Die heimlichen Revolutionäre - BELTZ · Pädagogik und Berufsforschung ist der Ehrgeiz groß,...

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Leseprobe aus: Hurrelmann, Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, ISBN 978-3-407-85976-1 © 2014 Beltz Verlag, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-85976-1

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Leseprobe aus: Hurrelmann, Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, ISBN 978-3-407-85976-1© 2014 Beltz Verlag, Weinheim Basel

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Revolutionäre?

Offen revolutionär sind sie nun wirklich nicht, diejungen Leute. Sie erscheinen schon in ihrer Jugendangepasster, als es die 68er als Rentner sind. Doch

der Schein trügt. Die heute 15- bis 30-Jährigen verändern un-sere Welt radikal. Sie haben in kurzer Zeit den strukturellenWandel in Politik, Wirtschaft, Arbeitsleben, Familie, Technikund Freizeit eingeleitet. Allerdings nicht gewaltsam und mitmilitanten Mitteln, ohne die lautstarken Proteste, unter de-nen andere Generationen sich ihren Platz in der Gesellschafterkämpft haben. Sie agieren still und leise, gewissermaßen ausder zweiten Reihe heraus, wirken im Verborgenen hinter denKulissen. Deshalb sind die Umwälzungen, die sie anstoßen,auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen. Sie werden oftunbemerkt übernommen und setzen sich wie selbstverständ-lich im Alltag durch.

Die junge Generation, die »Generation Y«, wie sie meistgenannt wird, besteht aus »heimlichen« Revolutionären. Diestrukturellen Umwälzungen, die sie initiiert, werden in ihrerTragweite unterschätzt, eben weil sie sie nicht mit militantemGehabe, ja noch nicht einmal mit befreiter Aufbruchsstim-mung angeht. Sie lebt sie einfach, so als wären sie selbstver-ständlich. Die Generation Y schlägt damit eine besonderswirkungsvolle und nachhaltige Strategie ein, um die Welt zuverändern.

Sie hat ihre Gründe dafür. Schon lange stand keine jungeGeneration mehr vor so gewaltigen Herausforderungen wiedie Generation Y. Von ihren Eltern behütet und gefördert

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wie keine andere vor ihr, könnten die Ypsiloner die Erstenseit dem Zweiten Weltkrieg sein, für die das Versprechen aufimmer mehr Wohlstand tatsächlich nicht mehr gilt: Die Zahlsozialversicherter Vollzeitjobs für Berufseinsteiger nimmt ab,die Mieten steigen, und das Versprechen, die Renten seien si-cher, scheint heute aus einer anderen Zeit.

Eine Kette von Krisen hat schon die Jugend im vergange-nen Jahrzehnt geprägt: Der 11. September, der Beinahe-Zu-sammenbruch des Weltfinanzsystems nach der Lehman-Pleite, Fukushima und unzählige Klimakatastrophen. DieGeneration Y hat daraus zweierlei gelernt: Nichts ist mehrsicher. Und: Es geht immer irgendwie weiter. Junge Men-schen blicken heute pragmatisch und optimistisch auf ihr Le-ben. Der Eindruck, dass alle großen Krisen der vergangenenzwei Jahrzehnte zumindest in Deutschland vergleichsweiseglimpflich ausgegangen sind, gibt ihnen Zuversicht für die ei-gene Zukunft. Die Erkenntnis, dass die gesellschaftlicheOrdnung nicht in Stein gemeißelt ist, macht sie zu Pragmati-kern. Wenn sich alles ändern kann, rüstet nur eine möglichstgute Bildung für den Ernstfall.

Das »Y« – im Englischen ausgesprochen wie »why« – istder Buchstabe, der diese Generation medial auf den Punktbringen soll. Die Frage nach dem Sinn wird zum Merkmaleiner Generation. Die Generation Y ist die kleinste, die dieBundesrepublik je gesehen hat. Und doch lohnt es sich, sieernst zu nehmen, denn ein Blick auf die Jugend ist immerauch ein Blick in die Zukunft. Globalisierung, Digitalisie-rung, Wandel der Arbeitswelt – die deutsche Gesellschaft er-lebt gewaltige Umbrüche. Niemand hat diese intuitiv sogründlich erfasst wie die Generation Y. Schließlich muss sieals Erste ihr Leben unter den neuen Bedingungen gestalten.Die Ypsiloner finden Wege, trotz aller Flexibilität und Unsi-cherheit glücklich zu werden.

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Derzeit zerbrechen sich Soziologen, Psychologen undJournalisten gleich reihenweise den Kopf darüber, was dieGeneration Y eigentlich will. Immerhin wird sie einmal dasRuder übernehmen: in der Politik und in der Wirtschaft, aberauch in den Familien und im Konsum und natürlich in denMedien.

Wir zeichnen in diesem Buch unser Porträt der Genera-tion Y, das die Klischees hinter sich lässt. Wir skizzieren an-hand von empirischen Studien, Selbstzeugnissen und Inter-views mit Jugendlichen, wie sie wirklich sind. Wir bietenunsere freimütige Interpretation, warum die Generation Ygenau so ist, wie sie ist, und wie sie unsere Gesellschaft ver-ändern wird.

Dabei stützen wir uns auf zahlreiche Untersuchungenund Studien, die die Generation Y beim Erwachsenwerdenbegleitet haben. Klaus Hurrelmann beobachtet als Leiter, Be-rater und Autor zahlreicher Jugendstudien junge Generatio-nen bereits seit vielen Jahren. Er war an den Shell Jugendstu-dien ebenso beteiligt wie an der MetallRente Studie »Jugend,Vorsorge und Finanzen«, der »McDonald’s Ausbildungsstu-die« und der international vergleichenden Gesundheitsstudie»Health Behaviour in School Aged Children« (HBSC). Au-ßerdem arbeitet er eng mit dem Sinus-Institut zusammen, dasschon zweimal Milieustudien zu Jugendlichen erstellt hat.

Erik Albrecht hat die Generation Y zunächst als Aus-landskorrespondent in Russland und der Ukraine kennenge-lernt. Neben politischer Berichterstattung hat er mehrereJahre für Radio, Fernsehen und Print in zahlreichen Beiträ-gen erzählt, wie es sich anfühlt, in diesen Ländern jung zusein. Für »Die heimlichen Revolutionäre« ist er in die Weltder deutschen Generation Y eingetaucht und hat mit jungenLeuten in verschiedenen Regionen Deutschlands über ihrLeben, ihre Hoffnungen und Pläne gesprochen. Ihnen gilt

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unser Dank für die Offenheit, die sie uns entgegengebrachthaben.*

Wir beiden Autoren gehören unterschiedlichen Genera-tionen an. Klaus Hurrelmann ist 70, Erik Albrecht 35 Jahrealt. In »Die heimlichen Revolutionäre« zeichnen wir ein Por-trät der Generation Y, das zeigt, was junge Menschen heutebewegt und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen.

In den folgenden Kapiteln werden wir zeigen, wie die Ge-neration Y unsere Welt verändert – ohne viel Aufheben, aberstetig und unaufhaltsam. Wie sie Bildung und Beruf revolu-tioniert, das Familienleben neu erfindet, die traditionellenpolitischen Strukturen unterwandert und neue Maßstäbe fürdie Freizeit setzt. Wie sie mit Pragmatismus und Gelassenheitauf die neuen Unsicherheiten reagiert, sich ihren Lebenslaufneu gestaltet und kreative Wege findet, mit dem Stress derheutigen Zeit umzugehen.

* Bei minderjährigen Gesprächspartnern haben wir aus Gründen desPersönlichkeitsschutzes die Namen geändert.

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Kapitel 1

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Wie kommt es zu Generationen?

Im September 2013 macht Lucy Furore in den sozialen Netz-werken. Die Mittzwanzigerin lebt als Strichzeichnung aufeinem Blog der amerikanischen Huffington Post.1 Sie istüberzeugt: Sie ist etwas ganz Besonderes. Seit frühesten Kin-dertagen haben ihre Eltern keine Gelegenheit versäumt, ihrdas einzuimpfen. Nun zieht Lucy aus, auch den Rest derWelt von ihrer Brillanz zu überzeugen. Sie könnte Präsiden-tin der Vereinigten Staaten werden – wenn sie es nur wollte.Doch Lucy zweifelt, ob Politik tatsächlich ihre wahre Beru-fung ist. Während sie über den besten Weg der Selbstver-wirklichung nachdenkt, wird der Arbeitsmarkt immer unsi-cherer. Statt wie erwartet mit Mitte 20 die Geschicke einerWeltmacht zu leiten, schlägt sich Lucy mit den profanenSchwierigkeiten des Berufseinstiegs herum. Im grauen Alltagdes ersten Jobs gefangen, sehnt sie den Moment herbei, andem die Welt plötzlich erkennt, wie großartig sie ist.

Jung, anspruchsvoll und selbstüberschätzend bis zurWirklichkeitsfremde – mit viel Ironie zeichnet der amerika-nische Blogger Tim Urban an der Kunstfigur Lucy die Cha-rakterzüge seiner Generation nach. Lucy sei unglücklich,weil Anspruch und Wirklichkeit in Leben und Karriere aus-einanderklafften, ist seine Analyse. Er liefert damit einenVersuch unter vielen, die Mentalität der heute jungen Gene-ration der 15- bis 30-Jährigen zu erklären.

Ob Generation X, Y, Golf, Praktikum, ob die Babyboo-mer oder die 68er – in Wissenschaft und Journalismus, in

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Pädagogik und Berufsforschung ist der Ehrgeiz groß, jederneuen, jungen Generation eine erkennbare und unverwech-selbare Mentalität, so etwas wie einen einheitlichen Sozial-charakter zuzuschreiben und ihr möglichst auch einen klin-genden Namen zu geben. Dabei geht es nicht um griffigeLabels oder Pauschalurteile über ganze Generationen. Ju-gendforschung ist Zukunftsforschung. Denn Jugendliche er-fassen intuitiv, in welche Richtung sich eine Gesellschaft ent-wickelt. Gesamtgesellschaftliche Trends im Konsum, beiSprache und Mode, im Umweltbewusstsein und bei Partei-präferenzen zeichnen sich oft schon ein Jahrzehnt früher inJugendstudien ab. Die Jugend ist ein Seismograf für gesell-schaftliche Entwicklungen. Es lohnt sich also, genauer hin-zuschauen.

So kommt es, dass jeder neu in die Gesellschaft eintreten-den Generation von jungen Leuten schnell ein Etikett aufge-klebt wird. Die aktuell junge Generation, um die es in diesemBuch geht, wird meist ganz schnodderig nur mit einem einzi-gen Buchstaben bezeichnet – als »Generation Y«. Sie folgtdamit der Generation X, deren Namen der amerikanischeSchriftsteller Douglas Coupland prägte. Coupland fand dieJugendlichen Anfang der 1990er so rätselhaft, unbestimmtund offen, dass ihm das X als das treffendste Symbol dafürerschien. Wer auf die Idee kam, im Alphabet einfach voran-zuschreiten und die 15 Jahre später Geborenen als »Genera-tion Y« zu bezeichnen, ist nicht richtig auszumachen. Dochdas »Y« hat sich weltweit durchgesetzt.

»Generation Y« ist nicht das einzige Etikett, das zur Aus-wahl stand. Die Shell Jugendstudien bezeichnen die jungenLeute als eine pragmatische Generation, im englischenSprachraum gibt es die Namen Millenials, MeMeMe Genera-tion, Generation MyPod, Net Generation, Internet Genera-tion, iGeneration, NextGen, Generation Now und Genera-

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tion Facebook, um nur einige zu nennen.2 Die Bezeichnun-gen verweisen auf Eigenschaften, historische Bezüge und in-novative Kulturtechniken, die für die junge Generation ty-pisch sind. Dennoch werden die zwischen 1985 und 2000Geborenen unter dem Y ihren Platz in der Generationenge-schichte finden. Im Englischen wie »why« (»warum«) ausge-sprochen, macht es die Frage nach dem Sinn zum Merkmaleiner Generation. Die Generation Y hinterfragt bislangscheinbar eherne Grundsätze in Arbeit, Familie, Politik undFreizeit. Sie nutzt spielerisch das Internet, zeigt sich unbe-kümmert ob der Unsicherheit in der Arbeitswelt und ver-sucht, möglichst gute Leistung zu bringen. Das sind nachübereinstimmender Auffassung der Jugendforschung dieMerkmale, die junge Menschen heute ganz besonders kenn-zeichnen.

Ein Schlagwort für eine Generation?

Nicht, dass diese immer positiv bewertet werden. Das Ha-dern mit der Jugend hat Tradition. Auch heute ist das nichtanders, wie ein Blick in die Medien zeigt: Die Wirtschaftswo-che findet die Ypsiloner »zu brav und harmoniesüchtig«.3

Außerdem fehle es ihnen an Persönlichkeit. Die FrankfurterAllgemeine Zeitung befürchtet, sie seien »jung, gebildet, ar-beitsscheu«.4 Der Spiegel dreht es dagegen ins Positive:»Qualifiziert, selbstbewusst, extrem anspruchsvoll« seien diejungen Leute. 5

Lässt sich eine ganze Generation wirklich auf ein Schlag-wort oder gar auf einen Buchstaben reduzieren? Setzt sichnicht jedes einzelne Individuum mit epochalen Ereignissenauf seine ganz persönliche Weise auseinander? Sicherlich istdas so, aber weil nun einmal alle Jahrgänge einer Generation

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zur selben Zeit aufwachsen und in der entscheidenden Phaseder Persönlichkeitsentwicklung, in der Jugend nämlich,durch dieselben Ereignisse geprägt werden, bildet sich dochein recht einheitlicher Sozialcharakter. In der Jugend reagiertein Mensch hypersensibel auf seine Umwelt. Das hinterlässtein Leben lang Spuren. Nach der Pubertät muss er seinen ei-genen Platz in der Gesellschaft finden. Das führt dazu, dasssich niemand so aktiv wie Jugendliche mit dem auseinander-setzt, was mit ihnen selbst und um sie herum geschieht. Da-von erzählen unzählige Coming-of-Age-Romane und Filme.Das prägt den gesamten Blick auf die Welt. Die Erlebnisseund Erfahrungen der Jugendzeit bestimmen die Interpreta-tion späterer Ereignisse, sie atmen einen Zeitgeist und rah-men die Weltsicht.

Das formt kollektive Gemeinsamkeiten. Wer in der Nach-kriegszeit groß wurde, dem ging es um das materielle Über-leben. In den 1960er-Jahren attackierten Jugendliche dieNazi-Vergangenheit ihrer Eltern, Lehrer und Professoren.Die 1970er-Jahre prägten die Ölkrise, der Deutsche Herbstund die Anti-Atomkraft-Bewegung. Die späten 1980er- unddie 1990er-Jahre waren von einer gesättigten Null-Bock-Mentalität bestimmt. Neue epochale Ereignisse prägen dieheutige junge Generation. Zwischen 1985 und 2000 geboren,erlebt die Generation Y in ihren Jugendjahren im neuen Jahr-tausend, wie Internet, soziale Netzwerke à la Facebook unddie Globalisierung die Gesellschaft gründlich neu ordnen.Die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New Yorkund der US-amerikanische »Krieg gegen den internationalenTerrorismus« erschüttern ebenso wie die Katastrophe imNuklearkraftwerk Fukushima das Sicherheitsgefühl. Dieweltweite Finanzkrise, die Hartz-Reformen der Arbeits-,Sozialhilfe- und Rentengesetze: Alle aus den Jahrgängen1985 bis 2000 erleben in ihrer Jugend die gleichen Entwick-

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lungen, von bahnbrechende technischen Neuerungen überWirtschaftskrisen, Kriege und anderen politischen Katastro-phen bis hin zu sozialen und kulturellen Stimmungsum-schwüngen.

Natürlich ist davon die gesamte Gesellschaft betroffen.Und doch prägt es Persönlichkeitsmerkmale, Einstellungenund Zukunftsperspektiven derjenigen besonders stark, diesich frisch mit ihnen auseinandersetzen müssen: der Jugend-lichen. Ihnen erscheint all dies von Beginn an selbstverständ-lich. Sie kennen im Gegensatz zu ihren Eltern und Großel-tern nur diese Welt. Die Wucht der gemeinsam durchlebtenErfahrungen schweißt aus einer Gruppe Gleichaltriger eineGeneration. 6

Die sechs Generationen der Nachkriegszeit

Deshalb kann man einer Generation gemeinsame Merkmalezuschreiben, auch wenn sie nur ein Konstrukt ist, das Histo-riker, Soziologen oder Journalisten geschaffen haben. Natür-lich folgen grundlegende Umwälzungen keinem festen zeitli-chen Muster. Es gibt jedoch den Erfahrungswert, dass etwaalle fünfzehn Jahre die historischen Karten neu gemischtwerden. Deswegen ist es sinnvoll, aufeinanderfolgende Ge-nerationen in dieser zeitlichen Taktung zu beschreiben.

Beginnen wir in der Nachkriegszeit, können wir die fol-genden sechs historisch aufeinanderfolgenden Generationenidentifizieren. Diese lassen sich natürlich nicht stur nach Jah-reszahlen definieren. Vielmehr sind die Übergänge genausofließend wie viele gesellschaftliche Entwicklungen. Zudemwachsen Jugendliche in Ost- und Westdeutschland überlange Zeit unter völlig unterschiedlichen Bedingungen auf:

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BezeichnungHeutiges Lebensalter

Geburtsjahre Zeit derJugendphase

Skeptische Generation 75 bis 90 Jahre 1925 bis 1940 1940 bis 1955

68er-Generation 60 bis 75 Jahre 1940 bis 1955 1955 bis 1970

Babyboomer 45 bis 60 Jahre 1955 bis 1970 1970 bis 1985

Generation X 30 bis 45 Jahre 1970 bis 1985 1985 bis 2000

Generation Y 15 bis 30 Jahre 1985 bis 2000 2000 bis 2015

Generation ? 0 bis 15 Jahre 2000 bis 2015 ab 2015

Die beiden als Erste genannten Generationen bilden aus derheutigen Sicht die Alten, die jetzt zwischen 60 und 90 Jahrealt sind. Sie sind die Großeltern der heutigen Kinder und Ju-gendlichen. Sie hat die Katastrophe des Zweiten Weltkriegsgeprägt. Ihre Lebensleistung sind der wirtschaftliche Aufbauund der kulturelle und politische Aufbruch mit teilweise re-volutionären Zügen in den Jahren danach.

Die dritte und vierte Generation bilden aus heutiger Sichtdie »Erwachsenen«. Sie haben aktuell Einfluss, Verantwor-tung und Macht in der Gesellschaft. Heute sind sie zwischen30 und 60 Jahre alt. Sie sind die Eltern der heutigen Kinderund Jugendlichen.

Die beiden zuletzt genannten Generationen sind die heu-tigen Jugendlichen und Kinder. Die ältesten von ihnen stehenaktuell mit ihren 30 Jahren schon in verantwortlichen beruf-lichen und gesellschaftlichen Positionen. Die meisten aberbefinden sich noch in Schule, Ausbildung und Studium.

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Skeptisch in eine neueWeltordnung:Die Nachkriegsgeneration (*1925 bis 1940)

Es war eine Zeit des Neuanfangs, wie Deutschland ihn nochnicht erlebt hatte: Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist dasLand ideologisch bankrott, kriegszerstört und wirtschaftlicham Boden. Jugendliche, die kurz zuvor noch im Geist desNationalsozialismus erzogen worden waren, erlebten plötz-lich den Zusammenbruch des Regimes und die Entnazifizie-rung. Sie wurden zur »skeptischen Generation«. »Diese Ge-neration ist in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbe-wusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubens-oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationenvorher«, schreibt der Soziologe Helmut Schelsky.7 In seinemBuch »Die skeptische Generation« untersuchte er diejenigen,die zwischen 1945 und 1955 Jugendliche waren. An das klas-sische Werk von Karl Mannheim aus den 1920er-Jahren an-knüpfend, setzte er damit Maßstäbe für die empirische Gene-rationenforschung.

Die ältesten Jahrgänge der skeptischen Generation kämpf-ten schon in der Wehrmacht und in Hitlers Volkssturm alsJugendliche für das »Dritte Reich«. Nach der TotalniederlageDeutschlands wuchs die skeptische Generation dann in ei-nem Europa auf, in dem jegliche Strukturen neu aufgebautwerden mussten. In ihrer Jugend erlebte sie nichts wenigerals die Neukonstituierung der gesamten Weltordnung. Diealten Feinde wurden in Ost und West plötzlich als Sieger-mächte zu den engsten Verbündeten. Gleichzeitig war ihrstets bewusst, wie fragil diese neue Ordnung noch war. DerKalte Krieg zog langsam herauf. In Korea tobte bereits einneuer heißer Militärkonflikt. Den Hungerjahren folgte derwirtschaftliche Aufbau in Systemkonkurrenz zwischen Ostund West. All das waren »zeitgeschichtlich-politische Fakto-

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ren der deutschen Gegenwart, die sicherlich die Gestalt undVerhaltensform der Jugend entscheidend beeinflusst und ge-prägt haben«.8

Schelsky konnte mit seinen Studien anschaulich belegen,wie gemeinsam erlebte, als schicksalhaft empfundene Ereig-nisse zusammen mit historisch neuen politischen und kultu-rellen Lebenskonstellationen sehr ähnliche Persönlichkeits-züge, emotionale Einstellungen und Zukunftsperspektivenbei praktisch allen Angehörigen der betroffenen Jahrgängeprägen. Auffällig ist die kritische Distanzierung von den inden Nationalsozialismus verstrickten Eltern, die sie zu eige-nen Wert- und Verhaltensorientierungen zwingt. Auch dernüchterne Wirklichkeitssinn und ein Gespür für Nützlich-keiten sind charakteristisch, ebenso das zupackende, aufkurzfristigen Erfolg ausgerichtete Handeln. Die jungenLeute sind auch politisch »skeptisch«, weil sie unter demEindruck des abgewirtschafteten Nationalsozialismus wenigInteresse an großen Gesellschaftsentwürfen haben. Für siezählen praktische Fragen des Überlebens im Alltag.

Wirtschaftswunder und Protest:Die 68er (*1940 bis 1955)

Waschmaschine, Kühlschrank, Staubsauger – Mitte der1950er-Jahre hielt der Konsum in Deutschland Einzug. DerWesten erlebte sein Wirtschaftswunder. Die DDR machtesich an den Aufbau des Sozialismus. Im Wettstreit der Sys-teme richtete die Führung später auch dort die Produktionstärker auf den Konsum aus. In Ost und West wurde die 68er-Generation in turbulenten Zeiten erwachsen. Der Kalte Kriegwar in vollem Gange. Von 1961 an teilte eine Mauer Berlin.Ein Jahr später brachte der Plan des sowjetischen Generalse-

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kretärs Nikita Chruschtschow, in Kuba Atomraketen zu sta-tionieren, die Welt an den Rand eines nuklearen Krieges.

Die deutsche Gesellschaft war immer noch stark autoritärgeprägt. In Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gaben Män-ner den Ton an, die dem alten Denken weiter verhaftet warenund sich gegen eine kulturelle und gesellschaftliche Moderni-sierung stemmten. Trotzdem wandelte sich das Land. 1955warb die Bundesrepublik die ersten Gastarbeiter an. 1964schaffte es »Please Please Me«, das erste Studioalbum derBeatles, auf Platz 5 der westdeutschen Charts. Der Blick derJugend wurde internationaler und mit Sängern wie BobDylan und anderen auch politischer. Im neuen Wohlstandaufgewachsen, versuchten die 68er, aus dem engen politischenund gesellschaftlichen Korsett des Kalten Krieges auszubre-chen. Der gesellschaftliche Diskurs erweiterte sich. KritischeJournalisten berichteten in den 1960er-Jahren verstärkt überdie Nazi-Vergangenheit öffentlicher Personen. Auch auf derOstseite des Eisernen Vorhangs rebellierten die Menschen imPrager Frühling gegen das Blockdenken. Zwar schickte auchdie DDR Truppen in die Tschechoslowakei, um die Bewe-gung niederzuschlagen. Doch im eigenen Land kam es ver-stärkt zu Jugendprotesten.

1968 und die Ereignisse, die dazu führen, sind heute Sym-bol für die Auflehnung der Jugend gegen die alte Ordnung –im Innern und in der Welt. Die Proteste gegen den Vietnam-krieg stellten die Logik des Kalten Krieges infrage. Innenpo-litisch leiteten die 68er einen tief greifenden gesellschaftlichenWandel ein. 1968 bedeutete für die große Mehrheit der Men-schen eine Transformation in Lebensstil, Familienbeziehun-gen und persönlichen Freiheiten. Es war ein entscheidenderSchritt hin zu einem demokratischeren Deutschland.

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