zwischen 16 und18 Jahren ‚erwerbstätig‘ (hinzu kamen nochmals fast 40% Auszubildende)und nur knappe 20% waren noch SchülerInnen. Heute dagegen sind von allenjungen Menschen zwischen 16 und 20 Jahren nur noch 5% schon erwerbstä-tig; ein Viertel sind Auszubildende, aber gut 70% sind SchülerInnen bzw.StudentInnen in Einrichtungen des Bildungswesens. Bis zum Erreichen derVolljährigkeit, ja bis zum Beginn des dritten Lebensjahrzehnts heißt Jungseinheute für die übergroße Mehrheit ‚SchülerIn sein‘. „Derzeit besuchen fastzwei Drittel der jungen Menschen unter 30 Jahren […] Bildungseinrichtun-gen. Die Teilnahme an formaler Bildung ist für diese Altersgruppe somit dasprägende Rollenmuster“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 26).

Weil junge Leute heute länger im Bildungswesen verbleiben und deshalbim Durchschnitt höhere formale Bildungsabschlüsse erwerben als je zuvor,werden sich – ganz abgesehen von allen sonstigen sozialen und ökonomisch-technischen Veränderungsprozessen – ihre Lebensläufe anders entwickeln alsbei ihren Eltern. „Du sollst es einmal weiter bringen als wir“, sagen die El-tern und schicken deshalb ihre Kinder auf weiterführende Schulen. Darin lie-gen aber zwei Probleme: Zum einen wächst der Druck, diese bessere Zukunftzu erreichen, trotz sich verschlechternder gesellschaftlicher Zukunftschancen;zum anderen bedeutet dies, dass der Lebensweg der Eltern, ihre biografischenEntscheidungen und Erfahrungen nicht mehr einfach als Beispiel dafür ge-nommen werden können, wie das Leben so verläuft und wie man sich darineinrichten kann. Vielmehr muss die Mehrzahl der jungen Leute nach eigenenWegen suchen, eigene Lebensstile entwickeln, das Leben in die eigenenHände nehmen, ohne sich am Beispiel der Eltern vergewissern zu können,mit welchen Risiken und Chancen welche Arten von Entscheidungen ver-bunden sein können. Entsprechend wachsen die Orientierungsprobleme imJugendalter.

Mädchen und der Wandel der weiblichen Biografie

Mädchen und junge Frauen weisen seit längerer Zeit eine wesentlich höhereBerufsorientierung auf: Sie planen Berufstätigkeit als Basis einer selbständi-gen Lebensführung in ihre Lebensziele ein (so schon Burger/Seidenspinner1982). In dem Maße, in dem die weiblichen Biografiemuster sich gewandelthaben und die meisten Mädchen Selbständigkeit durch Verbindung von Er-werbs- und Hausarbeit leben wollen, werden Bildungsabschlüsse als Zugangzur Erwerbsarbeit wichtig. Die Bildungsbeteiligung der Mädchen und jungenFrauen hat sich deshalb in den letzten vier Jahrzehnten kontinuierlich erhöht;Mädchen haben mit den Jungen in dieser Hinsicht gleichgezogen, in man-chen Bereichen (wie z.B. in der Oberstufe des Gymnasiums) sie sogar über-holt (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 27).

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Allerdings erfahren Mädchen wegen des geschlechtsspezifisch geteiltenArbeitsmarktes und der höheren Zugangsbarrieren für das weibliche Ge-schlecht eine stärkere Verunsicherung, ob sie ihre Berufs- und Lebenspläneverwirklichen können.

„Die Probleme beginnen bereits beim Einstieg in die Berufsausbildung.Junge Frauen haben es erheblich schwerer als junge Männer, einen Ausbil-dungsplatz nach ihren Vorstellungen zu finden, dabei sind sie weniger starkals diese auf einen einzigen Beruf fixiert. Obgleich sie im Durchschnitt höhe-re Schulabschlüsse vorzuweisen haben als die männlichen Schulabgänger,müssen sie intensiver suchen als diese, um eine Lehrstelle zu bekommen [...].Der Beruf, in dem junge Frauen schließlich ausgebildet werden, ist dann auchseltener als bei den jungen Männern der von Anfang an gewünschte Beruf,und ebenso würden sie weniger häufig als die jungen Männer diesen Berufwieder ergreifen [...]. Diese Befunde machen deutlich, dass gerade bei denjungen Frauen die faktische Verteilung der Auszubildenden auf die Ausbil-dungsberufe keineswegs ausschließlich auf individuelle Präferenzen undWünsche zurückgeführt werden kann. Besonders ausgeprägt ist das Ausein-anderklaffen zwischen individuellen Berufsvorstellungen und faktischemAusbildungsberuf bei den ,typischen‘ Frauenberufen Verkäuferin und Kauf-frau im Einzelhandel“ (Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994: 612).

Das zweite große Problem von biografischer Bedeutung ist für Mädchendie Frage, ob sie Ehe- und Lebenspartner finden werden, die bereit sein wer-den, partnerschaftlich eine gleichgewichtige Verteilung von Haus-, Kinder-und Familienarbeit sowie von Berufsarbeit zu praktizieren. Die bisherigenBefunde der einschlägigen Forschung weisen eher darauf hin, dass jungeMänner zwar verbal und voller guter Absichten ihre Bereitschaft zur Mithilfebei Haushalt und Kindererziehung bezeugen, dass von diesen guten Absich-ten in der Praxis – v.a. nach der Geburt des ersten Kindes – wenig realisiertwird. Die sog. Doppelbelastung der Frauen scheint deshalb auch für dieMädchen heute die eher realistische Perspektive (vgl. v.a. Erler/Jaeckel/Pet-tinger/Sass 1988).

Dennoch finden sich erhebliche Angleichungen von Lebenszielen undLebensstilen zwischen Jungen und Mädchen. „Typisch ‚weibliche Lebens-muster‘ im Unterschied zu typisch männlichen scheint es so nicht zu geben,zumindest nicht bei den deutschen Jugendlichen. In Bezug auf Werte, Zu-kunftsvorstellungen, Lebenskonzepte und biografische Planungen können wirvielmehr einen Angleichungsprozess zwischen Mädchen und Jungen fest-stellen. Die Verbindung von Familien- und Berufsorientierung ist die ge-meinsam geteilte, unumstrittene Wertorientierung. Dies aber gilt bei Jungenund Mädchen nur bis zu dem Alter, in dem sich die Frage nach Kindern kon-kret stellt. Dann sind Mädchen (nach wie vor) bereiter, ihre Orientierungenzugunsten von Familie zu ändern.

Auch die ehedem geschlechtsspezifisch getrennten Verhaltensbereichehaben sich (bei Deutschen) zueinander geöffnet. Dennoch sind die klassi-

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schen männerdominierten Bereiche auch weiterhin eine Männerdomäne ge-blieben wie auch umgekehrt. Technik, Politik, Computerspiele, Internet,Sport und Vereinsleben sind zwar nicht mehr exklusive aber deutlich jungen-spezifische Bereiche. Einkaufsbummel, Spazierengehen, Umweltschutz, fürandere sorgen, Plaudern sind Domänen der Mädchen.

Auch in diesem Bereich ist die Welt also komplizierter geworden. So-wohl das Insistieren auf kategorialen Unterschieden (Mädchenleben sei fun-damental verschieden von Jungenleben) wie auch das voreilige Ausrufen ei-nes Zustands von Gleichheit sind nicht gedeckt durch die empirische Realitätund müssen deshalb als ideologische Vereinfachungen gelten“ (Jugendwerkder Deutschen Shell 2000: 21).

Jugend in der multikulturellen Gesellschaft

Die gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik Deutschland ist in der Ge-genwart und wird in der Zukunft dadurch gekennzeichnet sein, dass in ihrMenschen aus unterschiedlichen Kulturen leben, Menschen, die teils schonhier geboren wurden, teils aus unterschiedlichen Gründen hierher gezogensind. Schon die Tatsache freier Wanderungsmöglichkeiten innerhalb der EUzeigt, dass sich Fragen des interethnischen Zusammenlebens in unseremLand vermehrt stellen werden. Verstärkt wird dies noch durch die Umbruch-prozesse und bewaffneten Konflikte in Ost- und Südosteuropa und anderenRegionen der Welt sowie durch den Beitritt neuer zentral- und osteuropäi-scher Länder zur EU. Alle diese Entwicklungen werden weitere Wanderungs-bewegungen auslösen.

Das tatsächliche Ausmaß der Migration in Deutschland wurde erst durcheine rezente Änderung der statistischen Erfassung deutlich: „Im Vergleichzum (früheren) Ausländerkonzept ergeben sich durch das (neue) Migrations-konzept in der Statistik beträchtliche Änderungen bezüglich Umfang undStruktur der Migrationsbevölkerung. Nach dem Migrationskonzept beträgt2005 der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbe-völkerung nicht ganz ein Fünftel (18,6%); das entspricht 15,3 Mio. Men-schen. Er ist damit mehr als doppelt so hoch wie nach dem bisherigen Mess-verfahren […]“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 140). In derAltersgruppe der unter 25jährigen sind es ca. 6 Mio. Personen bzw. 27,2%der Altersgruppe. Knapp die Hälfte davon besitzt die deutsche Staatsangehö-rigkeit und ist nicht selbst zugewandert (ebd.: 142, 149). Die dahinter stehen-den verschiedenen Formen der Migration und der damit verbundenen Typenvon Integration hat Pries beschrieben (Pries 2006: 20).

Die ausländische Bevölkerung lebt nicht gleichmäßig verteilt in Deutsch-land, sondern konzentriert sich in den Städten und urbanen Zentren West-deutschlands; ihr Bevölkerungsanteil in den neuen Ländern ist dagegen sehrgering. Deshalb kann mit guten Argumenten bestritten werden, ob Deutsch-

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land wirklich als ‚Multikulturelle Gesellschaft‘ beschrieben werden kann(Münz/Seifert/Ulrich 1999). Multikulturalität scheint im Wesentlichen nurauf bestimmte Bezirke in den Städten und Großstädten in den westlichenLändern zuzutreffen, nicht auf Kleinstädte und ländlich strukturierte Gebiete.Entsprechend ergeben sich v.a. in den Städten Integrationschancen, aber auchIntegrationskonflikte (wohingegen sich ablehnende Haltungen gegenüberAusländerInnen eher auf dem Land, besonders in Ostdeutschland konzentrie-ren, also dort, wo es am wenigsten Kontakte gibt).

Der Status von ArbeitsmigrantInnen bzw. Angehörigen ethnischer Min-derheiten in der ‚deutschen Version‘ einer multikulturellen Gesellschaft kannals ein Zustand partieller Integration bei gleichzeitiger partieller Ausgrenzungcharakterisiert werden. Dies betrifft sowohl ihren rechtlichen Status, ihre Po-sitionierung im Bildungswesen sowie auf dem Ausbildungs-, Arbeits- undWohnungsmarkt als auch die soziale Integration in Primärgruppen und sozi-al-kulturelle Teilhabe. Am deutlichsten und am problematischsten manife-stiert sich bisher das Phänomen der sozialen Ausgrenzung im Bildungs- undErwerbsarbeitsbereich. Mit Blick auf Jugendliche mit Migrationshintergrundbzw. aus ethnischen Minderheiten kann man feststellen, dass all diejenigenProbleme, die für die unterschiedlichen Situationen einer modernen Jugend-phase existieren, hier verschärft auftreten. Im Prozess der sozialen Integrationwerden sie mit einer Reihe von Problemen, Barrieren und Hürden konfron-tiert, die über die typischen Probleme des Jugendalters hinaus, mit ihremStatus als MigrantInnen bzw. Minderheitenangehörige in der multikulturellenGesellschaft und den damit verbundenen Benachteiligungen zusammenhän-gen.

Diese Situation schafft ihnen manchmal ernsthafte Probleme bei derEntwicklung eigener integrativer bzw. ordnender sozialer Praktiken und so-mit auch bei der Entwicklung einer modernen Jugendidentität. So bedeutetz.B. Integration für MigrantInnenjugendliche sich nicht nur als Individuen inden ihnen zugänglichen Strukturen zu behaupten, sondern darüber hinausnicht als ‚Fremde‘ von anderen betrachtet zu werden, bzw. sich selbst nichtals ‚Andere‘ bzw. als ‚Fremde‘ zu erleben.

Was das Zusammenleben von deutschen mit ausländischen Jugendlichenangeht, lassen die Befunde der 13. Shell Jugendstudie (Deutsche Shell 2000:230ff.) folgendes Gesamtbild erkennen: Die große Mehrheit der deutschenJugend (ganz besonders in Ostdeutschland) teilt die Ansicht, dass zu vieleAusländerInnen bei uns leben. Diese Einschätzung hat nicht von vornehereinetwas mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Sie erwächst insbesondere bei de-nen, die sich schlechtere Chancen ausrechnen und sich eher benachteiligtfühlen, aus der Wahrnehmung einer Konkurrenzsituation zwischen Deut-schen und AusländerInnen.

Dies zeigt sich auch daran, dass die wechselseitigen Urteile übereinanderrelativ ‚normal‘ ausfallen. Deutsche und AusländerInnen bekunden mehr-heitlich, sie könnten beide voneinander lernen. Nur eine Minderheit sieht ein-

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seitige Lernmöglichkeiten (eher die ausländischen von den deutschen Ju-gendlichen und umgekehrt) gegeben. Jedoch betonen türkische und nochstärker italienische Jugendliche, sie würden sich eher ähnlich wie die deut-schen verhalten, wohingegen deutsche energischer auf Unterscheidung be-dacht sind und stärker ihr Anderssein herausstellen.

Das bedeutet: Das Zusammenleben der deutschen und ausländischen Ju-gendlichen ist nicht ohne Probleme. Diese ergeben sich aber kaum aus Frem-denhass oder wechselseitiger Feindseligkeit. Sie ergeben sich dann, wennman Konkurrenzen und Rivalitäten fürchtet, insbesondere um Arbeitsplätzeund Zukunftschancen. Ausländerfeindlichkeit gibt es, auch unter der Jugend.

Lebenslage Jugend

Versucht man – unter Inkaufnahme vieler Verkürzungen – die Befunde derjüngeren Jugendforschung zusammenzufassen, so zeigt sich: Die für die tra-ditionelle Adoleszenzphase (der ca. 15- bis 19jährigen) beschriebenen Ver-haltensformen von demonstrativer Ablösung, Selbstsuche, experimentellerund expressiver Selbstinszenierung usw. scheinen sich heute biografisch vorzu verlagern und in das Alter der 10- bis 14jährigen ‚Kids‘ hineinzuschieben.Damit franst die lebensaltersmäßige Abgrenzung von Jugend zur Kindheithin aus. Andererseits aber hat sich die Jugendphase (im Sinne der Vorberei-tungs- und Qualifikationsphase und fehlender bzw. instabiler ökonomischerSelbständigkeit) durch die Bildungsexpansion wie durch die Arbeits-marktveränderungen und -probleme verlängert. Ihr Abschluss hat sich ver-kompliziert.

So entsteht durch die Verlängerung der Schulzeit für die weit überwie-gende Mehrheit der Jugendlichen eine ‚erste Jugendphase‘, die vor allemdurch die Institution und die Lebenswelt Schule bestimmt ist. In dieser Phasebedeutet Jungsein ‚SchülerIn sein‘, sind die eigene Rolle und Situation in ho-hem Maße durch die Institution Schule definiert (Böhnisch/Münchmeier1999). Danach aber beginnt eine zweite, nachschulische Jugendphase, dievon der Mehrheit als noch unbestimmte und risikohafte Lebensphase erlebtwird, weil die früher gesicherten Übergänge von der Schule in den Beruf unddie durchschnittliche Erwachsenenexistenz heute nicht mehr so sicher undkalkulierbar sind. Die früher in diese Lebensalterszeit fallende Familien- undExistenzgründungsphase hat sich zu einem offenen Lebensbereich verwan-delt, der sich verlängert und verkompliziert hat. Man gilt zwar als erwachsenund erwachsenes Verhalten wird erwartet, man verfügt aber noch nicht überdie ökonomischen, institutionellen und statusbezogenen Mittel, sich auch tat-sächlich so verhalten zu können (ebd.).

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Karin Böllert

Jugend in der Arbeitsgesellschaft

Das Thema Jugend in der Arbeitsgesellschaft ist nun schon seit mehrerenJahrzehnten ein sozial- und jugendpolitischer Dauerbrenner. Spätestens seitMitte der 1980er Jahre führt eine wachsende Diskrepanz von Nachfrage undAngebot zu erheblichen Integrationsproblemen junger Menschen in den Ar-beitsmarkt; das Versprechen des bildungsoptimistischen Lebensentwurfs Ju-gend – nämlich, dass sich temporärer Bedürfnisverzicht und individuelle Leis-tungsanstrengungen im Hinblick auf spätere Vergütungen des Arbeitsmarkteslohnen – bleibt für immer mehr Jugendliche uneingelöst. Ging man in diesemZusammenhang zunächst von konjunkturellen und damit zeitlich eingegrenz-ten Krisenphänomenen aus, so zeigt sich mittlerweile mehr als deutlich, dassdie Arbeitsmarktprobleme junger Menschen Ausdruck eines tief greifendenTransformationsprozesses der Erwerbsarbeitsgesellschaft sind. Die Flexibili-sierung von Beschäftigungsverhältnissen und die Zunahme prekärer Be-schäftigungssituationen finden ihre Entsprechung in der Flexibilisierung derErwerbsbiographien. Für die junge Generation heißt dies, sich mit erhebli-chen Veränderungen des Ausbildungsmarktes konfrontiert zu sehen, die inder Pluralisierung von Ausbildungsorten und ebenfalls in einer Pluralisierungvon vor allem kognitiven Ausbildungsanforderungen ihren Niederschlag fin-den.

Diese generellere Situationsbeschreibung erfährt nun durch die Einfüh-rung des SGB II und des hierin verankerten sozialstaatlichen Paradigmen-wechsels des Forderns und Förderns sowie der Preisgabe einer Ausbildungs-garantie für alle Jugendlichen eine Zuspitzung, die sowohl das (kommunal-)politische, arbeitsmarktbezogene Handeln erschwert als auch die betroffenenJugendlichen vor kaum zu durchschauende Herausforderungen stellt. Beide –junge Menschen und professionelle AkteurInnen – sehen sich einem Maß-nahmendschungel gegenüber, der einerseits kaum noch zu überblicken ist,andererseits mit seinen zahlreichen Angeboten aber immer mehr zu einemStruktur bestimmenden Merkmal der Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituationjunger Menschen geworden ist.