Die Theorie des Kreisels in Bildern - itp.uni-bremen.de · Um schließlich im oben zitierten...

90
Die Theorie des Kreisels in Bildern Meinem Lehrer Herrn Siegfried Großmann zum 60. Geburtstag gewidmet Peter H. Richter Fachbereich Physik und Institut f¨ ur Dynamische Systeme Universit¨ at Bremen 2800 Bremen 33 Februar 1990

Transcript of Die Theorie des Kreisels in Bildern - itp.uni-bremen.de · Um schließlich im oben zitierten...

Die Theorie des Kreisels in Bildern

Meinem LehrerHerrn Siegfried Großmann

zum 60. Geburtstag gewidmet

Peter H. Richter

Fachbereich Physik und Institut fur Dynamische Systeme

Universitat Bremen

2800 Bremen 33

Februar 1990

All unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an,geht von da zum Verstande, und endigt bei derVernunft. I. Kant

Physik wird im fruchtbaren Miteinander vonExperiment, Analytik und Numerik betrieben.

S. Grossmann

Einleitung

Je mehr uns in der Mechanik das Chaos fasziniert, desto drangender verspuren wir dasBedurfnis, mit den integrablen Sonderfallen vertraut zu werden. Aber so sehr wir die Ana-lytiker des vergangenen Jahrhunderts bewundern, deren Geisteskraft sich vom Problemder Kreiseldynamik zur Entwicklung der Theorie der elliptischen Integrale und Funk-tionen anregen ließ, so wenig befriedigt uns der Eindruck des Komplizierten, den dieBeschaftigung mit ihren Arbeiten hinterlasst. Daran mag zum guten Teil der Unterschiedim Zeitgeist Schuld tragen, denn um Klarheit war es den Meistern allemal zu tun. Inder Einleitung ihres großen Werks zur Theorie des Kreisels schreiben F. Klein und A.Sommmerfeld [1] im Jahre 1910:

Die Entwickelung der Mechanik hat, namentlich in Deutschland, eine zu aus-schließliche Richtung auf das Abstrakte und Formale genommen, welche demunmittelbaren Verstandnis vielfach hinderlich entgegenwirkt. Der Studierende,welcher wohl die allgemeinen mechanischen Prinzipien analytisch herzuleitenlernt, fasst darum ihre eigentliche mechanische Bedeutung nicht immer leben-dig genug auf und zeigt sich, vor ein spezielles Problem gestellt, zu dessenLosung ungeschickt.

Diesem Ubelstande wunschen wir durch die eingehende Behandlung unseresProblems entgegenzutreten. Wir mochten nicht nur eine Kenntnis der Me-chanik, sondern sozusagen ein Gefuhl dafur begrunden. Naturlich ist hierzuvolle Klarheit uber die geometrischen Verhaltnisse der Bewegung eine ersteVorbedingung. Wir gedenken daher durch zahlreiche Figuren die geometrischeAnschauung zu beleben — im Gegensatze zu Lagrange, dem großten Vertre-ter der abstrakten Richtung in der Mechanik, welcher mit besonderer Vorliebebetonte, dass in seiner analytischen Mechanik nicht eine Figur zu finden sei.

Die Schere zwischen Abstraktion und gefuhlsmaßiger Hinwendung hat sich seither nochweiter geoffnet, zumal die Geometrie selbst sehr viel abstrakter geworden ist. Es wareaber nicht vernunftig, die eine gegen die andere dieser Strategien auszuspielen: sie habenbeide ihren Sinn und sollten um Vermittlung bemuht sein. Ihr Zusammenspiel, wenn es

1

auch eher antagonistisch als synergistisch gepragt ist, bestimmt schließlich die Richtungdes Erkenntnisfortschritts.

Was Klein und Sommerfeld Uber die Theorie des Kreisels schreiben, erscheint aus heu-tiger Sicht nicht einmal sonderlich anschaulich, denn es hat sich das Interesse verlagertfur das, was man anschauen mochte. Uns geht es weniger um einzelne Trajektorien imPhasenraum als um seine globale Struktur. Was die Mechaniker des neunzehnten Jahr-hunderts als Vision durchaus konzipiert hatten, war ihnen vom Arbeitsaufwand her nichtrealisierbar: eine konkrete Darstellung von Energieflachen als Bundel von Tori. Es gibtin unseren Mechanikbuchern erstaunlich wenig Bilder solcher Energieflachen, wenngleichalle darauf hinweisen, dass man sie mit Hilfe kanonischer Transformationen im Prinzipherstellen konne.

Als Ziel der theoretischen Behandlung eines integrablen mechanischen Problems mit fFreiheitsgraden kann gelten, die Hamiltonfunktion H als Funktion von f Wirkungsvaria-blen I1, . . . , If darzustellen. Abgesehen von der diskreten Mehrdeutigkeit bei der Auswahlvon Fundamentalbahnen auf den f–Tori des Systems [2] ist die Definition der Wirkungeneindeutig und koordinatenunabhangig. Zu jedem f–Tupel erlaubter Wirkungen gehort alsTrager der Bewegung genau ein f–Torus, dessen Umlauffrequenzen durch den Gradienten(∂H/∂I1, . . . ∂H/∂If ) der Hamiltonfunktion gegeben sind. Man kann also sagen, dass dieFunktion H = H(I1, . . . , If ) alles Wichtige uber die Systemdynamik enthalt. Entspre-chend sollte die Analysis eines jeden integrablen Problems mit der Prasentation dieserFunktion enden.

Das geschieht aber nicht. Bei Klein und Sommerfeld ist von diesem Ziel ebensowe-nig die Rede wie in neueren Darstellungen des Kreiselproblems ([4, 5]). Dabei ist diegrundsatzliche Bedeutung dieses Ziels spatestens seit der Entwicklung der Quantenme-chanik offensichtlich. Am klarsten kommt das vielleicht in Borns Buch aus dem Jahre1925 zum Ausdruck [2]. Dass dennoch so wenig konkrete Kenntnis uber diesen Gegen-stand vorliegt, durfte an der fruher nicht vorhandenen Rechenkapazitat gelegen haben.Denn selbst wenn wie im Falle der Kreiselprobleme die Wirkungen als elliptische Integraleausgedruckt werden konnen, hat man zunachst nicht mehr als Formeln auf dem Papierstehen. Wie diese sich in nichttrivialen Fallen zu mehrdimensionalen Energieflachen aus-werten lassen, ist ohne numerische Hilfe wohl kaum zu ermitteln.

Inzwischen ist das klarerweise anders und es gibt keinen Grund mehr, die Analysevor Erreichen des seit altersher definierten Ziels abzubrechen. Die vorliegende Arbeit istdarum nur die naturliche Erganzung der bekannten Kreiselabhandlungen durch das immerbeschworene, aber nie gesehene Bild der Energieflachen H(I1, . . . , I3) = E. Es hilft derIntuition, indem es jeder Bewegungsform auf ubersichtliche Weise einen Platz zuweist,und mochte damit zur Klarheit in Gefuhl und Denken angesichts der zweifellos etwaskomplizierten Phanomenologie beitragen.

Um schließlich im oben zitierten Miteinander von Experiment, Analytik und Numerikauch dem Experiment gerecht zu werden, habe ich zum einen den Kreisel der Abb. 1bauen lassen, um den Sinnen Nahrung zu geben, zum anderen dann auch in der Analyseberucksichtigt, dass die kardanische Aufhangung einen nicht zu vernachlassigenden Ein-fluss auf das Verhalten des Kreisels nimmt. Die Natur dieses Einflusses konnte fur den

2

Fall symmetrischer Kreisel vollstandig geklart werden und gibt ein lehrreiches Beispielzum Thema Separatrizen ab.

Anlass zur Beschaftigung mit diesem Thema waren der 75. Geburtstag von HerrnProfessor Ewald Wicke, Munster, und der 60. Geburtstag von Herrn Professor SiegfriedGroßmann, Marburg. Fur beide galt es, geeignete Geburtstagsgeschenke zu finden. Denersten Kreisel der hier beschriebenen Art konzipierte ich zusammen mit meinem FreundKlaus Funke, der ihn in der Werkstatt des Instituts fur Physikalische Chemie in Munsterbauen ließ und Herrn Wicke als Geschenk des Instituts uberreichte. Das Exemplar derAbb. 1 wurde in zweifacher Ausfertigung von den beiden Auszubildenden Guy Zoll undJorg Deppe in der Mechanik–Werkstatt der Universitat Bremen gebaut. Eines davon er-hielt Herr Großmann als Geschenk seiner ehemaligen Mitarbeiter. Der vorliegende Textist dazu gewissermaßen die Beobachtungsanleitung. Es versteht sich von selbst, dass diemeisten Bewegungsformen dieses Kreisels hier nicht erfasst sind, denn die allein unter-suchten integrablen Falle stellen nur einen kleinen Teil aller Moglichkeiten dar. Insofernbietet das Spielzeug noch viele Gelegenheiten zu neuen Entdeckungen.

Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als handle es sich bei dem Modell umirgendetwas Neues. Kreiselmodelle gibt es seit altersher zuhauf und ich besitze keineUbersicht daruber. Betonen mochte ich nur, dass die kardanische Aufhangung hier nichtals eine storende Nebensachlichkeit angesehen, sondern mit voller Gleichberechtigung indie Betrachtung einbezogen wird (außer im Fall des asymmetrischen Kreisels, in demich eine Integration mit Berucksichtigung der Aufhangung nicht ernstlich versucht ha-be). Entsprechend haben der eigentliche Kreiselkorper und die Aufhangung vergleichbareTragheitsmomente.

Bei den numerischen Rechnungen hat mich Herr Marcus Juhnke tatkraftig unterstutzt.Sie wurden zum großten Teil auf der Sun Workstation durchgefuhrt, die meine Arbeits-gruppe aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft beschaffen konnte. Die alsFotos wiedergegebenen 3D–Bilder entstanden auf einer Iris Workstation des Graphikla-bors Dynamische Systeme in unserem gleichnamigen Institut. Bei der Anfertigung derZeichnungen hat mir Herr Zhang Chao–feng geholfen.

3

1 Die Lagrangefunktionen

Mit x, y, z bezeichnen wir die Ach-sen eines raumfesten Koordinaten-systems, mit x1, x2, x3 die Hauptach-sen unseres Kreiselkorpers. Die re-lative Lage der beiden Bezugssyste-me werde durch die Eulerschen Win-kel ϕ, ϑ, ψ beschrieben (Abb. 2). Ge-meinsamer Ursprung ist der Punkt,in dem der Kreisel ruht.Die kardanische Aufhangung stellteine direkte Realisierung der Be-wegungsfreiheitsgrade ϕ, ϑ, ψ dar(Abb. 1). Der ruhende Punkt istder Mittelpunkt der Aufhangung.Hatten die beiden Rahmen derAufhangung verschwindend kleineMassen, so ließe sich der karda-nisch aufgehangte Kreisel durch dieBewegungsgleichungen des starrenKorpers beschreiben. Tatsachlichspielt aber die Endlichkeit derTragheitsmomente der Rahmen einewichtige Rolle.

Abb. 1 Kardanische Aufhangung.Der außere gabelformige RahmenR1 reprasentiert den Freiheits-grad ϕ. Die Achse des innerenringformigen Rahmens R2 ist dieKnotenlinie. Die Neigung diesesRahmens zur Vertikalen zeigt denWinkel ϑ an Der Drehwinkel desKreiselkorpers K bzgl. der x3–Achseist ψ.

4

Abb. 2 Raumfestes x, y, z–Systemund korperfestes x1, x2, x3–System.Ihre relative Lage wird durch dieEulerschen Winkel ϕ, ϑ, ψ beschrieben.ϕ (0 ≤ ϕ ≤ 2π) beschreibt eineRotation um die z–Achse, die diex–Achse in die Knotenlinie uberfuhrt.Anschließende Rotation ϑ um die Kno-tenlinie (0 ≤ ϑ ≤ π) fuhrt die z–Achsein die x3–Achse uber. Zuletzt bringtdie ψ–Rotation um die x3–Achse(0 ≤ ψ ≤ 2π) die Knotenlinie in dieLage der x1–Achse.

Beginnen wir die Aufzahlung der Energieterme deshalb mit denen der Rahmen. Zurpotentiellen Energie tragen sie nicht bei. Die Beitrage zur kinetischen Energie sind

T1 =1

2ΘR

1 ϕ2 (1.1)

fur den außeren Rahmen und

T2 =1

2ΘR

2 ((1 + sin2 ϑ)ϕ2 + ϑ2) (1.2)

fur den inneren Rahmen. Dabei ist ΘR1 das Tr”agheitsmoment des außeren Rahmens bzgl.

der raumfesten z–Achse. Fur den inneren Rahmen nehmen wir an, dass sein Tr”agheits-moment das eines idealen Rings ist. Bzgl. der Knotenlinie gilt dann ΘR

2 = 12MRR

2R; bzgl.

der Achse senkrecht zum Ring ist das Tr”agheitsmoment doppelt so groß (MR ist dieMasse, RR der Radius des inneren Rahmens).

Kommen wir nun zum eigentlichen Kreiselkorper. Der Energiebeitrag eines symmetri-schen Kreisels mit Schwerpunkt im Ursprung, dessen Symmetrieachse die x3–Achse ist,belauft sich auf

T3 =1

2ΘS

1 (ϑ2 + ϕ2 sin2 ϑ) +1

2ΘS

3 (ψ + ϕ cosϑ)2 . (1.3)

Dabei ist ΘS3 das Tr”agheitsmoment des Kreisels bzgl. der x3–Achse, ΘS

1 sein Tr”agheits-moment bzgl. einer zur x3–Achse senkrechten Achse. Im Falle eines ringformigen Kreiselsder Masse MK mit Radius RK gilt ΘS

3 = MKR2K und ΘS

1 = 12ΘS

3 .Als nachstes berucksichtigen wir die Energie zweier auf den Halterungsstaben des Ring-

kreisels (der x1–Achse) symmetrisch angebrachter Gewichte, deren Schwerpunkt wiederim Ursprung liege. Wir vernachlassigen das Tr”agheitsmoment bzgl. der x1–Achse undnennen das Tr”agheitsmoment bzgl. der x2– und der x3–Achse ΘA. Die kinetische Energiedieser Gewichte ist

T4 =1

2ΘA

((ψ + ϕ cosϑ)2 + (ϕ sinϑ cosψ − ϑ sinψ)2

). (1.4)

5

T3 und T4 zusammen charakterisieren einen asymmetrischen Kreisel.Zuletzt lassen wir auf der x3–Achse im Abstand RG vom Ursprung noch ein Gewicht

der Masse MG zu. Es tragt außer einem weiteren kinetischen Energieterm T5 auch zurpotentiellen Energie bei:

T5 =1

2ΘG (ϑ2 + ϕ2 sin2 ϑ) , (1.5)

V = gMGRG (1 + cosϑ) . (1.6)

Dabei ist ΘG = MGR2G und es wird vereinbart, dass ϑ = 0 die labile, ϑ = π die stabile

Gleichgewichtslage der Konfiguration beschreibt.Das vollstandige Gleichungssystem fur den kardanisch aufgehangten Kreisel der Abb. 1

erhalten wir aus der Lagrange-Funktion

L = T − V = T1 + T2 + T3 + T4 + T5 − V . (1.7)

Benutzen wir die bekannten Beziehungen zwischen den Winkelgeschwindigkeiten ϕ, ϑ, ψund den Komponenten des Vektors der Winkelgeschwindigkeit bzgl. der drei Hauptachsen,Ω1,Ω2,Ω3, vgl. (A.5),

Ω1 = ϕ sinϑ sinψ + ϑ cosψ

Ω2 = ϕ sinϑ cosψ − ϑ sinψ

Ω3 = ϕ cosϑ+ ψ ,

(1.8)

so finden wir fur die kinetische Energie

T = T0 + TR = =1

2Θ1 Ω2

1 +1

2Θ2 Ω2

2 +1

2Θ3 Ω2

3 +1

2ΘRϕ

2 (1.9)

mit den Tragheitsmomenten

ΘR = ΘR1 + ΘR

2

Θ1 = ΘR2 + ΘS

1 + ΘG

Θ2 = ΘR2 + ΘS

1 + ΘA + ΘG

Θ3 = ΘS3 + ΘA .

(1.10)

Der Effekt des Rahmens ist zum einen eine effektive Erhohung der Tragheitsmomente Θ1

und Θ2, was aber die Dynamik nicht qualitativ verandert, zum anderen ein zusatzlicherTerm TR = 1

2ΘRϕ

2 in der kinetischen Energie, der nicht in das Schema der ublichenKreiseldynamik passt und qualitativ neue Typen der Bewegung verursacht.

Wir werden das System nicht in voller Allgemeinheit behandeln konnen, zumal es nurin speziellen Fallen integrabel ist. Der Rahmen fur sich allein stellt ein integrables Systemdar, das in Kapitel 2 behandelt werden wird: T = T1 +T2 und V = 0. Ohne Rahmen gibtes bekanntermaßen [7] genau drei integrable Falle:

6

1. Euler: L = T3 + T4 — kraftefreier Kreisel;

2. Lagrange: L = T3 + T5 − V — schwerer symmetrischer Kreisel;

3. Kowalewskaja: L = T3 + T4 + T5 − V mit Nebenbedingung Θ2 = Θ3 = 2 Θ1 —das gilt hier, wenn ΘA = ΘS

3 = ΘS1 + ΘG.

Die Falle 1 und 2 uberlappen im Sonderfall L = T3 des symmetrischen kraftefreienKreisels, den wir in Kapitel 3 ausfuhrlich behandeln werden. Der Lagrange-Kreisel bleibtintegrabel, wenn der Rahmen hinzugenommen wird, wie wir in Kapitel 3 sehen werden.Als weitere integrable Grenzfalle kann man noch die Limites niedriger und hoher Ge-samtenergie hinzunehmen. Bei geringer Gesamtenergie vollfuhrt der Kreisel gekoppelteharmonische Schwingungen und Rotationen; bei hoher Gesamtenergie kann man die po-tentielle Energie vernachlassigen, und es liegt wieder der Euler–Fall vor.

Mir ist nicht bekannt, wie die Integrabilitat der Kreiselprobleme durch die kardanischeAufhangung allgemein beeinflusst wird.

Das Ziel der folgenden Abschnitte ist jeweils die Konstruktion der Energieflachen imRaum der Wirkungsvariablen. Damit erhalt die unmittelbare Anschauung eine Grundlagefur

• die storungstheoretische Behandlung kleiner Abweichungen von den integrablenFallen und

• die halbklassische Quantisierung der integrablen Kreiselprobleme.

Diese Anwendungen werden aber hier nicht vorgenommen.Die Integrationsverfahren sind altbekannt; sie fuhren in der Regel auf elliptische Inte-

grale, die ja wesentlich zum Zwecke der Losung von Kreiselproblemen entwickelt wurden.Dennoch habe ich die hier gezeigten Energieflachen in der umfangreichen Literatur uberKreisel nicht gefunden. Ich hoffe deshalb, mit dieser Zusammenstellung der klassischenMechanik einige interessante Bilder hinzufugen zu konnen.

Der in Abb. 3 gezeigte Kreisel hat etwa folgende Parameter:

außerer Rahmen: ΘR1 = 280 kg cm2

innerer Rahmen: ΘR2 = 50 kg cm2

Kreiselring: ΘS3 = 260 kg cm2

ΘS1 = 130 kg cm2

Asymmetrie: ΘA ≤ 320 kg cm2

Gewicht: ΘG ≤ 200 kg cm2

(1.11)

Der Wert von ΘA kann durch Verschieben der Messingzylinder langs der Halterungsstabekontinuierlich vermindert werden. ΘG lasst sich durch Verandern der Gewichte in Stu-fen variieren; weitere Werte sind 130, 60 und 30 kg cm2. Die Angaben sind mit einer

7

Genauigkeit von etwa 5% bestimmt. Sie zeigen, dass insbesondere der außere Kardanrah-men eine nicht zu vernachlassigende Große ist; trotz relativ leichten Materials (Plexiglas)verursachen die Abmessungen ein betrachtliches Tragheitsmoment.

In der vorliegenden Arbeit beschranke ich mich auf integrable Falle. In Kapitel 2wird zunachst geklart, wie sich die kardanische Aufhangung allein verhalt. Kapitel 3beschaftigt sich mit dem kraftefreien Fall, zuerst ohne, dann mit Berucksichtigung derKardan–Rahmen. Die Hauptteile sind Kapitel 4 und 5. Zuerst wird der Lagrange–Falldes schweren symmetrischen Kreisels ohne und mit Aufhangung behandelt; Kapitel 5 istdann dem Euler–Fall des kraftefreien asymmetrischen Kreisels ohne Aufhangung gewid-met. Unerledigt bleibt hier der integrable Fall des Kowalewskaja–Kreisels. Er soll in einerspateren Arbeit vorgestellt werden.

2 Die kardanische Aufhangung allein

Abb. 3 Die kardanische Aufhangungohne Kreisel. Der außere Rahmen ro-tiert um die vertikale Richtung (0 ≤ϕ ≤ 2π), der innere Rahmen um sei-ne horizontale Achse (0 ≤ ϑ ≤ π).Die vertikale Stellung ϑ = 0 (links) istbei ϕ–Rotation instabil; dagegen sindSchwingungen um die horizontale Lageϑ = π/2 (rechts) moglich.

Ehe die vor allem interessierenden Kreiselprobleme erortert werden, soll Klarheit uberdie Eigenschaften der kardanischen Aufhangung selbst bestehen. Die Abb. (3) zeigt denAufbau der Anordnung. Es zeigt sich, dass sie zwei unterschiedliche Bewegungstypen hat,welche durch eine Separatrix getrennt sind. Die beiden Typen sind

a) eine schwache ϕ–Rotation bzgl. der z–Achse, verbunden mit einer ϑ–Rotation desinneren Rahmens;

b) eine starkere ϕ–Rotation, verbunden mit einer Oszillation des inneren Rahmens umdie horizontale Lage ϑ = π/2.

Die Existenz dieser Separatrix wird sich als wesentlich fur die kardanisch aufgehangtenKreisel erweisen.

Die Lagrangefunktion der kardanischen Aufhangung ist

L = T1 + T2 =1

2(ΘR

1 + ΘR2 (1 + sin2 ϑ)) ϕ2 +

1

2ΘR

2 ϑ2 . (2.1)

8

Das System hat die zwei Freiheitsgrade ϕ und ϑ, wobei ϕ eine zyklische Variable ist.Wegen der Erhaltung der Energie E und des zu ϕ konjugierten Drehimpulses Lϕ ist dieBewegung integrabel. Die beiden Drehimpulse sind

Lϕ =∂L

∂ϕ= (ΘR

1 + ΘR2 (1 + sin2 ϑ)) ϕ (2.2)

und

Lϑ =∂L

∂ϑ= ΘR

2 ϑ , (2.3)

so dass die Hamiltonfunktion wie folgt aussieht:

H =1

2

L2ϕ

ΘR1 + ΘR

2 (1 + sin2 ϑ)+

L2ϑ

2 ΘR2

. (2.4)

Die Energieflachen H = E sind alle ahnlich, da E durch geeignete Wahl der Einheit desDrehimpulses wegskaliert werden kann. Seien

lϕ,ϑ := Lϕ,ϑ/√

2 ΘR2 E , h := H/E und θR := ΘR

1 /ΘR2 . (2.5)

Dann hat die Energiegleichung die Form

h =l2ϕ

1 + θR + sin2 ϑ+ l2ϑ = 1 . (2.6)

Man sieht, dass das Verhaltnis θR der Tragheitsmomente der einzige relevante Parameterdes Systems ist.

Die dreidimensionale Energieflache h = 1 im Phasenraum der Variablen ϕ, ϑ, lϕ, lϑ isteine einparametrige Schar zweidimensionaler Tori, wobei als Parameter der Drehimpulslϕ (l2ϕ ≤ 2 + θR) gewahlt werden kann. Als kanonische Impulse, die diese Tori besonderseinfach beschreiben, benutzen wir zwei Wirkungen

i1,2 =1

∮C1,2

(lϕdϕ+ lϑdϑ) , (2.7)

wobei C1 und C2 nichtaquivalente Fundamentalwege auf den Tori sind. Als solche bietensich hier an

Cϕ : ϑ = const, Cϑ : ϕ = const. (2.8)

Mit dem ersten Weg erhalten wir

iϕ =1

2π∫0

lϕ dϕ = lϕ (2.9)

9

wegen der Konstanz von lϕ. Der zweite Weg ist unterschiedlicher Natur, je nachdem, obder Winkel ϑ rotiert (0 ≤ ϑ ≤ π) oder oszilliert (0 < ϑmin ≤ ϑ ≤ ϑmax < π). Mit Hilfevon Gl. (2.6) finden wir

iϑ =1

∮lϑ dϑ =

1

∮ √1 + θR + sin2 ϑ− i2ϕ

1 + θR + sin2 ϑdϑ (2.10)

und erkennen, dass die beiden Tori zu i2ϕ = l2ϕ = 1 + θR als Separatrizen zwischen derrotierenden und der oszillierenden ϑ– Bewegung fungieren: Fur i2ϕ < 1 + θR sind alle ϑerlaubt; fur 1 + θR < i2ϕ < 2 + θR dagegen wird das Intervall der erlaubten ϑ–Werte mitwachsendem |iϕ| immer starker auf die Umgebung von ϑ = π/2 eingeschrankt.

Bei i2ϕ = 2 + θR ist ϑ = π/2 der einzig mogliche Winkel; es gilt dann iϑ = 0. Der Falliϕ = 0 ist ebenfalls trivial: alle Energie steckt in der Rotation des Winkels ϑ; fur eine volleUmrundung ist ϑ von 0 bis π und wieder zuruck zu nehmen. Die Wirkung iϑ ist danniϑ = 1. Auch fur die Separatrix i2ϕ = 1 + θR ist das Integral (2.10) elementar losbar; mitsin2 ϑ = x wird

iϑ =1

2π2

1∫0

dx√(1 + θR + x)(1− x)

=1

2− 1

πarcsin

θR

2 + θR. (2.11)

Das asymptotische Verhalten ist iϑ ' 1/2−θR/π fur θR → 0 (masseloser außerer Rahmen)und iϑ ' 2/(π

√θR) fur θR →∞ (masseloser innerer Rahmen).

Die allgemeine Integration der Gl. (2.10) fuhrt auf ein vollstandiges elliptisches Inte-gral. Mit Hilfe der Substitution sin2 ϑ = x und der Integraltafel von Gradshteyn, Ryzhik,Nr. 3.147/148 (oder auch der im Anhang B dargestellten Methoden) findet man

iϑ =2

π

c

((2 + θR)Π(n, k) − i2ϕK(k)

), (2.12)

wobei K(k) und Π(n, k) die vollstandigen elliptischen Integrale der ersten und drittenArt sind und fur die Parameter gilt:

(i) Im Bereich i2ϕ < 1 + θR ist

n = nrot ≡1

1 + θR; k = krot ≡

√nrot/nosc ; c = krot . (2.13)

(ii) Im Bereich i2ϕ > 1 + θR ist

n = nosc ≡2 + θR − i2ϕ

i2ϕ; k = kosc ≡ 1/krot ; c = 1 . (2.14)

10

Abb. 4 Energieflacheniϑ = iϑ(iϕ; θR) der kardanischenAufhangung alleine. Fur θR wurdenvon innen nach außen die Werte0, 1, 2, . . . , 7 gewahlt. Zusatzlich zuden 8 Energieflachen h = 1 ist dieSeparatrix eingezeichnet: im oberenBereich rotiert der innere Rahmen,im unteren Bereich oszilliert erum die horizontale Lage. Abszisse:−3 ≤ iϕ ≤ 3; Ordinate: 0 ≤ iϑ ≤ 1.

Der Verlauf der Kurven iϑ = iϑ(iϕ; θR) ist in der Abb. 4 fur mehrere Werte von θR dar-

gestellt (0 ≤ θR ≤ 7). Fur die in Abb. 3 gezeigte Anordnung mit den Werten der Tabelle1.11 ist θR ≈ 5.6. Punkte auf der Achse iϑ = 0 entsprechen reinen ϕ–Rotationen bei hori-zontaler Lage des inneren Rahmens. Punkte auf der Achse iϕ = 0 reprasentieren die reineϑ–Rotation bei ruhendem außerem Rahmen. Punkte auf der Separatrix schließlich ent-sprechen Bewegungen, bei denen der außere Rahmen rotiert und der innere asymptotischin die instabile vertikale Lage einschwenkt bzw. aus ihr herauslauft.

Hinsichtlich des Phasenraumvolumens dominiert bei der reinen kardanischen Aufhang-ung offenbar die Rotationsbewegung des Winkels ϑ gegenuber der Oszillation. Das wirdsich als schwerwiegender Eingriff in die “naturliche” Kreiseldynamik erweisen, denn oh-ne die Aufhangung wurde der Kreisel wegen des Zentrifugalpotentials die ϑ–Rotationvermeiden.

3 Der kraftefreie symmetrische Kreisel

3.1 Der Kreisel ohne Aufhangung

Als Lagrangefunktion nehmen wir allein den Energieterm T3:

L =1

2ΘS

1 (ϑ2 + ϕ2 sin2 ϑ) +1

2ΘS

3 (ψ + ϕ cosϑ)2 . (3.1)

Wir werden in diesem Abschnitt die Besonderheit ΘS1 = ΘS

3 /2 des Ringkreisels ignorierenund den allgemeinen Fall betrachten, der nur durch ΘS

1 ≥ ΘS3 /2 eingeschrankt ist. Solange

ΘS1 < ΘS

3 , handelt es sich um einen flachen Kreisel; fur langgestreckte Kreisel gilt dagegenΘS

1 > ΘS3 . (Klein und Sommerfeld sprechen vom “abgeplatteten” bzw. vom “verlangerten”

Kreisel.) Bei ΘS1 = ΘS

3 spricht man vom Kugelkreisel.Sowohl ϕ als auch ψ sind zyklische Variable des Systems (3.1). Die Drehimpulse

Lϕ = (ΘS1 sin2 ϑ+ ΘS

3 cos2 ϑ) ϕ + ΘS3 ψ cosϑ (3.2)

undLψ = ΘS

3 (ψ + ϕ cosϑ) (3.3)

11

sind darum Konstanten der Bewegung und konnen als Wirkungen gewahlt werden, da dieWege Cϕ : dϑ = dψ = 0 und Cψ : dϕ = dϑ = 0 unabhangige fundamentale Wege auf demdurch Lϕ, Lψ und Energie charakterisierten Torus sind. Der dritte Drehimpuls

Lϑ = ΘS1 ϑ (3.4)

ist i. a. nicht konstant. Seine ϑ–Abhangigkeit ergibt sich aus der Energiegleichung

H =L 2ϑ

2 ΘS1

+(Lϕ − Lψ cosϑ)2

2 ΘS1 sin2 ϑ

+L 2ψ

2 ΘS3

. (3.5)

Da H einen konstanten Wert E hat und homogen in den Drehimpulsen ist, lasst sich dieEnergieabhangigkeit wieder wegskalieren. Wir definieren

lϕ,ϑ,ψ := Lϕ,ϑ,ψ/√

2 ΘS1 E und θ := ΘS

1 /ΘS3 (3.6)

und schreiben die Hamiltonfunktion dimensionslos

h = l 2ϑ +

(lϕ − lψ cosϑ)2

sin2 ϑ+ θ l 2

ψ = 1 . (3.7)

Dies lasst sich ohne weiteres nach lϑ auflosen und ergibt fur die dritte Wirkung nebeniϕ = lϕ und iψ = lψ

iϑ =1

∮lϑdϑ =

1

∮dϑ

√1 − (iϕ − iψ cosϑ)2

sin2 ϑ− θ i 2

ψ . (3.8)

Der Nenner sin2 ϑ unter der Wurzel hat zur Folge, dass außer fur iϕ = iψ der Wert ϑ = 0nicht angenommen werden kann; ebenso kann außer fur iϕ = −iψ der Wert ϑ = π nichtangenommen werden. Der freie Kreisel kann also hinsichtlich der Variablen ϑ i. a. nuroszillieren und nicht rotieren.

Zur Auswertung des Integrals (3.8) machen wir die Substitution cosϑ = z und erhalten

iϑ =1

∮dz

1− z2

√(1− z2)(1− θ i 2

ψ) − (iϕ − iψ z)2 . (3.9)

Die Integration erstreckt sich uber den Bereich zwischen den beiden Nullstellen des Ra-dikanden z1 und z2, fur die — falls sie existieren — gilt: −1 ≤ z1 ≤ z2 ≤ 1 (fur z = ±1ist der Radikand offenbar nicht positiv). Dem Integral (3.9) sehen wir an, dass iϑ unterden beiden Spiegelungen iϕ → −iϕ und iψ → −iψ invariant ist, da die beiden Nullstellenjeweils nur ihr Vorzeichen wechseln. Fur die Energieflache iϑ = iϑ(iϕ, iψ;h = 1) reicht esdarum aus, nur einen der vier Quadranten der (iϕ, iψ)–Ebene zu betrachten.

Das Integral (3.9) lasst sich mit Hilfe des Residuensatzes elementar auswerten (s.Anhang B ). Das Resultat ist

iϑ =√

1 + (1− θ) i 2ψ − 1

2

√(iϕ − iψ)2 − 1

2

√(iϕ + iψ)2

=√

1 + (1− θ) i 2ψ −

|iϕ| falls |iϕ| > |iψ| ,

|iψ| falls |iϕ| < |iψ| .(3.10)

12

Die Energieflache im Raum der drei Wirkungen hat daher die Gestalt

h = 1 =

(iϑ + |iϕ|)2 − (1− θ) i 2ψ falls |iϕ| > |iψ| ,

(iϑ + |iψ|)2 − (1− θ) i 2ψ falls |iϕ| < |iψ| .

(3.11)

Der Rand dieser Flache in der Ebene iϑ = 0 besteht aus den folgenden zweimal zweiLinienstucken:

(i) In den Bereichen |iϕ| < |iψ| gilt einfach

i 2ψ = 1/θ (3.12)

(ii) In den Bereichen |iϕ| > |iψ| reduziert sich Gl. (3.11) auf die Kegelschnittgleichung

i 2ϕ − (1− θ) i 2

ψ = 1 , (3.13)

was fur θ < 1 (flacher Kreisel) zwei Hyperbelbogen, fur θ > 1 (langgestreckterKreisel) zwei Ellipsenstucke beschreibt.

Die Energieflache liegt also uber einer Grundfigur mit Ecken bei (iϕ, iψ, iϑ) =

(±√

1/θ,±√

1/θ, 0). Abb. 5 zeigt die Beispiele θ = 0.5, 1, 2, 4, 8 und 16.

Abb. 5 Der Rand der Energieflachen h = 1 in der Ebene iϑ = 0 fur sechsverschiedene Werte von θ. Von außen nach innen: θ = 1/2 (flacher Kreisel),θ = 1 (Kugelkreisel), θ = 2, 4, 8, 16 (langgestreckte Kreisel). Abszisse iϕ:−1.5 . . . 1.5, Ordinate iψ: −1.5 . . . 1.5. Die Linien iϕ = ±iψ wurden gezeichnet,weil uber ihnen die Energieflachen einen Knick haben.

13

Die vollstandige Energieflache ist eine zeltartige Struktur uber dieser Grundfigur. IhreSpitze auf der iϑ–Achse liegt immer im Punkt (iϕ, iψ, iϑ) = (0, 0, 1). Im Falle des Kugel-kreisels (θ = 1) erhalten wir eine ebene quadratische Pyramide. Der flache Kreisel θ < 1wird durch ein Zelt dargestellt, das im Bereich |iϕ| > |iψ| konkav ist, das Zelt des lang-gestreckten Kreisels θ > 1 ist dort konvex. Die Abb. 6 zeigt zwei Beispiele (θ = 1 undθ = 2).

Abb. 6 Energieflacheniϑ = iϑ(iϕ, iψ; θ) des symme-trischen kraftefreien Kreiselsohne Aufhangung. Oben:θ = 1; unten: θ = 2. Dieiϕ–Achse weist nach linksvorn, die iψ–Achse nachrechts und die iϑ–Achse nachoben.

Ein charakteristischer Zug all dieser Energieflachen ist, dass sie keine innere Krum-mung besitzen; die Energie hangt nur von zwei unabhangigen Kombinationen der Wir-kungsvariablen ab: fur |iϕ| > |iψ| von iψ und iϑ+ |iϕ|, fur |iϕ| < |iψ| von iψ und iϑ+ |iψ|.Die Frequenzen ωϕ,ϑ,ψ = ∂h/∂iϕ,ϑ,ψ zeigen eine entsprechende Entartung. Im ersten Fallist die Frequenz der ϑ–Oszillationen (evtl. bis auf das Vorzeichen) identisch mit der Rota-tionsfrequenz von ϕ, im zweiten Fall ist die ϕ–Rotationsfrequenz Null; die ϕ–Oszillationenverlaufen dann synchron mit den ϑ–Oszillationen.

Um nun die Punkte (iϕ, iψ, iϑ) der Energieflache h = 1 anschaulich zu interpretieren,

14

entnehmen wir dem Anhang A, dass fur das Quadrat des Drehimpulses ~L gilt

~L2 = L 2ϑ +

(Lψ − Lϕ cosϑ)2

sin2 ϑ+ L 2

ϕ , (3.14)

so dass die Hamiltonfunktion (3.7) sich schreiben lasst

h = ~l 2 − (1− θ) l 2ψ . (3.15)

(Mit ~l werde der dimensionslose Drehimpuls bezeichnet, mit l sein Betrag.) Fur dieWirkung iϑ gemaß Gl. (3.10) bedeutet das

iϑ =

l − |iϕ| falls |iϕ| > |iψ| ,

l − |iψ| falls |iϕ| < |iψ| .(3.16)

Betrachten wir zunachst die Ebene iϑ = 0. Falls |iϕ| > |iψ|, so folgt l = |iϕ| =|lϕ| = |lz|, d. h. der Drehimpuls hat die Richtung der raumfesten z–Achse. Dann ist(s. Anhang A) der Winkel ϑ zwischen z–Achse und der Figurenachse des Kreisels zeitlichkonstant (Lϑ = ΘS

1 ϑ = 0). Die Figurenachse beschreibt also einen Kegel um die Richtungdes Drehimpulses, den sog. Nutationskegel. (Klein/Sommerfeld [1] und Landau/Lifschitz[3] sprechen hier von “regularer Prazession”; es hat sich aber wohl eingeburgert, denBegriff Prazession fur die Bewegung des Drehimpulses zu benutzen und die Bewegungder Figurenachse als Nutation zu bezeichnen [6].) Der konstante Winkel ϑ hangt von iψab: Im Punkt iϕ = iψ = +

√1/θ ist er Null; mit abnehmendem iψ wachst er allmahlich

an, bis er fur iψ = −√

1/θ den Wert π erreicht. Dieser Ubergang spielt sich im Schemader Abb. 7 am rechten Rand ab.

Im Bereich |iϕ| < |iψ| impliziert iϑ = 0, dass l = |lψ| gilt, der Drehimpuls alsoin Richtung der korperfesten x3–Achse steht. Diese andert auf der Linie i 2

ψ = 1/θ mitabnehmendem iϕ ihre Orientierung relativ zur raumfesten z–Achse. In der Abb. 7 ent-spricht dies dem oberen Rand. Linker und unterer Rand der Abb. 7 ergeben sich aus demGesagten mit Hilfe der Spiegelungen iϕ → −iϕ bzw. iψ → −iψ.

Betrachten wir nun den allgemeinen Fall iϑ 6= 0. Im Bereich |iϕ| > |iψ| ist die Wirkungiϑ der ϑ–Oszillationen gerade durch die Differenz von Drehimpulsbetrag l und seiner z–Komponente gegeben, vgl. Gl. (3.16). Sie wachst also mit zunehmendem Offnungswinkeldes Nutationskegels (d. h. mit abnehmendem |iψ|) und mit zunehmender Entfernungder Drehimpulsrichtung von der z–Achse (d. h. mit abnehmendem |iϕ|). Die Skizzen derAbb. 7 zeigen in der Ubersicht, wie die moglichen Stellungen der z–Achse, des Drehimpul-ses und der x3–Achse mit den Werten von iϕ und iψ korrelieren. Besondere Situationenliegen uber den folgenden Linien vor:

(i) Fur iψ = 0 bewegt sich die Figurenachse in der Ebene senkrecht zum Drehimpuls.Der Offnungswinkel des Nutationskegels ist π/2.

(ii) Fur iϕ = 0 steht der Drehimpuls senkrecht auf der z–Achse.

15

(iii) Uber der Hauptdiagonalen iϕ = iψ beruhrt der Nutationskegel die positive z–Achse. Es findet also durch den Punkt ϑ = 0 hindurch (den “Nordpol” des Polar-koordinatensystems) ein Ubergang von Oszillationen zu Rotationen des Winkels ϕstatt. Die Linie stellt darum eine Separatrix dar. Die Energieflache ist hier nichtdifferenzierbar, sie hat eine ausgepragte Kante.

(iv) Uber der Nebendiagonalen iϕ = −iψ beruhrt der Nutationskegel die negative z–Achse. Der Ubergang von Oszillationen zu Rotationen des Winkels ϕ findet hierdurch den “Sudpol” ϑ = π hindurch statt.

In der Literatur zur Physik des kraftefreien symmetrischen Kreisels wird die Freiheitder Orientierung des Drehimpulses relativ zur z–Achse i. a. nicht explizit berucksichtigt.Man legt die z–Achse der Einfachheit halber in die raumfeste ~L–Richtung und disku-tiert nur die Falle, die auf der Linie iϑ = 0, iϕ > iψ vorkommen, d. h. auf dem rechtenRand der Grundfigur Abb. 5. Tatsachlich beschreiben alle anderen Punkte (iϕ, iψ, iϑ)der Energieflache Situationen, die demgegenuber lediglich gedreht und daher physikalischaquivalent sind. Diese Aquivalenz geht aber verloren, sobald die z–Achse, etwa durchEinbetten in eine kardanische Aufhangung oder durch Anlegen eines außeren Feldes, phy-sikalische Bedeutung erhalt. Wir werden das in den folgenden Abschnitten ausfuhrlich dis-kutieren. Zur Vorbereitung auf solche Falle ist es durchaus angemessen, die Energieflachein ihrer vollen Ausdehnung zu prasentieren.

Das gilt auch fur die Quantisierung der Kreisel–Dynamik gemaß den Regeln von Bohr,Sommerfeld und Maslov. Das Abzahlen der Zustande muss auf der ganzen Energieflachegeschehen. Es ist besonders einfach im Falle des Kugelkreisels. Vergittern wir den Raumder Wirkungsvariablen gemaß

(iϕ, iψ, iϑ) = (n1, n2, n3) ~ (3.17)

(mit ~ in Einheiten von√

2 ΘS1 E ), so finden wir genau dann Quantenzustande auf der

Energiepyramide, wenn l = n~ (n = 0, 1, 2, . . . ). Ihr Entartungsgrad lasst sich wegen derEbenheit der Pyramidenflachen sofort angeben: (2n+ 1)2.

Es sei noch darauf hingewiesen, dass gemaß Gl. (3.16) auch der Betrag l des Drehim-pulses als Wirkungsvariable dienen konnte. Er ist eine ganzzahlige Linearkombination deranderen Wirkungen, kann also durch Wahl entsprechender Integrationswege als Wirkungs-integral erhalten werden. Im Raum der Wirkungen iϕ, iψ und l ware die Energieflacheh = 1 nach Gl. (3.15) ein glattes Gebilde von der Form einer Rinne mit elliptischem oderhyperbolischem Querschnitt. Fur eine semiklassische Quantisierung ware dies tatsachlichder einfachste Ausgangspunkt; die Kanten der Energieflachen im Raum der iϕ, iψ, iϑ ha-ben insofern etwas Kunstliches. In den folgenden Abschnitten werden wir aber sehen, dassdiese Kanten sich unter dem Einfluss der kardanischen Aufhangung und der Schwerkraftauflosen. Im Hinblick darauf stellen unsere pyramidenformigen Energieflachen den pas-senden Ausgangspunkt dar. Wir werden deshalb in allem Folgenden den Wirkungen iϕ,iψ, iϑ den Vorzug gegenuber anderen, im Prinzip gleichberechtigten, Linearkombinationengeben. Diese Uberlegung wird im Kapitel 5 noch einmal eine Rolle spielen.

16

Abb. 7 Schema der relativen Stellungen von z–Achse, Drehimpuls ~L und x3–Achsefur die moglichen Werte von iϕ (Abszisse) und iψ (Ordinate) am Beispiel desKugelkreisels. Fur andere Kreisel gilt bis auf Deformation des rechten und linkenRandes (s. Abb. 5) Analoges. Die raumfeste z–Achse ist uberall als senkrecht nachoben weisend angenommen, die ebenfalls raumfeste ~L–Richtung wird jeweils durchden Pfeil angezeigt und die korperfeste x3–Achse des Kreisels lauft wie angegebenauf dem Nutationskegel um. In den Bereichen |iϕ| > |iψ| umschließt dieser Kegeldie z–Achse; der Winkel ϑ oszilliert mit der Frequenz, mit welcher ϕ rotiert. In denBereichen |iϕ| < |iψ| liegt die z–Achse außerhalb des Nutationskegels; der Winkel ϕoszilliert nun mit derselben Frequenz wie ϑ. Auf den Diagonalen iϕ = ±iψ beruhrtder Nutationskegel gerade die z–Richtung.

17

3.2 Der Kreisel in kardanischer Aufhangung

Die Energieterme T1, T2, T3 von (1.1–1.3) ergeben zusammen die Lagrangefunktion desim Schwerpunkt kardanisch aufgehangten symmetrischen Kreisels:

L =1

2(ΘR

1 + ΘR2 (1 + sin2 ϑ) + ΘS

1 sin2 ϑ) ϕ2

+1

2(ΘS

1 + ΘR2 ) ϑ2 +

1

2ΘS

3 (ψ + ϕ cosϑ)2 .

(3.18)

Wieder sind die Drehimpulse Lϕ und Lψ Konstanten der Bewegung,

Lϕ = (ΘR1 + ΘR

2 + (ΘS1 + ΘR

2 ) sin2 ϑ+ ΘS3 cos2 ϑ) ϕ + ΘS

3 ψ cosϑ , (3.19)

Lψ = ΘS3 (ψ + ϕ cosϑ) , (3.20)

und konnen als Wirkungen Iϕ, Iψ gewahlt werden. Die dritte Wirkung bedarf wiederumeiner Integration mit Hilfe des Energiesatzes

H =L 2ϑ

2 (ΘS1 + ΘR

2 )+

(Lϕ − Lψ cosϑ)2

2 (ΘR1 + ΘR

2 + (ΘS1 + ΘR

2 ) sin2 ϑ+

L 2ψ

2 ΘS3

. (3.21)

Die Energie E ist wegen der Homogenitat in den Drehimpulsen kein relevanter Parameter,sondern bestimmt nur deren Skala. Wir definieren ahnlich wie im vorigen Abschnitt

lϕ,ϑ,ψ :=Lϕ,ϑ,ψ√

2 (ΘS1 + ΘR

2 )E, θ :=

ΘS1 + ΘR

2

ΘS3

und θR :=ΘR

1 + ΘR2

ΘS1 + ΘR

2

(3.22)

und erhalten die dimensionslose Hamiltonfunktion

h = l 2ϑ +

(lϕ − lψ cosϑ)2

θR + sin2 ϑ+ θ l 2

ψ = 1 . (3.23)

Gegenuber dem Fall des symmetrischen Kreisels ohne die Aufhangung, Gl. (3.7), kommthier als neuer Parameter lediglich die Kombination θR der Tragheitsmomente ins Spiel.Sie wachst mit dem Gesamttragheitsmoment von innerem und außerem Rahmen. Wiruntersuchen jetzt, wie sich das auf die Gestalt der Energieflache auswirkt.

Die Wirkung iϑ =∮lϑ dϑ/2π ergibt sich nach Substitution cosϑ = z zu

iϑ =1

∮dz√

1− z2

√(1 + θR − z2)(1− θ i 2

ψ) − (iϕ − iψ z)2

1 + θR − z2. (3.24)

Die Symmetrie der Energieflache

iϑ(iϕ, iψ) = iϑ(−iϕ, iψ) = iϑ(iϕ,−iψ) (3.25)

18

wird durch die kardanische Aufhangung nicht gestort. Zur weiteren Behandlung des Inte-grals benutzen wir die Abkurzungen

Aψ :=√

1 + (1− θ)i 2ψ , (3.26)

z1,2 :=1

A 2ψ

(iϕiψ ±

√(1− θ i 2

ψ)((1 + θR)(1 + (1− θ) i 2ψ)− i 2

ϕ))

(3.27)

und erhalten

iϑ =Aψ2π

∮dz√

1− z2

√(z − z1)(z2 − z)

1 + θR − z2(3.28)

(z1 ≤ z2). Dieses Integral ist i. a. komplizierter als ein gewohnliches elliptisches Integral,denn der Integrand hat sechs Verzweigungspunkte ±1, ±

√1 + θR und z1, z2. Es gibt

allerdings Grenzfalle, die wir analysieren konnen. Den Rest muss dann die numerischeIntegration leisten.

Die Grenzen der Integration sind max(−1, z1) und min(1, z2), vorausgesetzt, z1,2 sindreell. Es gibt dementsprechend drei Arten, nach denen der Integrationsweg auf die LangeNull schrumpfen kann; der Rand iϑ = 0 der Energieflache in der (iϕ/iψ)–Ebene setzt sichdarum aus dreierlei Stucken zusammen:

1. Die Punkte z1 und z2 fallen im Bereich −1 ≤ z1,2 ≤ 1 zusammen. Dazu muss derRadikand der Wurzel in Gl. (3.27) verschwinden. Das ist der Fall fur

i 2ψ = 1/θ ; i 2

ϕ ≤ 1/θ (3.29)

oder furi 2ϕ

1 + θR− (1− θ) i 2

ψ = 1 ; i 2ψ ≤

1

θ + θR. (3.30)

Die Bedingung (3.29) ist dieselbe wie im Fall ohne Aufhangung, vgl. (3.12). Diezweite Bedingung (3.30) beschreibt ahnlich wie (3.13) fur θ < 1 Hyperbelaste und furθ > 1 Ellipsenbogen (s. Abb. 8). Allerdings sind diese Kegelschnittstucke aufgrunddes zusatzlichen Tragheitsmoments etwas nach außen verschoben und schließen nichtmehr an die durch (3.29) definierten Stucke an.

2. z1 → 1 , wahrend z2 > 1. Dies ist der Fall langs der Ellipsenstucke

(iϕ − iψ)2 + θ θR i2ψ = θR ; i 2

ϕ ≥ 1/θ , i 2ψ ≥

1

θ + θR. (3.31)

Diese Bogen verbinden die Randstucke (3.29) und (3.30) im 1. und 3. Quadranten,s. Abb. 8. Auf diesen Randstucken der Energieflache rotiert der Kreisel in aufrechterStellung ϑ = 0. Was ohne die kardanische Aufhangung nur bei den speziellen Werteni 2ϕ = i 2

ψ = 1/θ moglich war, spielt sich jetzt in einem Bereich ab, dessen Ausdehnungmit θR wachst.

19

3. z2 → −1 , wahrend z1 < −1. Dies ist der Fall langs der Ellipsenstucke

(iϕ + iψ)2 + θ θR i2ψ = θR ; i 2

ϕ ≥ 1/θ , i 2ψ ≥

1

θ + θR. (3.32)

Diese Bogen verbinden die Randstucke (3.29) und (3.30) im 2. und 4. Quadran-ten, s. Abb. 8. Auf diesen Randstucken der Energieflache rotiert der Kreisel inder hangenden Lage ϑ = π. Auch diese Bewegungsform war ohne die kardanischeAufhangung nur bei den Werten i 2

ϕ = i 2ψ = 1/θ moglich.

Die Fortsetzung der Ellipsenbogen (3.31) und (3.32) in den Bereich i 2ϕ < 1/θ oder

i 2ψ < 1/(θ+ θR) hat physikalische Bedeutung als ein System von Separatrizen (s. Abb. 8).

Im Innern der Energieflache beschreibt Gl. (3.31) die Situation z2 = 1, z1 < 1. Hier findetder Ubergang von einer in aufrechter Stellung ϑ = 0 uberschlagenden ϑ–Bewegung (z2 >1) zu einer Bewegung statt, bei der ϑ vor Erreichen des Nordpols umkehrt (z2 < 1). Aufdieser Separatrix vereinfacht sich das Integral (3.28) zu einem unvollstandigen elliptischenIntegral mit Grenzen max(−1, z1), das nach [8], Nr. 3.167, folgende Werte hat:

(i) solange z1 > −1, gilt

iϑ =2Aψπ

z1 + 1√(√

1 + θR + 1)(√

1 + θR + z1)(Π(λ+, n+, k+)− F (λ+, k+))

(3.33)

mit F (λ, k) als unvollstandigem elliptischem Integral erster Gattung und

n+ =√

1 + θR − z1√1 + θR + 1

, λ+ = arcsin

√1− z12 n+

, k 2+ =

√1 + θR − 1√1 + θR + z1

n+ ; (3.34)

(ii) falls z1 < −1, gilt

iϑ =2Aψπ

z1 + 1√(√

1 + θR − 1)(√

1 + θR − z1)(−Π(λ−, n−, k−) + F (λ−, k−))

(3.35)

mitn− = 1/n+ , λ− = 1/λ+ , k− = 1/k+ . (3.36)

20

Abb. 8 Rand der Energieflachen (dick ausgezogen) und Lage der Separatrizen(dunn) in der Ebene iϑ = 0 fur drei verschiedene Werte von θ und jeweils diedrei Werte θR = 0 (innere Figur; Ellipsen sind zu Linien entartet), 0.3 (mittlereFigur) und 1.0 (außere Figur mit großer Ellipse). Oben: θ = 1/2 (flacher Kreisel);Mitte: θ = 1 (Kugelkreisel); unten: θ = 2 (langgestreckter Kreisel). Die innerenFiguren zu θR = 0 sind jeweils identisch mit den entsprechenden Energierandernder Abb. 5.

21

Ganz analoge Ergebnisse gelten fur die Separatrix, auf der z1 = −1 und z2 > −1.Man erhalt sie durch Spiegelung der eben betrachteten Separatrix unter iϕ → −iϕ oderiψ → −iψ. Hier findet ein entsprechender Ubergang des Charakters der ϑ–Bewegung amSudpol ϑ = π statt.

Die beiden Separatrizen schneiden sich in den Punkten iϕ = 0, i 2ψ = θR/(1+ θθR) und

iψ = 0, i 2ϕ = θR. Es gilt dann z1 = −1, z2 = 1 und das Integral (3.28) lasst sich elementar

integrieren:

iϑ =2Aψπ

arcsin1√

1 + θR. (3.37)

Schließlich konnen wir das Integral (3.28) generell uber den Linien iϕ = 0 und iψ = 0angeben, denn dort fuhrt wegen der Symmetrie z1 = −z2 =: Z die Substitution z2 = yauf das vollstandige elliptische Integral

iϑ =Aψπ

ymax∮0

dy

√Z2 − y

y(1− y)(1 + θR − y), ymax = min(1, Z2) . (3.38)

Seine Auswertung hangt davon ab, ob Z2 > 1 oder Z2 < 1. Im ersten Fall rotiert derWinkel ϑ durch beide Pole hindurch — ein Verhalten, das beim Kreisel ohne Aufhangungnur im Punkt iϕ = iψ = 0 moglich ist; im zweiten Fall vollfuhrt ϑ symmetrische Schwin-gungen um den Winkel π/2 herum, mit maximalen Ausschlagen ϑmin,max = arccosZ. Wirfinden

(i) fur Z2 > 1 bzw. iϕ = 0, i 2ψ ≤

θR1 + θθR

oder iψ = 0, i 2ϕ < θR:

iϑ =2Aψπ

1√Z2 θR

((1 + θR)Π(

1

θR, k) − (1 + θR − Z2)K(k)

)(3.39)

mit

k2 =1 + θR − Z2

Z2 θR. (3.40)

Insbesondere im Punkt iϕ = iψ = 0 gilt Z2 = 1 + θR, so dass iϑ = Aψ = 1.

(ii) fur Z2 < 1 bzw. iϕ = 0, i 2ψ ≥

θR1 + θθR

oder iψ = 0, i 2ϕ > θR:

iϑ =2Aψπ

1√1 + θR − Z2

((1 + θR)Π

(Z2

1 + θR − Z2, k

)− θRK(k)

)(3.41)

mit

k2 =Z2 θR

1 + θR − Z2. (3.42)

22

Abb. 9 Energieflache h = 1 fur θ = 0.50 und θR = 0.02. Nur das Viertel dergesamten Flache ist zu sehen, das im Quadranten positiver iϕ und iψ liegt. Den Resterhalt man durch Spiegelungen iϕ → −iϕ und iψ → −iψ. Die iϕ–Achse zeigt nachlinks vorn, die iψ–Achse nach rechts und die iϑ–Achse nach oben. Der Wulst uber derHauptdiagonalen reprasentiert einen Bewegungstyp, der aufgrund der Aufhangungneu hinzugekommen ist: Durchgang der Kreiselachse durch die Nordpol–Lage. Derentsprechende Wulst uber der Nebendiagonale beschreibt Bewegungen, die durchden Sudpol hindurch schwingen.

Ein Gerust der Energieflache ist somit analytisch bestimmt und kann zur kritischenUberprufung der numerischen Integrationen dienen, die uns die Bilder der Abbildungs-serie 9 - 11 liefern. Die Kanten der Pyramiden des vorigen Abschnitts haben sich aufinteressante Weise in ein System von logarithmischen Singularitaten langs der Separa-trizen aufgelost. Die Energieflachen tragen mehr Struktur und besitzen nun eine innereKrummung. Die Bedeutung der Struktur im Hinblick auf die Bewegungsformen durftenach dem Gesagten klar sein: Die Separatrizen uber den in Abb. 8 gezeigten Ellipsenumschließen Bewegungstypen, die ohne die kardanischen Rahmen nicht vorkommen. Beischwach angeregten Rotationen iϕ und iψ dominiert die Rotation des Winkels ϑ, was mandurch Beobachtung des inneren Rahmens gut verfolgen kann. Bei gleichsinniger ϕ– undψ–Rotation vergleichbarer Starke oszilliert ϑ durch die Nordpol–Lage ϑ = 0 hindurch.Bei gegenlaufiger ϕ– und ψ–Rotation vergleichbarer Starke oszilliert ϑ durch die Sudpol–Lage ϑ = π hindurch. Die einzigen Bereiche, die ihren Charakter unter dem Einfluss derAufhangung behalten, sind

1. der Bereich kleiner iϕ und großer i 2ψ : dort weicht die Figurenachse des Kreiselkorpers

nicht sehr von der Drehimpulsachse ab, die in etwa horizontal liegt; der innere

23

Kardan–Rahmen hat daher eine ungefahr waagrechte Lage. Die Rotation findetalso vor allem um die Achse des Kreisels statt;

2. der Bereich kleiner iψ und großer i 2ϕ : dort steht der Drehimpuls im wesentlichen ver-

tikal und es gibt kaum eine Rotation um die Korperachse; die Figurenachse des Krei-sels steht also wiederum horizontal, aber sie rotiert hier kraftig um die z–Richtung.

Abb. 10 Energieflache h = 1 fur θ = 0.52 und θR = 0.2. Die neuen Bewegungs-typen nehmen bereits einen betrachtlichen Teil der Energieflache ein. Im oberenTeil erkennt man den Bereich, in dem die Achse des Kreisels durch beide Pollagenhindurch rotiert.

24

Ein Blick auf die Abbildungen zeigt, dass die Veranderung der Energieflache durch diekardanische Aufhangung bereits bei kleinen Tragheitsmomenten betrachtlich ist. Bei denParametern des eingangs vorgestellten Kreiselmodells findet man die eigentlichen Kreisel-bewegungen nur noch in einem kleinen Teil der Energieflache. Daraus mag man schließen,dass sich das Modell zur Demonstration der Kreiselgesetze nicht sonderlich eignet. Ande-rerseits lernt man doch etwas Wichtiges uber die Natur der Kreiseldynamik. Es ist unsgelaufig, Separatrizen als besonders empfindliche Zonen von Energieflachen zu betrachten.Unter Storung werden sie haufig zu Zentren chaotischer Bewegung. Die auffalligen Kantender Energieflachen des Kreisels haben sich hier gewissermaßen als doppelte Separatrizenerwiesen, denn im Limes verschwindender Tragheit des Rahmens entstehen die Kantendurch das Zusammenlaufen der gewohnlichen Separatrizen. Dieser Sachverhalt ist meinesWissens in der Literatur bislang nicht beschrieben worden.

Abb. 11 Energieflache h = 1 fur θ = 0.7 und θR = 1.7. Diese Situation kommt denVerhaltnissen in dem Modell der Abb. 1 nahe. Von den reinen Kreiselbewegungenist nicht mehr viel ubrig geblieben.

25

4 Der schwere symmetrische Kreisel

4.1 Der Lagrange–Kreisel ohne Aufhangung

Wenden wir uns nun dem Fall des schweren symmetrischen Kreisels zu, den Lagrangezuerst analytisch gelost hat. Seine Lagrangefunktion besteht aus den Energietermen (1.3),(1.5) und (1.6):

L = T3 + T5 − V =1

2(ΘS

1 + ΘG) (ϑ2 + ϕ2 sin2 ϑ)

+1

2ΘS

3 (ψ + ϕ cosϑ)2 − gMGRG (1 + cosϑ) .

(4.1)

Die Diskussion dieses Problems ist das Hauptthema der monumentalen Arbeit von Kleinund Sommerfeld [1] Uber die Theorie des Kreisels. Es mag vermessen erscheinen, dieserAbhandlung noch etwas hinzufugen zu wollen, doch darf man sich durch folgende Passageermutigt fuhlen, mit Hilfe der heute verfugbaren Rechner das Bild zu erganzen (Heft II,S. 259 und 265):

Bei einem Probleme der Anwendungen, wie es hier vorliegt, durfen wir unsnicht damit begnugen, die Moglichkeit der Rechnung in einem allgemeinenSchema darzuthun. Wir mussen vielmehr bis zur wirklichen numerischen Durchfuhrungvorzudringen suchen. Wahrend die alteren Mathematiker bis Gauß und Jacobiincl. stets bemuht waren, ihre Resultate nicht nur durch konvergente, sondernauch durch gut konvergente, praktikable Prozesse darzustellen, geht die augen-blickliche Entwicklung der Mathematik vielfach dahin, die numerische Exeku-tive uber Gebuhr zu vernachlassigen. Demgegenuber mochten wir in der nume-rischen Durchfuhrung einer Theorie geradezu den Schlussstein des Gebaudeserblicken, dem wir keine geringere Wichtigkeit und kein geringeres Interes-se beimessen, wie jedem anderen Bestandteile des Ganzen. Speziell sind wirbei Aufgaben, welche auf elliptische Funktionen fuhren, dank der hohen Ent-wicklung dieser Theorie, in der angenehmen Lage, die numerische Auswertungohne alle Schwierigkeit bewerkstelligen zu konnen . . .

Eine . . . Methode, welche wir ganz besonders empfehlen mochten, besteht dar-in, uberhaupt nicht zu rechnen, sondern die Legendreschen Tafeln nachzu-sehen. In der Tat werden wir uns dieses schonen Hulfsmittels ebensowenigentschlagen wollen, als wir den Logarithmus einer Zahl anders wie aus denLogarithmentafeln zu finden gewohnt sind.

Die Legendreschen Tafeln setzten Klein und Sommerfeld instand, erstaunlich viele Detailsder Kreiselbewegung zu beschreiben, doch vermochten sie nicht, ein globales Bild derPhasenraumstruktur zu zeichnen, das dem Physiker einen leichten Uberblick uber dieverschiedenen Bewegungstypen gestattet hatte. Um einen solchen Uberblick ist es unsaber hier zu tun.

26

Da auch der Lagrange–Kreisel gegenuber Drehungen um die raumfeste z–Achse undum seine eigene x3–Achse invariant ist, bleiben die Drehimpulse Lϕ und Lψ Konstantender Bewegung,

Lϕ =((ΘS

1 + ΘG) sin2 ϑ+ ΘS3 cos2 ϑ

)ϕ + ΘS

3 ψ cosϑ , (4.2)

Lψ = ΘS3 (ψ + ϕ cosϑ) , (4.3)

und stellen zwei der drei Wirkungen dar: Iϕ = Lϕ, Iψ = Lψ. Die Hamilton–Funktionergibt sich mit

Lϑ = (ΘS1 + ΘG) ϑ (4.4)

zu

H =L 2ϑ

2 (ΘS1 + ΘG)

+(Lϕ − Lψ cosϑ)2

2 (ΘS1 + ΘG) sin2 ϑ

+L 2ψ

2 ΘS3

+ gMGRG (1 + cosϑ) . (4.5)

Die Energie E ist jetzt nicht mehr eine homogene Funktion in den Drehimpulsen und kanndeshalb nicht wegskaliert werden. Ihr Wert relativ zu einer typischen Systemenergie gibteinen neuen relevanten Parameter ab. Wir wahlen als solchen die dimensionslose Starkeder Schwerkraft

G :=gMGRG

E(4.6)

und benutzen im ubrigen die Definitionen

lϕ,ϑ,ψ :=Lϕ,ϑ,ψ√

2 (ΘS1 + ΘG)E

, θ :=ΘS

1 + ΘG

ΘS3

. (4.7)

Als dimensionslose Hamiltonfunktion erhalten wir so

h = l 2ϑ +

(lϕ − lψ cosϑ)2

sin2 ϑ+ θ l 2

ψ + G (1 + cosϑ) = 1 . (4.8)

Die Dynamik dieses Systems hangt außer von θ ganz wesentlich von dem neuen Pa-rameter G ab. Ein kritischer Wert von G ist G = 1/2: Fur G < 1/2, also bei hoherGesamtenergie, kann der Schwerpunkt des Kreisels die Gipfellage ϑ = 0 erreichen undhat dort noch die kinetische Energie 1−2G; fur G > 1/2 dagegen ist diese Lage energetischnicht erreichbar. Wir erkennen aber am Zentrifugalpotentialterm (lϕ − lψ cosϑ)2/ sin2 ϑ,dass selbst bei hohen Energien die Situation ϑ = 0 nur dann angenommen werden kann,wenn lϕ = lψ.

Der Lagrange–Kreisel enthalt eine Reihe gut bekannter Spezialfalle. Fur lϕ = lψ = 0vollfuhrt er mit seinem Winkel ϑ eine normale Pendelbewegung. Fordert man nur lψ = 0,so reduziert sich (4.8) auf die Hamiltonfunktion des spharischen Pendels. Es bietet sichdarum an, den schweren symmetrischen Kreisel vom Pendel her zu verstehen, indem mandie Freiheitsgrade ϑ, ϕ und ψ nacheinander hinzufugt.

27

4.1.1 Das ebene Pendel: lϕ = lψ = 0

Betrachte die Energiefunktion

h = l 2ϑ + G (1 + cosϑ) = 1 . (4.9)

Sie beschreibt fur G < 1/2 eine Rotation und fur G > 1/2 eine Oszillation. Die Ener-gieflache zu G = 1/2 ist Separatrix zwischen diesen beiden Bewegungsformen. Vereinbarenwir — was im Hinblick auf die Symmetrie des Problems unter ϑ → −ϑ und auf die fol-genden Abschnitte naturlich erscheint — als Periode der ϑ–Bewegung den Ubergang voneiner Situation ϑ = π zur nachsten (und nicht zur ubernachsten, wie in der Schwingungs-physik ublich), so ist die Wirkung iϑ =

∮lϑ dϑ/2π eine auch an der Separatrix stetige

Funktion der Energie. Mit

1

π

zmax∮−1

√1−G−Gz

1− z2dz , zmax =

1 : G ≤ 1/2

1−G

G: G ≥ 1/2

(4.10)

erhalten wir fur den Bereich der Rotation

iϑ =2

πE(√

2G ) (4.11)

und fur den Bereich der Oszillation

iϑ =2

π

√2G

(E(k)− (1− k2)K(k)

), k =

1√2G

. (4.12)

Die logarithmische Singularitat bei G = 1/2 + ε, (ε→ 0) ist typisch fur Separatrizen:

iϑ =2

π

(1− ε(ln

4√2|ε|

− c

2)

), c =

1 : G < 1/2

3 : G > 1/2

(4.13)

28

Abb. 12 Abhangigkeit der skalierten Wirkung iϑ (0 ≤ iϑ ≤ 1) und Frequenz ωϑ(0 ≤ ωϑ ≤ 5) von der Energievariablen G (0 ≤ G ≤ 2). iϑ fallt vom Wert 1 beiG = 0 (schnelle Rotation) kontinuierlich ab. An der Separatrix, bei G = 1/2, ist ihrWert 2/π, bei großen G (kleinen Schwingungen) verhalt sie sich wie 1/

√8G . Die

Frequenz fallt vom Wert 2 bei G = 0 zunachst auf den Wert 0 bei G = 1/2 ab undsteigt dann wieder an. Ihr asymptotisches Verhalten bei großen G ist ωϑ ' 2

√2G .

Abb. 12 zeigt den Verlauf von iϑ als Funktion der Energievariablen G. Sie enthaltzudem die Frequenz ωϑ = ∂h/∂iϑ, die man am einfachsten direkt uber eine Integration

der Energiegleichung berechnet: Misst man Zeiten in Einheiten von√

2(ΘS1 + ΘG)/E , so

ist ϑ = 2lϑ im Einklang mit der Hamiltonfunktion (4.9), und die Periodendauer ist

Tϑ =

zmax∫−1

dz√(1− z2)(1−G−Gz)

=

4K(

√2G ) : G < 1/2

4√2G

K(1√2G

) : G > 1/2(4.14)

Die Frequenz ist dann ωϑ = 2π/Tϑ. An ihrem Verlauf in Abb. 12 erkennt man viel deut-licher als an der Wirkung die Natur der logarithmischen Singularitat. Wir werden dieseSingularitat beim spharischen Pendel und schließlich beim vollen Lagrange–Kreisel ver-folgen.

29

4.1.2 Das spharische Pendel: lψ = 0

Die Energiefunktion ist jetzt

h = l 2ϑ +

l 2ϕ

sin2 ϑ+ G (1 + cosϑ) = 1 . (4.15)

Der Winkel ϕ ist offenbar zyklische Variable, so dass lϕ konstant ist und eine der beidenWirkungsvariablen abgibt, iϕ = lϕ. Die andere Wirkung iϑ =

∮lϑ dϑ/2π ist

iϑ =1

π

z2∫z1

√f(z)

dz

1− z2, (4.16)

wobei

f(z) = (1− z2)(1−G−Gz)− i 2ϕ =: G (z − z1)(z − z2)(z − z3) (4.17)

und fur die Nullstellen von f(z) die Anordnung z1 ≤ z2 ≤ z3 gelte. Das Integral (4.16)ist naturlich nur sinnvoll, solange z1 und z2 im Bereich zwischen −1 und 1 liegen. Immergilt f(±1) = −i 2

ϕ ≤ 0 und daher z3 ≥ 1. Die Werte z = ±1 konnen von der Bewegungnur im Falle iϕ = 0 angenommen werden; andernfalls verhindert die Zentrifugalkraftdas Erreichen der Lagen ϑ = 0 bzw. ϑ = π. Entsprechend gibt es in der (iϕ, iϑ)–Ebenekeine Separatrix; das Integral (4.16) ist immer vom selben Typ und wird im Anhang B.2berechnet. Mit Hilfe des Moduls k der elliptischen Integrale,

k = z −√z2 − 1 , z =

2z3 − z1 − z2

z2 − z1

, (4.18)

und der Konstanten

a :=1 + k

2z2 +

1− k

2z1

b :=1 + k

2z2 −

1− k

2z1

w± := ± 1∓ a

b∓ k

(4.19)

lautet das Resultat

iϑ =1

π

√f(a)

b− ak

(4E(k)− 2

(b− ak)2

b2 − k2K(k)

− 2k(z3 + 1)1− w2

w−Π(− 1

w2−, k)

+ 2k(z3 − 1)1− w2

+

w+

Π(− 1

w2+

, k)

).

(4.20)

Abb. 13 zeigt den Verlauf der Linien konstanter Energie uber der (iϕ, iϑ)–Ebene. Die Ener-gie nimmt in Richtung der Hauptdiagonalen zu, der Wert von G nimmt entsprechend ab.

30

Das Bild gibt einen vollstandigen Uberblick uber die Struktur der Energieflachen desspharischen Pendels. Die Linie iϕ = 0 beschreibt den Grenzfall der ebenen Pendelbewe-gung, die Linie iϑ = 0 beschreibt den Grenzfall der Kegelpendelbewegung ϑ = const.

Abb. 13 Linien konstanter Energie in der (iϕ, iϑ)–Ebene. Abszisse: 0 ≤ iϕ ≤ 1.5,Ordinate: 0 ≤ iϑ ≤ 1.5. Die einzelnen Energieflachen sind, in Richtung der Haupt-diagonalen fortschreitend, charakterisiert durch 1/(2G) = −0.5, 0.0, 0.5, . . ., 4.0. Dieso gegebene Blatterung des Phasenraums hat lediglich im Punkt (iϕ, iϑ) = (0, 2/π)eine Singularitat, deren Natur aber erst in der Abb. 14 deutlich wird.

Fur die Bereiche hoher und niedriger Energie lassen sich ohne Schwierigkeiten dieersten Naherungen angeben:

(i) G→ 0 (E →∞): Die Energiefunktion

h = l 2ϑ +

l 2ϕ

sin2 ϑ(4.21)

31

fuhrt auf die Wirkung iϑ =√h − iϕ bzw. auf

h = (iϕ + iϑ)2 = 1 , (4.22)

so dass die beiden Frequenzen ωϕ = ∂h/∂iϕ und ωϑ = ∂h/∂iϑ gleich sind:

ωϕ = ωϑ = 2 (iϕ + iϑ) = 2 . (4.23)

(ii) G→∞ (E → 0): Die Energiefunktion

h = l 2ϑ +

l 2ϕ

(π − ϑ)2+

G

2(π − ϑ)2 (4.24)

gestattet ebenfalls eine einfache Berechnung der Wirkung und fuhrt auf

h =√

2G (|iϕ|+ 2iϑ) = 1 , (4.25)

so dass ωϕ und ωϑ sich um einen konstanten Faktor 2 unterscheiden:

ωϕ =1

2ωϑ =

√2G . (4.26)

Das durch Abb. 13 vermittelte Bild von der Struktur des Phasenraums sieht rechtglatt aus. Tatsachlich enthalt es fur den Wert G = 1/2 (vierte Kurve von unten) bei(iϕ, iϑ) = (0, 2/π) die vom ebenen Pendel her bekannte logarithmische Singularitat. Wiebereits in Abb. 12 deutlich wurde, wird diese Singularitat sehr viel auffalliger, wenn mansie im Gradientenfeld ~ω = (ωϕ, ωϑ) der Energiefunktion h = h(iϕ, iϑ) beobachtet. Dazuberechnen wir wie im Falle des ebenen Pendels die Periode der ϑ–Bewegung durch direkteIntegration des Energiesatzes und erhalten (s. Gl. (B.23))

Tϑ =1

2

∮dz√f(z)

=2(b− ak)√

f(a)K(k) . (4.27)

Die Frequenz der ϕ–Bewegung erhalten wir am besten uber das Windungsverhaltnis(vgl. die Gln. (4.16) und (4.17))

W :=ωϕωϑ

= −∂iϑ∂iϕ

∣∣∣∣h

=iϕ2π

∮dz

(1− z2)√f(z)

. (4.28)

Im Anhang B.2 wird die Berechnung dieses Integrals vorgefuhrt. Das Ergebnis nach (B.41)ist

W =iϕπ

1√f(a)

(− 2

(b− ak) k2

b2 − k2K(k)

− (1 + kw−)2

w−Π(− 1

w2−, k)

+(1 + kw+)2

w+

Π(− 1

w2+

, k)

).

(4.29)

32

Wir begnugen uns damit, die Windungszahlen als Funktion von iϕ zu prasentieren.Abb. 14 zeigt also den Verlauf der (negativ genommenen) Steigungen der Kurven ausAbb. 13. Sehr viel klarer zeigt sich hier der Einfluss der Pendel–Singularitat: Fur niedrigeEnergien (G > 1/2) streben die Windungszahlen mit iϕ → 0 samtlich gegen den Wert1/2; bei hohen Energien (G < 1/2) konvergieren sie gegen 1.

Abb. 14 Windungszahlen W = ωϕ/ωϑ des spharischen Pendels als Funktion derWirkung iϕ fur verschiedene Energien. Abszisse: 0 ≤ iϕ ≤ 1.5, Ordinate: 0.5 ≤W ≤ 1.0. Die Energiewerte, von unten nach oben, sind durch 1/(2G) = −0.5, 0.0,0.5, 0.6, . . ., 1.4, 1.5, 2.0, . . ., 4.0 gegeben. Die rechte Begrenzungslinie gibt dieWindungszahlen fur das Kegelpendel iϑ = 0 an.

33

4.1.3 Der allgemeine Fall

Die Energiefunktion (4.8) hat außer iϕ = lϕ und iψ = lψ als dritte Wirkung das Integral

iϑ =1

π

z2∫z1

√f(z)

dz

1− z2(4.30)

mit

f(z) = (1− z2)(1−G− θi 2ψ −Gz)− (iϕ− iψ z)2 =: G (z− z1)(z− z2)(z− z3) . (4.31)

Wieder gilt, solange der Integrand uberhaupt existiert, dass die Nullstellen von f(z) sichwie −1 ≤ z1 ≤ z2 ≤ 1 ≤ z3 anordnen lassen, denn f(−1) = −(iϕ + iψ)2 ≤ 0 undf(+1) = −(iϕ − iψ)2 ≤ 0. Der Rand der Energieflache in der (iϕ, iψ)–Ebene ergibt sichaus der Forderung z1 = z2. Er lasst sich hier nicht so leicht explizit angeben wie imkraftefreien Fall G = 0. Wir begnugen uns deshalb mit einigen Charakteristika.

Zunachst bemerken wir, dass allgemein gilt iϑ(iϕ, iψ) = iϑ(−iϕ,−iψ). Die Energieflacheund damit auch ihr Rand sind symmetrisch bzgl. einer Inversion an der ϑ–Achse. Esgelten aber aufgrund des Terms Gz in der Kreiselfunktion f(z) nicht mehr unabhangigdie Invarianzen unter iϕ → −iϕ und iψ → −iψ , vgl. Gl. (3.9).

Diskutieren wir nun die Moglichkeit, die Lagen ϑ = π (“Sudpol–Lage” der Figurenach-se, z = −1) oder ϑ = 0 (“Nordpol–Lage”, z = 1) einzunehmen. Der Fall ϑ = π ist wegendes Zentrifugalterms (iϕ − iψ cosϑ)2/ sin2 ϑ in der Energiefunktion (4.8) nur moglich furiϕ = −iψ, also uber der Nebendiagonalen der (iϕ, iψ)–Ebene. Bei abnehmender Gesamt-energie bzw. zunehmendem G wird die Sudpol–Lage mehr und mehr bevorzugt, denn siekostet keine potentielle Energie. Es ist damit zu rechnen, dass die Energieflachen sichmit G → ∞ dieser Nebendiagonalen nahern. Falls in der ϑ–Bewegung keine Energiesteckt, iϑ = 0, dann bedeutet iϕ = −iψ eine reine Rotation in der Hangelage. Es ist dannunabhangig von G

(iϕ, iψ, iϑ) =

(∓ 1√

θ,± 1√

θ, 0

). (4.32)

Diese Eckpunkte sind daher allen Energieflachen zum selben θ gemeinsam.Die Nordpol–Lage ϑ = 0 ist komplizierter, denn sie entspricht der aufrechten Stellung

des Kreisels und kostet ein Maximum an potentieller Energie. Wegen der Schwerkraftist sie nur fur G < 1/2 erreichbar, wegen der Zentrifugalkraft außerdem nur fur iϕ = iψ.Schließlich ist noch die Energie θ l 2

ψ der Rotation um die Figurenachse zu berucksichtigen,s. Gl. (4.8). Ihr maximaler Wert bei Nordpol–Lage ist 1 − 2G; ist aber bei maximalmoglichem Wert dieser Energie die Nordpol–Lage uberhaupt erreichbar? Fur den Bereich1/(1 + θ) < 2G < 1 ist die Antwort negativ. Wir diskutieren das anhand der Nullstellenvon f(z) fur iϕ = iψ. Es gilt dann namlich

f(z) = (1− z) g(z) mit g(z) = G(z − c1)(c2 − z) (4.33)

34

und leicht explizit angebbaren c1, c2 (c1 < c2). Man uberzeugt sich ohne Schwierigkeiten,dass fur

G∗ =1

2(1 + θ), i∗ 2

ϕ =1− 2G∗

θ=

1

1 + θ(4.34)

die Funktion g(z) bei z = c1 = c2 = 1 eine doppelte Nullstelle hat. Entsprechend istiϑ = 0 : wir haben die beiden Randpunkte der Energieflache zu G = G∗ auf der Hauptdia-gonalen in der (iϕ, iψ)–Ebene gefunden. Sie beschreiben den Kreisel in aufrechter Stellung;seine einzige Bewegung ist eine Rotation um die Figurenachse (rechts– oder linksdrehend).

Erhohen wir nun die Energie (bzw. erniedrigen wir G), so charakterisiert

i 2ϕ =

1− 2G

θ(4.35)

weiterhin Randpunkte der Energieflachen auf der Hauptdiagonalen in der (iϕ, iψ)–Ebene.Denn man findet hierfur c1 = 1 und c2 > 1. Die Schar dieser Randpunkte reprasentiertdie in Demonstrationen immer recht auffalligen “schlafenden Kreisel”. — Anders derBereich kleinerer Energien, G > G∗. Hier findet man auf den durch Gl. (4.35) gegebenenLinien c1 < 1 und c2 = 1. Das Integral iϑ ist darum großer als Null; die beiden Punkte(±iϕ,±iψ, iϑ) liegen also nicht mehr auf dem Rand der Energieflache. Sie beschreiben eineBewegung, bei der ϑ zwischen der aufrechten Lage ϑ = 0 und einem maximalen Winkelvariiert. Die Tatsache, dass die Nordpol–Lage eine doppelte Nullstelle von f(z) ist, deutetauf den singularen Charakter dieser Bewegung hin. Klein und Sommerfeld [1] geben eineexplizite Beschreibung der zugehorigen Trajektorien und kommentieren (Heft II, S.336):

Unsere Kurve windet sich um den Nordpol unaufhorlich herum, indem sie sichihm bestandig nahert, ohne ihn jemals zu erreichen. Wir haben im Wesentli-chen eine logarithmische Spirale vor uns.

Die ungestorte aufrechte Bewegung stellt hiernach im Falle des schwachenKreisels, wie man im Anschlusse an Poincares Untersuchungen zur Himmels-mechanik sagt, eine asymptotische Losung des Kreiselproblems dar.

Erhoht man bei festem G den Drehimpuls iϕ = iψ gegenuber dem in (4.35) gegebenenWert, so erreicht ϑ den Nordpol nicht mehr; erniedrigt man iϕ, so kann ϑ durch ihnhindurchlaufen. Dies macht die Verwandtschaft dieser singularen Punkte mit der weiteroben beschriebenen Singularitat des ebenen Pendels deutlich, gegen die sie fur G → 1/2tatsachlich streben (s. Abb. 15).

Es hat also jede Energieflache im Bereich G∗ < G < 1/2 zwei Punkte von der Artder Pendelsingularitat. Sie losen sich bei G = G∗ vom Rand in der (iϕ, iψ)–Ebene abund wandern mit wachsendem G langs der Hauptdiagonalen in den Punkt (iϕ, iψ, iϑ) =(0, 0, 2/π) hinein.

35

Abb. 15 Maximale und singulare Werte der Drehimpulse iϕ und iψ auf der Haupt-diagonalen iϕ = iψ in Abhangigkeit von der Energievariablen G ∝ 1/E. Abszisse:0 ≤ G ≤ 3; Ordinate: 0 ≤ iϕ ≤ 1.5. Das Bild zeigt die drei Falle des flachen Kreiselsθ = 0.5 (oben), des langgestreckten Kreisels θ = 2.0 (unten) und des Kugelkreiselsθ = 1 (Mitte). Im Bereich 0 ≤ G ≤ 1/2 werden die gezeigten Kurven durch Gl. (4.35)gegeben. Fur G∗ < G < 1/2 beschreibt sie Situationen vom Typ der Pendelsingu-laritat; rechts von diesen Linien kann der Kreisel die aufrechte Lage ϑ = 0 nichtmehr erreichen. Fur G < G∗ beschreibt Gl. (4.35) die “schlafenden Kreisel”. Dierechts von G∗ jeweils mit stetiger Tangente anschließenden Kurven werden durchGl. (4.36) beschrieben. Sie reprasentieren Randpunkte der Energieflachen auf denHauptdiagonalen in der (iϕ, iψ)–Ebene.

Die beiden Randpunkte der Energieflache auf der Hauptdiagonalen werden fur G > G∗

durch die Bedingung −1 < c1 = c2 < 1 charakterisiert. Die Auswertung gibt

G =1

8

(1

iϕ+ (1− θ)iϕ

)2

. (4.36)

Bei niedrigen Energien, G→∞, nahern sich diese Randpunkte dem Ursprung, denn ausGl. (4.36) folgt dann iϕ ' ±1/

√8G .

Abb. 15 fasst die Diskussion der Verhaltnisse uber der Hauptdiagonalen iϕ = iψzusammen. Ahnlich wie im Abschnitt 3.2 die kardanischen Separatrizen geht hier die Linieder singularen Punkte in den Rand der Energieflache uber, wobei sie sich mit stetigerTangente an einen anderen Randbereich anschmiegt. Im Unterschied zu den dortigen

36

Verhaltnissen, die sich innerhalb einzelner Energieflachen abspielten, liegt die “Separatrix”hier jedoch quer zu den Energieflachen und hat (bis auf die Inversions–Symmetrie) in jedernur einen Punkt.

Nachdem wir uns Klarheit uber die Verhaltnisse auf den beiden Diagonalen der (iϕ, iψ)–Ebene verschafft haben, diskutieren wir den Rest des Randes der Energieflachen. Er ist,wie bereits bemerkt, gekennzeichnet durch das Zusammenfallen der beiden Nullstellen z1

und z2 der Kreiselfunktion f(z). Da die analytische Behandlung dieser Bedingung rechtaufwendig, aber langweilig ist, sollen hier lediglich einige Illustrationen prasentiert werden.Die Bilder vermitteln einen besseren Eindruck als lange Formeln. Abb. 16 zeigt die Randerder Energieflachen fur drei verschiedene Werte von θ und jeweils 7 Werte der Energie.Mit abnehmender Energie schrumpfen diese Konturen von den aus Abb. 5 (kraftefreierFall) bekannten Formen auf eine langs der Nebendiagonalen sich erstreckende Spindel,deren Dicke im Limes G→∞ wie 1/

√2G gegen Null geht. Solange G < G∗, haben diese

Rander auf der Hauptdiagonalen einen Knick; fur großere G (kleinere Energien) werdensie glatt.

Physikalisch ist dieser Rand dadurch gekennzeichnet, dass die Figurenachse bei festemWinkel ϑ um die z–Richtung rotiert. Im Unterschied zur entsprechenden Bewegung deskraftefreien Kreisels (s. Abb. 7) prazediert hier auch die Drehimpulsachse um die z–Richtung.

Abb. 16 (Folgende Seite) Rander der Energieflachen h = 1 in der Ebene iϑ = 0fur drei verschiedene Werte von θ und jeweils 7 Werte der Energie. Die Werte von θsind θ = 1/2 (oben; flacher Kreisel), θ = 1 (Mitte; Kugelkreisel) und θ = 2 (unten;langgestreckter Kreisel). Von außen nach innen sind jedesmal die Rander zu G = 0.1,0.2, 0.5, 1.0, 2.0, 5.0 gezeichnet und außerdem noch der Rand zu G = G∗ (G∗ = 1/3,1/4 bzw. 1/6). Abszisse: −

√2 ≤ iϕ ≤

√2 ; Ordinate: −

√2 ≤ iψ ≤

√2 .

37

38

Kommen wir nun zur Berechnung der Wirkung iϑ. Die Form des Integrals (4.30) istdieselbe wie im Fall des spharischen Pendels, so dass alle Resultate von Abschnitt 4.1.2ubernommen werden konnen. Der einzige Unterschied bei der konkreten Rechnung liegtdarin, dass die Funktion f(z) andere Nullstellen hat. Insbesondere gelten fur iϑ genau dieFormeln (4.18)–(4.20).

Abb. 17 zeigt die Energieflachen zu θ = 5/3 fur vier verschiedene Energien. Manerkennt den Wandel der Form von einer Pyramide mit vier Kanten (bei hohen Energien) zueinem kieloben liegenden Schiffchen (bei niedrigen Energien). Im Energiebereich zwischenG = G∗ = 3/16 und G = 1/2 zieht sich die eine Kante uber der Hauptdiagonalen von derEcke des schlafenden Kreisels auf den Punkt des singularen Pendels zuruck.

Abb. 17 (Folgende Seite) Energieflachen des schweren symmetrischen Kreiselsfur θ = 5/3. Oben links: niedrige Gesamtenergie, G = 1; die Flache hat die Formeines kieloben liegenden Schiffchens. Oben rechts: G = 0.5; die Energie reicht gera-de fur die aufrechte Lage aus. Die Spitze der Flache stellt den singularen Fall derPendelbewegung das. Unten links: G = 0.4; es hat sich ein Teil der zweiten Kan-te ausgebildet. Ihr Endpunkt ist als singularer Punkt erkennbar; er reprasentiertdie Bewegung, bei der die Kreiselachse asymptotisch dem Nordpol zustrebt. Untenrechts: G = 0.2; die Flache hat jetzt die fur energiereiche Kreisel typische Pyrami-denform (vgl. Abb. 6). — In all diesen wie auch entsprechenden spateren Bildern,Abb. 22 ff., werden die Energieflachen uber der Halbebene iψ < 0 gezeigt. Die iϕ–Achse weist nach rechts, die negative iψ–Achse nach vorne und die iϑ–Achse nachoben.

39

40

Den Grenzbereich niedriger Energien konnen wir elementar behandeln. Dazu gehenwir am besten von der Lagrangefunktion (4.1) aus und entwickeln die Winkelfunktionennach kleinen α := π − ϑ :

L =1

2(ΘS

1 + ΘG) (α2 + α2ϕ2) +1

2ΘS

3 (ψ − ϕ+1

2α2ϕ)2 − 1

2gMGRG α

2 . (4.37)

Die entsprechende Hamiltonfunktion in skalierten Variablen ist

h = l 2α +

(lϕ + lψ)2

α2− lψ (lϕ + lψ) + θ l 2

ψ +1

2Gα2 = 1 . (4.38)

(Dabei wurde angenommen G l 2ψ/4 = 1/4θ.) Das Wirkungsintegral iα =

∮lα dα/2π

lasst sich leicht ausfuhren und gibt

iα = iϑ =1

2√

2G

(1 + iψ (iϕ + iψ)− θ i 2

ψ

)− 1

2|iϕ + iψ| . (4.39)

Uber der Nebendiagonalen iϕ = −iψ finden wir den quadratischen Verlauf

iϑ =1− θ i 2

ϕ

2√

2G. (4.40)

Dies reprasentiert fur i 2ϕ = i 2

ψ = 1/θ , iϑ = 0 eine reine Rotation in senkrechter Hangelage

und fur iϕ = iψ = 0, iϑ = 1/2√

2G eine ϑ–Schwingung ohne Rotation. Wir geben nochdie Hamiltonfunktion als Funktion der Wirkungsvariablen an:

h =√

2G (|iϕ + iψ|+ 2 iϑ) − iψ(iϕ + iψ) + θ i 2ψ . (4.41)

Abb. 18 (Folgende drei Seiten) Niveaulinien uber der (iϕ, iψ)–Ebene fur jeweilsdrei verschiedene Energien. Die erste Seite zeigt den Fall des schweren Kugelkrei-sels (θ = 1); es folgt der flache Kreisel mit θ = 0.5 und auf der dritten Seiteder langgestreckte Kreisel mit θ = 2. Auf jeder Seite ist oben G = 1.0 (niedrigeEnergie), in der Mitte G = 0.4 und unten G = 0.1 gewahlt. Links ist jedesmal dieEnergieflache selbst dargestellt; die Niveaulinien folgen konstanten Werten von iϑ.Rechts sind die Linien konstanter Werte von ωϑ wiedergegeben. Die Niveaulinienfolgen in Abstanden 0.1 aufeinander; die Bander zwischen ihnen sind alternierendschwarz und weiß ausgefullt. Abszisse: −1.5 ≤ i− ≤ 1.5; Ordinate: −1.5 ≤ i+ ≤ 1.5.

41

42

43

44

Wir sahen schon im Fall des spharischen Pendels, dass die Energieflachen h = h(iϕ, iψ, iϑ) =1 zwar einen guten Uberblick uber die Dynamik des physikalischen Systems geben, dassaber Details erst nach geeigneter Differentiation zutage treten. Wir gehen deshalb zumSchluss dieses Abschnitts noch auf die Frequenzen bzw. ihre Verhaltnisse ein. Die Fre-quenz der ϑ–Bewegung, ωϑ = ∂h/∂iϑ kann wieder ganz genauso wie in Abschnitt 4.1.2bestimmt werden; die Gl. (4.27) gilt mit dem einzigen Unterschied, dass fur f(z) die Funk-tion (4.31) zu nehmen ist. Abb. 18 zeigt anhand einer Reihe von Niveaulinienbildern, wasdiese Gleichung beinhaltet. Gegenuber fruheren Darstellungen der (iϕ, iψ)–Ebene sind hierdie Bilder um −45o gedreht. Die Abszisse liegt in Richtung der fruheren Nebendiagonalenund zeigt die Variable i− := (iϕ − iψ)/2 an, die Ordinate reprasentiert entsprechend dieVariable i+ := (iϕ + iψ)/2 .

Die beiden anderen Frequenzen erhalten wir am besten wieder uber die Windungs-zahlen. Hier ist die Mathematik des Lagrange–Kreisels zum erstenmal etwas schwierigerals die des spharischen Pendels. Denn es gilt zwei Windungsverhaltnisse Wϑϕ und Wϑψ zuberechnen:

Wϑϕ :=ωϕωϑ

= −∂iϑ∂iϕ

∣∣∣∣h,iψ

, Wϑψ :=ωψωϑ

= −∂iϑ∂iψ

∣∣∣∣h,iϕ

. (4.42)

Die Rechnung folgt naturlich den gleichen Methoden wie im Anhang B fur das spharischePendel beschrieben. Die Struktur der Energieflachen legt es nahe, statt der Wϑϕ und Wϑψ

die Ableitungen parallel zu den Diagonalen der (iϕ, iψ)–Ebene zu nehmen; wir definierendarum mit i± := (iϕ ± iψ)/2

Wϑ+ := − ∂iϑ∂i+

∣∣∣∣h,i−

= Wϑϕ + Wϑψ , Wϑ− := − ∂iϑ∂i−

∣∣∣∣h,i+

= Wϑϕ + Wϑψ (4.43)

und finden als Resultat

Wϑ+ =2

π

b− ak√f(a)

((θ iψ +

kiϕ − biψk + b

)K(k)

− (b− ak)(iϕ + iψ)

(k + b)2w−Π(− 1

w2−, k)

) (4.44)

und

Wϑ− =2

π

b− ak√f(a)

((−θ iψ +

kiϕ − biψk − b

)K(k)

+(b− ak)(iϕ − iψ)

(k − b)2w+

Π(− 1

w2+

, k)

).

(4.45)

Abb. 19 zeigt Niveaulinien dieser Windungszahlen. Dass sie an den jeweils querliegendenKanten unstetig sind, ergibt sich unmittelbar aus der geometrischen Natur der Ener-gieflachen. Man erkennt an den Bildern im Fall G = 0.4 sehr deutlich den Charakter derlogarithmischen Singularitat.

45

Abb. 19 (Folgende drei Seiten) Niveaulinien der Windungszahlen Wϑ+ undWϑ− uber der (iϕ, iψ)–Ebene. Es wurden dieselben Parameter gewahlt wie inAbb. 18. Die erste Seite zeigt also den Kugelkreisel (θ = 1), die zweite den fla-chen Kreisel (θ = 0.5) und die dritte einen langgestreckten Kreisel (θ = 2). Obenist jeweils G = 1.0 (niedrige Energie), in der Mitte G = 0.4 und unten G = 0.1gewahlt. Die Bilderpaare zeigen rechts Wϑ+ und links Wϑ−. Die Abstande zwischenNiveaulinien sind 0.04.

46

47

48

49

4.2 Der Lagrange–Kreisel mit Aufhangung

Es werde der schwere symmetrische Kreisel nun zusammen mit einer kardanischen Aufhangungdiskutiert. Abb. 20 zeigt, wie man durch Anbringen eines Gewichts auf der Achse des Krei-sels der Abb. 1 diese Situation herstellen kann. Klein und Sommerfeld [1] schließen diesesSystem mit folgenden Worten von ihrer Analysis der Kreiselbewegungen aus:

Ebensowenig fallt unter unseren Krei-selbegriff genau genommen die . . . Vor-richtung, welche man als Bohnenber-gersches Maschinchen (oder auch alsFoucaultsches Gyroskop) zu bezeichnenpflegt. . . . Wollen wir den Apparat den-noch gelegentlich als Beispiel fur un-sere Kreiselbetrachtungen heranziehen,so mussen wir die ausdruckliche An-nahme hinzufugen, dass die Masse desSchwungrades gegenuber den Massendes außeren und inneren Ringes sehrbetrachtlich ist, und mussen uns dar-aufhin gestatten, die letzteren gegen dieerstere zu vernachlassigen. Alsdann ha-ben wir es bei der mechanischen Be-handlung des Apparates nurmehr mitdem Schwungrade zu thun, welcheseinen einheitlichen starren Rotations-korper darstellt. Sehen wir aber vondieser vereinfachenden Annahme ab, sowird die Theorie des Apparates erheb-lich komplizierter wie die unseres Krei-sels.

Abb. 20 Ein schwerer symmetrischer Kreisel in kardanischer Aufhangung.Gegenuber der Anordnung von Abb. 1 ist hier auf der Symmetrieachsedes Kreiselkorpers ein Gewicht hinzugefugt. Die Tragheitsmomente bzgl. desraumfesten Punktes andern sich dadurch entsprechend dem Steinerschen Satz.

50

Wir lassen uns von diesen Worten nicht abschrecken und nehmen zur Lagrangefunktion(4.1) die Energieterme (1.1) und (1.2) hinzu:

L = T3 + T5 − V =1

2(ΘR

1 + ΘR2 ) ϕ2

+1

2(ΘR

2 + ΘS1 + ΘG) (ϑ2 + ϕ2 sin2 ϑ)

+1

2ΘS

3 (ψ + ϕ cosϑ)2 − gMGRG (1 + cosϑ) .

(4.46)

An der Invarianz gegenuber Drehungen um die raumfeste z–Achse und um die x3–Achse andert sich nichts. Die Drehimpulse Lϕ und Lψ ,

Lϕ = (ΘR1 + ΘR

2 ) ϕ+((ΘR

2 + ΘS1 + ΘG) sin2 ϑ+ ΘS

3 cos2 ϑ)ϕ+ ΘS

3 ψ cosϑ(4.47)

Lψ = ΘS3 (ψ + ϕ cosϑ) , (4.48)

sind also weiterhin Konstanten der Bewegung und liefern zwei der drei Wirkungen, Iϕund Iψ . Mit

Lϑ = (ΘR2 + ΘS

1 + ΘG) ϑ (4.49)

erhalten wir als Hamiltonfunktion

H =L 2ϑ

2 (ΘR2 + ΘS

1 + ΘG)+

(Lϕ − Lψ cosϑ)2

2 (ΘR1 + ΘR

2 + (ΘR2 + ΘS

1 + ΘG) sin2 ϑ

+L 2ψ

2 ΘS3

+ gMGRG (1 + cosϑ) .

(4.50)

Als dimensionslose Energievariable wahlen wir wieder die in Gl. (4.6) definierte GroßeG ∝ 1/E . Wir skalieren Drehimpulse gemaß

lϕ,ϑ,ψ :=Lϕ,ϑ,ψ√

2 (ΘR2 + ΘS

1 + ΘG)E(4.51)

und fuhren ahnlich wie in Gl. (3.22)die beiden Parameter θ und θR ein:

θ :=ΘR

2 + ΘS1 + ΘG

ΘS3

und θR :=ΘR

1 + ΘR2

ΘR2 + ΘS

1 + ΘG. (4.52)

Das ergibt schließlich die dimensionslose Hamiltonfunktion

h = l 2ϑ +

(lϕ − lψ cosϑ)2

θR + sin2 ϑ+ θ l 2

ψ + G (1 + cosϑ) = 1 . (4.53)

Sie hangt von den drei Parametern θ, θR und G ab. Der erste steht fur die (effektive) Formdes Kreisels: fur flache Kreisel gilt θ < 1, fur langgestreckte θ > 1, fur Kugelkreisel θ = 1.

51

Der Parameter θR reprasentiert den Einfluss der Aufhangung, das Zentrifugalpotentialaufzuweichen. Der dritte Parameter G steht fur die (inverse) Energie.

Die Wirkung iϑ lasst sich ahnlich wie in den vorangehenden Fallen (vgl. Gl. (3.24)und Gl. (4.30)) ausdrucken:

iϑ =1

∮dz√

1− z2

√f(z)

1 + θR − z2(4.54)

mit

f(z) = (1+θR−z2)(1−G−θi 2ψ−Gz)−(iϕ−iψ z)2 =: G (z−z1)(z−z2)(z−z3) . (4.55)

Das Integral (4.54) lasst sich ebensowenig wie (3.24) auf normale elliptische Integralezuruckfuhren, da der Integrand i. a. sieben Verzweigungspunkte hat. Deshalb fuhren wirdie Integration numerisch aus. Vorher konnen wir uns aber anhand der Eigenschaften vonf(z) einige allgemeine Eigenschaften der Energieflachen klarmachen.

Die Symmetrie ist dieselbe wie ohne die Aufhangung; die Energieflachen sind alsoinvariant unter der Spiegelung (iϕ, iψ, iϑ) → (−iϕ,−iψ, iϑ).

Eine Nullstelle von f(z) liegt jedenfalls im Bereich z ≥√

1 + θR und kommt als In-tegrationsgrenze in Gl. (4.54) nicht in Betracht. Die Grenzen sind also wie beim Integral(3.28) min(−1, z1) und max(1, z2). Die Diskussion der Moglichkeiten fur den Integrati-onsweg, auf Lange Null zu schrumpfen, lasst sich darum genauso fuhren wie in Abschnitt3.2 und ergibt fur den Rand der Energieflache in der (iϕ, iψ)–Ebene ahnliche Resultate.Der Unterschied liegt vor allem darin, dass die Bedingungen z1 = ±1 und z2 = ±1 zuEllipsen fuhren, die unter Spiegelung iϕ → −iϕ nicht mehr ineinander ubergehen. Wirfinden f(−1) = 0 auf der Ellipse

(iϕ + iψ)2 + θ θR i2ψ = θR (4.56)

genau wie im kraftefreien Fall, s. Gl. (3.32). Dagegen fuhrt die Forderung f(1) = 0 zueiner anderen Ellipse als der in (3.31) definierten:

(iϕ − iψ)2 + θ θR i2ψ = (1− 2G) θR . (4.57)

Diese Ellipse hangt in ihrer Ausdehnung von der Energie ab und wird mit wachsendemG kleiner. Wenn die Punkte, in denen sie den durch z1 = z2 definierten Rand beruhrt,zusammenlaufen, lost sie sich vom Rand der Energieflache ganz ab. Das ist der Fall, wenndie durch f(1) = 0 und f ′(1) = 0 definierten Punkte der (iϕ, iψ)–Ebene doppelte Losungensind. Die Rechnung zeigt, dass das bei

G =1

2 + θ +√θ(θ + θR)

(4.58)

der Fall ist. Fur θR → 0 ist das gerade der Wert G∗ aus Gl. (4.34). Das Ablosen derEllipse (4.57) vom Rand der Energieflache und ihr Verschwinden bei G = 1/2 ist also

52

hier die Entsprechung zu dem Szenario, das im Fall ohne kardanische Aufhangung zumVerschwinden der Kante uber der Hauptdiagonalen fuhrt (s. Abschnitt 4.1.3).

Abb. 21 Rander von Energieflachen h = 1 in der Ebene iϑ = 0 fur θR = 0.1. Obenlinks: Kugelkreisel θ = 1 bei hoher Energie, G = 0.1; vgl. mit der mittleren Figurvon Abb. (8). Oben rechts: Derselbe Kreisel bei niedriger Energie, G = 0.8; die eineSeparatrix ist verschwunden. Unten: Zwei Falle mit G = 0.4; die eine Separatrixliegt jeweils ganz im Innern der Energieflache. Links: Kugelkreisel θ = 1, rechts:flacher Kreisel θ = 0.5.

53

Abb. 21 zeigt die Rander der Energieflachen und den Verlauf der Separatrizen fur θR =0.1 in vier Beispielen. Drei davon betreffen den Kugelkreisel θ = 1 bei unterschiedlichenEnergien, der vierte stellt den flachen Kreisel θ = 0.5 bei einer Energie dar, bei der diekleine Ellipse sich vom Energierand gelost hat.

Es sei noch einmal an die physikalische Bedeutung dieser Separatrizen erinnert: anihnen andert die Bewegung ihren Charakter in der Weise, dass das Durchschwingen derNordpol–Lage (Separatrix langs der Hauptdiagonalen) bzw. der Sudpol–Lage (Separatrixlangs der Nebendiagonalen) moglich wird. Außerhalb der Ellipsen wird dieses Durch-schwingen von Zentrifugalkraften verhindert. In ihrem Innern ist es eine Bewegungsform,die den Kreisel mit kardanischer Aufhangung vom aufhangungsfreien Kreisel unterschei-det. Zu beachten ist, dass das in Abb. 20 gezeigte Modell je nach Große des Zusatzgewichtseinen θR–Wert von etwa 0.5 bis 1.1 aufweist. Die Ausdehnung der Separatrizen in Abb. 21ist also gegenuber dem Modell noch untertrieben. Mit anderen Worten: vom Verhaltendes Kreisels ohne Aufhangung wird man in diesem Modell nicht viel sehen konnen.

Bei der Berechnung des Wirkungsintegrals iϑ, Gl. (4.54) verlassen wir uns diesmalganz auf die numerische Integration. Abb. 22–24 zeigen eine Reihe von Beispielen fur dieEnergieflachen. Immer ist θ = 5/3. In Abb. 22 ist der Einfluss der Aufhangung schwacher,als man ihn wohl mit einem Bohnenbergerschen Maschinchen realisieren kann, θR = 0.01.Dafur ist die Ahnlichkeit mit den Bildern der Abb. 17 unverkennbar.

Abb. 22 (Folgende Seite) Energieflachen h = 1 des schweren symmetrischenKreisels in kardanischer Aufhangung fur θ = 5/3 und θR = 0.01. Oben links: nied-rige Gesamtenergie, G = 1. Oben rechts: G = 0.5; die Energie reicht gerade furdie aufrechte Lage aus. — Bis hierhin gibt es nur eine Separatrix; auf dem Scheitelder Figur schwingt die Kreiselachse durch die Sudpol–Lage; außerhalb des schma-len Wulstes verhindert das Zentrifugalpotential diese Bewegungsform. Unten links:G = 0.4; es hat sich eine zweite Separatrix ausgebildet. Unten rechts: G = 0.1; diezweite Separatrix erreicht jetzt den Rand der Energieflache. In ihrem Innern liegendie Bewegungen, bei denen die Kreiselachse durch den Nordpol hindurch schwingt.

54

55

In Abb. 23 werden Energieflachen gezeigt, die denselben θR–Wert θR = 0.1 haben wiedie Bilder der Abb. 21. Nachdem man diese dreidimensionalen Darstellungen der Flacheneinmal gesehen hat, wird man die Bedeutung der Zeichnungen von der Art der Abb. 21besser einschatzen konnen.

Abb. 23 (Folgende Seite) Energieflachen h = 1 des schweren symmetrischenKreisels in kardanischer Aufhangung fur θ = 5/3 und θR = 0.1. Die Energiewer-te sind G = 1 (oben links), G = 0.5 (oben rechts), G = 0.4 (unten links) undG = 0.2 (unten rechts).

56

57

Die Serie der sechs Bilder in Abb. 24 zeigt den Einfluss der kardanischen Aufhangungbei dem Wert θR = 0.7, wie er bei dem realen Modell (s. Abb. 20) in etwa vorliegt.Offenbar sind die reinen Kreiselmoden hier nur noch an der Peripherie der Energieflacheauffindbar.

Abb. 24 (Folgende Seite) Energieflachen h = 1 des schweren symmetrischenKreisels in kardanischer Aufhangung fur θ = 5/3 und θR = 0.7. Die Energiewer-te sind G = 1 (oben links); G = 0.5 (oben rechts); G = 0.45 (Mitte links) — hierliegt die “Nordpol–Separatrix” ganz im Innern der “Sudpol–Separatrix”; G = 0.40(Mitte rechts) — hier beruhren sich die beiden Separatrizen; G = 0.2 (unten links)und G = 0.1 (unten rechts).

58

59

In Abb. 25 wird die letzte Energieflache der Serie aus Abb. 24 in zwei Anschnitteniψ = const gezeigt. Man erkennt daran die Art der logarithmischen Singularitat im Gra-dientenfeld der Flache, das als Feld der Frequenzverhaltnisse unmittelbare physikalischeBedeutung hat:

ωϕωϑ

= − ∂iϑ∂iϕ

∣∣∣∣h,iψ

,ωϑωψ

= − ∂iψ∂iϑ

∣∣∣∣h,iϕ

,ωψωϕ

= − ∂iϕ∂iψ

∣∣∣∣h,iϑ

. (4.59)

Da wir fur dieses System die Frequenzen nicht so wie im aufhangungsfreien Fall durchelliptische Integrale ausdrucken konnen, verzichten wir auf bildliche Darstellungen derFrequenzen nach Art der Abb. 18 und 19.

Abb. 25 Die Energieflache mit den Parameterwerten θ = 5/3 , θR = 0.7 undG = 0.1 im Schnitt iψ = const. Als Steigung der Schnittkurve erkennt man nachGl. (4.59) das Frequenzverhaltnis ωϕ/ωϑ. Da die Frequenz ωϕ beschrankt ist, geht diePeriode 2π/ωϑ der ϑ–Bewegung an den Separatrizen logarithmisch gegen Unendlich.

60

5 Der kraftefreie asymmetrische Kreisel

Bringen wir auf der x1–Achse desKreisels der Abb. 1 in symmetrischerWeise noch zusatzliche Gewichte an,so erhalten wir den Fall des asym-metrischen Kreisels mit Tragheits-momenten Θ1 < Θ2 < Θ3

(Abb. 26). Wir werden diesen Fallnur ohne Berucksichtigung der kar-danischen Aufhangung behandeln,konnen daher nach den bereits ge-sammelten Erfahrungen keine gu-te Ubereinstimmung der Rechnun-gen mit dem Verhalten des Modellserwarten. Beobachtung des Modellsscheint anzuzeigen, dass dessen Be-wegung stark chaotischen Charak-ter hat. Dem soll aber hier nichtnachgegangen werden. Wir interes-sieren uns lediglich fur das Aussehender Energieflache im integrablen FallL = T3 + T4.

Abb. 26 Ein asymmetrischer Kreisel in kardanischer Aufhangung. Die Asym-metrie wird durch Anbringen der beiden großen Zusatzgewichte auf der x1–Achse des Kreisels hergestellt. Ihr Tragheitsmoment bezuglich der x3–Achseist hier vergleichbar mit dem des Kreisrings. (Das kleinere Gewicht auf derx3–Achse unterwirft diesen Kreisel noch zusatzlich der Schwerkraft; dies wirdhier aber nicht berucksichtigt. Das Gewicht kann abgeschraubt werden.)

61

Die Lagrangefunktion hat die Form der Gl. 1.9:

L =1

2Θ1 Ω2

1 +1

2Θ2 Ω2

2 +1

2Θ3 Ω2

3 (5.1)

mit Tragheitsmomenten Θ1 = ΘS1 , Θ2 = ΘS

1 + ΘA, Θ3 = ΘS3 + ΘA. Wir werden aber

von dieser speziellen Situation im folgenden keinen Gebrauch machen und fur die Θi nurdie allgemeine Eigenschaft voraussetzen, dass die Summe je zweier Tragheitsmomentenicht kleiner als das dritte sei. Da die z–Richtung als Polarachse eine ausgezeichneteRolle spielt und der Winkel ϑ von dort zur x3–Achse hin genommen wird, ist es fur dasAussehen der Energieflache nicht gleichgultig, ob Θ3 das großte, kleinste oder mittlereHaupttragheitsmoment ist. Betrachte dazu die Abb. 27, in der eine Ubersicht uber diemoglichen Anordnungen der Tragheitsmomente gegeben wird.

Abb. 27 Mogliche Kombinationen der Tragheitsmomente Θ1, Θ2, Θ3 in der Nor-mierung Θmax = 1. Aus allgemeinen Grunden [3] muss die Summe je zweier Θi großerals das dritte sein. Es gibt sechs Permutationen der Anordnung Θ1 < Θ2 < Θ3 , ent-sprechend den sechs dick berandeten Dreiecken auf der Wurfeloberflache Θmax = 1.Die Wurfelecke Θ1 = Θ2 = Θ3 reprasentiert den Fall des Kugelkreisels. Die symme-trischen Kreisel Θ1 = Θ2 des Abschnitts 3.1 liegen auf der Kante k3 (langgestreckterKreisel) und der Diagonalen d3 (flacher Kreisel). Deren Endpunkte R3 und D3 ent-sprechen dem Rotator bzw. dem diskusformigen Kreisel. Analoge Falle mit x1– bzw.x2–Achse als Symmetrieachse sind analog bezeichnet.

62

Die fruher behandelten symmetrischen Kreisel fallen auf die Linien k3 und d3 dieserAbbildung. Soll nun der allgemeine asymmetrische Kreisel stetig an diese Situationenangeschlossen werden, so gibt es offenbar drei inaquivalente Falle:

(i) Θ1 < Θ2 < Θ3 , (ii) Θ2 < Θ3 < Θ1 , (iii) Θ3 < Θ1 < Θ2 . (5.2)

(Die drei durch Vertauschung von Θ1 und Θ2 daraus hervorgehenden Falle entsprechendem Ubergang ψ → ψ+π/2, der die Form der Energieflachen nicht wesentlich verandert.)

Die Lagrangefunktion (5.1) lasst sich mit Hilfe der im Anhang hergeleiteten Rela-tionen (A.13) zwischen den Impulsen L1,2,3 und Lϕ,ϑ,ψ in die folgende Hamiltonfunktionuberfuhren:

H =1

2 Θ1

L 21 +

1

2 Θ2

L 22 +

1

2 Θ3

L 23

=1

2 Θ3

L 2ψ +

1

2 Θ1

(Lϑ cosψ +

Lϕ − Lψ cosϑ

sinϑsinψ

)2

+1

2 Θ2

(Lϑ sinψ − Lϕ − Lψ cosϑ

sinϑcosψ

)2

(5.3)

Der Wert E dieser Funktion ist eine Konstante der Bewegung ebenso wie wegen derKraftefreiheit der Wert des Drehimpulsquadrats

L2 = L 2ϑ + L 2

ψ +(Lϕ − Lψ cosϑ)2

sin2 ϑ. (5.4)

Als dritte unabhangige Konstante der Bewegung kann wegen der Zyklizitat von ϕ dieKomponente Lϕ = Lz gewahlt werden. Das System erweist sich somit als integrabel.Da H, L2 und Lz in Involution sind, bieten sich ihre Werte zur Charakterisierung derverschiedenen 3–Tori des asymmetrischen Kreisels an. Es ist aber nur Lz auch eine Wir-kungsvariable, entsprechend dem Weg Cϕ := 0 ≤ ϕ < 2π, ϑ = const, ψ = const,

Iϕ :=1

∮Lϕ dϕ = Lϕ = Lz . (5.5)

Die beiden anderen Wirkungen sind noch zu bestimmen. Das Problem ist hier komplizier-ter als in den vorangehenden Kapiteln, weil ψ keine zyklische Variable mehr ist und Lψdaher den Charakter einer Wirkungsvariablen verloren hat. Wir gehen so vor, dass wirzu den durch E, L2, Lz gegebenen Tori jeweils zwei Fundamentalbahnen suchen, die zudem bereits verwendeten Weg Cϕ nicht aquivalent sind. Dabei wird noch darauf geachtet,dass die Energieflachen zusammenhangend sind und im Spezialfall Θ1 = Θ2 stetig in diein Abschnitt 3.1 berechneten Flachen ubergehen.

Zunachst skalieren wir die physikalischen Großen, um wie ublich dimensionslose Glei-chungen zu haben. Die Homogenitat der Energie in den Drehimpulsen erlaubt, die Varia-ble E in den Skalen unterzubringen. Als Einheit der Drehimpulse wahlen wir

√2 ΘmaxE ,

wobei Θmax das großte der drei Θi sei. Mit

θ1 = Θ1/Θmax , θ2 = Θ2/Θmax , θ3 = Θ3/Θmax (5.6)

63

bezeichnen wir dimensionslose Tragheitsmomente, von denen das großte den Wert 1 hatund das kleinste einen Wert θmin ≤ 1. Die Energiegleichung lautet dann

h(ϕ, ϑ, ψ, lϕ, lϑ, lψ) = 1 =1

θ3

l 2ψ +

1

θ1

(lϑ cosψ +

lϕ − lψ cosϑ

sinϑsinψ

)2

+1

θ2

(lϑ sinψ − lϕ − lψ cosϑ

sinϑcosψ

)2 (5.7)

und die Drehimpulsgleichung wird zu

l2 = l 2ϑ + l 2

ψ +(lϕ − lψ cosϑ)2

sin2 ϑ= l 2

ϑ + l 2ϕ +

(lψ − lϕ cosϑ)2

sin2 ϑ. (5.8)

Der Drehimpuls l kann Werte zwischen√θmin und 1 annehmen. l und lϕ ≡ iϕ sind

Konstanten der Bewegung. Alle Drehimpulse lϕ, lϑ, lψ sind offenbar vom Betrage kleinerals l, konnen aber die Werte ±l annehmen. Wir setzen daher

lϕ =: l cosα , lϑ =: l cos β , lψ =: l cos γ (5.9)

und bemerken, dass cosα eine Konstante der Bewegung ist, die die Neigung des Drehim-pulses ~L gegen die z–Achse beschreibt. Schreiben wir die Drehimpulsgleichung in derForm

(lϕ − lψ cosϑ)2

sin2 ϑ= l2 (1− cos2 β − cos2 γ) (5.10)

und setzen in die Energiegleichung ein, so wird diese zu

1

l2=

1

θ3

cos2 γ +1

θ1

(cosψ cos β ± sinψ

√1− cos2 β − cos2 γ

)2

+1

θ2

(sinψ cos β ∓ cosψ

√1− cos2 β − cos2 γ

)2

.

(5.11)

Dabei ist cos γ mit Hilfe der Drehimpulsgleichung auszudrucken, die wir in der folgendenWeise auflosen konnen:

cos γ = cosα cosϑ ± sinϑ

√sin2 α− cos2 β . (5.12)

Es gilt nun, zwei Wege C2 und C3 so zu finden, dass die Wirkungen

i2,3 =1

∮C2,3

lϑ dϑ +1

∮C2,3

lψ dψ (5.13)

unabhangige Werte annehmen und den oben gemachten Voraussetzungen genugen. Wieim symmetrischen Fall wird es gelingen, jeweils einen der beiden Terme in (5.13) zu Null

64

zu machen, so dass wir die beiden gesuchten Wirkungen wieder mit den Bewegungen derWinkel ϑ und ψ assoziieren konnen:

iϑ :=l

∮C

cos β dϑ , iψ :=l

∮C

cos γ dψ (5.14)

mit noch zu definierenden Wegen C. Wir diskutieren die beiden Terme nacheinander.

5.1 Die Wirkung iψ

Beginnen wir mit der Situation, in der der Drehimpuls ~L in Richtung der z–Achse steht,lϕ = l bzw. α = 0. Die Drehimpulsgleichung (5.12) impliziert dann cos β = 0. Das bedeutetlϑ = 0 und definiert einen Weg Cψ, fur den iϑ = 0 ist. Fur iψ ist die Energiegleichung(5.11) nach cos γ aufzulosen und gibt

iψ =l

∮Cψ

√√√√√ 1l2− 1

2

(1θ1

+ 1θ2

)+ 1

2

(1θ1− 1

θ2

)cos 2ψ

1θ3− 1

2

(1θ1

+ 1θ2

)+ 1

2

(1θ1− 1

θ2

)cos 2ψ

dψ . (5.15)

Bevor wir an die Auswertung dieses Integrals gehen, soll gezeigt werden, dass es tatsachlichunabhangig von der Annahme α = 0 ist. Dazu bedienen wir uns einer kanonischen Trans-formation, die zuerst von Bruns [9] angegeben und von Epstein [10] zum Zwecke derQuantelung des Kreisels benutzt wurde und die statt der lϕ, lϑ, lψ die Großen lϕ, l, lψ alskanonische Impulse verwendet. Zur Definition dieser Transformation betrachten wir dasin Abb. 28 gezeigte spharische Dreieck, das durch die Einheitsvektoren in Richtung derz–Achse, der x3–Achse und des Drehimpulses ~L auf der Einheitskugel definiert wird. Eshat die Seiten α, γ, ϑ und die Winkel A, Γ, Θ. Diese Bestimmungsstucke hangen von denWinkeln ϕ und ϑ, aber nicht von ψ ab.

Wir definieren nun eine erzeugende Funktion vom Typ F2 [2], die von den altenKoordinaten ϕ, ϑ, ψ und den neuen Impulsen pϕ, p, pψ abhangt,

F2 = F2(ϕ, ϑ, ψ, pϕ, p, pψ) = (ϕ+ Γ) pϕ + Θ p + (ψ + A) pψ , (5.16)

und fordern pϕ = lϕ = l cosα, p = l und pψ = lψ = l cos γ. Benutzen wir nun die folgendedifferentielle Identitat der spharischen Trigonometrie [11],

dΘ = −dΓ cosα− dA cos γ + dϑ sinA sin γ , (5.17)

so ergeben die kanonischen Transformationsgleichungen die gewunschten Relationen zwi-schen den Impulsen:

65

lϕ =∂F2

∂ϕ= pϕ +

∂Γ

∂ϕpϕ +

∂Θ

∂ϕl +

∂A

∂ϕpψ = pϕ , (5.18)

lϑ =∂F2

∂ϑ= l +

∂Γ

∂ϑpϕ +

∂Θ

∂ϑl +

∂A

∂ϑpψ = l sinA sin γ , (5.19)

lψ =∂F2

∂ψ= pψ . (5.20)

Abb. 28 Einheitskugel mit dem spharischen Dreieck, das die kanonische Transfor-mation von Bruns [9] definiert. Aquatorebene und “Nordpol” sind durch das raum-feste x, y, z–System gegeben. Die Eulerschen Winkel ϕ, ϑ, ψ bestimmen die Lage deskorperfesten x1, x2, x3–Systems. Die Durchstoßpunkte von z–Achse, x3–Achse undDrehimpuls ~L geben ein spharisches Dreieck, dessen Seiten die Großkreisbogen α,γ, ϑ sind und dessen Winkel A, Γ und Θ heißen mogen.

Fur die entsprechenden neuen Koordinaten findet man

qϕ =∂F2

∂pϕ= ϕ + Γ , (5.21)

q =∂F2

∂p= Θ , (5.22)

qψ =∂F2

∂pψ= ψ + A . (5.23)

66

In den neuen Variablen lautet die Hamiltonfunktion (5.7)

h(qϕ, q, qψ, lϕ, l, lψ) = 1 =l 2ψ

θ3

+ (l2 − l 2ψ)

(sin2 qψθ1

+cos2 qψθ2

). (5.24)

Sie enthalt weder das (konstante) qϕ noch lϕ und erweist zudem noch q als zyklische Va-riable. Das entspricht der Tatsache, dass l eine Erhaltungsgroße ist. Es zeigt außerdem,dass l als eine zweite Wirkungsvariable i :=

∮l dq/2π = l genommen werden kann, so

dass nur noch eine weitere benotigt wird. Allerdings ist i nicht wie iϑ direkt auf z– undx3–Achse bezogen, eignet sich daher nicht fur eine Beschreibung der Falle mit Schwerkraftund/oder kardanischer Aufhangung. Wir werden sie nicht als das gesuchte Wirkungsinte-gral ansehen. Ihr Zusammenhang mit iψ und iϑ wird weiter unten klar; es zeigt sich, dassentweder iϕ + iϑ = l oder iψ + iϑ = l gilt (s. Gln. (5.41) und (5.47)). Die Wirkungen iund iϑ unterscheiden sich also in der Wahl der Fundamentalbahnen auf dem betrachteten3-Torus.

Bezuglich der x3–Achse erhalten wir mit dem Weg qϕ = const, q = const, jedenfallsdas Wirkungsintegral

iψ =1

∮lψ dqψ (5.25)

mit lψ = lψ(qψ) gemaß Gl. 5.24. Dies fuhrt genau auf den Ausdruck (5.15), der also fur

alle relativen Positionen des Drehimpulses ~L zur z–Achse eine “gute” Wirkung darstellt.Kommen wir nun zur Auswertung des Integrals (5.15). Dazu fuhren wir zunachst die

folgenden Abkurzungen ein:

λ :=1

l2− 1

2

(1

θ1

+1

θ2

)b := − 1

2

(1

θ1

− 1

θ2

)c :=

1

θ3

− 1

2

(1

θ1

+1

θ2

) (5.26)

Wir substituieren

cos 2ψ =: z , dψ = −1

2

dz√1− z2

(5.27)

und finden

iψ =l

∮dz√

(1− z)(z + 1)

√z − λ/b

z − c/b. (5.28)

Die Definition des Umlaufintegrals∮

hangt von den Werten der θi und des Drehimpulsesl ab. In jedem Fall aber ergibt sich ein vollstandiges elliptisches Integral, das mit der imAnhang B dargestellten Methode oder durch Nachschauen in [8] Nr. 3.167 auf die Stan-dardintegrale zuruckfuhrbar ist. Zu prufen ist jeweils, wie die Verzweigungspunkte desIntegranden liegen. Die Punkte −1 und +1 sind offenbar die außerst moglichen Integra-tionsgrenzen. Der Punkt c/b kann innerhalb oder außerhalb des Intervalls (−1, 1) liegen,hangt aber nicht vom Drehimpuls l ab. Der Punkt λ/b schließlich variiert mit l.

67

Wir diskutieren die vorkommenden Falle einzeln:

(i) θ1 < θ2 < θ3:

Es ist c/b > 1 und∮≡ 4

∫ min(1,λ/b)

−1. Als Moduln k und Parameter n der elliptischen

Integrale fungieren

n(1)+ =

2b

c− b

k(1)+ =

√n

(1)+ /n

(1)−

n(1)− =

λ+ b

c− λ

k(1)− = 1/k

(1)+ .

(5.29)

Zu unterscheiden sind noch die Falle großer und kleiner Drehimpulse l:

• Fur große l (θ2 < l2 < θ3) variiert ψ uber den ganzen Winkelbereich; derKreisel rotiert um seine x3–Achse. 1 < λ/b < c/b.

i(1+)ψ =

2l

π

−1√(λ+ b)(c− b)

((b+ c)Π(n

(1)+ , k

(1)+ ) + (λ− c)K(k

(1)+ ))

(5.30)

Wenn l→√θ3 , geht λ→ c, und mitΠ(n, 0) = π/(2

√1 + n) sowieK(0) = π/2

finden wir i(1+)ψ → l.

• Fur kleine l (θ1 < l2 < θ2) ist ψ auf eine Umgebung von ±π/2 beschrankt; derKreisel rotiert um seine x1–Achse, so dass er bzgl. der x3–Achse nur oszilliert(s. Abb. 30). −1 < λ/b < 1.

i(1−)ψ =

2l

π

−1√2b(c− λ)

((b+ c)Π(n

(1)− , k

(1)− ) + (λ− c)K(k

(1)− ))

(5.31)

Wenn l →√θ1 , geht λ → −b, so dass das Integrationsintervall auf die Lange

Null schrumpft und daher i(1−)ψ → 0 geht.

An der Schnittstelle der beiden Bereiche, bei l =√θ2 , ist λ = b und iψ offenbar

stetig.

(ii) θ2 < θ3 < θ1:Es ist −1 < c/b < 1 und man hat bei gegebenem l bzw. λ zunachst zwei z– bzw. ψ–Intervalle, in denen der Radikand der Wurzel in Gl. (5.15) positiv ist. In einem derFalle ist allerdings der Radikand großer als 1, was mit seiner Natur als cos2 γ nichtvertraglich ist. Es kommt daher nur eines der Intervalle in Frage.Die Parameter derelliptischen Integrale sind diesmal

n(2)+ =

b+ λ

b− λ

k(2)+ =

√n

(2)+ (b− c)/(b+ c)

n(2)− =

λ− b

b− c

k(2)− = 1/k

(2)+ .

(5.32)

Betrachten wir wieder die Falle großen und kleinen Drehimpulses l getrennt.

68

• Fur große l (θ3 < l2 < θ1) ist −1 < λ/b < c/b. Das Integrationsintervall, in dem

cos2 γ ≤ 1 ist, lasst sich charakterisieren durch∮≡ 4

∫ λ/b−1

. Das entsprechendeWirkungsintegral ist

i(2+)ψ =

2l

π

1√(b− λ)(c+ b)

(2bΠ(n

(2)+ , k

(2)+ ) + (λ− b)K(k

(2)+ ))

. (5.33)

Wenn l→√θ1 , geht λ→ −b und i

(2+)ψ → 0 .

• Fur kleine l (θ2 < l2 < θ3) ist c/b < λ/b < 1. Die Integration ist definiert

durch∮≡ 4

∫ 1

λ/b. Das Wirkungsintegral ist

i(2−)ψ =

2l

π

λ− c√(b− c)(λ+ b)

(Π(n

(2)− , k

(2)− )−K(k

(2)− ))

(5.34)

Wenn l→√θ2 , geht λ→ b und wiederum i

(2−)ψ → 0 .

An der Schnittstelle der beiden Bereiche, bei l =√θ3 , sind i

(2+)ψ und i

(2−)ψ ver-

schieden; in der Summe erganzen sie sich dort zu l.

(iii) θ3 < θ1 < θ2:

Es ist c/b < −1 und∮≡ 4

∫ 1

max(−1,λ/b). Die Parameter n der elliptischen Integrale

sind

n(3)+ =

λ− b

2b

k(3)+ =

√n

(3)+ (b+ c)/(λ− c)

n(3)− = 1/n

(3)+

k(3)− = 1/k

(3)+ .

(5.35)

Fur die beiden unterschiedlichen Bereiche des Drehimpulses gilt diesmal

• Fur große l (θ1 < l2 < θ2) ist ψ auf eine Umgebung von 0 bzw. π be-schrankt. Der Kreisel rotiert um seine x2–Achse und oszilliert bzgl. des Winkelsψ (s. Abb. 31). −1 < λ/b < 1.

i(3+)ψ =

2l

π

−b− λ√2b(λ− c)

(Π(n

(3)+ , k

(3)+ )−K(k

(3)+ ))

(5.36)

Wenn l →√θ2 , geht λ → b und der Integrationsbereich schrumpft auf die

Breite Null, so dass i(3+)ψ → 0.

• Fur kleine l (θ3 < l2 < θ1) variiert ψ uber den ganzen Winkelbereich; derKreisel rotiert um die x3–Achse. c/b < λ/b < −1.

i(3−)ψ =

2l

π

b+ λ√(b+ c)(λ− b)

Π(n(3)− , k

(3)− ) (5.37)

Wenn l→√θ3 , geht λ→ c und i

(3−)ψ → l.

69

Die Integrale sind nicht alle verschieden. Berucksichtigt man jeweils die Permutationender θi in den Konstanten λ, b, c, n, k, so findet man

i(2+)ψ = i

(3+)ψ und i

(2−)ψ = i

(1−)ψ . (5.38)

Außerdem gilti

(1±)ψ + i

(3±)ψ = l . (5.39)

Aus i(1)ψ fur den Fall θ1 < θ2 < θ3 lassen sich hiernach beim kraftefreien Kreisel die iψ

bestimmen, die man unter Permutation der Hauptachsen erhalt.

5.2 Die Wirkung iϑ

Wie im Fall des symmetrischen kraftefreien Kreisels ist die Dynamik nicht wesentlichabhangig von der relativen Lage des Drehimpulsvektors zum raumfesten x, y, z–System.Die Periode der ϑ–Bewegung ist streng mit der Periode der ϕ–Bewegung gekoppelt: dasWindungsverhaltnis Wϑϕ ≡ ωϕ/ωϑ = −∂iϑ/∂iϕ|iψ ist entweder Null oder Eins, je nach-dem, ob der Winkel ϕ nur oszilliert (und daher auf dem Torus keinen Umlauf macht) oderrotiert (und damit wie ϑ einmal umlauft). Entsprechend sind zwei verschiedene Resultatefur iϑ herzuleiten; eines, das bei hohen Werten von |iϕ| gultig ist (mit Wϑϕ = 1), und einanderes fur kleine Werte von |iϕ| (mit Wϑϕ = 0, d. h. iϑ = const). Die beiden Ergebnissesind dann stetig zusammenzuflicken.

Das iϑ fur den Bereich hoher Werte von |iϕ| erhalten wir allein aus der Drehimpulsglei-chung (5.12), wenn wir den Weg γ = α bzw. lψ = lϕ definieren. Auflosung nach lϑ = l cos βgibt dann namlich

cos2 β = 1− cos2 α

cos2(ϑ/2), (5.40)

so dass das Integral iϑ elementar angebbar ist:

iϑ =l

∮cos β dϑ = l (1− cosα) = l − iϕ . (5.41)

(Das Integral∮lψ dψ , das gemaß Gl. (5.13) noch zu berucksichtigen ist, tragt in diesem

Bereich wegen lψ = const und∮dψ = 0 nichts zur Wirkung bei.)

Das Resultat (5.41) entspricht der Erwartung Wϑϕ = 1 fur rotierendes ϕ. Als nachstesist fur oszillierende ϕ der Wert des iϕ–unabhangigen iϑ zu bestimmen. Dies geschieht ameinfachsten fur den Fall lϕ = 0 bzw. α = π/2. Die Drehimpulsgleichung (5.12) gibt danncos γ = ± sinϑ sin β. Setzen wir dies in die Energiegleichung (5.11) ein und losen nachlϑ = l cos β auf, so haben wir den durch l und lz = lϕ = 0 gegebenen Torus in der Formlϑ = lϑ(ϑ, ψ) beschrieben. Es gilt nun, um diesen Torus einen geschlossenen Weg derartzu legen, dass das entsprechende Wirkungsintegral die Eigenschaften hat, die wir von iϑerwarten.

70

Als Kandidaten bieten sich an die durch ψ = 0 und ψ = π/2 definierten Wege Cϑ,0bzw. Cϑ,π/2 . Es kostet keine Muhe nachzurechnen, dass die entsprechenden Wirkungeniϑ,0 bzw. iϑ,π/2 Integrale von ahnlicher Gestalt wie (5.15) sind:

iϑ,0 =l

∮Cϑ,0

√√√√√ 1l2− 1

2

(1θ3

+ 1θ2

)+ 1

2

(1θ3− 1

θ2

)cos 2ϑ

1θ1− 1

2

(1θ3

+ 1θ2

)+ 1

2

(1θ3− 1

θ2

)cos 2ϑ

dϑ , (5.42)

iϑ,π/2 =l

∮Cϑ,π/2

√√√√√ 1l2− 1

2

(1θ3

+ 1θ1

)+ 1

2

(1θ3− 1

θ1

)cos 2ϑ

1θ2− 1

2

(1θ3

+ 1θ1

)+ 1

2

(1θ3− 1

θ1

)cos 2ϑ

dϑ . (5.43)

Gegenuber iψ ist also bei iϑ,0 lediglich θ1 mit θ3 vertauscht, und bei iϑ,π/2 ist dannzusatzlich noch θ1 mit θ2 vertauscht.

Die Auswertung geschieht nach demselben Schema wie im Falle von iψ oben. Es lassen

sich fur die drei Falle (i) – (iii) ganz analog die Wirkungen i(1±)ϑ , i

(2±)ϑ und i

(3±)ϑ berechnen.

Man stellt folgendes fest.Auch fur iϑ reicht es im Falle des kraftefreien Kreisels aus, die Anordnung θ1 < θ2 < θ3

der Tragheitsmomente zu betrachten; die anderen lassen sich darauf zuruckfuhren. Es gilt

i(2+)ϑ = i

(3+)ϑ und i

(2−)ϑ = i

(1−)ϑ (5.44)

sowiei

(1±)ϑ + i

(3±)ϑ = l . (5.45)

Schließlich muss es sich als ausreichend erweisen, die Integrale i(1±)ψ zu kennen, denn

aus den drei unabhangigen Wirkungen iϕ, l und iψ ist jede andere als Linearkombinationmit ganzen Koeffizienten zusammensetzbar. Tatsachlich entnimmt man einem Vergleichder Gln. (5.15) und (5.43), dass

i(1±)ψ = i

(3±)ϑ . (5.46)

Aus (5.45) und (5.46) folgt aber

i(1±)ϑ = l − i

(1±)ψ (5.47)

und Analoges gilt fur i(2±)ϑ und i

(3±)ϑ .

Mit den Gleichungen (5.41) und (5.47) haben wir die gewunschten Resultate fur iϑ.Im Bereich großer iϕ gilt iϑ = l − iϕ, bei kleinen iϕ ist iϑ = l − iψ. Der stetige Ubergangfindet wie beim symmetrischen Kreisel uber der Linie iϕ = iψ statt.

71

5.3 Die Energieflachen

Es steht nun alles bereit, was fur die Darstellung der Energieflachen h(iϕ, iψ, iϑ) = 1benotigt wird. Wir werden jeweils nur das Viertel im Oktanten positiver Wirkungen zei-gen (die Wirkung iϑ ist definitionsgemaß immer positiv, wahrend die beiden anderen jenach Umlaufsinn der Rotationen positiv oder negativ sein konnen). Beim Aufbau der imfolgenden gezeigten Bilder wahlen wir den Drehimpuls l und seine z–Komponente lz = lϕals Parameter, wobei die Grenzen fur l durch θmin < l2 < θmax gegeben sind und lz imBereich 0 < lz < l variiert. Die drei Wirkungen ergeben sich nach folgenden Regeln:

1. iϕ = lz.

2. iψ = iψ(l, lz) gemaß den Formeln des Abschnitts 5.1.

3. Bestimme iϑ als den kleineren der beiden Werte iϑ = l− iϕ (Gl. 5.41) und iϑ = l− iψ(Gl. 5.47).

Wie im Fall des symmetrischen kraftefreien Kreisels ergibt sich dabei in der Energieflacheeine Kante uber der Linie iϕ = iψ. Zusatzlich gibt es noch eine Separatrix langs der Linieiψ = const, auf der das Drehimpulsquadrat l2 gleich dem mittleren Tragheitsmoment ist.Und es entsteht eine neue Kante uber der Linie iψ = 0. Darin druckt sich die Tatsache aus,dass die Frequenz der ψ–Rotation nicht nur das Vorzeichen wechselt, sondern — andersals im symmetrischen Fall — bei iψ = 0 endlich bleibt.

Die Serie der Abbildungen 29 zeigt drei Energieflachen vom Typ (i) (θ1 < θ2 < θ3).Die Flache a) (θ1 = 0.55, θ2 = 0.60, θ3 = 1.00) liegt recht nahe beim Fall eines flachensymmetrischen Kreisels mit der x3–Achse als Symmetrieachse. Die Flache b) zeigt denFall θ1 = 0.50, θ2 = 0.75, θ3 = 1.00. Die Separatrix ist als Schatten deutlich zu erkennen;die Steigung der Flache divergiert dort, da die Frequenz der ϑ–Bewegung logarithmischverschwindet. Die Flache c) nahert sich mit θ1 = 0.45, θ2 = 0.95, θ3 = 1.00 dem Fall eineslanggestreckten symmetrischen Kreisels, wobei allerdings nicht die x3–Achse, sondern diex1–Achse Symmetrieachse wird.

Abb. 29 (Folgende Seite) Drei Energieflachen mit θ1 < θ2 < θ3. Nach vorne linksist iϕ aufgetragen, nach rechts iψ und nach oben iϑ.a) (θ1, θ2, θ3) = (0.55, 0.60, 1.00)b) (θ1, θ2, θ3) = (0.50, 0.75, 1.00)c) (θ1, θ2, θ3) = (0.45, 0.95, 1.00)

72

73

Abb. 30 Schema der relativen Stellungen von z–Achse, Drehimpuls ~L und Krei-selkorper im Bereich positiver Werte von iϕ (Abszisse) und iψ (Ordinate). AlsAnordnung der Tragheitsmomente ist angenommen θ1 < θ2 < θ3. Die raumfeste z–Achse weist uberall senkrecht nach oben, die ebenfalls raumfeste ~L–Richtung wirdjeweils durch den Pfeil angezeigt.

Zur Interpretation der Punkte auf den Energieflachen der Abb. 29 dient das Schemader Abb. 30. Es ist ahnlich zu lesen wie Abb. 7 fur den symmetrischen Kreisel, nurwird diesmal statt der Kegel der Figurenachse eine momentane Lage des asymmetrischenKreiselkorpers zusammen mit der Drehrichtung angegeben. Die Abbildung zeigt einigeausgezeichnete Situationen im Hauptquadranten der iϕ, iψ–Ebene. In jedem Fall weist die

z–Achse senkrecht nach oben; der Pfeil zeigt die Richtung des Drehimpulses ~Lan. Die x3–Richtung erkennt man als Achse des großten Tragheitsmoments. Im Teilbild oben rechtsrotiert der Kreisel so, dass ~L , z– und x3–Richtung ubereinstimmen; dann ist naturlichl = iϕ = iψ =

√θ3 maximal und iϑ = 0. Am rechten Rand des Schemas zeigt ~L stets in

z–Richtung, wahrend die x3–Achse sich i. a. dagegen neigt; es ist l = iϕ und iϑ = 0 (derWinkel ϑ ist aber zeitlich nicht konstant!). Der linke Rand der Figur zeigt Situationen, in

denen ~L senkrecht auf der z–Achse steht, so dass iϕ = 0; der Gesamtdrehimpuls l teiltsich in die Anteile iψ (= l im Teilbild oben links) und iϑ (= l im Teilbild unten links).

Als nachstes zeigen die Bilder der Abb. 32 drei Energieflachen vom Typ (iii) (θ3 <θ1 < θ2). Bis auf Permutation der θi sind alle Parameter dieselben wie in Abb. 29. Beider Flache c) ist diesmal die x3–Achse naherungsweise eine Symmetrieachse, so dass eineAhnlichkeit mit dem unteren Teil von Bild 6 erkennbar wird.

74

75

Abb. 31 Schema der relativen Stellungen von z–Achse, Drehimpuls ~L und Krei-selkorper wie in Abb. 30, aber mit veranderter Anordnung der Tragheitsmomente:θ3 < θ1 < θ2.

Der Permutation der Tragheitsmomente gegenuber der Situation (i) entspricht dasgegenuber Abb. 30 veranderte Schema 31. Zwischen den Punkten der Energieflachen vonAbb. 29 und 32 besteht offenbar eine 1:1–Beziehung; die bloße Umbenennung der Haupt-tragheitsachsen darf naturlich keinen Einfluss auf die Physik des Systems haben, die sichwesentlich in den Energieflachen widerspiegelt. Allerdings sind die Energieflachen derAbb. 29 und 32 inaquivalent im Hinblick auf außere Krafte oder Aufhangungen, denensie im Sinne der Storungstheorie mehr oder weniger gut “angepasst” sind.

Abb. 32 (Vorige Seite) Drei Energieflachen mit θ3 < θ1 < θ2. Die Achsen sinddieselben wie in Abb. 29.a) (θ1, θ2, θ3) = (0.60, 1.00, 0.55)b) (θ1, θ2, θ3) = (0.75, 1.00, 0.50)c) (θ1, θ2, θ3) = (0.95, 1.00, 0.45)

76

Zum Schluss werden anhand der Bilderserie der Abb. 33 noch drei Energieflachen vomTyp (ii) (θ2 < θ3 < θ1) gezeigt. Die erwahnte Unstetigkeit bei l =

√θ3 erfordert hier

das Zusammensetzen der Energieflachen aus zwei Teilen, die jeweils in leicht erkennbarerWeise identisch sind mit entsprechenden Teilen der Flachen in Abb. 29 und Abb. 32. EinSchema nach Art der Abb. 30 und 31 erubrigt sich daher.

Abb. 33 (Folgende Seite) Drei Energieflachen mit θ2 < θ3 < θ1. Die Achsen sinddieselben wie in Abb. 29; jede Energieflache besteht aus den zwei Stucken rechts(kleine Drehimpulse) und links (große Drehimpulse).a) (θ1, θ2, θ3) = (1.00, 0.55, 0.60)b) (θ1, θ2, θ3) = (1.00, 0.50, 0.75)c) (θ1, θ2, θ3) = (1.00, 0.45, 0.95)

77

78

A Drehimpuls und Eulersche Winkel

Seien (Vx, Vy, Vz) die Komponenten eines Vektors ~V im raumfesten (x, y, z)–Koordinaten-system und (V1, V2, V3) die Komponenten desselben Vektors im korperfesten (x1, x2, x3)–System. Dann gilt (Hintereinanderausfuhrung einer ϕ–Drehung um die z–Achse, einerϑ–Drehung um die aktuelle x–Richtung und einer ψ–Drehung um die x3–Achse)

V1

V2

V3

=

D11 D12 D13

D21 D22 D23

D31 D32 D33

Vx

Vy

Vz

=: D

Vx

Vy

Vz

(A.1)

mit

(Dij) =

cosϕ cosψ − sinϕ sinψ cosϑ sinϕ cosψ + cosϕ sinψ cosϑ sinψ sinϑ

− cosϕ sinψ − sinϕ cosψ cosϑ − sinϕ sinψ + cosϕ cosψ cosϑ cosψ sinϑ

sinϕ sinϑ − cosϕ sinϑ cosϑ

(A.2)

Da dieses eine orthogonale Transformation ist, Dij = D−1ji , lasst sich die Umkehrung

ohne weiteres angeben:Vx

Vy

Vz

=

D11 D21 D31

D12 D22 D32

D13 D23 D33

V1

V2

V3

= Dt

V1

V2

V3

(A.3)

Diese Transformationsgleichungen gelten insbesondere fur den Drehimpuls ~L und fur dieWinkelgeschwindigkeit ~Ω . Letztere ist ein axialer Vektor, den man z. B. aus der zeitlichenAnderung der Matrix Dij erhalt:

Dt = Dt

0 −Ω3 Ω2

Ω3 0 −Ω1

−Ω2 Ω1 0

= DtΩ (A.4)

mit Ω1

Ω2

Ω3

=

sinψ sinϑ cosψ 0

cosψ sinϑ − sinψ 0

cosϑ 0 1

ϕ

ϑ

ψ

. (A.5)

Fur die zeitliche Anderung eines Vektors ~V gilt daher

D

Vx

Vy

Vz

= Ω

V1

V2

V3

+

V1

V2

V3

. (A.6)

Daraus folgt mit Hilfe von Gl. (A.3)

79

Ωx

Ωy

Ωz

=

0 cosϕ sinϕ sinϑ

0 sinϕ − cosϕ sinϑ

1 0 cosϑ

ϕ

ϑ

ψ

. (A.7)

Die Umkehrungen sind

sinϑ

ϕ

ϑ

ψ

=

sinψ cosψ 0

sinϑ cosψ − sinϑ sinψ 0

− cosϑ sinψ − cosϑ cosψ sinϑ

Ω1

Ω2

Ω3

=

− cosϑ sinϕ cosϑ cosϕ sinϑ

sinϑ cosϕ sinϑ sinϕ 0

sinϕ − cosϕ 0

Ωx

Ωy

Ωz

.

(A.8)

Betrachte nun zuerst den Fall des Kreisels ohne Aufhangung, d. h.

L =1

2Θ1 Ω 2

1 +1

2Θ2 Ω 2

2 +1

2Θ3 Ω 2

3 . (A.9)

Der Zusammenhang der Drehimpulskomponenten L1, L2, L3 bzw. Lx, Ly, Lz mit den Lϕ,Lϑ, Lψ lasst sich dann mit Hilfe von

Li =∂L

∂Ωi

= Θi Ωi (i = 1, 2, 3) (A.10)

und

Lϕ =∂L

∂ϕ=∑i

Li∂Ωi

∂ϕ(A.11)

(sowie analogen Gleichungen fur Lϑ und Lψ) herstellen:Lϕ

=

sinϑ sinψ sinϑ cosψ cosϑ

cosψ − sinψ 0

0 0 1

L1

L2

L3

=

0 0 1

cosϕ sinϕ 0

sinϑ sinϕ − sinϑ cosϕ cosϑ

Lx

Ly

Lz

.

(A.12)

Wir erkennen hier, dass allgemein Lϑ = 0 ist, wenn der Drehimpuls in Richtung derkorperfesten x3–Achse oder in Richtung der raumfesten z–Achse steht.

Die Umkehrungen dieses Zusammenhangs sind die Gleichungen

sinϑ

L1

L2

L3

=

sinψ cosψ sinϑ − sinψ cosϑ

cosψ − sinψ sinϑ − cosψ cosϑ

0 0 sinϑ

(A.13)

80

und

sinϑ

Lx

Ly

Lz

=

− sinϕ cosϑ cosϕ sinϑ sinϕ

cosϕ cosϑ sinϕ sinϑ − cosϕ

sinϑ 0 0

(A.14)

Als besonders einfach — und naturlich ohne weiteres einzusehen — stellen sich die Bezie-hungen L3 = Lψ und Lz = Lϕ heraus. Außerdem gilt noch allgemein

L 2x + L 2

y = L 2ϑ +

(Lϕ cosϑ− Lψ)2

sin2 ϑ. (A.15)

Der durch die Gl. (A.11) etc. gegebene Zusammenhang der Drehimpulskomponenten mitden Winkelgeschwindigkeiten lautetLϕ

=

(Θ1 sin2 ψ + Θ2 cos2 ψ) sin2 ϑ+ Θ3 cos2 ϑ (Θ1 −Θ2) sinϑ sinψ cosψ Θ3 cosϑ

(Θ1 −Θ2) sinϑ sinψ cosψ Θ1 cos2 ψ + Θ2 sin2 ψ 0

Θ3 cosϑ 0 Θ3

ϕ

ϑ

ψ

(A.16)

Fur die Umkehrung benutzen wir die Abkurzungen

m11 :=sin2 ψ

Θ1+

cos2 ψΘ2

m12 := (1

Θ1− 1

Θ2) sinϑ sinψ cosψ

m22 :=sin2 ψ

Θ2+

cos2 ψΘ1

(A.17)

und erhalten

sin2 ϑ

ϕ

ϑ

ψ

=

m11 m12 −m11 cosϑ

m12 m22 sin2 ϑ −m12 cosϑ

−m11 cosϑ −m12 cosϑsin2 ϑ

Θ3+m11 cos2 ϑ

=: M

.

(A.18)

Fur den symmetrischen Kreisel Θ1 = Θ2 reduziert sich dies aufLϕ

=

Θ1 sin2 ϑ+ Θ3 cos2 ϑ 0 Θ3 cosϑ

0 Θ1 0

Θ3 cosϑ 0 Θ3

ϕ

ϑ

ψ

(A.19)

und

81

M =

1

Θ10 −cosϑ

Θ1

0sin2 ϑ

Θ10

−cosϑΘ1

0sin2 ϑ

Θ3+

cos2 ϑΘ1

(A.20)

Es gilt dann die einfache Beziehung Lϑ = Θ1 ϑ.Nimmt man die Bewegung des kardanischen Rahmens mit hinzu, s. Gl.(1.9), so andert

sich außer den Werten von Θ1 und Θ2 nur der Drehimpuls Lϕ, der einen zusatzlichenEintrag ΘR im Element ∂Lϕ/∂ϕ der Matrix ∂(Lϕ, Lϑ, Lψ)/∂(ϕ, ϑ, ψ) von (A.16) erhalt.Anstelle von (A.18) erhalten wir so

(sin2 ϑ+m11ΘR)

ϕ

ϑ

ψ

= (M + MR)

(A.21)

mit

MR =

0 0 0

0ΘR

Θ1Θ20

0 0ΘR

Θ3m11

.

(A.22)

82

B Berechnung einiger Integrale

Die Bestimmung der Wirkungsvariablen und der entsprechenden Perioden der Kreiselbe-wegung fuhrt immer wieder auf Integrale eines bestimmten Typs. Es werde daher hier dieAuswertung dieser Integrale vorgefuhrt.

B.1 Der kraftefreie symmetrische Kreisel

Zu berechnen ist ein Integral der Form

I =1

∫ z2

z1

dz

1− z2

√−Az2 + 2Bz + C (A > 0) , (B.1)

wobei z1 und z2 die reellen Nullstellen des Radikanden seien, −1 ≤ z1 ≤ z2 ≤ 1. Die Aus-wertung erfolgt am einfachsten mit Hilfe des Residuensatzes [2]. Dazu lege man zunachstden Verzweigungsschnitt der Quadratwurzelfunktion auf das reelle Intervall z1 ≤ z ≤ z2

und definiere die Wurzel als positiv (negativ) fur z + iε (z− iε), z1 < z < z2. Sie ist dannpositiv imaginar (negativ imaginar) auf dem reellen Halbstrahl z < z1 (z > z2).

Der Integrationsweg des Integrals (B.1) verlauft am oberen Rand des Verzweigungs-schnitts. Indem wir ihn durch Rucklauf am unteren Rand zu einem geschlossenen Wegerganzen, erhalten wir (s. Abb. 34)

I =1

π

∮C

dz

1− z2

√−Az2 + 2Bz + C ; (B.2)

der Weg C umschließt den Verzweigungsschnitt im mathematisch negativen Sinne. DerCauchysche Integralsatz erlaubt uns nun, ihn derart zu deformieren, dass er sich um diedrei Pole des Integranden bei +1, −1 und ∞ schmiegt.

83

Abb. 34 Der Integrationsweg C des Integrals (B.2) verlauft um den Verzweigungs-schnitt zwischen den Punkten z1 und z2 herum. Er lasst sich mit Hilfe des Cauchy-schen Integralsatzes in den Weg C ′ deformieren, der schließlich nur an den drei Polenbei +1, −1 und ∞ einen Beitrag liefert. (Der Punkt ∞ liegt etwas symbolisch amrechten Rand der reellen Achse, die hier wegen der Geometrie der Riemann-Kugelals Kreis zu verstehen ist.)

Ubrig bleibt schließlich die Summe der drei Residuen,

I = 2i (Res+1 +Res−1 +Res∞) , (B.3)

wobei das Residuum bei +1 den Wert

Res+1 = −1

2

√−A+ 2B + C =

i

2

√A− 2B − C (B.4)

hat, da die Wurzel dort als negativ imaginar definiert ist; bei −1 hat es den Wert

Res−1 =1

2

√−A− 2B + C =

i

2

√A+ 2B − C , (B.5)

da die Wurzel dort positiv imaginar ist. Das Residuum bei ∞ erhalt man durch Substi-tution z → w = 1/z und Entwicklung um w = 0:

Res∞ =√−A = −i

√A . (B.6)

Das Ergebnis ist daher

I = 2√A−

√A− 2B − C −

√A+ 2B − C . (B.7)

84

B.2 Spharisches Pendel und Lagrange–Kreisel

Es sind drei Integrale auszuwerten:

T =1

2

∮dz√f(z)

(B.8)

I =1

∮ √f(z)

dz

1− z2(B.9)

W =1

∮dz

(1− z2)√f(z)

. (B.10)

Dabei ist die Funktion f(z) das Polynom dritten Grades

f(z) = const (z − z1)(z − z2)(z − z3) (B.11)

mit Nullstellen in der Anordnung −1 ≤ z1 ≤ z2 ≤ 1 ≤ z3. Wir nehmen an, dass dieseNullstellen bekannt oder numerisch bestimmbar sind. Der Integrationsweg in den dreiIntegralen umschließt die beiden Nullstellen z1 und z2.

Im ersten Schritt nehmen wir eine moglichst einfache Transformation der Variablen zvor, so dass die Verzweigungspunkte der Funktion f(z) auf die Standard-Verzweigungs-punkte der elliptischen Integrale gelegt werden:

z 7→ w =z − a

b− kz, (B.12)

so dass

z1 7→ −1 (B.13)

z2 7→ +1 (B.14)

z3 7→ 1/k (B.15)

∞ 7→ −1/k (automatisch erfullt) . (B.16)

Die Forderungen (B.13)–(B.15) legen die Parameter a, b, k der Transformation fest. Wirerhalten zunachst aus (B.13) und (B.14)

2a = (1 + k)z2 + (1− k)z1 , 2b = (1 + k)z2 − (1− k)z1 . (B.17)

Einsetzen in die Forderung (B.15) ergibt dann

k = z −√z2 − 1 , z =

2z3 − z1 − z2

z2 − z1

; (B.18)

das Vorzeichen der Wurzel wurde negativ gewahlt, damit 0 ≤ k ≤ 1 erfullt ist. Wie sichzeigen wird, spielt k die Rolle eines Moduls elliptischer Integrale.

85

Nachdem die Transformation z 7→ w nun definiert ist, setzen wir sie in die Integrale(B.8)–(B.10) ein. Wir finden fur die einzelnen Teile

dz =b− ak

(1 + kw)2dw (B.19)

f(z) = f(a)(1− w2)(1− k2w2)

(1 + kw)4(B.20)

1− z2 = (b2 − k2)(w − w−)(w+ − w)

(1 + kw)2, (B.21)

wobei w− und w+ die Bilder von −1 und +1 sind:

w− = − 1 + a

b+ k, w+ =

1− a

b− k. (B.22)

.Das Integral (B.8) ist damit unmittelbar auf das vollstandige elliptische Integral erster

Gattung reduziert:

T =(b− ak)√f(a)

∫ 1

−1

dw√(1− w2)(1− k2w2)

=2(b− ak)√

f(a)K(k) .

(B.23)

Das Wirkungsintegral (B.9) ist etwas schwieriger. Wir erhalten zunachst

I =1

π

√f(a)

b− ak

b2 − k2

∫ 1

−1

1− kw

(1 + kw)(w − w−)(w+ − w)

√1− w2

1− k2w2dw (B.24)

und vereinfachen das Problem durch Partialbruchzerlegung im Integranden:

1− kw

(1 + kw)(w − w−)(w+ − w)=

A

1 + kw+

B

w − w−+

C

w+ − w. (B.25)

Die Konstanten A,B,C sind

B = k(z3 + 1)b2 − k2

(b− ak)2, C = k(z3 − 1)

b2 − k2

(b− ak)2, A = k(C −B) . (B.26)

Damit wird das Integral (B.24)

I =1

π

√f(a)

k

b− ak

∫ 1

−1

(−2k

1 + kw+

z3 + 1

w − w−+

z3 − 1

w+ − w

) √1− w2

1− k2w2dw . (B.27)

86

Schließlich tragt nur der gerade Anteil des Integranden zum Resultat bei; wir konnen alsoersetzen

1

1 + kw→ 1

1− k2w2(B.28)

1

w − w−→ w−

w2 − w2−

(B.29)

1

w+ − w→ w+

w2+ − w2

(B.30)

und erhalten drei Integrale, die sich auf die vollstandigen elliptischen Integrale K,E undΠ zuruckfuhren lassen:

I =1

π

√f(a)

k

b− ak(I1 + I2 + I3) (B.31)

mit

I1 = −2k

∫ 1

−1

1− w2

1− k2w2

dw√(1− w2)(1− k2w2)

(B.32)

I2 = −w−(z3 + 1)

∫ 1

−1

1− w2

w2− − w2

dw√(1− w2)(1− k2w2)

(B.33)

I3 = w+(z3 − 1)

∫ 1

−1

1− w2

w2+ − w2

dw√(1− w2)(1− k2w2)

(B.34)

Bei der Auswertung des ersten Integrals (B.32) benutzen wir

1− w2 =1− k2w2 − (1− k2)

k2

und erhalten

I1 = − 4

k(K(k)− E(k)) , (B.35)

wobei E(k) das vollstandige elliptische Integral zweiter Gattung ist. Im Integral (B.33)zerlegen wir

1− w2

w2− − w2

= 1 +1− w2

w2−(1− w2/w2

−)

und erhalten

I2 = −2w−(z3 + 1)

(K(k) +

1− w2−

w2−

Π(− 1

w2−, k)

), (B.36)

wobei nun mit Π(k) auch das vollstandige elliptische Integral dritter Gattung auftritt.Das Integral (B.34) wird ganz analog behandelt und fuhrt auf

I3 = 2w+(z3 − 1)

(K(k) +

1− w2+

w2+

Π(− 1

w2+

, k)

). (B.37)

87

Die Zusammenfassung dieser Integrale ergibt das Resultat

I =1

π

√f(a)

b− ak

(4E(k)− 2

(b− ak)2

b2 − k2K(k)

− 2k(z3 + 1)1− w2

w−Π(− 1

w2−, k)

+ 2k(z3 − 1)1− w2

+

w+

Π(− 1

w2+

, k)

).

(B.38)

Zum Schluss berechnen wir noch das Integral (B.10). Einsetzen der Transformations-formeln (B.19)–(B.21) ergibt zunachst

W =1

π

b− ak

(b2 − k2)√f(a)

∫ 1

−1

(1 + kw)2

(w − w−)(w+ − w)

dw√(1− w2)(1− k2w2)

(B.39)

Wieder machen wir eine Partialbruchzerlegung

(1 + kw)2

(w − w−)(w+ − w)= −k2 +

b2 − k2

2(b− ak)

((1 + kw−)2

w − w−+

(1 + kw+)2

w+ − w

)(B.40)

und nehmen den geraden Anteil des Integranden. Das Resultat ist wiederum eine Summedreier Integrale:

W =1

π

1√f(a)

(− 2

(b− ak) k2

b2 − k2K(k)

− (1 + kw−)2

w−Π(− 1

w2−, k)

+(1 + kw+)2

w+

Π(− 1

w2+

, k)

).

(B.41)

Da fur die elliptischen Integrale gute numerische Algorithmen existieren, sind dieseErgebnisse von großem praktischem Nutzen.

88

Literatur

[1] F. Klein, A. Sommerfeld (1910) Uber die Theorie des Kreisels in vier Heften, Teubner,Leipzig

[2] M. Born (1925) Vorlesungen uber Atommechanik, Springer, Berlin

[3] L. D. Landau, E. M. Lifschitz (1964) Mechanik — Lehrbuch der Theoretischen Physik,Bd. I, Akademie–Verlag, Berlin

[4] R. Grammel (1950) Der Kreisel — Seine Theorie und seine Anwendungen Springer,Berlin

[5] K. Magnus (1971) Kreisel. Theorie und Anwendungen Springer, Berlin

[6] K. Magnus (1965) Der Kreisel — Eine Einfuhrung in die Lehre vom Kreisel mitAnleitung zur Durchfuhrung von Versuchen, Industrie–Druck, Gottingen

[7] S. L. Ziglin (1982) Branching of solutions and non–existence of first integrals inHamiltonian mechanics I, II , Functional Anal. Appl. 16, 181, 17, 6

[8] I. S. Gradshteyn, I. M. Ryzhik (1965) Table of Integrals, Series, and Products, Aca-demic Press, New York

[9] H. Bruns (1885) Uber die Rotation eines starren Korpers, Ber. Verh. konigl. sachs.Ges. Wiss. Leipzig 37, 55

[10] P. S. Epstein (1919) Bemerkungen zur Frage der Quantelung des Kreisels, Physikal.Z. 20, 289

[11] R. Sigl (1977) Ebene und spharische Trigonometrie, Wichmann, Karlsruhe

89