Die Wahrheit über Eishockey (Leseprobe)

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Frank Bröker Die Wahrheit über Eishockey Der härteste, schnellste und kälteste Sport der Welt Verlag Andreas Reiffer, April 2015 ISBN 978-3.945715-99-4 www.verlag-reiffer.de

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Dienstag, 17. Februar 2015 16:31:05

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Frank Bröker

Die Wahrheit über

EishockeyDer härteste, schnellste

und kälteste Sport der Welt

Leseprobe

reifferEdition The Punchliner

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Frank BrökerDie Wahrheit über EishockeyDer härteste, schnellste und kälteste Sport der Welt

Umschlaggestaltung: Karsten Weyershausen (unter Verwendung eines Fotos von Andrii IURLOV)Satz/Layout: Andreas ReifferLektorat: Lektorat-Lupenrein.de

1. Auflage, 2015© Verlag Andreas Reiffer, 2015

Druck und Weiterverabeitung: CPI books, Leck

ISBN 978-3-945715-99-4

Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meinewww.verlag-reiffer.dewww.facebook.com/verlagreiffer

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»Es ist nicht der Name auf dem Stanley Cup. Es ist nicht der Ring. Irgendwo auf der Straße, nächste Woche, nächstes Jahr,

in 20 Jahren wird jemand auf dich schauen und dir sagen: Du bist ein Gewinner. Das ist es.«

Kirk Muller, 1993

»Ich dachte immer, der Stanley Cup sei so verdammt schwer.

Als ich ihn in Händen hielt, konnte ich es kaum glauben. Er war leicht wie eine Feder.«

Henri Richard, 1973

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Inhalt

Eishockey ist ...

... ein Mythos ................................................... 5

... Religion ........................................................ 16

... Familie ........................................................... 49

... Tradition ....................................................... 60

... Statistik ......................................................... 69

... gefährlich ..................................................... 88

... legendär ..................................................... 107

... eine Frage des Geldes ............................ 125

... eine Börse ................................................ 144

... Ruhm und Ehre ..................................... 155

... 1000 Liebeslieder wert ........................ 166

Glossar .......................................................... 172Literaturverzeichnis ................................... 180Autorenvita .................................................. 182

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Nirgendwo wird der Aberglaube so sehr gepflegt wie im Eishockey Ein Leben lang dieselbe Unterhose an

Während nach einem außergewöhnlichen Sieg, einem spekta-kulären Game Winner in einem bereits als verloren geglaub-ten Match der Jubel grenzenlos ist, kriecht in deutschen Are-nen mancherorts die Mannschaftsraupe auf Knien übers Eis. Das Maskottchen vorne weg. Die von den Fans eingeforderte »Uffta« steht als ganz große Oper im Raum, und die Spieler fra-gen sich vielleicht: »War das alles jetzt die Gunst des Schicksals? Fiel Glück vom Himmel?« Im trüben Schein der Niederlage verschwanden zuvor die Geschlagenen mit hängenden Köpfen vom Eis. In ihnen arbeitet sich konträres Gedankengut ab.

Der Puck meinte es heute nicht gut und verkniff sich jeden lucky bounce. Es stellt sich die zermürbende Frage: »Wie kann man Glück, diesen Schmetterlingseffekt, künftig erzwingen?« Möglich ist es. Doch wer Glücksmomente erhaschen will, muss sie herbeitrainieren und zieht dafür manch außergewöhnliches Brauchtum zu Rate. Auf Talismane, das Vereinswappentier im Haar, das Schnüren von Schlittschuhen in Untergröße wird ge-nauso gesetzt wie auf das Tragen immer derselben, erst nach der Saison zu waschenden Shorts. Einer der beliebtesten Schmäh-gesänge ist vermutlich auf dieses Ritual zurückzuführen. Singen die Fans: »Ein Leben lang dieselbe Unterhose an«, wollen sie den Gegner an ihrem peinlichsten Punkt, ihrem ganz speziellen Ritual treffen.

Das Anflehen himmlischen Beistands, eine bestimmte Art des Torjubels sind unter den Glücksjägern auf Kufen nur die offensichtlichsten Eigenheiten. Bereits vor Beginn der Entry Drafts haben schon die NHL-Prospects Auskunft darüber zu erteilen, was im Zustand höchster Testosteronausschüttung nach dem Scoren alles möglich ist. So erfuhr man im Juni 2014, dass der Oilers-Pick Leon »The German Gretzky« Draisaitl, auf Position 3 der bis dahin bestplatzierte Deutsche aller Zei-

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ten, »Hände zum Himmel« präferiert. »Feiern mit den Jungs« oder »Arme hoch«, wie von anderen Youngsters bevorzugt, scheinen nicht das Ding vom Sohn des Ex-Nationalspielers Peter Draisaitl zu sein. Islanders-Pick Michael Dal Colle setzte noch einen drauf und versprach: »Erst aufpumpen, dann gegen das Plexiglas springen.«

Der Hang zu Glaube und Aberglaube ist ungebrochen. Eis-hockeyspieler sind in der Lage, magisch zu denken und zu han-deln. Sie lieben und sie leben ihre Neurosen. Dazu muss man wissen, dass die meisten Cracks »hochsensibel wie alte Weiber sind«, wie der einzige DDR-Hall of Famer Joachim Ziesche einmal bemerkte. Wer meint, in einer Arena bodenständigen, kalkulierbaren Menschen bei der Arbeit zusehen zu dürfen, weiß gar nichts oder hat sich in der Fankurve nie gefragt, warum hektisches Treiben auf der Spielerbank ausbricht, wenn der Puck dort einschlägt. Schnell weg damit. Hurtig wird die Scheibe ins Publikum geworfen. Mit einem derart verdorbenen Ding wei-terspielen zu müssen, bringt großes Unheil.

Es sind oft die verborgenen Dinge, all die kleinen, feinen Sperenzien, die erst nach dem Karriereende publik werden. Bereits auf dem Weg zum Spiel fängt es an. Der Bus überquert Zugschienen? Vorher die Füße hochheben, danach die Scheibe berühren. Mutter ruft an? Kann nicht rangehen. Sonst droht Verletzungsgefahr. Reporter gratuliert zum 100. Einsatz in Fol-ge? Nicht drauf eingehen, schlechtes Omen! Vorm Aufwärmen im Stadion muss zuerst wahlweise die linke oder rechte Kufe die Eisfläche berühren, darf eine bestimmte Linie nicht überfahren werden. Knorrige Tormänner wie Patrick Roy perfektionierten diesen Brauch und schritten, mit Walkman-Sound im Ohr, ge-konnt über sie hinweg. Einer der Gegenspieler wird ins Visier genommen, aus der Ferne verwünscht, verflucht und später im gepflegten Trash Talk angezählt. Alles nette Gesten, doch es geht noch eindrucksvoller. Zum Matchplan gehören Kabinen-rituale dazu. Kleines Beispiel gefällig? Nachdem die Rangers in den 2014er-Meister-Play-offs bereits mit 0:3 in der Serie zurück-lagen, hatte Henrik Lundqvist vorm vierten Spiel eine Idee. In

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der Kabine der Broadway Blueshirts befestigte der Tormann ein Puzzleteil des Stanley Cups. Ansporn und gewaltiger Auf-trieb genug, um den Gegner, die LA Kings, am Ende tatsächlich mit 2:1 aus dem Madison Square Garden zu schicken. Auswärts, im nächsten Spiel, musste man sich nach großem Kampf in der zweiten Overtime geschlagen geben. Alec Martinez nutzte ei-nen Rebound, und der vor seinem Kasten kauernde Lundqvist musste erkennen, dass die Puzzlelei nur im eigenen Hafen funk-tioniert hatte. Vielleicht verloren die Rangers noch aus einem anderen Grund, vielleicht lag es an der zu nachlässigen Spieltag-vorbereitung. Hier ist jeder Einzelne selbst gefragt. In den »Pre-game Rituals« bleiben keine Wünsche offen. Wer auf diesem Gebiet ohne originelle Idee ist, wird sein Glück nicht finden und braucht mit dem Eishockey gar nicht erst anzufangen.

Die Pregame Show Vorspiele unter hochsensiblen Betschwestern

Wayne Gretzkys Trainingsritual war so legendär wie die heiligen Coaching-Krawatten eines Scotty Bowman. Erst eine Cola light, dann ein Glas Eiswasser, ein Gatorade und noch eine Cola light. Genau in dieser Abfolge. Aber erst, nachdem er die Spielfläche be-treten hatte und einen Schuss rechts am Tor vorbeisenste. Offen-sichtlicher war sein ganz persönliches Markenzeichen. Den Swea-ter steckte er sich vor jedem Match rechts in den Hosenbund. Am Heim-Spieltag ging er noch schnell zum Frisör. Stéphane Quin-tal sprach 16 lange NHL-Saisons kein Wort mit niemandem ab 13:30 Uhr. Ob Center Joe Nieuwendyk auch nach seinem Karri-ereende 2006 den Hang zu Schokocreme und Babypuder pflegt, kann nur gemutmaßt werden. Zu aktiven Zeiten setzte »Joey« mit dem Verzehr von stets zwei Nutella-Toasts Umkleide-Maßstä-be. Seinen Schläger machte er mit Babypuder passfit.

Mirko Lüdemann legt in strenger Sorgfalt zuerst den rechten Schoner, dann den linken, den rechten Schlittschuh, dann den

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linken an. NHL-Verteidiger Sergei Gontschar starrt mit einem Becher Kaffee in Händen minutenlang auf eine Uhr, um exakt vier Minuten vor Beginn des Warm-ups die Ausrüstung anzu-legen. Erst dann ist der Russe mit der Welt im Reinen. Center Daniel Brière hält vorm Anpfiff mit jedem seiner drei auserko-renen Schläger Zwiesprache, wünscht ihnen Glück und trägt sie nach Spielschluss zum Ausruhen in die Sänfte. Stan Mikita lief in seiner trophäenreichen Zeit zwischen 1959 und 1980 stets mit einer Zigarette im Mundwinkel vom Kabinentrakt gen Eis-fläche und warf die Kippe erst nach Verlassen des Spielertunnels über die linke Schulter. Nino Niederreiter fährt vor Matchbe-ginn zur Bande, platziert dort die Handschuhe und legt seinen Helm ab. Dann wird dem Schweizer Linksflügel eine wasserge-füllte Trinkflasche zwecks Kopfdusche gereicht. Zuletzt tauft er das Gesicht damit, trocknet sich in stoischer Ruhe ab, und das Spiel kann beginnen. Nicht auszudenken, was passieren wür-de, wenn »Mr. Pregame« Karl Alzner sich beim Abspielen der kanadischen Nationalhymne verzählen würde. Genau 88 Mal tippt der Defender mit seinem Schläger aufs Eis und zeichnet darauf ein schönes Ahornblatt nach. Stefan Ustorf lief bei den Eisbären erst dann ohne Lampenfieber auf, wenn Berlins Urge-stein Hartmut Nickel ihm auf das Schlägerblatt gespuckt hatte. Center Bruce Gardiner tauchte seine Kelle Mitte der 90er-Jahre vor wichtigen Spielen tief ins Klo hinein und setzte sich erst da-nach auf die Bank.

Ein Richtungsfluss nach Masterplan darf beim Stocktapen nicht fehlen. Als Colby Armstrong und Sidney Crosby zwischen 2005 und 2007 gemeinsam für Pittsburgh spielten, stieß ersterer einmal an einen von »Sid The Kid« präparieren Schläger. Wie von der Tarantel gestochen ging Crosby auf seinen Mitspieler los. Die Kameraden schlichteten, der Schläger wurde komplett neu getaped. Dafür musste erst einmal Material aus der Gastgeberkabi-ne besorgt werden. Eigenes wird selbstredend nur im heimischen Wells Fargo Center verwendet. Man kann Crosbys Wutausbruch verstehen. Rituale sollen ja Glück bringen, Glück ist jedoch eine zarte Pflanze, und die muss stets beschützt werden.

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In vielen Mannschaften betritt immer derselbe Spieler zuerst das frischgemachte Eis. Meist jener, der zuletzt, unter den ver-zweifelten Rufen des Stadionsprechers: »Bitte die Eisfläche ver-lassen«, noch beim Aufwärmen auf dem zerkratzten Oval stand. Zum Beispiel Claude Lemieux, der den Stanley Cup mit gleich drei verschiedenen Teams gewinnen konnte. 1987 spielte er für die Canadiens und stand im Conference-Finale Philadelphia ge-genüber. Es hieß: Matchball für die Flyers beim Stand von 3:2. Die Zamboni lief bereits, das Gros der Spieler verschwand in den Katakomben. Lemieux skatete wie immer zurück aufs Feld und schickte sich an, den Puck ein letztes Mal quer ins gegneri-sche Tor zu schießen. Doch plötzlich stand Goalie Glenn Resch, etatmäßiger Backup der Flyers, im Weg. »Chico« hatte etwas dagegen. Heute sollte es keinen letzten Zauber geben. Ed Ho-spodar skatete herbei, sprang Lemieux an und kämpfte ihn zu Boden. Da der smarte Stürmer sich nie großartig zu wehren ver-mochte, steckte er auch diesmal solange Prügel ein, bis Shayne Corson das Federfliegen beendete und somit die volle Aufmerk-samkeit von »Boxcar« Hospodar erlangte. Schon füllte sich das Eis, hatten sich die schlagkräftigsten Vasallen am Wickel. Chris Nilan nahm es als Krönung der Kämpfe mit Flyers-Schwerge-wicht Dave Brown auf. Der berühmte »Warm-up Brawl« von 1987 nahm seinen Lauf. Angepfiffen wurde 20 Minuten später als geplant, Philadelphia gewann knapp und zog ins Endspiel ein. Strafen gab es im Nachgang: 25.000 Dollar für beide Teams, Hospodar wurde von der Liga für den Rest der Play-offs suspen-diert.

Die Helden der Torlinie Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Goalies sind die Könige unter den Hexerei-Meistern und fah-ren auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten immer im größten Karus-sell. Goalies sind verrückte Strategen mit dem Durchblick aufs

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große Ganze. Wie sie so dastehen, in gepanzerter Montur, mal hockend, mal aufrecht auf den schwarzen Kobold fokussiert, er-innern sie an Italo-Western-Szenen mit Klaus Kinski. Jederzeit bereit, sich in die Schlacht zu werfen. Konzentriert und furcht-los, als gelte es, Pistolengeschosse zu entschärfen. Niemand verkörpert Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Genie und Wahnsinn, so sehr wie der Tormann. Er besetzt die Position mit der größten Brisanz, alle im Team wissen um seine Bedeutung. Der letzte Mann tickt ganz anders als seine feldspielenden Mitstreiter. Be-sonders in schwächeren Teams muss er über sich hinauswachsen und Spiele ganz allein entscheiden. In Unterzahl avancieren die Nestoren der Torlinie regelmäßig zum wichtigsten Eiskämpfer, zum Beutekönig eines King of Swag. In einem Moment strahlt ihre Gattung Sicherheit, Verlässlichkeit, Kühle und Cleverness aus. Im nächsten kann diese Ich-AG völlig ausrasten, zerdeppert in Ron-Hextall-Manier die Kelle, verteilt Helmnüsse an über-mütige Gegner, oder versucht sie mit dem Stecken zu verhau-en. Billy Smith, Islanders-Goalie der goldenen 80er-Generation und einer der ersten Hooligans zwischen den Stangen, übertrieb es in dieser Disziplin deutlich. In Spiel 2 des Cup-Finales 1983 kam nicht einmal der in seinem Büro lauernde Wayne Gretzky ungeschoren davon. »Battlin‘ Billy« zog ihm einfach den Schlä-ger zwischen die Beine, »His Greatness« sank zu Boden, ein heftiger Tumult folgte.

Sind dem Goalie die Abstimmungsschwächen seiner Vorder-leute zuwider, werden gegnerische Blender nicht pronto aus dem Weg geräumt, kann er zum grilligen Agitator werden, der sich die Mitspieler gehörig zur Brust nimmt. Manchmal reicht ihm auch das nicht. Dann stürmen wütende Strafpunktesammler in voller Rüstung übers gesamte Feld, weil mit dem Agent Provokateur im gegnerischen Hafen noch eine Rechnung offen ist. Wechselt ihn der Coach aus, liegt sein Stolz zertreten auf dem Boden der Tatsachen. Bereits bei einem Gegentreffer kann für das Raubein die Welt zusammenbrechen. Besonders, wenn ein dummes Tor fiel, die Scheibe von der Bande gegen den Schoner prallte und im Netz einschlug, hat er sich selbst nicht mehr lieb. Genauso,

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wenn die Fanghand ihren Dienst versagte, oder der Puck vom Hosenpolster wie ein selbstgelegtes Ei über die Linie fiel.

Selten dämlich sieht ein Tormann in solchen Situationen aus. Er kennt die alte Regel: Der gefährlichste und gemeinste Gegner eines Goalies ist immer er selbst. Und es kommt noch schlim-mer. Das feindliche Fanlager stimmt den »Fliegenfänger« an und setzt noch einen drauf: »Du ganz alleine, du bist schuld.« Der tapfere Hüter der Stangen liegt wie Fallobst im Netz. Die Kameraden trösten ihn, klopfen ihm mit dem Schläger gegen den Schoner. Denn alle wissen in so einer kritischen Situation: ihr Goaltender leidet jetzt Höllenqualen. Er rappelt sich auf, wendet sich zum Tor, greift aufs Netz. Er gönnt sich Kühlung, verleibt sich Wasser aus der Trinkflasche ein. Dann dreht er sich wieder um, sieht, wie am Mittelpunkt der Bully vorbereitet wird, nimmt Haltung ein, fixiert einen dunklen Punkt in der Halle. Er trauert, als hätte ihm jemand das von der Oma geschenkte Feuerwehrauto geklaut. Es fühlt sich für ihn an, als sei er, der große Akrobat, eben vom Seil gefallen und ohne doppelten Bo-den mitten in der Manege gelandet. Doch wenige Augenblicke später ist die Welt wieder in Ordnung. Dann wächst er wieder mit präziser Hand-Auge-Koordination über sich hinaus und mutiert zum Sternenfänger. Als Puck Stopper lässt er keinen Bauerntrick, kein Garbage Goal zu und eifert vielleicht Reto Berra nach, dem 2011 ein sensationeller Fallrückzieher-Safe im Flames-Dress gelang.

Damit die Richtung zur Siegesstraße stimmt, werden Goalies in jeder Gemengelage hofiert, sitzen immer vorne im Bus und stehen als erste am Buffet. Jede Abwehr schützt sie, jeder Spieler verteidigt seinen Schlussmann mit Haut und Haaren. Kantige Verteidiger übernehmen tief im Slot die Lufthoheit, werfen sich für ihren Goalie ins Gefecht. Man küsst ihre Helme nach einem sagenhaften Big Save. Soll dem Tormann wenige Sekunden vor Spielschluss der Shutout, die Krone, der Tag ohne Gegentor, verwehrt werden, wirft sich der nächstbeste Mitspieler für ihn in die Schusslinie. Ehrensache! Egal, wie schmerzhaft das ist. Auch abseits des Eises gönnt man diesen Teufelskatzen, Paradiesvögeln

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und Eigenbrötlern alle nur erdenklichen Vorzüge. Selbst wenn sie sich den Knöchel brechen, weil sie grollend gegen eine Wand traten, wie es Josh Harding von den Minnesota Wild in der Sai-sonvorbereitung 2014/15 erging, wird man die Aufräumer vom Dienst weiterhin lieben. Witze sollte man nur heimlich über sie reißen. Bei den Cartoonisten stehen sie aber ganz oben, wenn etwa ein alter, beleibter und betrunkener Mann aus der Kneipe torkelt und über dem Strichwerk geschrieben steht: »Schau an, ein alter Goalie.«

Sehr spezielle Goalie-Rituale Die mit den Torstangen sprechen

Vor jedem Drittel wird der Torraum nach einem bestimmten Muster bearbeitet. Jeder Handgriff, jede Bewegung sitzt, wenn die Schlittschuhe die Eisfläche stumpf kratzen. Patrick Roy sah es in seiner NHL-Zeit bis 2003 als schlechtes Omen, darunter auch nur einen Zentimeter Schnee ins Netz zu bugsieren. Hoch-konzentriert schaffte er die Kristalle aus dem Gefahrenbereich. Auf der Kelle prangten die Namen seiner Kinder, die er vor je-dem Spiel neu aufs Holz schrieb. Nach Siegen gegen New Yorker Teams nahm »Saint Patrick« triumphierend die Pose der Frei-heitsstatue ein. Als im Jahr 2005 Roman Čechmánek ins Tor der Hamburg Freezers einzog, kündigte die Morgenpost den 88er-Olympia-Backup Dominik Hašeks als »total verrückten Goa-lie« an. Zurückliegende NHL-Leistungen wurden mit »mal genial, mal total daneben« beschrieben. Bei seinen gefürchteten Ausflügen ging nicht jeder Plan auf. Bis heute unvergessen: In einem Spiel gegen Ottawa fuhr er recht frühzeitig aus dem Tor. Er dachte, das Match sei bereits gelaufen. Weit gefehlt – Ottawa siegte mit einem Empty Netter. Schüsse von der Blauen Linie waren für den Zweimetermann kein Problem. Čechmánek lieb-te es, die Scheibe frontal mit der Maske abzuwehren. Manches Spiel wurde so ein ums andere Mal unterbrochen, und »The

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Roman Empire« freute sich auf den von Applaus begleiteten Unterbruch.

Jocelyn Thibault, bis 2008 in Buffalo aktiv, kühlte seinen Schädel exakt sechseinhalb Minuten vor jedem Match mit kal-tem Wasser. Goalie Dustin Strahlmeier berichtete vor seinem Einstieg in die DEL, dass lange vor Spielbeginn sämtliche Gegen-stände seiner Umgebung ganz gerade liegen müssten. Sebastian Vogls Gepflogenheiten bestehen darin, im 1. Drittel einmal, im 2. Drittel zweimal und im 3. Drittel dreimal an die Kabinentür zu pochen. Pelle Lindbergh, 1985 als erster Europäer zum besten NHL-Torhüter gewählt, schwor in Philadelphia auf »Pripps«, ein schwedisches Bier. Angerichtet mit zwei Eiswürfeln, serviert ausschließlich durch die rechte Hand eines Coaches, und zwar in jeder Drittelpause. Zu seinen Marotten gesellte sich das immer gleiche orange Shirt eines schwedischen Sportartikelherstellers unterm Kit hinzu. Drohte es auseinanderzufallen, musste umge-hend Nähzeug besorgt werden. Gewaschen wurde es wohl erst nach Lindberghs tragischem Promilletod im Porsche. Auf der Rückfahrt von einer Mannschaftsfeier am 10.11.1985 krachte der 27-Jährige, gerade erst mit einem neuen Sechsjahresvertrag ausgestattet, gegen eine Mauer.

Eine sprichwörtliche Mauer im Kopf hatte Glenn Hall in seinen Jahren bei den Chicago Blackhawks zwischen 1957 und 1967. »Mr. Goalie« war derart nervös, dass er sich vor jedem Spiel und in den meisten Pausen übergeben musste. Sprechen wir in diesem Fall ruhig von einem unfreiwilligen Ritual. Er hasste es, vor seinem Tor zu hocken, brauchte aber das Geld für seine Oase, eine Ranch in Alberta. Das Geheimnis, wie es ihm dennoch gelang, zwischenzeitlich in 551 aufeinanderfolgenden Spielen mit dem Hartgummi kurzen Prozess zu machen, wird er mit ins Grab nehmen. Jacques Plante, im verblichenen Goalies‘ World Magazine zum Torhüter des vergangenen Jahrtausends gekürt, galt ungefähr zur selben Zeit nicht nur als fleißiger Cup- und Trophy-Sammler der Canadiens, sondern vor allem als kau-ziger Zeremonienmeister. Die gelungene Vorbereitung auf einen Spieltag war bei »Jake the Snake« der Schlüssel zum Erfolg.

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Als es für ihn einmal auf dem Eis nicht gut lief, beklagte er sich bei Coach Toe Blake über die Unterkunft im »Royal York« zu Montreal. Die Räume dieses mit allen Annehmlichkeiten geseg-neten Hotels würden sein Asthma fördern. Blake hatte Verständ-nis, Plante zog in ein anderes Etablissement. Wieder erwischte er einen gebrauchten Tag. Blake stellte ihn zur Rede. Die Antwort verschlug ihm die Sprache. Im neuen Hotel würde er andauernd vom »Royal York« träumen. Irgendwann riss der Geduldsfa-den des Coaches; Plante wurde 1963 in einem Tauschgeschäft zu den Rangers abgeschoben. Im Retourpaket befand sich u.a. Lorne »Gump« Worsley. Als der Prototyp des lustigen Dicken im Tor, mit dem jeder Mannschaftsabend nur ausarten kann, zu Beginn seiner Karriere im Big Apple einmal gefragt wurde, wel-ches Team ihm am meisten Probleme bescheren würde, nannte er sein eigenes.

Braden Holtby liebt im Warm Up das Pantomimenspiel und entschärft fiktive Schüsse aus dem Kreis, der Mitte, von den Banden. Danach gibt es einen Schluck aus der Flasche, fertig ist das als »Holtbyism« benannte Ritual. Jonathan Quick veraus-gabt sich im Scratching bei einer Mischung aus Yoga und Pilates, Henrik Lundqvist pocht mit seinem Stock vor jedem Drittel ge-gen die nächste Wand. Einmal vor dem 1., zweimal vor dem 2., dreimal vor dem 3. Keineswegs wird in den Unterbrechungen der Overtime damit aufgehört. Weil die Play-offs schon mal in die x-te Verlängerung gehen können, eine auf Dauer recht zeitin-tensive Herausforderung – zumal nach kurzer Werbepause rasch wieder angepfiffen wird. Ron Hextall ging nicht nur deshalb als Koryphäe in die Annalen ein, weil er für Philadelphia in der Sai-son 1987/88 den ersten Treffer eines NHL-Goalies überhaupt erzielte; er galt zudem als Vorreiter der perfekten Torbegrüßung. Bis zum Karriereende 1999 touchierte »Hexy« das Gestänge liebevoll mit dem Stock in einer bestimmten Abfolge. Die Kunst, im Anschluss mit dem Gefängnis, wie Glenn Hall seinen Arbeits-platz nannte, zu sprechen, floss ebenfalls ins Repertoire ein. Lat-te und Pfosten erwiesen sich dabei als geduldige Konversations-partner. Fand auch später Patrick »Monsieur Le Gardien« Roy,

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bis heute ausführlichster Stangen-Flüsterer. Insgesamt ein weit verbreitetes Ritual, zu dem sich bereits die maskenlosen Männer der ersten Stunde bekannten. Über Montreals Georges Vézina weiß man bis heute nicht genau, wie viele Kinder er zeugte, sei-nem Tor wird er aber ganz sicher die Wahrheit verraten haben. Harte Jungs wie Marc-Andre Fleruy, zu dessen »Fleruyism« vor entscheidenden Begegnungen gerne eine gespielte Schlägerei ge-hört, traten das Flüstererbe an. Ein paar warme Worte hat sich der Pfosten schließlich verdient, wenn ausgerechnet er es war, dem eine Rettungstat gelang. Im Anschluss wird anerkennend ans Metall geklopft.

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Frank Bröker: geboren 1969 in Meppen, seit 2002 in Leipzig beheimatet. Autor, Redakteur und Herausgeber (u.a. verschwIndien, Eishockey, Eishockey in Deutschland, Bibliothek der Pratajev-Gesell-schaft Leipzig e.V.), schnellster Erlenholzgitarrist der Welt bei »The Russian Doctors«. Bröker ist Fan der Icefighters Leipzig und schreibt für www.facebook.com/dersiebtemann.

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