Die Lawine von Reckingen (Goms) Wallis

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Mittwoch, 24. Februar 2010 DIE LAWINE VON RECKINGEN 5 Fünf nach fünf blieb die Zeit stehen Abriss und Bilanz der Lawinenkatastrophe vom 24. Februar 1970 in Reckingen R e c k i n g e n. – Der Weisse Tod kam in der Nacht. Am 24. Februar 1970, frühmorgens, um fünf Minuten nach fünf, erfasste eine gewaltige Staublawine aus dem Bächital den westlichsten Teil des Dorfes und begrub 48 Menschen in sechs Wohnhäusern unter sich. 19 Verschüttete konnten innert anderthalb Stunden lebend ge- borgen werden; teils schwer verletzt. Eine Person verschied später im Spital. 29 Menschen wurden auf der Stelle getötet. Unter den 30 Todesopfern be- fanden sich 11 Zivilpersonen und 19 Offiziere der M Flab Abt 54. Sie waren auf dem Flab- Schiessplatz in Gluringen im WK und starben in der in der Falllinie der Lawine stehenden Offizierskaserne, dem ehemali- gen, 1902 erbauten, Pension- Hotel Blinnenhorn. 950 Helfer suchten die Verschütteten Das Unglück führte zu trauma- tischen Zuständen; zu Trauer, Angst, Bestürzung und Ohn- macht. An der fieberhaften Su- che nach Überlebenden waren auf dem Lawinenkegel mit ei- nem (laut «Blick») Ausmass von 1,8 Millionen m 3 Schnee 950 Helfer beteiligt. Eingesetzt wurden ferner 13 Lawinenhun- de, 14 schwere Baumaschinen und drei Helikopter. Eine solche Suchaktion hatte die Schweiz bis dahin nie erlebt. Drei Tage später, am 28. Februar, war das letzte Todesopfer geborgen. Noch viel grössere Katastrophen Reckingen war für die Schweiz das «opferreichste» Lawinen- unglück des 20. Jahrhunderts. Zuvor gab es im Goms bereits zwei Lawinenkatastrophen noch grösseren Ausmasses. 1827 zerstörte eine Lawine aus dem Bieligertal einen Teil der Dörfer von Biel und Selkingen – 52 Personen fanden dabei den Tod. 1720 forderte eine fürch- terliche Lawine in Obergesteln gar 84 Todesopfer. Doch auch die Bächital-Lawine hatte 221 Jahre zuvor schon für Leid und Trauer gesorgt. Am 6. Februar 1749 waren gewaltige Schneemassen bis ins Dorf vor- gedrungen. Das Pfarrhaus wur- de verschüttet, drei Geistliche und die Pfarrmagd kamen dabei ums Leben. Das Kirchenportal wurde weggerissen und der Schnee türmte sich so hoch, dass die Kirchgänger während Wochen über Leitern durch die eingedrückten Kirchenfenster ins Schiff hinuntersteigen muss- ten. 140 Zentimeter Neuschnee Seither war die Bächital-Lawi- ne nie mehr bis ins Dorf vorge- drungen, was den Bau verschie- dener Gebäude westlich des Dorfkerns begünstigte; trotz Warnungen älterer Leute. Die lauernde Gefahr schien verges- sen. Und so fühlten sich die meisten Reckinger im Februar 1970 keineswegs bedroht, ob- wohl die objektive Lawinenge- fahr ein erhebliches Mass ange- nommen hatte. In den Tagen zu- vor hatte es 140 Zentimeter Neuschnee gegeben, im Dorf mass die Schneedecke 223 Zen- timeter. Oberhalb der Wald- grenze war die Schneehöhe auf über 6 m angewachsen. Der Ho- niggistein (2240 m ü. M.) war vom Dorf aus seit zwei Tagen nicht mehr zu sehen. «Wenn der eingeschneit ist, schwebt das Dorf in Gefahr», hatten die al- ten Reckinger ihren Nachfahren überliefert. Die «Schuldfrage» Was die verheerende Lawine auslöste, konnte, wie bei ent- fesselten Naturgewalten so oft, nie geklärt werden. Die Armee führte umfassende Abklärun- gen durch. Auf eine zivilrecht- liche Untersuchung wurde ver- zichtet. Das Institut für Schnee- und Lawinenfor- schung Weissfluhjoch-Davos kam zum Befund, dass der «Twärr», ein starker Südwest- wind, meterhohe Schneewäch- ten aufbaute. Ihr Eigengewicht liess sie schliesslich am Gal- mihorn und der Hohen Gwäch- te zuhinterst im Bächital bre- chen. Ein Kausalzusammen- hang zwischen dem fünfstündi- gen Flab-Schiessen vom Vor- tag mit Zielgebiet Bächital und dem Lawinenniedergang wur- de von den Fachleuten mit ei- ner «an grosse Wahrscheinlich- keit grenzenden Sicherheit» ausgeschlossen. Diese Aussage wurde im Goms verschiedent- lich in Zweifel gezogen, etwa durch Paul Blatter, der zum Unglück intensiv recherchierte und dazu verschiedentlich pu- blizierte (u.a. im Buch «Dorf und Pfarrei Reckingen» und im WB). Millionenschäden Die Lawine verursachte materi- elle Schäden von 12,8 Millio- nen Franken. Der Gemeinde blieben Folgekosten von rund einer Million Franken. Das Dorf für die Zukunft besser zu schützen war ab sofort ein Gebot der Stunde. 14 Tage nach dem Unglück legte ein ent- schlossener Gemeindepräsident Hubert Walpen bereits erste Pläne vor. Die Idee des Damm- baus sollte die Einigkeit der Dorfschaft – auch in Gluringen – noch auf manch harte Probe stellen. tr R e c k i n g e n. – Für alle war nach der Katastrophe klar, dass Reckingen wie Gluringen vor künftigen Lawinen aus dem Bächi- tal zu schützen seien. Über das «Wie?» entbrannte jedoch schon wenige Wochen nach dem Unglück eine Art Glaubenskrieg, der manche laut dem späteren Gemeinde- präsidenten Paul Carlen an «Wildwest-Manieren» erinner- te. Für die einen war ein Leit- damm, wie er noch im selben Jahr realisiert wurde, das schnellste und beste Mittel zur Steigerung der Sicherheit. Die Gegner nannten den Damm konsequent «den Graben» und meinten das auch sinnbildlich. Für sie waren Verbauungen im Anrissgebiet sowie Brems- und Stützverbauten im Bächi- tal das richtige Mittel. Zwei solcher Schutzdämme wurden in den Folgejahren auch realisiert. «Die komplette Sicherheit gibt es nicht», sagt der heutige Gemeindepräsi- dent Norbert Carlen. Er muss es als verantwortlicher Ingeni- eur für Naturgefahren im Kreis Oberwallis bei der kantonalen Dienststelle für Wald und Landschaft wissen. Der Schutz der Dörfer wird aber nach Möglichkeit stets verbessert. So wurden in den letzten Jah- ren auf dem Gemeindegebiet von Gluringen zwei künstliche Lawinenauslöser installiert. Als Ergänzung zu den techni- schen Massnahmen im Gebiet trägt bezüglich Sicherheit auch der Lawinenwarndienst bei, dessen Möglichkeiten in den letzten Jahren stets verfeinert wurden. tr Damm oder Graben? Kontinuierliche Verbesserung der Sicherheit Die Toten der Katastrophe Zivile Opfer Jerjen Mathilde 1908 Carlen Ruth 1942 Carlen Astrid 1962 Carlen Markus 1964 Carlen Stefan 1966 Curty Gertrud 1922 Curty Ferdinand 1956 Walpen Gertrud 1922 Walpen Regina 1955 Walpen Hans 1957 Frieden Hedwig 1910 Opfer der M Flab Abt 54 Major Frei Max 1928 Hptm Ammann Peter 1935 Hptm Müri Heinz 1935 Hptm Steiner Hugo 1937 Hptm Stieger Franz 1932 Oblt Bachmann Albert 1930 Oblt Brotschi Dieter 1941 Oblt Frei Jörg 1944 Oblt Kronauer Caspar 1939 Oblt Leuthold Peter 1938 Oblt Luchsinger Uwe 1942 Oblt Oswald Heinz 1943 Oblt Stuber Hans-Ulrich 1939 Oblt Verdun Markus 1941 Lt Berghoff Jürg 1944 Lt Neuhaus Beat 1948 Lt Signer Hans 1941 Lt Wespi Werner 1946 Lt Wickart Albert 1941 Trauer, Angst, Bestürzung und Ohnmacht: Insgesamt beteiligten sich 950 Helfer an der fieberhaften Suche nach Überlebenden der Lawinenkatastrophe. Archivfoto wb Bächital-Lawine zwischen den Dörfern Reckingen (rechts) und Gluringen. Foto zvg Folgenschwerste Lawine seit 150 Jahren Chronik der verheerendsten Lawinen (wb) Als die Bächital-La- wine in Reckingen am 24. Februar 1970 sechs Kin- der, fünf Frauen und 19 Armeeangehörige in den Tod reisst, muss die Schweiz das verheerendste Lawinenunglück seit 150 Jahren verzeichnen. Trotz- dem kam es immer wieder zu schweren Unglücken. Den härtesten Lawinenwinter des letzten Jahrhunderts erlebt die Schweiz 1950/51: Insge- samt sind 98 Lawinenopfer zu beklagen. Die mehr als 1300 niedergehenden Schadenlawi- nen beschädigen oder zerstören 187 Häuser, 999 Ställe und 303 andere Gebäude – darüber hin- aus kommen 884 Stück Vieh um. Am 2. März 1985 verschüttet eine Lawine die Strasse zwi- schen Zermatt und Täsch, wo- bei ein Kleinbus sowie ein Per- sonenwagen unter den Schnee- massen begraben werden. Da- bei sterben 11 Menschen. Zwei Grosslawinen reissen am 21. Februar 1999 im Val d’Hérens oberhalb der Ge- meinden Evolène und Les Haudères mehrere Chalets weg. 13 Menschen werden ver- schüttet, zwölf davon getötet. Am 12. Juli 2007 sterben sechs Armeeangehörige beim Aufstieg zum Gipfel der Jungfrau. Die Gebirgsspezia- listen waren in zwei Dreier- seilschaften unterwegs, als sich frisch gefallener Schnee löste. Oberhalb der Cleuson-Stau- mauer in der Skiregion Si- viez/Nendaz werden sieben Schneeschuhwanderer aus Frankreich am 11. Februar 2009 von einer Lawine über- rascht. Vier Mitglieder der Gruppe werden erfasst, nur ei- ner von ihnen überlebt das Un- glück. Eine Skitourengruppe löst am 3. Januar 2010 im Diemtigtal im Berner Oberland eine Lawi- ne aus, durch welche eines der Mitglieder verschüttet wurde. Während der Bergungsarbeiten werden 12 Personen bei einer Nachlawine aus dem Gegen- hang verschüttet, sieben Perso- nen sterben.

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Mittwoch, 24. Februar 2010 DIE LAWINE VON RECKINGEN 5

Fünf nach fünf blieb die Zeit stehenAbriss und Bilanz der Lawinenkatastrophe vom 24. Februar 1970 in Reckingen

R e c k i n g e n. – DerWeisse Tod kam in derNacht. Am 24. Februar1970, frühmorgens, umfünf Minuten nach fünf,erfasste eine gewaltigeStaublawine aus demBächital den westlichstenTeil des Dorfes und begrub48 Menschen in sechsWohnhäusern unter sich.

19 Verschüttete konnten innertanderthalb Stunden lebend ge-borgen werden; teils schwerverletzt. Eine Person verschiedspäter im Spital. 29 Menschenwurden auf der Stelle getötet.Unter den 30 Todesopfern be-fanden sich 11 Zivilpersonenund 19 Offiziere der M Flab Abt54. Sie waren auf dem Flab-Schiessplatz in Gluringen imWK und starben in der in derFalllinie der Lawine stehendenOffizierskaserne, dem ehemali-gen, 1902 erbauten, Pension-Hotel Blinnenhorn.

950 Helfer suchten die Verschütteten

Das Unglück führte zu trauma-tischen Zuständen; zu Trauer,Angst, Bestürzung und Ohn-macht. An der fieberhaften Su-che nach Überlebenden warenauf dem Lawinenkegel mit ei-nem (laut «Blick») Ausmassvon 1,8 Millionen m3 Schnee950 Helfer beteiligt. Eingesetztwurden ferner 13 Lawinenhun-de, 14 schwere Baumaschinenund drei Helikopter. Eine solcheSuchaktion hatte die Schweizbis dahin nie erlebt. Drei Tagespäter, am 28. Februar, war dasletzte Todesopfer geborgen.

Noch viel grössereKatastrophen

Reckingen war für die Schweizdas «opferreichste» Lawinen-unglück des 20. Jahrhunderts.Zuvor gab es im Goms bereitszwei Lawinenkatastrophennoch grösseren Ausmasses.1827 zerstörte eine Lawine ausdem Bieligertal einen Teil derDörfer von Biel und Selkingen– 52 Personen fanden dabei denTod. 1720 forderte eine fürch-terliche Lawine in Obergestelngar 84 Todesopfer. Doch auch die Bächital-Lawinehatte 221 Jahre zuvor schon fürLeid und Trauer gesorgt. Am 6.Februar 1749 waren gewaltige

Schneemassen bis ins Dorf vor-gedrungen. Das Pfarrhaus wur-de verschüttet, drei Geistlicheund die Pfarrmagd kamen dabeiums Leben. Das Kirchenportalwurde weggerissen und derSchnee türmte sich so hoch,dass die Kirchgänger währendWochen über Leitern durch dieeingedrückten Kirchenfensterins Schiff hinuntersteigen muss-ten.

140 ZentimeterNeuschnee

Seither war die Bächital-Lawi-ne nie mehr bis ins Dorf vorge-drungen, was den Bau verschie-dener Gebäude westlich desDorfkerns begünstigte; trotzWarnungen älterer Leute. Dielauernde Gefahr schien verges-sen. Und so fühlten sich diemeisten Reckinger im Februar1970 keineswegs bedroht, ob-wohl die objektive Lawinenge-fahr ein erhebliches Mass ange-nommen hatte. In den Tagen zu-vor hatte es 140 ZentimeterNeuschnee gegeben, im Dorfmass die Schneedecke 223 Zen-timeter. Oberhalb der Wald-grenze war die Schneehöhe aufüber 6 m angewachsen. Der Ho-niggistein (2240 mü.M.) warvom Dorf aus seit zwei Tagennicht mehr zu sehen. «Wenn dereingeschneit ist, schwebt dasDorf in Gefahr», hatten die al-ten Reckinger ihren Nachfahrenüberliefert.

Die «Schuldfrage»Was die verheerende Lawineauslöste, konnte, wie bei ent-fesselten Naturgewalten so oft,nie geklärt werden. Die Armeeführte umfassende Abklärun-gen durch. Auf eine zivilrecht-liche Untersuchung wurde ver-zichtet. Das Institut fürSchnee- und Lawinenfor-schung Weissfluhjoch-Davoskam zum Befund, dass der«Twärr», ein starker Südwest-wind, meterhohe Schneewäch-ten aufbaute. Ihr Eigengewichtliess sie schliesslich am Gal-mihorn und der Hohen Gwäch-te zuhinterst im Bächital bre-chen. Ein Kausalzusammen-hang zwischen dem fünfstündi-gen Flab-Schiessen vom Vor-tag mit Zielgebiet Bächital unddem Lawinenniedergang wur-de von den Fachleuten mit ei-ner «an grosse Wahrscheinlich-

keit grenzenden Sicherheit»ausgeschlossen. Diese Aussagewurde im Goms verschiedent-lich in Zweifel gezogen, etwadurch Paul Blatter, der zumUnglück intensiv recherchierteund dazu verschiedentlich pu-blizierte (u.a. im Buch «Dorfund Pfarrei Reckingen» und imWB).

MillionenschädenDie Lawine verursachte materi-elle Schäden von 12,8 Millio-nen Franken. Der Gemeindeblieben Folgekosten von rundeiner Million Franken. Das Dorf für die Zukunft besserzu schützen war ab sofort einGebot der Stunde. 14 Tage nachdem Unglück legte ein ent-schlossener GemeindepräsidentHubert Walpen bereits erstePläne vor. Die Idee des Damm-baus sollte die Einigkeit derDorfschaft – auch in Gluringen– noch auf manch harte Probestellen. tr

R e c k i n g e n. – Für allewar nach der Katastropheklar, dass Reckingen wieGluringen vor künftigenLawinen aus dem Bächi-tal zu schützen seien.

Über das «Wie?» entbranntejedoch schon wenige Wochennach dem Unglück eine ArtGlaubenskrieg, der manchelaut dem späteren Gemeinde-präsidenten Paul Carlen an«Wildwest-Manieren» erinner-te. Für die einen war ein Leit-damm, wie er noch im selbenJahr realisiert wurde, dasschnellste und beste Mittel zurSteigerung der Sicherheit. DieGegner nannten den Dammkonsequent «den Graben» undmeinten das auch sinnbildlich.Für sie waren Verbauungen imAnrissgebiet sowie Brems-und Stützverbauten im Bächi-tal das richtige Mittel. Zwei solcher Schutzdämmewurden in den Folgejahrenauch realisiert. «Die kompletteSicherheit gibt es nicht», sagtder heutige Gemeindepräsi-dent Norbert Carlen. Er musses als verantwortlicher Ingeni-eur für Naturgefahren im KreisOberwallis bei der kantonalen

Dienststelle für Wald undLandschaft wissen. Der Schutzder Dörfer wird aber nachMöglichkeit stets verbessert.So wurden in den letzten Jah-

ren auf dem Gemeindegebietvon Gluringen zwei künstlicheLawinenauslöser installiert.Als Ergänzung zu den techni-schen Massnahmen im Gebiet

trägt bezüglich Sicherheit auchder Lawinenwarndienst bei,dessen Möglichkeiten in denletzten Jahren stets verfeinertwurden. tr

Damm oder Graben?Kontinuierliche Verbesserung der Sicherheit

Die Toten der Katastrophe

Zivile OpferJerjen Mathilde 1908Carlen Ruth 1942Carlen Astrid 1962Carlen Markus 1964Carlen Stefan 1966Curty Gertrud 1922Curty Ferdinand 1956Walpen Gertrud 1922Walpen Regina 1955Walpen Hans 1957Frieden Hedwig 1910

Opfer der M Flab Abt 54Major Frei Max 1928Hptm Ammann Peter 1935Hptm Müri Heinz 1935Hptm Steiner Hugo 1937Hptm Stieger Franz 1932Oblt Bachmann Albert 1930Oblt Brotschi Dieter 1941Oblt Frei Jörg 1944Oblt Kronauer Caspar 1939Oblt Leuthold Peter 1938Oblt Luchsinger Uwe 1942Oblt Oswald Heinz 1943Oblt Stuber Hans-Ulrich 1939Oblt Verdun Markus 1941Lt Berghoff Jürg 1944Lt Neuhaus Beat 1948Lt Signer Hans 1941Lt Wespi Werner 1946Lt Wickart Albert 1941 Trauer, Angst, Bestürzung und Ohnmacht: Insgesamt beteiligten sich 950 Helfer an der fieberhaften

Suche nach Überlebenden der Lawinenkatastrophe. Archivfoto wb

Bächital-Lawine zwischen den Dörfern Reckingen (rechts) und Gluringen. Foto zvg

Folgenschwerste Lawineseit 150 Jahren

Chronik der verheerendsten Lawinen

(wb) Als die Bächital-La-wine in Reckingen am 24.Februar 1970 sechs Kin-der, fünf Frauen und 19Armeeangehörige in denTod reisst, muss dieSchweiz das verheerendsteLawinenunglück seit 150Jahren verzeichnen. Trotz-dem kam es immer wiederzu schweren Unglücken.

� Den härtesten Lawinenwinterdes letzten Jahrhunderts erlebtdie Schweiz 1950/51: Insge-samt sind 98 Lawinenopfer zubeklagen. Die mehr als 1300niedergehenden Schadenlawi-nen beschädigen oder zerstören187 Häuser, 999 Ställe und 303andere Gebäude – darüber hin-aus kommen 884 Stück Viehum.

� Am 2. März 1985 verschütteteine Lawine die Strasse zwi-schen Zermatt und Täsch, wo-bei ein Kleinbus sowie ein Per-sonenwagen unter den Schnee-massen begraben werden. Da-bei sterben 11 Menschen.

� Zwei Grosslawinen reissenam 21. Februar 1999 im Vald’Hérens oberhalb der Ge-

meinden Evolène und LesHaudères mehrere Chaletsweg. 13 Menschen werden ver-schüttet, zwölf davon getötet.

� Am 12. Juli 2007 sterbensechs Armeeangehörige beimAufstieg zum Gipfel derJungfrau. Die Gebirgsspezia-listen waren in zwei Dreier-seilschaften unterwegs, alssich frisch gefallener Schneelöste.

� Oberhalb der Cleuson-Stau-mauer in der Skiregion Si-viez/Nendaz werden siebenSchneeschuhwanderer ausFrankreich am 11. Februar2009 von einer Lawine über-rascht. Vier Mitglieder derGruppe werden erfasst, nur ei-ner von ihnen überlebt das Un-glück.

� Eine Skitourengruppe löst am3. Januar 2010 im Diemtigtalim Berner Oberland eine Lawi-ne aus, durch welche eines derMitglieder verschüttet wurde.Während der Bergungsarbeitenwerden 12 Personen bei einerNachlawine aus dem Gegen-hang verschüttet, sieben Perso-nen sterben.

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Mittwoch, 24. Februar 2010 DIE LAWINE VON RECKINGEN 7

Von der Banalität des GrauensErinnerungen, Erfahrungen und Einsichten im Zusammenhang mit dem Lawinenunglück von Reckingen

Die Toten wirkten wie leblosePuppen, Puppen, die von einemungezogenen Kind malträtiertund weggeworfen worden wa-ren. Mit verrenkten Gliedern,oft mit klaffenden Wunden –doch es war kaum Blut zu se-hen. Auch darum wirkte dieSzenerie an jenem tiefwinterli-chen Februartag auf dem riesi-gen Lawinenkegel von Reckin-gen so unwirklich, als wärs einHorrorfilm und nicht die grau-enhafte Realität.

*Der Schnee fiel dicht wie einendlos gewobener, weisser Tep-pich, der aus dem Himmelkommt und sich über alles aus-breitet: Er dämpfte die Geräu-sche, verwedelte die Bilder,verwischte die Gedanken, mil-derte die Eindrücke. Und doch:Dieser Schneefall hatte etwasUnheimliches, etwas Grauen-haftes, selbst wenn er den La-winenkegel von Reckingenscheinbar gnädig zudeckte.

*Am Katastrophenort herrschtevier Stunden nach dem Lawi-nenniedergang zwar fieberhaf-te Aktivität, doch keine Hektik.Immer mehr zivile und militäri-sche Helfer trafen ein. DasGeräusch der schweren Bau-maschinen wurde später, als dieSicht sich gebessert hatte undFlüge endlich möglich waren,ständig vom heiseren Belfernder Helikopter-Rotoren über-tönt. Die Hilfe war angelaufen,im grossen Stil.

*Nur einmal, als man fürchtete,dass eine weitere Lawine imGebiet niedergehen könnte,hing ein jäher Hauch von Paniküber der Unglücksstelle, rann-ten die Helfer weg vom grossenSchneegrab. Fehlalarm: Es warkeine Lawine. Ein Flugzeughatte die Region etwas tieferüberflogen.

*Bereits kurz nach Arbeitsbeginnum 8.00 Uhr waren auf der Re-daktion des «Walliser Boten»die ersten Telefonate eingegan-gen: Es habe sich in Reckingenein schweres, ein schrecklichesLawinenunglück ereignet. Einehalbe Stunde später fuhren wir(der Fotograf Armin Karlen undder Schreibende) mit dem Re-daktions-Wägelchen von Brig inRichtung Goms.

*Unmittelbar nach Fiesch gingnichts mehr: Die Strasse wargesperrt – und gut ein MeterNeuschnee hätte selbst dem mitSpurketten versehenen Fahr-zeug ein Weiterkommen ver-wehrt. Der Strassenunterhalt

hatte sich aus Sicherheitsgrün-den zurückgezogen und dasPflügen eingestellt.

*Der Bahnmann in der grossenSchneeschleuder der Furka-Oberalp-Bahn auf dem Bahn-hof von Fiesch winkte ab. Nein,Reporter wolle er keine nachReckingen mitnehmen. Dasnicht. Doch der Hinweis, dasswir vom «Walliser Boten»wären, und wohl auch eine dis-kret zugesteckte Fünfzigfran-kennote änderten das. Und sofuhren wir kurz darauf mit demSchneewerfer von Fiesch inRichtung Reckingen.

*Auf dem Bahnhof Reckingenwar die Uhr um Schlag fünfnach fünf und 31 Sekunden,dem genauen Zeitpunkt des La-winenniederganges, stehen ge-blieben . . .

*Da der Zugang zum Ort desLawinenunglücks sowohl auf

der Bahn und der Strasse, alsauch auf dem Luftweg striktevon der Polizei und von der Ar-mee abgeschottet wurde, blei-ben Armin und ich an diesemTag die einzigen Medienleutein Reckingen.

*Noch heute erinnere ich michdaran, wie wir auf Geheiss vonArmin versuchten, unsere Foto-kameras so diskret wie möglichzu handhaben, keine sensatio-nellen Aufnahmen zu machen,die Toten und mit ihnen die Ge-fühle der Hinterbliebenen zurespektieren. Das ist uns gelun-gen. In Bild und Wort.

*Es war dies wohl das ersteMal, dass der «Walliser Bote»ein grösseres Unglück einge-hender, breiter und mit viel ein-drücklicheren Bildern be-schrieb, als alle anderen Medi-en, selbst umfassender als dieZeitung mit den grossen Bal-kentiteln.

*Das Fernsehen zeigte erst einenTag darauf erste Aufnahmen, Bil-der von Armin wie in vielen an-deren Zeitungen. Trotz aller Er-schütterung und der Trauer, diewir empfanden – wir waren auchstolz auf unsere grosse Reporta-ge am anderen Tag im «WalliserBoten».

*Emotional auf dünnem Eis,leer und irgendwie angegriffenfühlte man sich erst Tage spä-ter, als die Totenglocken ver-klungen waren – im Alltag . . .

*Jahrzehnte später, als ich einmaldas Grauen beschrieb, das einenüberkommen kann, wenn derSchnee so lange und so dichtfällt, dass man ihn in der Stilleförmlich rieseln hört, als wäre estödlicher Flugsand, hat mir derinzwischen verstorbene Arzt desGoms, Dr. Wirthner, gedankt.Weil ich seine Gefühle und Emp-findungen in Worte gefasst hätte.

*Er ist unzählige Male selbst beigrösster Lawinengefahr aus-gerückt, um Schwerkrankenund Sterbenden zu helfen. Erstand in diesen Tagen im Feb-ruar des Jahres 1970 auch aufdem erstarrten, betonhartenSchnee der Katastrophenlawi-ne von Reckingen.

*Als im Lawinenwinter 1999einer meiner Jagdkameradenals Sicherheitsverantwortli-cher aus dem Lötschental be-richtete, dass man bald schonLawinenniedergänge selbst indie Kernsiedlungen nichtmehr ausschliessen könne,sträubten sich mir am Telefondie Nackenhaare. Längst ver-gessen geglaubte Bildertauchten auf. Bilder von Men-schen, die sind wie wegge-schmissene Puppen. DasGrauen, das zuerst einmal ba-nal erscheint, holt einen erstspäter ein.

*Jahre nach der Katastrophehat die Kontroverse um denBau des Lawinenschutzdam-mes Reckingen entzweit undaufgewühlt. Mich rührte dieserStreit seltsam an. Es schienmir, als flüchte sich die Dorf-schaft in diesen Zank, in diesenHader und in diese Häme, umdas Schlimme zu übertünchenund zu vergessen, das ihr wi-derfahren war.

*Der damalige Gemeindepräsi-dent von Reckingen, HubertWalpen, der den Dammschliesslich gegen harten in-ternen Widerstand zusammenmit den Fachleuten des Kantons und des Bundesdurchzog, soll geweint haben,als sich das Bauwerk erst-mals bei einem grösseren La-winenniedergang bewährte.Wie gut habe ich die Trä-nen dieses Mannes verstan-den . . . lth

In den Tagen vor der Lawinenkatastrophe hatte es 140 Zentimeter Neuschnee gegeben – im Dorf massdie Schneedecke 223 Zentimeter.

Bei der Suche nach Opfern wurden 13 Lawinenhunde, 14 schwere Baumaschinen und drei Helikoptereingesetzt.

Geradezu unwirklich wirkte die Szenerie auf dem riesigen Lawinenkegel – als wärs ein Horrorfilm und nicht die grauenhafte Realität. Archivfotos wb

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Mittwoch, 24. Februar 2010 DIE LAWINE VON RECKINGEN 8

Das Mädchen in der Wiege Ursula Imwinkelried-Carlen und «das Wunder von Reckingen»

R e c k i n g e n / B i t s c h. –Ihr Schicksal hat die Men-schen bewegt. Nach ihrerdramatischen Rettung gingdie damals einjährige Ur-sula Carlen als «das Wun-der von Reckingen» in dieGeschichte ein.

Das Lawinenunglück vom 24.Februar 1970 wurde für die Fa-milie Carlen-Jerjen zur unfass-baren Tragödie: Ursulas Mut-ter, Ruth Carlen-Jerjen (28),ihre Schwester Astrid (8), diebeiden Brüder Markus (6) undStefan (4) sowie GrossmutterMathilde Jerjen-Hug (62) ver-loren ihr Leben, als dieSchneemassen das Elternhauswegrissen. Nur Vater WalterCarlen und das jüngste KindUrsula überlebten die Katastro-phe. Eine psychologische Betreuungder Opfer gab es damals nochnicht. «Mein Vater wurde mitseinem Schicksal allein gelas-sen», sagt Ursula Imwinkelried-Carlen.

«Ich feiere seitherzweimal Geburtstag»

An die dramatischen Ereignissean jenem verhängnisvollenDienstagmorgen kann sie sichfreilich nicht erinnern. Der Va-ter sprach nicht gerne darüber.Alles, was sie weiss, sind Er-zählungen, die sie als Kind auf-geschnappt hat. Auch die Ge-schichte ihrer wundersamenRettung kennt Ursula Imwin-kelried-Carlen nur vom Hören-sagen. Demnach überlebte dasdamals einjährige Mädchen dasUnglück unverletzt in seinerWiege. Das Kinderbettchenhatte der Götti aus massivemHolz gezimmert und seinemPatenkind zur Taufe geschenkt.Als die Schneemassen dasHaus zerdrückten, stürzte dieZimmerdecke direkt auf die

Wiege und schloss das Mäd-chen im Bettchen ein. DieseSchilderung erscheint UrsulaImwinkelried-Carlen durchausglaubwürdig. Dagegen sei jeneVersion, wonach die Wiege vonder Lawine bis ans Bahngleisgetragen worden sein soll, wohlein Mythos.Auf sie aufmerksam gewordenseien die Retter schliesslich,

weil sie laut geschrieben habe:«Ich hatte schon damals einekräftige Stimme, die mir dasLeben gerettet hat.» Wer sieletztlich gefunden und gebor-gen hat, will die Gommerin auspersönlichen Gründen nichtverraten. Ihren Lebensrettern istsie aber noch heute dankbar:«Ich feiere seither zweimal imJahr Geburtstag.»

Unglück verdrängtstatt verarbeitet

Im Kindesalter wurde dieGrossmutter väterlicherseits zuihrer wichtigsten Bezugsperson:«Als sie starb, habe ich zumzweiten Mal die Mutter verlo-ren», sagt Ursula Imwinkelried-Carlen. Weil auch ihr vor allem wäh-

rend der Schulzeit psychologi-sche Hilfe verwehrt blieb, hatsie die tragischen Ereignissenoch bis vor wenigen Jahreneinfach verdrängt. Sie habe im-mer Schmerz und Trauer emp-funden, ihre Gefühle aber stetsunterdrückt, erzählt Ursula Im-winkelried-Carlen. Der Verlustder Mutter schmerzt sie beson-ders. Seit sie selbst Mutter von

zwei Söhnen ist, hat sich ihreSehnsucht nach einem Wieder-sehen noch verstärkt: «Ich wün-sche mir nichts mehr, als meineLiebsten zurückzuholen und indie Arme zu schliessen, wenigs-tens für einen Tag.»

Das Lebenneu geordnet

Vor etwa vier Jahren hat UrsulaImwinkelried-Carlen begonnen,mithilfe der Kinesiologie ihreVergangenheit aufzuarbeiten. ImGegensatz zur ebenfalls bean-spruchten psychologischen Un-terstützung, die sie eher als«Symptombekämpfung» emp-fand, erscheint ihr diese alterna-tivmedizinische Therapieformals probates Mittel, um ihr Lebenneu zu ordnen. Obwohl ihr auchspäter herbe Schicksalsschlägenicht erspart blieben, ist ihr diesinzwischen gut gelungen. «Na-türlich gibt es Situationen wieder heutige Jahrestag, an dem al-les wieder hochkommt», räumtUrsula Imwinkelried-Carlen ein.Allerdings könne sie jetzt vielbesser damit umgehen. Früherhätte sie weder den Mut noch dieKraft gehabt, darüber zu spre-chen. Ohnehin gehört Ursula Im-winkelried nicht zu jenen Men-schen, die ihr Seelenleben gernein der Öffentlichkeit ausbreiten.Weshalb sie sich dennoch dazudurchgerungen hat? «Ich möchteall den Menschen, die auch inschweren Zeiten zu mir gestan-den sind und mir Hilfe und Stüt-ze waren, danken», sagt sie. «Alljenen, die mir mit Lügen und Int-rigen das Leben zusätzlichschwer gemacht haben, solltenmeine Schilderungen zu denkengeben.» Ursula Imwinkelried-Carlenwohnt mit ihren Söhnen seit2004 in Bitsch und arbeitet heu-te als Transporthelferin bei derSanität Oberwallis. Ein Zufall?«Wahrscheinlich nicht . . .» fm

Achterbahn der Gefühle: Ursula Imwinkelried-Carlen auf Spurensuche in den Archiven des «Walliser Boten». Foto wb

Grosslawinen sorgten imGoms schon in frühe-ren Jahrhunderten fürschwerste Unglücke, un-sägliches Leid und Trauer.

Im Februar 1720 wurde dasDorf Obergesteln von einerfürchterlichen Lawine ver-schüttet, bei der 84 Menschenihr Leben verloren. Ein Lawi-nenkreuz bei der Kirche erin-nert an diese Katastrophe.105 Gebäulichkeiten wurdenzerstört, darunter 27 Wohn-häuser. In den Ställen wurden600 Stück Vieh getötet.

Schnee, Wasser und Feuer in einem

Doch damit noch nicht ge-nug. Die Schneemassen stau-ten den Rotten und das Was-ser bewirkte eine verheeren-de Überschwemmung. «WasSchnee und Wasser verschonthatten, wurde ein Raub derFlammen», schreibt Ferdi-nand Kreuzer in seiner Chro-nik «Goms, das Land der jun-gen Rhone» (Rotten-Verlag,vergriffen). «Entweder durchumgeworfene Stubenöfenoder weil das durch den Luft-druck verschüttete Fett fürdie Fasnachts-Chruchteleüber dem offenen Herd Feuerfing.Die Lawine kam aus Rich-tung Rafgarten. Das Dorfstand damals noch weiterwestlich. Es wurde danachweiter vom Hang weg neuaufgebaut. Trotzdem brachschon 1758 eine Lawine wie-der sechs Firsten.

Tödliche Lawineaus dem Bieligertal

Obergesteln brannte überdiesam Abend des 2. September1868 innert vier Stunden voll-ständig nieder. 178 Firsten,darunter 68 Wohnhäuser unddie Kirche, wurden damalsein Raub der Flammen.Grund: Ein Kutscher hatteWasser für sein Pferd wärmenwollen, wobei der hölzerneKamin Feuer fing. Das imselben Haus lagernde Pulverwirkte in der Folge als Brand-beschleuniger. Obergestelnwurde in der Folge in Steinwieder aufgebaut, was ihmein für das Goms einmaligesGesicht verleiht. Die Not imDorf war nach diesem Brandso gross, dass zwischen 1870und 1899 eine wahre Aus-wanderung einsetzte. 57 Bür-ger von Obergesteln zogen al-lein nach San Francisco(USA). Wenigstens warendurch den Brand keine Opferzu beklagen.In der Nacht vom 16. auf den17. Januar 1827 zerstörte einegewaltige Lawine aus demBieligertal in Biel 34 Gebäu-de und in Selkingen 12 Ge-bäude. 52 Menschen fandendabei den Tod, 37 wurdenschwer verletzt. Auf demFriedhof von Biel erinnert einDenkmal an dieses tragischeEreignis. 93 Stück Vieh wur-den ebenfalls getötet. Einmassiver Leitdamm kanali-siert seit einigen Jahren denLawinenzug aus dem Bieli-gertal. tr

84 Tote in Obergesteln –52 Tote in Biel/SelkingenFolgenschwere Lawinenniedergänge im Goms

Lawinenkataster

und Zonenplan1968 wurde in Reckingendie Zonenplanung ange-gangen. Die Dossiers la-gen nach dem üblichenVerfahren just zum Zeit-punkt des Unglücks beimStaatsrat zur Homologie-rung auf.

Zwischen Kantonsstrasse undFO-Geleise war das ganzeTerrain bis an den Bachrandals Bauzone vorgesehen,nördlich der Kantonsstrassewar die Bauzone bis zumBach noch 60 Meter breit.Nach dem Unglück wurdendiese Pläne als nichtig erklärtund vollständig überarbeitet.

Lawinenkataster unbekannt

Einem bereits seit 1958 beste-henden Lawinenkataster desKantons war im Dorf keinegrosse Beachtung geschenktworden. Es war offenbar schonJahre vor dem Unglück verlo-ren gegangen. Dem 1970 am-tierenden Gemeinderat wardieses Dossier jedenfalls unbe-kannt. Genauso wenig kanntendas Flabschiesskommando so-wie die Lagerverwaltung desSchiessplatzes das kommunaleLawinenkataster. Das Doku-ment lag einzig beim Kreis-forstamt und dem kantonalenForstinspektorat auf.So liess auch das EMD, sonststrikte auf Sicherheit bedacht,beim Kauf des Bodens fürden Flabschiessplatz sowiedes früheren Hotels Blinnen-horn als Offiziersunterkunftdie nötige Abklärungssorgfaltvermissen. Erst durch den La-winenniedergang stellte sichheraus, dass die verschütteteZone «offiziell» im Gefah-rengebiet lag. tr

Das Dorf Reckingen wurde bereits 1749 von so gewaltigen Schneemassen verschüttet, dass die Kirch-gänger während Wochen über Leitern durch die Fenster ins Kirchenschiff steigen mussten. Fotos wb

Mahnmal der Katastrophe: Am Eingang des Dorfes erkennt man die letzten Überreste eines Gebäudes,das am 24. Februar 1970 zerstört wurde.

RECKINGEN – 40 JAHRE DANACH

Page 4: Die Lawine von Reckingen (Goms) Wallis

Mittwoch, 24. Februar 2010 DIE LAWINE VON RECKINGEN 9

«Unsere Welt brach zusammen»Eugen Walpen wurde aus der Lawine gerettet, verlor aber seine Mutter und zwei Geschwister

R e c k i n g e n. – Der 50-jährige Eugen Walpen wardamals zehn Jahre alt, alsman ihn aus der Lawineretten konnte. Das Un-glück war ein brutaler Rissdurch sein bisheriges Le-ben, verlor er doch seineMutter sowie zwei seinerGeschwister.

Wir unterhielten uns mit EugenWalpen über seine Erlebnisse injener Nacht und wie das Lebenfür ihn weiter ging.

Walliser Bote: Wie haben Siedie Lawine am eigenen Leiberlebt?Eugen Walpen: «Ich bin plötz-lich erwacht, weil alles geschüt-telt und gerumpelt hat. Erstdachte ich noch, meine Schwes-ter macht mit mir ‹ds Chalb›.Doch je mehr es mich gedrehtund herumgestossen hat, wussteich nicht mehr, was mit mir ge-schieht. Und auf einmal war ichim Schnee. Doch ich hätte nichtsagen können, dass es Schneewar. Mir war auf einmal einfachganz kalt. Irgendwann merkteich, dass ich in einem dunklenLoch war, es war sehr eng undbitterkalt. Ich hatte zwar Platzgenug, konnte frei atmen, aberich konnte mich nicht drehenund gross bewegen. Ich war amRücken nackt und wollte michmit meinem Arm am Rückenbedecken, doch dafür reichteder Platz nicht aus.»

Und dann mussten Sie im kal-ten Schneeloch ausharrenund warten?«Ich wusste nicht, wie lange ichda liegen musste. Später hat esgeheissen, man hätte mich nachzwei Stunden rausgezogen. Ichhabe Tritte gehört. Im Schneehört man das sehr gut. Sie ka-men in meine Nähe, gingen

aber gleich wieder weg. Daswar sehr hart. Zum Glück sindsie wieder gekommen. Und lei-der wieder gegangen. Beimdritten Mal habe ich schliess-lich angefangen zu schreien.Dann hat man mich gefundenund retten können. Gott seiDank war die Armee da und hatdie Suche organisiert. Das warunser grosses Glück. Was hät-ten die Reckinger bei diesemUnglück schon alleine machenkönnen?»

„Gott sei Dank

war die Armee daund hat die Suche

organisiert

“Ihre Geschwister haben aufähnliche Weise überlebt?«Gertrud hat es aus dem Fens-ter geschmissen. MeineSchwester und der einzigeüberlebende Offizier aus derKaserne waren die ersten, dieman gefunden hat, denn beidewaren auf der Lawine und nichtverschüttet. Die haben sich auf-gerafft und sind zusammen zumDorf. Meinen Bruder Roberthaben sie etwa zehn Minutenvor mir in der Lawine gefun-den. Der war unter einem Baumeingeklemmt. Erst wollte manihn mit einer Motorsäge he-rausschneiden. Doch mein On-kel hat das verboten, weil erAngst hatte, sie schneiden ihmin die Beine. Schliesslich konn-ten sie ihn herausziehen undzum eingerichteten Sanitäts-posten beim alten Blinnenhornbringen.»

Wie war das Wiedersehen mitIhrem Bruder?

«Als sie mich in den Sanitäts-posten reingebracht haben, wur-de ich neben Robert gelegt. Derhat nicht gefragt, wie es mirgeht oder ob mir etwas fehlt.Das Erste was ich von meinemBruder hörte, war die Frage, obich etwas von den anderenweiss.»

Wann haben Sie erfahren,dass Sie Ihre Mutter und zweiGeschwister verloren haben?«Meine Mutter und meinenBruder Hans haben sie amAbend gegen fünf Uhr gefun-

den. Meine Schwester Reginahat man schon vorher gefunden,aber da weiss ich die Zeit nichtmehr. Als uns bewusst wurde,was passiert war, brach unsereWelt zusammen.»

Ihr Vater war schon Jahrevorher verstorben. Sie warenauf einen Schlag zum Vollwai-sen geworden. Wie sind Siedamit umgegangen?«Ja, wie geht man damit schonum? Ich bin dann zur Grossmut-ter und zu einem ledigen Onkelgekommen, die sich um mich

fortan kümmerten. Meine über-lebenden Geschwister sind jaum einiges älter gewesen alsich. Die standen schon mittenim Leben.»

Wie ging es nach jener Lawi-nennacht weiter?«Eine Woche später ging esgleich wieder zur Schule, vonpsychologischer Betreuungwar damals noch keine Rede.Die Erinnerungen an das La-winenunglück sind in den spä-teren Jahren immer wiederhochgekommen, das war im-

mer irgendwie präsent. Vor al-lem in schneereichen Winternist mir nicht immer geheuer.Mit Schneeverhältnissen wiejetzt, geht das Ganze noch.Aber bei prekären Situationenwie im Jahr 1999 geht bei mirnicht mehr viel. Sobald dieStrassen gesperrt werden, be-komme ich Platzangst und ei-ne ständige, lästige Unruhe.Dann bin ich extrem nervös.Dann brauche ich ein paarSchnapskaffee, um mich zuberuhigen.»

Interview: Werner Koder

Eugen Walpen wird den 24. Februar 1970 nie vergessen. Das Unglück war der prägendste Moment in seinem Leben, bei dem er seineMutter und zwei seiner Geschwister verlor. Foto wb

«Das war ein trauriger Anblick»Der damals 32-jährige Gregor Guntern half bei der Suche nach Überlebenden der Katastrophenlawine

R e c k i n g e n. – Ohne aus-gebildete Rettungskräfteund spezifisches Suchma-terial auf einem stock-dunklen Lawinenkegelnach Verschütteten suchen– keine leichte Aufgabe, diesich den Einwohnern vonReckingen in jener Nachtgestellt hat. Gregor Gun-tern half damals tatkräftigmit.

In jener Nacht wurde er durchdas Schreien eines seiner Kin-der geweckt. «Als ich das Lichteinschalten wollte, blieb es dun-kel, wir hatten keinen Strom»,erinnert sich Gregor Guntern.

Lawine auf andererDorfseite erwartet

Nachdem er seinen Sohn beru-higt hatte, bereitete er sich ei-nen Tee zu und wollte sich aufden Weg nach Gluringen ma-chen, wo er auf dem Flab-schiessstand seiner Arbeit nach-ging. «Als ich losging, sah icheinen Mann, der gewöhnlich sofrüh am Morgen nicht auf denBeinen ist. Ich fragte ihn, was erdenn so früh hier mache. Derhat mich angeschaut und ge-fragt: «Ja, weisst du denn garnichts? Die ganze «Häji» (Lo-kalname für den Ort, wo die La-wine niedergegangen ist; Anm.der Red.) ist weg.» Ich ging so-fort dorthin. Wo sonst mehrereHäuser und eine grosse Offi-zierskaserne standen, war nurnoch ein riesiger Lawinenkegel.Alles war vollständig verwüs-tet», so Gregor Guntern. DieLawine hätte das Dorf vollkom-men überraschend und unvorbe-

reitet getroffen, weil über zweiJahrhunderte lang aus demBächjital keine Lawinenabgän-ge mehr bis hinunter ins Dorfgegangen waren. «Alle erwarte-ten die Lawine auf der östlichenSeite des Dorfes, bei der ‹Löi-winu›, oberhalb der Antonius-kapelle. Aber nicht aus demBächjital», so Gregor Guntern.Erst Jahre später sei festgestelltworden, dass immer, wenn eslange geschneit hatte und da-nach drei Tage lang Westwindherrschte, die Lawine aus demBächjital gefährlich wurde.

«Wir haben einfachangefangen zu graben»Der Lawinenkegel sei ein An-blick des reinen Chaos gewe-sen. Zu jener Zeit hätte es we-der Material für die Lawinen-suche gegeben noch eine ad-äquat ausgebildete Rettungs-mannschaft. «Wir haben ein-fach angefangen zu graben undauf dem stockfinsteren Lawi-nenkegel nach Überlebendenzu suchen», so Gregor Gun-tern. Überall seien Lebensmit-tel aus der völlig zerstörten Of-fiziersmesse herumgelegen.«Das hat auch die nachträglicherschienenen Lawinenhundebei ihrer Suche empfindlichgestört. Oft schlugen die Hun-de an. Und als wir gegrabenhatten, fanden wir meist ledig-lich einen Cervelat», blickt erzurück. Auch die Suche mitSondierstangen sei schwieriggewesen. «Wir hätten systema-tisch von unten her mit der Su-che beginnen sollen. Oft stiessman auf was Hartes, das hatsich aber meist als Baum-

stamm oder etwas anderes ent-puppt.»

Mutter und Kind tot im Bett

Beim Haus seines BekanntenHans Walpen hätte er einen al-ten Giltsteinofen gefunden.«Ich kannte den Ofen vonmeinen Besuchen gut genugund habe mich an dessen Plat-zierung in seinem Haus genauerinnert. Ich wusste, in welcheRichtung wir zum Schlafzim-mer graben mussten. Wir gru-ben und fanden die Mutter

Gertrud Walpen. Sie lag nochin ihrem Bett, als ob sieschliefe. In ihren Armen lagihr kleiner Sohn Hans. Beidewaren tot, wahrscheinlich imSchlaf erstickt. Das war eintrauriger und grauenhafterAnblick. Der verfolgt mich bisheute», sagt Guntern mit be-legter Stimme.

Kanonenrohre verbo-gen wie FleischerhakenDie Lawine hat ihre Spuren inmannigfaltiger Weise hinter-lassen. «Da war ein Militärca-

mion mit Fernseh- und Radar-geräten im Stauraum, dermehrere Hundert Meter hi-nuntergestossen wurde. Komi-scherweise sind alle Geräteohne Schäden geblieben. An-ders die Rohre der 35-Milli-meter-Flabkanonen. Die meis-ten davon waren verbogen wieFleischerhaken», teilt Gunternmit. Auch Offiziere seien totin ihren Betten zum Vorscheingekommen. Unter den Bettenlagen noch ihre Schuhe feinsäuberlich geordnet, wie siesie am Vorabend dort hinge-

stellt hatten. «Da waren aberauch ganze Stapel Teller, dievollkommen unbehelligt aufder Lawine gelegen sind», er-zählt er. Die Gemeinde Reckingen undauch der Kanton haben nachder Katastrophe ihre Hausauf-gaben gemacht. Gregor Gun-tern hob zusammen mit Mar-cel Hagen aus Gluringen so-wie Emil und Hans Ritz ausMünster die erste Rettungsor-ganisation von Münster undUmgebung aus der Taufe.

wek

Gregor Guntern zeigt auf den Ort, wo sich vor 40 Jahren das Grauen ereignete. Der Lawinenkegel lagin der Bildmitte ober- und unterhalb der Kantonsstrasse, wo jetzt eine freie Fläche zu sehen ist. Foto wb

1988 vorsorglich

evakuiert

Der 12 Meter tiefe Damm hatseine Tauglichkeit bei mehre-ren Lawinenniedergängenbewiesen. Als Ende März1988 eine Lawine den Leitka-nal praktisch zugefüllt hatteund weitere Lawinengefahrdrohte, wurde vom Gemein-derat unverzüglich eine Eva-kuierung des westlichenDorfteils angeordnet. DieEvakuierung wurde promptkritisiert. GemeindepräsidentPaul Carlen liess sich da-durch nicht irritieren: «Esgibt Leute, die haben nochnie zu etwas Ja gesagt.» Under zieht einen Vergleich:«Das ist wie gefärbtes Haar,das auswächst.» Erzähle manden jungen Leuten von da-mals, wollten die nur nochbedingt davon hören. «Diegeben einem das Gefühl, manrede vom Mittelalter.» tr