Die Zeit 2014 09

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    Bist dumein Kind?Zwei Mtter undihre vertauschtenBabys Dossier, Seite 15

    69.JAHRGANG C 7451 C

    No9

    Dieser Mann muss grenwahn-sinnig sein, ein politischer Des-

    perado. Oder ist er vielleichtdoch ein Retter in der Not?Dazu ein politisches Ausnah-metalent? Das ist das Mindeste,

    was einem jetzt zu Matteo Renzi einfallen kann,und all das wird noch von jenem Unverstndnisberlagert, das schon seit Jahren jede politischeNachricht aus Italien verdunkelt.

    Wer ist dieser 39-Jhrige, der sich den radi-kalsten und schnellsten Wandel in der Ge-schichte der italienischen Demokratie vorge-nommen hat? Mal abgesehen davon, dass selbstItaliener diese Frage nur sehr unscharf beant-worten knnten: Sie erscheint angesichts derDramatik dieser age eher zweitrangig. Ange-messener ist die Frage, wie viel Verzweiflung imLande herrschen muss, dass ein fr italienischeVerhltnisse wie ein eenager wirkender Politi-ker innerhalb von wenigen Monaten erst seinePartei umkrempeln kann und sich dann dasganze Land vornimmt.

    Man muss sich die Khnheit seines Unter-fangens einmal vor Augen fhren: Da kipptdieser Matteo Renzi erst seinen ParteifreundEnrico Letta aus dem Amt, der mit viel gutem

    Willen und einigem Geschick einem schwam-migen Whlerauftrag gerecht zu werden ver-suchte und sich dabei gerade im Ausland vielVertrauen aufgebaut hatte. Das geschah Endevergangener Woche.

    Was Renzi mit Berlusconi verbindet und was die beiden trennt

    Am Montag bekam Renzi dann den Regierungs-auftrag durch den Staatsprsidenten, obwohleine stabile Mehrheit noch nicht in Sicht ist.Doch Matteo Renzi will nun innerhalb von einpaar agen ein Kabinett vorstellen, und dannsoll es Schlag auf Schlag gehen: Noch im Februardie Wahlrechtsreform, im Mrz die Arbeits-marktreform, im April die Verwaltungsreform,und im Mai soll das Steuersystem dran sein. Je-der, der Italien auch nur aus der Ferne kennt undwei, wie viele Jahrzehnte schon an jedem einzel-nen dieser Probleme herumgedoktert wird, trautseinen Ohren nicht. Und nach aller Erfahrungund Wahrscheinlichkeit kann das auch kein nor-males Land stemmen.

    Aber Italien ist kein normales Land. Undauch wenn das Vorhaben tatschlich nur einesehr geringe Chance auf Erfolg hat, so muss mannach zwanzig Jahren Politik im Banne Berlusco-nis festhalten: Italien ist wirtschaftlich, politischund kulturell dermaen verrottet, der Verdrussder Whler so unberechenbar gro, dass selbstdie kleinste Chance wie eine Verheiung wirkt.Das ist wohl der Grund, warum die meisten Ita-liener Renzi in diesen Wochen zustimmen. Erhat vielleicht wirklich keine Chance, aber diemuss er unbedingt nutzen.

    Wegen seines Charismas, seiner Vollmundig-keit und seiner Brutalitt wird Renzi immer

    wieder mit Berlusconi verglichen. Charismahaben sie beide, das stimmt, es wirkt leider so-wohl im Guten wie im Schlechten. Aber Renziist nicht in die Politik eingestiegen, um wieBerlusconi ein Wirtschaftsimperium zu retten.Und Berlusconi hat zwar systematisch auchnoch die letzten berreste von Gemeinsinn zer-strt, aber die politischen Grundbel im Grun-de nie ernsthaft bekmpft. Renzi ist dagegen einechter Systemvernderer. Berhmt geworden ister durch sein Diktum, man msse die alte Poli-tikerkaste in Italien verschrotten. Er htteauch das Wort vom Generationenwechsel wh-len knnen, den er anstrebe. Aber das sagen siein Italien alle. Seine Kampfansage wrde in je-dem anderen Land als antidemokratische Be-drohung wahrgenommen werden, doch ItaliensUnfhigkeit zur Vernderung und die Selbst-bezogenheit des Systems erfordern auch eineandere politische Rhetorik. Verglichen mit denpopulistischen nen aus der separatistischenLega Nord oder der Fnf-Sterne-Bewegung desKomikers Beppe Grillo, schlgt Matteo Renziimmer noch zivile ne an.

    In seinen ersten Monaten als Brgermeistervon Florenz hatte er, so schilderte er es in derZEITkurz vor seiner Wahl zum Chef des sozial-demokratischen Partito Democratico, ein politi-sches Schlsselerlebnis: Seit 45 Jahren schon dis-kutierte die Florentiner Stadtverwaltung bereine Fugngerzone in der Altstadt. Dann kamRenzi und sagte: In einem Monat gibt es sie.Keiner wollte mir glauben, sie hielten mich freinen ragazzo. Als sie merkten, das Jngelchenmeint es ernst, kam der Widerstand zu spt. Sohnlich stellt er sich wohl die Lsung der ganzgroen Probleme vor, die normalerweise schonan der ausufernden Brokratie scheitern msste.

    Aber Matteo Renzi, der sich das deutscheReformmodell zum Vorbild genommen hat,kalkuliert so: Jetzt stehe ich im Zenit meinerPopularitt, weit ber die Parteigrenzen hinaus.Die wirtschaftliche Lage knnte dsterer nichtsein. Also alles auf eine Karte setzen und sonstlieber verzichten!

    Mario Monti und Enrico Letta, seine beidenVorgnger, haben es redlich versucht, sind aberimmer wieder am System und wohl auch an denGrenzen ihres eigenen Mutes gescheitert. Da

    ihn noch keine eigene Mehrheit trgt, hat Renziden faustischen Pakt mit Berlusconi gesucht,um zumindest die Wahlrechtsreform auf den

    Weg zu bringen. Die Rehabilitierung dieses b-sen Geistes ist eigentlich schon eine odsnde aber nichts, gemessen an der Wut und Enttu-schung, die sich Bahn brechen wrde, solltenseine Vorhaben allesamt scheitern. Schon des-wegen kann man Matteo Renzi und vor allemseinem Land nur Glck wnschen.

    Wahnsinnig, na und?Der junge Reformer Matteo Renzi hat sich schier Unmglichesvorgenommen. Er kann nicht anders VON GIOVANNI DI LORENZO

    ITALIENS NEUER STARKER MANN

    ww w.zeit.de/audio

    Wer dieSchuld trgtDas doppelte Gesicht des SPD-PolitikersSebastian Edathy. Woher die Bilderkommen, die er sich besorgte.

    Und wer wem die Affre flstertePOLITIK SEITE 24

    Der Fall Edathy

    Titelbild:MartKlein&MiriamMig

    liazzifrDIEZEIT/www.dainz.net

    Noch kann niemand sagen, durchwie viele Etagen der Regierung

    und in welche Richtung sich daspolitische Gift fressen wird, dasder Fall Edathy freigesetzt hat.Viele Fragen sind offen. Zwei

    Fragen allerdings lassen sich beantworten: Bleibtetwas hngen an und in der groen Koalition?

    Ja, da wird wohl etwas hngen bleiben.Droht der Koalition ein vorzeitiges Ende?

    Nein, keiner der Beteiligten erwgt, eine Abkr-zung in ein neues Bndnis zu nehmen.

    Was folgt daraus? Fnf Monate sind seit derWahl vergangen, zwei seit der Regierungsbil-dung. Von der Kanzlerin hat man in dieser Zeitwenig gehrt und noch weniger gesehen, vomVizekanzler dafr umso mehr. Beim CDU- undCSU-eil der Regierung hat das zu dem Gefhlgefhrt: Wir haben zwar die Wahl gewonnen,aber wir kommen in der Regierung irgendwiegar nicht richtig vor.

    Nach dem Rcktritt des Agrar- und frherenInnenministers Hans-Peter Friedrich droht dieseMissstimmung in eine akute Neurose umzukip-pen: Wir kommen nicht nur nicht vor, jetztzahlen wir auch noch die Rechnung fr andere.Die Nerven sind deshalb bei der Union derzeitdnner als bei der SPD. So ist aus der Sinnkriseder CDU und dem Vakuum, das der Kanzlerinzuzuschreiben ist, ein Kompensationsbedrfnisentstanden und eine Debatte darber, ob derVorsitzende der SPD-Fraktion, homas Opper-mann, nun auch zurcktreten msse, ausBalancegrnden.

    Zum ersten Mal ist der Preis fr dieMethode Merkel fllig geworden

    Das ist der Grund, warum sich der Fall Edathyin einem solchen empo zu einer Regierungs-krise (keiner Staatskrise) ausgewachsen hat, diealle Beteiligten berrascht hat. Man knnteauch sagen: Zum ersten Mal ist ein Preis frMerkels prsidialen, entpolitisierten Regierungs-stil fllig geworden. Er lastet nun als Hypothekauf der Regierung.

    Vergleichsweise spt hat die Kanzlerin er-kannt, worin die Gefahr der bekannt geworde-nen Indiskretion des frheren InnenministersFriedrich lag: nicht darin, dass ein Minister einereben erst gebildeten Regierung schon wieder zu-

    rcktreten muss, sondern darin, dass der Ein-druck entsteht, es gebe parteipolitische Kumpa-nei zulasten des Rechtsstaats, bei der Unschulds-vermutung, Unabhngigkeit der Justiz undDienstgeheimnisse untergeordnete Bedeutunghaben. Dass Merkel zunchst dachte, Friedrichknne zu halten sein, offenbart ein bemerkens-wertes Instinktversagen der Kanzlerin.

    Bses Blut wollte Friedrich durch seine War-nung an den SPD-Vorsitzenden Gabriel vermei-den, nun hat sich der Vorgang zu einer Regie-rungssepsis ausgebreitet, einer Vergiftung des

    gesamten Organismus. Lngst berlagern dieFolgen der Krise ihre Ursachen, in der Koalition

    herrscht die Devise: Alles, was Sie von jetzt ansagen, kann und wird gegen Sie verwendet wer-den. Das gilt aus Unionssicht vor allem frVizekanzler Gabriel, dem Friedrich strikte Ver-traulichkeit abverlangt haben soll.

    Sie habe volles Vertrauen in ihren Vize, sagtMerkel. Das mag sogar stimmen, das Vertrauenendet allerdings bereits bei Merkels Schuhspit-zen. Pltzlich wird in der Union alles, was Ga-briel und die SPD seit Beginn der Regierunggetan haben, anders einsortiert. Dass Gabrielsich vor den Kabinettssitzungen nicht nur mitseinen Ministerkollegen, sondern auch mit dernordrhein-westflischen MinisterprsidentinHannelore Kraft abstimmt, wird zum vermeint-lichen Beleg fr Gabriels parteipolitischen Zu-gang zur Koalition. Dass eile der SPD bei derDebatte um die Pille danach die ablehnendeLinie des Gesundheitsministers nicht akzeptie-ren wollen, dient als Indiz dafr, dass die Sozial-demokraten das gemeinsame Regieren nochnicht verinnerlicht htten. Da wirkt es geradezufolgerichtig, wenn Volker Kauder, der Chef derUnionsfraktion, einen Untersuchungsausschussim Fall Edathy fordert.

    All das offenbart, was durch gemeinsame Ka-mingesprche und offensives Sich-gegenseitig-gut-Finden gerade erst berdeckt werden sollte:Bei der groen Koalition handelt es sich ebennicht um ein Bndnis von Partnern, sondernvon Konkurrenten.

    Nun muss man sich die persnliche Erscht-terung an der Spitze, bei Merkel, Seehofer undGabriel, ber die Indiskretionen jeweils nichtallzu schlimm vorstellen, alle sind Profi genug,um zu wissen: Vertrauen ist eine politische Res-source, es kommt darauf an, was man darausmacht. Aus den vielfachen Vertrauensbrchenim Zusammenhang mit der Causa Edathy, ausdem Vertrauensvotum Merkels fr Gabriel lsstsich einiges an Munition machen. Das ist es, washngen bleiben wird.

    Der Koalitionsvertrag werde auf Dauer ohne-hin keine groe Rolle spielen, weil das Machbareund das Planbare in der Politik immer seltener inbereinstimmung zu bringen seien, hatte es zuBeginn der Koalition geheien. Doch jede Ab-weichung braucht einen Vorschuss an Vertrauen.Der erste Vorschuss ist aufgezehrt. Fr die SPD

    ist die Koalition nach dieser Woche ein bisschenteurer, die groe Koalition insgesamt ist ein biss-chen kleiner geworden. Kleiner ist auch der Kor-ridor des Machbaren geworden, zeitlich, aberauch inhaltlich.

    Das Sinnloch der Union, das allerdings ist in-zwischen so gro, dass der Rcktritt eines aus-gewachsenen SPD-Fraktionschefs es nicht fllenknnte. Das kann nur die Kanzlerin selbst, durchbeherztes Vortreten.

    Was hngen bleibtAus den vielfachen Vertrauensbrchen in der Causa Edathy lsstsich einiges an politischer Munition herstellen VON TINA HILDEBRANDT

    ww w.zeit.de/audio

    STAATSKRISE ODER REGIERUNGSKRISE?

    DIE ZEITW O C H E N Z E I T U N G F R P O L I T I K W I R T S C H A F T W I S S E N U N D K U L T U R 20. FEBRUAR 2014 No 9

    Achtung, Friseur!In adschikistan hat sich ein Ge-fngnisdirektor von einem inhaf-tierten Friseur die Haare schneidenlassen, wobei dieser ihn mit derSchere erdolchte. Das erinnert an

    Johann Peter Hebels Anekdote, woein Mann dem Barbier gutes Geldverspricht, aber hinzufgt: Ichsteche dich tot, wenn du michschneidest! Der Barbier entgegnetam guten Ende: So oder so wre erschneller gewesen. Merke: Der Fri-seur ist immer der Strkere. GRN.

    PROMINENT IGNORIERT

    Auch ohneAugust starkDie besten SeitenDresdens mitund ohne BarockEin City Guide, Seite 61-64

    Liebeserklrungenan Mnchen

    Von der DesignerinAna Relvo, vonCharles Schumannund vielen mehrZEImagazin

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    20. FEBRUAR 2014 DIE ZEIT No922 POLITIK

    Zurck zur ProtestpolitikDer Vorsitzende der neuen indischen Alter-nativpartei AAP (ZEIT Nr. 7/14), ArvindKejriwal, ist Ende vergangener Woche alsRegierungschef der Hauptstadtregion Delhizurckgetreten. Er war im Regionalparlamentmit dem Versuch gescheitert, ein scharfes

    Antikorruptionsgesetz zu beschlieen, aufverfassungsrechtlich umstrittene Weise. Die

    AAP, die Partei der kleinen Leute, hatte erstim Dezember nach einem berraschenden

    Wahlerfolg die Regierung in Delhi bernom-men. Dass Kejriwal jetzt sein Amt aufgegebenhat, knnte ihm am Ende mehr ntzen alsschaden. In der Bevlkerung von Delhi ge-niet er nach seinem Rcktritt offenbar einenMrtyrerbonus und findet laut Umfragenstarke politische Untersttzung. Und bei denbevorstehenden nationalen indischen Parla-mentswahlen im Frhjahr wird die AAP ohnedie Last der Verantwortung fr eine Landes-regierung mehr systemkritischen Schwungentwickeln knnen. JR

    Starke FrauenDie Artikelserie Denn Du bist nur eine Frau(ZEITNr. 5/14) ist jetzt auch als E-Book er-schienen. Es umfasst die packenden Lebens-geschichten von zwlf Pionierinnen, darun-ter die Pilotin Marga von Etzdorf und dieKinderbuchautorin Enid Blyton. Das E-Book Starke Frauen: Zwlf Portrts von Vor-kmpferinnen fr unsere Zeit fr ablets, E-Reader und Smartphones erhalten Sie ab so-fort unter www.zeit.de/ebooks. DZ

    AusgezeichnetDie Jury der Society for News Design hat die ZEITunter die fnf Worlds Best-DesignedNewspapers gewhlt. Sie lobte das modulareLayout, die kreativen Illustrationen und dieelegante ypografie. Auerdem gelinge esdemZEITmagazinmit seinen Doppelcovern,Geschichten originell aufzubereiten. Schonim vergangenen Jahr hatte die ZEIT den re-nommierten Preis gewonnen. DZ

    ZEITSPIEGEL

    Auf Wiedersehen. Ichkomme wieder.Hans-Peter Friedrich,CSU-Politiker,am Ende seiner Rcktrittserklrung alsBundeslandwirtschaftsminister

    Das ist Leistungssport undkein Breitensport und

    wir reden nicht berNchstenliebe.Thomas de Maizire,Bundesinnenminister, berdas Ziel des Deutschen Olympischen Sportbunds,bei den Winterspielen 30 Medaillen zu gewinnen

    Einiges mssen wir nochlernen zum Beispieldie Organisierung vonMittagessen.Gregor Gysi,Linken-Fraktionschef, ber dielangen Schlangen an der Essensausgabe auf demEuropaparteitag

    Als ich 50 war, htte ichgesagt: Prsident ist nichtsfr mich, ich kenne meineGrenzen.Joachim G auck, Bundesprsident, 74 Jahre alt,

    vor Bundesfreiwilligendienstleistenden ber dieChancen, etwas Neues zu tun

    Lebe jeden ag, alswre es dein letzter.Enrico Letta, bisheriger MinisterprsidentItaliens, kurz vor seinem Rcktritt mit einemZitat des rmischen Philosophen Seneca

    Wir werden nicht in die Kniegehen.Juan Requ esen, Sprecher des Studentenprotestsin Venezuela, ber den Kampf gegenPrsident Nicols Maduro, den dieDemonstranten fr steigende Preise undWarenknappheit verant wortlich machen

    Ich habe zu meiner Muttergesagt, wenn ich diesen Preisnicht bekomme, komme ich

    nicht zurck.Fan Liao,chinesischer Schauspieler, ber seineAuszeichnung auf der Berl inale fr sei ne Rolle inBai Ri Yan Huo (Schwarze Kohle, dnnes Eis)als bester Darsteller

    WOR TE DE R W OC HE

    Es ist ein drastischer Satz, aber er ver-deutlicht sehr gut, auf welchemNiveau sich die groe Koalition

    jetzt bewegt. Mit der SPD kannman kein Scheihaus strmen,

    soll Angela Merkel gesagt haben, sowird es jedenfalls in der CDU-Spit-

    ze kolportiert. Auf die SPD sei kein Verlass, bedeu-tet dieser Satz. Den Sozialdemokratenknne man einfach nicht vertrauen.

    So luft das Spiel in Berlin jetzt, zuBeginn von Woche zwei in der AffreEdathy: Jeder ist erst einmal daraufbedacht, sich selbst zu schtzen.

    Da ist ein Bundestagsabgeordneter,der sich wohl legale Fotos vonnackten Minderjhrigen ber das In-ternet bestellte; bei dem man die Resteeiner zerstrten Festplatte fand; unddessen Dienstlaptop als gestohlen ge-meldet wurde.

    Da ist eine Staatsanwaltschaft, dielange brauchte, um berhaupt mitihren Ermittlungen zu beginnen; dannin einem offenbar unverschlossenen Brief an den Bundestagsprsidentendie Aufhebung der Immunitt desSPD-Abgeordneten Sebastian Edathybeantragte; und die in einer seltsamen

    Pressekonferenz am vergangenen Frei-tag ungewhnlich detailreich ber ihreErmittlungen informierte.

    Und da sind: ein Innenminister, dervom Verdacht gegen den Abgeordne-ten erfuhr, den Parteichef des Ab-geordneten informierte und damitwomglich das Dienstgeheimnis ver-letzte; ein Parteifunktionr, der denBKA-Chef ausfragen wollte und ihndamit zum Geheimnisverrat angestiftethaben knnte; eine Regierungschefin,die nach eigenen Worten erst aus derPresse von dem ganzen Schlamasselerfuhr und nun bemht ist, nicht ganzahnungslos auszusehen.

    Wer also hat sich was zuschuldenkommen lassen im Fall Edathy? Undwer wird welchen Preis bezahlenmssen?

    1. Wurde Edathy gewarnt?Das behauptet zumindest ein Partei-freund, der frhere SPD-Innenminis-ter von Niedersachsen, Heiner Bart-

    ling. Er habe von Edathy erfahren, dassdieser einen ipp bekommen habe,wonach die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegenihn einleiten knne, sagte Bartling in einem Inter-view mit dem NDR. Wer der Informant gewesensei? Das habe Edathy nicht verraten.

    atschlich liegt nahe, dass Edathy von den be-vorstehenden Ermittlungen gewusst hat. Zu groist der Kreis derjenigen, die die Verdchtigungengegen den Abgeordneten kannten: Neben BKA-Chef Jrg Ziercke sollen alle 16 Landeskriminal-mter und verschiedene Polizeidienststellen imBesitz einer Liste mit Verdchtigen gewesen sein,deren Namen im Zuge der Ermittlungen gegen ei-nen kanadischen Kinderporno-Ring aufgetauchtwaren. Nach Informationen der ZEIT sollen dieLandeskriminalmter allerdings nur die Namen derVerdchtigen aus dem jeweiligen Bundesland ge-kannt haben, im Falle Edathys war das Nieder-sachsen. Abgesehen davon, dass Sigmar Gabrielschon frh durch Friedrich von dem Verdacht er-

    fuhr, stammen sowohl er wie auch Fraktionschefhomas Oppermann und Auenminister Frank-

    Walter Steinmeier allesamt aus Niedersachsen.Edathy bestreitet, vorab informiert gewesen zu

    sein. Er habe erst vergangene Woche von den Er-

    mittlungen gegen sich erfahren. Allerdings habe erdurch Medienberichte von den Ermittlungen gegendie kanadische Firma gewusst , deren Kunde er war.

    Interessant ist auch die Frage, warum EdathysParteifreund Bartling gerade jetzt an die ffentlich-keit ging. Im Interview mit dem NDR sagte er, erhabe den Eindruck, dass Edathys Tippgeber wohlnicht zum politischen Umfeld gehr t. Versucht daein niederschsischer Sozialdemokrat, andere So-zialdemokraten zu schtzen?

    2. Hat Gabriel zu viel gequatscht?

    Als der knftige Vizekanzler von dem Verdachtgegen Edathy erfuhr, war ihm klar: Den Aufstieg desVerdchtigen in die Regierung konnte er allein ver-hindern aber nicht den in der Fraktion.

    Sicherlich htte Gabriel versuchen knnen, imGesprch mit dem damaligen Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier allgemeine Bedenken gegen Eda-thy zu uern. Zu einzelgngerisch, zu unbeliebt,zu arrogant, um Fraktionsvize oder Ausschuss-vorsitzender werden zu knnen. Doch das Ver-

    hltnis Gabriels zu Steinmeier ist weder so ver-trauensvoll noch so entspannt, als dass man sichgegenseitig vage Wnsche erfllt. Steinmeier httedarauf bestanden, selbst zu bestimmen, wer in derFraktion was wird. Gabriel blieb also nichts anderes

    brig, als den Fraktionsvorsitzenden sowie denFraktionsmanager Oppermann einzuweihen. Ga-briel hat gequatscht, aber er musste nach damali-

    gem Kenntnisstand quatschen, um Schaden vonseiner Partei fernzuhalten.

    Heute wei man: Das Quatschen hat denSchaden vergrert. Fr die SPD und die Regie-rung. Dass Gabriel Friedrichs Information nichtfr sich behielt darin sehen viele in der Unionden endgltigen Beweis, dass dem Vizekanzlernicht zu trauen sei.

    3. Muss Oppermann als Nchster gehen?

    Die Christsozialen empfinden es als eine himmel-schreiende Ungerechtigkeit, dass ihr Agrarministerfr die Fehler eines SPD-Abgeordneten ben muss-te. Sie fordern jetzt ein alttestamentarisches Prinzipein: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist diepolitische Gefahr fr Oppermann.

    In einer ffentlichen Erklrung gab der SPD-Fraktionschef an, er habe sich vom BKA-Prsiden-ten Jrg Ziercke den Verdacht gegen Edathy best-

    tigen lassen. Ziercke dementierte, Oppermannkorrigierte: Er habe in dem Gesprch den Ein-druck gewonnen, ein Ermittlungsverfahren gegenEdathy sei nicht ausgeschlossen. Wolfgang Kubicki,Rechtsanwalt und FDP-Talkshowgesicht, kndigte

    kurz darauf an, Oppermann wegen Anstiftung zumGeheimnisverrat anzuzeigen und Ziercke wegenGeheimnisverrats. Das ist die strafrechtliche Gefahr

    fr Oppermann.Ob Oppermann sich mit seinem An-

    ruf bei Ziercke korrekt verhalten hat,werden womglich noch Gerichte zuklren haben. Fest steht bereits: Seineuerung, Ziercke habe die Informationbesttigt, war ein grober Fehler.

    Als Medien vergangene Woche mel-deten, die SPD-Spitze wisse bereits seitOktober 2013 vom Verdacht gegen Eda-thy, machte Oppermann ffentlich, dassder damalige Innenminister Friedrichden SPD-Chef Gabriel ber den FallEdathy informiert habe. Seine Erklrungstimmte er mit Friedrich ab. Die CSU-

    Wut lindert das kaum. In Bayern hltman Oppermann fr einen eiskaltenPolitmanager, der den guten Menschenaus Oberfranken ausgenutzt habe, umihn zur Zielscheibe von Angriffen zumachen, die eigentlich der SPD gelten

    mssten. Im Sden nennen sie so washinterfotzig.Am Mittwoch dieser Woche (nach

    Redaktionsschluss) musste Oppermannvor dem Innenausschuss des Bundestagsantreten. Noch hlt die SPD zu ihm.Motto: Nicht schn, was dem Friedrichpassiert ist, tut uns auch leid, aber nichtunser Problem. Die SPD-Wagenburgschliet sich um Oppermann. Trotzdemgilt: Nur eine winzige weitere Ungenauig-keit, nur eine kleine Korrektur der bis-herigen Aussagen dann wird auch Op-permann gehen mssen.

    4. Wie scheinheilig ist die CSU?

    Bei allem Respekt fr Hans-Peter Fried-rich: Es ist wohl nicht so, dass seinRcktritt den eigenen Leuten ungelegenkam. Der frhere Innenminister undbisherige Landwirtschaftsminister warkein starker Mann im Bundeskabinett,keine unverzichtbare Kraft. Ein feinerKerl, ja. Aber eben auch jemand, dersich hervorragend als Bauernopfer eig-

    net, wenn ein solches opportun er-scheint. Dass er sich von Merkel und

    CSU-Chef Seehofer unter Druck gesetzt sah, hatFriedrich selbst eingerumt.

    In der von Unionsleuten verbreiteten Geschich-te, wonach Friedrich wegen der Indiskretion der SPDnicht mehr zu halten gewesen sein, steckt ein Fehler:Warum war es dann mglich, den Zurckgetretenensogleich zum neuen Fraktionsvize zu machen?

    So spricht einiges dafr, dass es Merkel vor allemdarum ging, den Fall Edathy weit weg von sich selbstzu halten und dass Seehofer nun aus der ganzenSache politisches Kapital schlagen will. Seit Beginnder groen Koalition fhlt sich die CSU benachtei-ligt. Die Partei steht vor wichtigen Kommunal-wahlen. In der CSU-typischen Mischung aus Min-derwertigkeitskomplex und Grenwahn bedeutetdas: Ein Erfolg muss her.

    Die SPD habe jetzt eine Bringschuld, sagenUnionsabgeordnete. Das ist nichts anderes als eineDrohung.

    Der Fall Edathy: Wer die Schuld trgt

    Der Stoff wrde jedem V-Produzenten bertrieben erscheinen: Ein SPD-Aufsteiger bestellt Nacktbildervon Kindern, daraufhinwackelt die Regierungskoalition.Jetzt geht es nicht nur um die Schuld vonSebastian Edathy(S. 3), sondern auch um die politischen Opfer(S. 2) und um die Porno-Industrie(S. 4)

    Um im vermaledeiten Fall des SebastianEdathy mit einer einfachen Frage an-zufangen: Durfte die StaatsanwaltschaftHannover gegen den ehemaligen SPD-

    Bundestagsabgeordneten ermitteln? Sie durfte,mehr noch: Sie musste.

    Es lag ein Anfangsverdacht vor, so nennendas die Juristen, und dazu bedarf es nicht viel. DasGesetz verlangt lediglich zureichende tatschliche

    Anhaltspunkte fr das Vorliegen einer verfolg-baren Straftat. Nach allem, was bislang bekanntist, soll sich Edathy ber Jahre hinweg Bilder vonnackten Jungen besorgt haben, Bilder, deren recht-liche Bewertung schwierig und strittig ist. Er sollsie von einer Firma bezogen haben, die auch harteKinderpornografie vertrieben hat. Er agierte da-bei, so sieht es jedenfalls nach Darstellung der Er-

    mittler aus, absichtsvoll konspirativ. Und es gibtkriminalistische Erfahrungen, die besagen, dassKonsumenten von eben noch legalem Material oftauch illegale Bilder und Filme kaufen. Das allesbedeutet nicht, dass Edathy sich tatschlich straf-bar gemacht hat. Aber es gengt, um Ermittlun-gen aufzunehmen. Es verpflichtet die Staats-anwaltschaft sogar dazu.

    Zu behaupten, die Aufnahme von Ermittlun-gen sei rechts- oder gar verfassungswidrig gewesen,ist absurd. Ermittlungsverfahren sind nicht nurdann zulssig, wenn am Ende eine Verurteilung

    steht. Im Gegenteil, das Gesetz verpflichtet dieStaatsanwaltschaften ausdrcklich dazu, alles zu-sammenzutragen, was sie finden knnen, sowohlbelastendes wie auch entlastendes Material. Unddie allermeisten Ermittlungsverfahren in Deutsch-land werden nach einer Weile wieder eingestellt.Das ist Normalitt in der Bundesrepublik. Nur istam Fall Edathy eben nichts normal.

    Heit das nun, dass die StaatsanwaltschaftHannover alles richtig gemacht hat? Gar nicht.Ziemlich viel scheint in diesem Verfahren schief-gelaufen zu sein. Edathys Anwalt erhebt schwersteVorwrfe, und selbst wenn das taktisch auf-gebauscht sein mag, Imponiergehabe fr die Me-dien, so strken die Berichte ber den erstaunlichlangen Weg eines Briefes, versumte Antrge,durchgestochene Informationen und Fotografen

    bei laufenden Ermittlungen nicht gerade das Zu-trauen in den Rechtsstaat. Welche Fehler genaugemacht wurden, was davon Inkompetenz war,was blder Zufall oder Pech und wer dafr jeweilsdie Verantwortung trgt, das vermag derzeit nie-mand zu sagen. Am Ende werden auch das nur dieGerichte klren knnen.

    Sicher ist hingegen, dass die StaatsanwaltschaftHannover, einmal in die Kritik geraten, eine f-fentlichkeitsarbeit betrieben hat, die ziemlich bei-spiellos ist. Und potenziell verheerend fr das Ver-fahren. Sie hat vor laufender Kamera Details aus

    den Ermittlungen ausgebreitet, die niemandenetwas angehen. Und sie hat damit den Vorwurfprovoziert, nicht unvoreingenommen zu sein.

    Was hinter dieser Informationsstrategie steht persnliche Eitelkeit, politischer Druck, das Be-drfnis, aus der medialen Defensive zu kommen ist einerlei. Jedes dieser Motive wre schdlich.

    Natrlich ist es naiv, zu glauben, eine Staats-anwaltschaft knnte sich den Gesetzen der Me-dienwelt entziehen und ihre Ermittlungsarbeit inklsterlicher Abgeschiedenheit vollbringen. Jeprominenter ein Beschuldigter, desto schwierigerist es, die Wahrheit ungestrt zu erforschen. Undgerade wenn Verteidiger massiv auftreten, entstehtDruck auf die Ermittler, sich ebenfalls zu erklren.Doch wenn sie das tun, mssen sie extrem zurck-haltend agieren. Die Bhne des Staatsanwalts ist

    der Gerichtssaal, nicht die Pressekonferenz. Ermuss das Gericht berzeugen, nicht das Publikum.Das ist ein Problem, das weit ber den Fall

    Edathy hinausweist. Es wird mehr und mehr einProblem fr den Rechtsstaat an sich.

    Ob im Vergewaltigungsprozess gegen den Wet-termoderator Jrg Kachelmann, ob im Korrup-tionsverfahren gegen den Ex-Prsidenten Christian

    Wulff, oder zuletzt bei den Steuerermittlungengegen Bayern-Boss Uli Hoene immer hufigerglichen spektakulre Strafsachen in der jngstenVergangenheit medialen Schlachten zwischen An-

    klage und Verteidigung. Schlachten, bei denennicht nur im Gerichtssaal um die Wahrheit gerun-gen wurde, sondern zugleich in den Medien umDeutungshoheit und Vor-Urteile. VertraulicheInformationen werden geleakt, Ermittlungsaktenzirkulieren, als stnden sie auf Facebook.

    Meist geht es in solchen Fllen um Prominen-te, um moralisch hoch aufgeladene Vorwrfe,und das mediale Interesse grenzt an Hysterie.Denkbar schlechte Voraussetzungen fr ein fai-res Strafverfahren.

    Denn bei laufenden Ermittlungen schadetffentlichkeit eher, als sie ntzt. Sie behindert dieNachforschungen. Sie setzt die Ermittler unterStress. Sie fhrt zu Fehlern. Und je aufgestachelterdas Interesse der ffentlichkeit, desto heftiger derStress, desto grber die Fehler. Viele amerikani-

    sche Prozess-Spektakel knnen da zur Abschre-ckung dienen.Mag sein, dass dabei aggressive Anwlte die

    Anklger vor sich hertreiben. Aber die sollten da-rauf mit Gelassenheit reagieren, jedenfalls nichtnach Waffengleichheit streben. Denn im Verhlt-nis zum Beschuldigten haben die Staatsanwlteungleich mehr Macht und Druckmittel, sie sinddie berlegenen. Sie haben alle Mglichkeiten,umfassend und ausgewogen zu ermitteln, gegenProminente genauso wie gegen Normalbrger. Siebrauchen nicht auch noch den Beifall der Medien.

    Auch mal die Klappe haltenDie Staatsanwaltschaft musste ermitteln, auch gegen einen Bundestagsabgeordneten. Aber nicht so VON HEINRICH WEFING

    Offene RechnungWer trgt welche Verantwortung in der Affre Edathy?

    Und wem kann sie noch gefhrlich werden?VON MARC BROST UND PETER DAUSEND

    Preisverhandlungen: Seehofer und Merkel warten im Kanzleramt auf Gabriel

    Foto:SeanGallup/GettyImages

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    20. FEBRUAR 2014 DIE ZEIT No9 POLITIK 3

    Nun also: Parteiausschluss.Die SPD will sich trennenvon ihrem Mitglied Sebas-tian Edathy, dessen Verhal-ten sie fassungslos macht.Selbst wenn er nichts Straf-bares getan habe, so Partei-

    chef Sigmar Gabriel, reiche das aus, was Edathyselbst zugegeben habe, um diesen Schnitt zumachen. Ein Abgeordneter, der sich im InternetFotos von nackten Kindern bestelle, habe imBundestag nichts verloren. Und auch nicht inder SPD.

    Edathy selbst hlt sich in Dnemark auf. Vondort uert er sich hin und wieder schriftlich undin trotzigem on. Ich finde es rechtsstaatlichbedenklich, einen Brger aufzufordern, ein lega-les Verhalten zu rechtfertigen, schreibt er zumBeispiel per SMS an dieZEIT.Es gibt ein Rechtauf Schutz der Privatsphre, dachte ich jeden-falls, so Edathy eine SMS spter. War wohl einIrrtum. Es reiche offenkundig, einen Namen

    mit diesem Stichwort ohne konkreten Vorwurf indie ffentlichkeit zu bringen, um fahrlssig eineExistenz zu vernichten. Seine, Edathys Existenz.

    Wirklich gut gekannt hat diese Existenz in derSPD keiner, und auch auerhalb kannten siewohl nur wenige. Edathy hatte sich Ansehen er-worben, weil er den parlamentarischen Unter-suchungsausschuss zur Mordserie des National-sozialistischen Untergrunds (NSU) ber zwei

    Jahre lang mit kalter Brillanz und beherrschterLeidenschaft fhrte. Der NSU-Ausschuss war einriumph des Parlamentarismus und SebastianEdathys Meisterstck. Mit einer Dringlichkeit,deren Grnde die ffentlichkeit jetzt erst erahnt,verfolgte er sein Ziel: Er wollte aller Welt zeigen,dass die deutsche Gesellschaft ein schmutzigesGeheimnis hat.

    In Edathys Augen war die deutsche Gesell-schaft durch und durch vom Rassismus zerfres-sen. Dass der zornige Aufklrer in Wirklichkeitselbst ein Maskentrger mit Doppelleben war,dass er seinerseits ein Geheimnis mit sich herum-schleppte, ahnte keiner. In der ffentlichkeit risser Polizeibeamten und Verfassungsschtzern im-mer aufs Neue die Maske vom Gesicht. Edathy

    lud sie vor und befragte sie auf eine Weise, dieAufsehen, teils auch Bewunderung erregte: akri-bisch, gnadenlos, mit finsterer Wut oder leisemSpott. Aha, ich verstehe, sagte er in vermeint-lich einfhlsamem on, als er einen bayerischenBeamten grillte. Sie haben also eine Dnerbudeeingerichtet in der Hoffnung, die ter knntendort eines ages auftauchen und Ihrem Lockvogeleine Kugel in den Kopf schieen.

    Was der NSU-Ausschuss zutage frderte,rechtfertigte Edathys Strenge tausendfach. 13

    Jahre lang hatten die Behrden die rechtsradikal

    motivierte Mordserie an Einwanderern fr Orga-nisierte Kriminalitt unter Migranten gehalten.Sie hatten die Opfer und deren Angehrige kri-mineller aten verdchtigt und dadurch das Leidder Hinterbliebenen noch vervielfacht. Keinerwar auf den Gedanken gekommen, die Hypothesezu ndern und gegen Rechtsextreme zu ermitteln.Voll von Misstrauen, hatten Verfassungsschtzerund Polizei sich gegenseitig ihre Erkenntnisse vor-enthalten. Man hatte Wahrsager beschftigt,Beamte, als Detektive verkleidet, auf trkische

    Witwen angesetzt, weil ja rken nicht mit derPolizei reden.

    Edathys Lieblingsgeschichte, die er nichtmde wurde zu erzhlen, war die von der Witwe,die heimlich, whrend ein solcher Detektiv beiihr sa, die Polizei anrief und zum Wachtmeistersagte: Hier ist so ein komischer yp und fragtmich aus. Soll ich mit dem reden? DieseFrau, hatte Edathy in einem seltenen Momentungeschtzter Emprung bei einem Frhstcks-gesprch gesagt, hatte mehr Vertrauen in denRechtsstaat als Sie!

    Ein Dandy derInneren Sicherheit

    Die Plackerei im Untersuchungsausschuss, dieBewltigung der Aktengebirge, die zahllosen Sit-zungen mit den anderen Abgeordneten schlauch-ten den 44-jhrigen Edathy sichtlich. Gleichzeitiggenoss er den Zuwachs an Bedeutung. Im Som-mer konnte man ihn gelegentlich im hellen Lei-nenanzug vor dem Paul-Lbe-Haus an der Spreestehen und eine Zigarette rauchen sehen einDandy der Inneren Sicherheit. Ein rampelpfadfhrt durch das Baugelnde vor dem Haus derBundespressekonferenz zu Edathys Wohnung.Der ist zwar nicht ganz legal, wird aber geduldet.Sein Jagdhund Felix, der in seinem Appartementauf ihn wartete, muss fr ihn eine Art groerLiebe gewesen sein.

    Edathy ist immer jemand Apartes gewesen, imdoppelten Sinn des Wortes. Seine Eltern waren

    jeder auf seine Weise Abenteurer mit der ge-wundenen Biografie von Migranten. Sein Vater,Mathew Edathiparambil, war der intelligenteste

    Spross einer kinderreichen katholischen Bauern-familie aus Kerala im Sdwesten Indiens. Weilman in Mathew die grten Hoffnungen setzte,schickten seine Eltern ihn nach Rom, zum Studi-um fr das Priesteramt. Edathys Mutter war als

    junge Frau noch zu DDR-Zeiten aus Mecklen-burg geflohen. Die beiden begegneten einanderauf einem kumenischen Gottesdienst. Und derInder aus dem Vatikan verliebte sich in die pro-testantische Deutsche. Er konvertierte und wurdePfarrer in Speyerberg nahe Hannover. Sein zwei-ter Sohn Sebastian lie das Suffix Parambil (es

    bedeutet: Hof) fallen und nannte sich nur nochEdathy. Edathy heit auf Hindi links, und sopasste es dann, hat Sebastian Edathy sptergrinsend gesagt. Er selbst hatte auch zeitweisePfarrer werden wollen, studierte dann aber lieberSoziologie und Sprachwissenschaften, seine Ab-schlussarbeit handelt vom Staatsbrgerschafts-recht. Gerhard Schrder war der Grund, weshalbes Edathy in die SPD zog: ein niederschsischerMinisterprsident mit Aufsteigervita, Coolnessund Schneid.

    Der Rassismus sei ihm, dem Pfarrerssohn,nicht so brutal entgegengeschlagen wie wenigerprivilegierten Kindern, sagte Edathy. Was er er-lebte, war eher jene Art gedankenloser Rohheit,die sozial akzeptiert ist: Auf dem Spielplatz wirddie Mutter gefragt, wo sie denn das se dunkel-hutige Kind adoptiert habe? Auf einer Reise insrussische St. Petersburg begrte der damaligeHamburger SPD-Brgermeister Ortwin RundeSebastian Edathy mit den Worten Nice to meetyou. Saaldiener verwehrten dem Abgeordnetenseiner Hautfarbe wegen den Einlass in den Bun-destag. Ein Wohnungsvermieter lehnte den Be-werber Edathy mit den Worten ab: Bei fremdklingenden Namen entstehen immer so komischeGerche beim Kochen, da kann ich dann die

    Weitervermietung vergessen. Und natrlich:Nichts fr ungut!

    Doch Edathy verga nichts. Er nahm bel. Alsindischstmmig bezeichnet zu werden erinnereihn an die Nrnberger Gesetze. Gleichzeitig hatihm gerade seine Fremdheit einen groen Vorteilverschafft: Es war sein Migrationshintergrund,der Edathy zum Karrieresprung verhalf. Von2005 bis 2009 wurde er, der in der SPD langemhselig die Furchen der Parteiarbeit gezogenhatte, schlielich Vorsitzender des Innenaus-schusses unter der groen Koalition. Die Unions-kollegen von einst haben ihn in nicht sehr guterErinnerung: Als sie versuchten, das unter Rot-Grn modernisierte Staatsbrgerschaftsrecht zumodifizieren, unterstellte er ihnen eine vlkischeIdeologie. Aber auch Parteifreunde erlebten ihnals Egoshooter, der fr Mannschaftsspiele we-nig brig hatte. So erinnert es ein Abgeordneter,der ihm in seinen frhen Jahren durchaus nahe-

    stand so nah, wie man einem verbarrikadiertenMenschen wie Edathy eben stehen konnte.

    Nur kurz tauchten im NetzVerschwrungstheorien auf

    Unions-Abgeordneten fllt jetzt eine andere Be-gebenheit jener Jahren ein: Sebastian Edathy vo-tierte mit einer Mehrheit im Innenausschuss frdie Verschrfung der Richtlinien fr Kinder-pornografie. Diese Chuzpe ist schon erstaun-lich, meint auch der grne Innenpolitiker Wolf-

    Highway to HellDie zwei Gesichter des Aufklrers: Sebastian Edathy war ein gefrchteter Innenpolitiker.Jetzt versteckt er sich in Dnemark. Und kommuniziert nur noch mit Kurznachrichten.Wer ist der Mann, dessen Doppelleben gerade Berlin erschttert? VON MARIAM LAU

    Der Fall Edathy: Wer die Schuld trgt

    gang Wieland im Rckblick, der damals eben-falls im Innenausschuss sa. Wir haben die vier

    Jahre lang immer wieder ber Kinderpornogra-fie und verwandte hemen geredet Menschen-handel, die Heraufsetzung der Jugendschutz-bestimmungen durch die EU, Internetsperren.Und der Vorsitzende Sebastian Edathy throntedie ganze Zeit ber alldem, whrend er sichgleichzeitig munter solche Fotos auf seinenComputer geladen hat. Das ist schon ein unfass-liches Doppelleben.

    Edathys Behauptung, die kindlichen Nackt-fotos seien nicht strafbar, hlt Wieland fr vor-geschoben. Edathy msse gewusst haben, dassFirmen wie Azov Films auch hrteres Materialanbieten. Wenn er nichts davon bestellt habe,htte Edathy doch ohne Weiteres seine Fest-platten und Laptops herausgeben knnen. Eda-thys emprte Kritik an der StaatsanwaltschaftHannover lsst bei Wieland den Hut hoch-gehen. Wo kommen wir da hin, wenn Staats-anwaltschaften nicht mehr ermitteln drfen,

    weil jemand Abgeordneter ist? Edathy hatmittlerweile seinen Parlaments-Laptop als ge-stohlen gemeldet, auch das passt fr Wielanddurchaus ins Bild.

    Seinen doppelten Makel als Einwanderer-kind und als Mann mit sozial verabscheuter se-xueller Neigung zu Kindern suchte Edathymglicherweise durch harsches Auftreten in derInnenpolitik zu kompensieren. Je heftiger die

    Attacke auf die deutsche Gesellschaft und ihreschmutzigen Geheimnisse, desto schwierigerwrde es dieser Gesellschaft werden, den An-klger aufs Korn zu nehmen. So tauchten inden ersten agen auch gleich Verschwrungs-theorien auf: Was ist, wenn er gelinkt wurde?,fragte das ARD-Morgenmagazin. Da hat dasBKA ja ganze Arbeit geleistet, schrieb ein miss-trauischer Blogger. Auch Edathy selbst behaup-tete in einer SMS an die ZEIT,seine Existenzwerde willentlich zerstrt.

    Aber seit Edathy den Besitz der Nacktfotosselber eingerumt hat, erstarben alle Ehren-rettungsversuche. Wolfgang Wieland, der mitEdathy noch gerne im NSU-Untersuchungs-ausschuss zusammengearbeitet hat, fasst die

    Stimmung dieser age so zusammen: Ich emp-fnde so etwas wie Mitleid, wenn er sich zu sei-ner Veranlagung bekennen wrde. Wenn er sa-gen wrde, ich habe solche Bilder bestellt, auchum zu vermeiden, dass ich tatschlich einem

    Jungen zu nahe trete. Er htte auch anderenhelfen knnen, die hnlich verzweifelt sind.Stattdessen nur Verleugnung.

    Und dann fllt dem Innenpolitiker noch et-was ein, was ein Psychiater ber das Leben vonPdophilen gesagt habe, die sich im Netz Bilderherunterladen: Es sei der highway to hell.

    Was wann geschah

    14. November 2013:Die kanadi-sche Polizei gibt bekannt, dass sieeinen internationalen Kinderporno-ring gesprengt hat. 800 Namen ha-ben die Ermittler zuvor an deutscheBehrden weitergegeben. Darunterauch: Sebastian Edathy.11. Februar 2014:Polizisten durch-suchen Edathys Bro in Rehburg.14. Februar:Agrarminister Hans-Peter Friedrich tritt zurck. Er hatte

    als Innenminister im Oktober denSPD-Chef Gabriel ber den Ver-dacht gegen Edathy informiert.16. Februar:SPD-Fraktionschefhomas Oppermann korrigiert seineSchilderungen ber ein elefonat mitdem BKA-Chef ber Edathy.Sebastian Edathyhat sein Bundes-tagsmandat niedergelegt. Er bestrei-tet, vor den Ermittlungen der Staats-anwaltschaft gewarnt worden zu sein.

    Er sehe seineExistenz vernichtet,

    schreibt SebastianEdathy per SMS

    Fotos:imago(gr.);PostmediaNews/

    Polaris/laif;JulianStratenschulte/dpa;HermannBredehorst/Polaris/laif;FlorianSchuh/dpa;JulianStratenschulte/dpa(kl.,v.o.n.u.)

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    20. FEBRUAR 2014 DIE ZEIT No 9

    sagt der Vater, er ist mrrisch geworden, hat dieSchule abgebrochen, will nur noch fr sich sein.

    Markus R. hat sich das Vertrauen DutzenderFamilien in dem armen Landstrich erschlichen.In urnhallen unterrichtete er Schler in Karate,gab vor, den Jungen etwas Gutes tun zu wollen.

    Die Mutter eines Opfers sagt heute: Er hat ge-nau verstanden, was wir brauchten. Wie RobinHood sei er aufgetreten, sagt eine andere.

    Bei einer Durchsuchung von R.s Wohnungfanden die rumnischen Ermittler zwei Stapelmit Broschren einer angeblichen Hilfsorganisa-tion, der Eecho Kinderhilfe Osteuropa in Wien.Darin heit es, man wolle die Lebenssituationvon Kindern verbessern, an Schulen organisiereman Prventionsprojekte zu hemen wie Anti-Rauchen oder Aufklrung zum Schutze vor se-xuellem Missbrauch. Als Vorstand ist ein Mannaufgefhrt, der nach den Ermittlungen der Poli-zei die englischen Untertitel fr die Filme erstellthat. ter, getarnt als Beschtzer.

    Auer den Flyern stellten die Polizisten zweiComputer mit fnf Festplatten voller Video-und Fotomaterial sicher, fast vier erabyte. Dazu325 Mini-DV-Kassetten und Kameras. Auf ei-nem der Videos sind zwei Jungen zu sehen, dieeinander mit l bergieen und nackt Purzel-bume schlagen, sich abduschen und anfassen.Mit dem Verkauf von 50 solcher Filme verdienteMarkus R. bis zu 150 000 US-Dollar.

    Der Abnehmer seiner Ware sa mehr als

    7000 Kilometer entfernt in oronto: der kana-dische Videohandel Azov Films um Brian W.,der im Anschluss an die rumnischen Ermitt-lungen ins Visier geriet. Bis Ende 2013 wurdenin der internationalen Polizeioperation Spade(Spaten) weltweit mehr als 340 Personen fest-genommen und fast 400 Kinder als Opfer iden-tifiziert. Es war einer der grten Schlge gegendas Milieu. In Markus R. sahendie kanadischen Ermittler einender wichtigsten Zulieferer. Ins-gesamt soll Azov Films mehr alsvier Millionen kanadische Dollareingenommen haben.

    Die Bilder, die Sebastian Eda-thy orderte, sollen bei Weitemnicht die schlimmsten der dortangebotenen Aufnahmen gewe-sen sein; und doch war er Kundeauf einem Markt, auf dem aufKosten von Kindern Geld ver-dient wird.

    Ein Mann in Niedersachsen bestellte Filmeund Bilder. Ein Mann in Kanada kassierte. Undein Mann in Rumnien sorgte mit perfidenricks dafr, dass es immer neues Material gab.Der Fall Azov Films gibt eine Ahnung davon,wie das weltumspannende Geschft mit Kinder-pornos und Nacktaufnahmen von Minderjhri-gen abluft. Und welche Dimensionen es hat.

    Jede Sekunde, so die Schtzungen von FBI-Ermittlern, sind 750 000 Pdophile online.Rund 250 000 Mnner, vermuten Sexual-forscher, sind allein in Deutschland pdophil.Einer UN-Studie von 2009 zufolge werden mitKinder- und Jugendpornos sowie nicht porno-grafischen Nacktaufnahmen jhrlich bis zu 20Milliarden US-Dollar umgesetzt. Der Groteildes Handels erfolgt aber geldlos, ber auschbr-sen: Die Kinder sind Ware und Whrung zugleich.Viele werden Opfer von Verwandten, Freundender Familie oder Sporttrainern wie Markus R.

    Dessen Geschichte beginnt als jungerKaratelehrer in Niederbayern. Ende der neunzi-ger Jahre vergeht er sich an sieben Kindern,keines lter als zehn. Im Sommer 2000 wird erwegen sexuellen Missbrauchs zu zwei Jahren

    Jugendhaft verurteilt. Nach seiner Entlassungstellen ihn die Richter unter Fhrungsaufsicht,

    wegen Rckfallgefahr.Markus R. zieht nach Rumnien, wo nie-mand seine Vergangenheit kennt. Er lsst sich inSatu Mare im Nordwesten nieder, nahe derGrenze zu Ungarn und der Ukraine. Die Regiongehrt zu den rmsten Europas.

    R. arbeitet zunchst fr eine Firma, die Bier-zeltbnke herstellt. Ab 2004 bietet er wiederKaratekurse an, vor allem an Schulen. Kostenlos.Nach dem raining ldt er die Jungen ein, malspendiert er Pizza, mal kauft er Eis. Immer wie-der nimmt er sie mit in seine Wohnung, wo sie

    Playstation spielen drfen. Und irgendwann, soerzhlte es eines seiner Opfer spter den Ermitt-lern, habe er die Jungen dann berredet, sichauszuziehen und nackt filmen zu lassen. Als Be-lohnung gab es ein paar Euro.

    Hufig filmte Markus R. die Jungen beim

    Kmpfen, nackt oder halb nackt. Als Requisitenlagen Spielzeugpistolen, Rstungen und Schwer-ter bereit. Seine Boyfights gehrten zu den Best-sellern bei Azov Films.

    Den Jungen schrfte R. ein, ihren Elternnichts zu erzhlen. Meist war er nett, aber erkonnte auch anders. Ich habe mich geweigert,da fing er an, mich anzuschreien, sagte einesseiner Opfer gegen ihn aus. Da bekam ich Angstund zog mich ganz aus.

    Markus R. bedauerte vor Gericht, was er ge-tan hat, sah seine Filme aber nicht als Kinder-pornografie an. Einem seiner Opfer schrieb eraus der Haft einen Brief, den dieZEITeinsehenkonnte: Ich habe gelogen, manipuliert undVertrauen missbraucht. Aber als ich sagte, dassdu ein Kind mit goldenem Herzen bist (...), dawar das keine Lge. Das war im August 2010,kurz nachdem R. von der Polizei in seinemBMW gestellt worden war auf der Reise nachDeutschland. Als Passagiere mit dabei: vier ru-mnische Jungen, angeblich auf dem Weg zueinem Karateturnier.

    Azov Films, die Firma von Brian W., fr dieMarkus R. zulieferte, agierte erstaunlich offen.

    Weit konspirativer nahm sich das Missbrauchs-Netzwerk Dreamboard aus, das US-Fahnder2011, also etwa zur selben Zeit, aufdeckten. Die600 Mitglieder griffen ber einen anonymenProxyserver zu. Wer dabeibleiben wollte, musstealle 50 age frische Ware hochladen. Und werbesonders brutales Material einstellte, wurde vonden Betreibern belohnt mit erweitertem Zu-

    gang zum Archiv. Mehr als 120erabyte an Hardcore-Material,darunter Filme von sexuellemMissbrauch an Suglingen, stell-ten die Ermittler sicher. In 14Lndern, auch in Deutschland,wurden 52 Personen festgenom-men. Die Operation Delegodauert bis heute an, noch sindnicht alle Hintermnner gefun-den. Die Spuren fhren auchhier nach Kanada.

    Dort nimmt die Polizei am1. Mai 2011 schlielich auch

    Brian W. fest, den Kopf von Azov Films. In Ge-richtsakten wird ihm die Verbreitung von Kin-derpornografie vorgeworfen, sein Filmvertriebals kriminelle Vereinigung eingestuft. Als es denKriminalisten gelingt, die Kundendatei zu re-konstruieren, folgen Ermittlungen gegen mut-maliche Kufer in den USA, Spanien, Austra-lien und vielen weiteren Lndern. Allein dasBundeskriminalamt bekommt Hinweise auf 800

    Abnehmer in Deutschland.Die Operation Spade ist ein riesiger Erfolg,

    sagt Julia von Weiler, Geschftsfhrerin von In-nocence in Danger, einer Organisation, die sichgegen Kinderpornografie engagiert. Aber dastuscht nicht darber hinweg, dass diesem klei-nen Hellfeld ein gigantisch groes Dunkelfeldgegenbersteht. Immerhin htten die Ermitt-lungen besttigt, dass es Kunden in allen sozialenSchichten gebe: Die ter sind mitten unteruns. Einer australischen Studie zufolge ist es garso, dass die Konsumenten in aller Regel in Bezie-hungen leben, Arbeit haben und ber einen aka-demischen Grad verfgen.

    In diesen agen kmpft Sebastian Edathy umseinen Ruf. Brian W., der Exchef von AzovFilms, wartet auf seinen Prozess. Und der Filme-macher Markus R. ist nach Verbung seiner

    Strafe wieder auf freiem Fu. Er lebt in einemMehrfamilienhaus in Mnchen. Neben die Klin-gel hat er einen Zettel geklebt: Fr weitere In-fos, steht da, besuchen Sie bitte www.schon-mal-was-von-resozialisierung-gehrt.de. Auf An-fragen derZEITreagierte er nicht.

    Resozialisierung ist das Recht eines jedenters, der seine Strafe abgesessen hat. Doch R.sOpfer bleiben Opfer: Ihre Bilder stehen nochimmer im Internet, sie sind nicht einzufangen.

    * Namen gendert

    4 POLITIK Der Fall Edathy: Wer die Schuld trgt

    U

    m 8.30 Uhr wird Brian W. andiesem Donnerstag vor Richter

    John McMahon am SuperiorCourt of Justice in der Altstadtvon oronto erscheinen. DerProzess gegen den 42-Jhrigen

    hat noch nicht richtig begon-nen, doch die Geschichte dahinter hat in Deutsch-land bereits einen Minister zu Fall gebracht.

    Mehr als zweieinhalb Jahre ist es her, dass BrianW. festgenommen und seine Firma zerschlagenwurde. Azov Films war spezialisiert auf den Versandvon Filmen nackter minderjhriger Jungen. Auf derInternetseite wurden sie als nudistische Filmeber das Erwachsenwerden angepriesen, die gegenkeine Gesetze verstoen. Doch die Ermittler ka-men zu der berzeugung, dass mindestens ein Vier-tel der angebotenen Videos kinderpornografisch sei.Darunter befinden sich Szenen, in denen sich nack-te Jungen Essensreste in den Hintern einfhren.

    Von einem Lagerhaus im West End orontos ausbelieferte Azov Films die ganze Welt. Lehrer bestell-ten dort Bilder und Clips, Polizisten, Pastoren,

    Pfadfinder und, wie man seit vergangener Wochewei, auch ein Bundestagsabgeordneter aus demniederschsischen Rehburg-Loccum.

    Die Bilder erreichten Sebastian Edathy meist perPost. Neun Mal soll er bei dem Internethandel Ma-terial bestellt haben, 31 Videos und Foto-Sets ins-

    gesamt. Darauf zu sehen sind nach Angaben derStaatsanwaltschaft keine sexuellen Handlungen mitKindern, auch kein Sex zwischen Kindern, abereben doch: nackte Kinder.

    Das allein ist mglicherweise nicht strafbar.Doch egal, wie die Ermittlungen gegen Edathy aus-gehen: Solche Bilder entstehen nicht ohne ter.Und schon gar nicht ohne Opfer.

    Ein Dorf im Nordwesten Rumniens, in derNhe der Kleinstadt Seini. Der Nebel hngt wie einSchleier ber den matschigen Straen, verfalleneeinstckige Huser reihen sich an halb fertige Neu-bauten. Hier, am Rande Europas, drehte der Deut-sche Markus R. genau solche Filme mit Kindernund Jugendlichen zwischen 8 und 16 Jahren. Hin-ter einem hohen Holzzaun mitten im Dorf filmte ernackte Kinder im Pool, nackte Kinder beim Rin-

    gen, nackte Kinder beim Bockspringen. Gut zweiJahre lang ging das so, bis der Vater eines der Kindermisstrauisch wurde. Am Ende wurde Markus R.von einem rumnischen Gericht zu drei JahrenHaft verurteilt. In manchen Filmen imitierten dieMinderjhrigen sexuelle Handlungen, massierten

    einander und berhrten ihre Geschlechtsteile,heit es im Urteil vom Dezember 2010, das dieZEITeinsehen konnte.

    Drei Jahre spter sitzt auf einem zerschlissenenSofa der Mann, der die Ermittlungen gegen MarkusR. angestoen hat und damit eine Kettenreaktionauslste, die am Ende die Regierung in Berlin ineine Krise strzte. Im Wohnzimmer der FamilieIonescu* riecht es nach frittiertem Schweinefleisch,im Hof wiehert ein Pferd. Andrei* Ionescu serviertPalinka, einen regionalen Obstbrand. Wenn er vonder Geschichte dieses Deutschen erzhlt, kann ernicht sitzen bleiben. Markus hat uns betrogen, erhat unser Vertrauen missbraucht, sagt Ionescu.Neben ihm steht sein Sohn Eugen*, eines der Opfervon Markus R., ein hoch aufgeschossener Junge mitgroen Ohren. Mein Sohn hat sich so verndert,

    Ein globales GeschftSie kdern Jungen in den rmsten eilen Rumniens, drehen Nacktfilme mit ihnen und verkaufen die Streifen in der ganzen Welt.Nachforschungen im Milieu der Kinderpornografie VON STEFAN CANDEA, DANIEL MLLER, YASSIN MUSHARBASH UND WOLF WIEDMANN-SCHMIDT

    Der deutsche Markus R.lockte junge Rumnenmit Karate-Kursen

    Ein Dorf in der Nhe vonSeini/Nordrumnien.Hier finden pdophile

    Filmemacher ihre Opfer

    Fotos:PetrutCalinescu(gr.);kl.:DZ

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    Linke-StarsWagenknecht(vorn),GysiundEnkelmann

    Foto

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    Sie wollennur spielenDie Linke sagt, sie sei erwachsen geworden.Eine Opposition fr alle. Eine Weile habe ich dasgeglaubt was fr ein Fehler VON ELISABETH NIEJAHR

    M

    anchmal kaufe ich amSamstag Fisch und Gem-se auf einem komarkt.Es gibt dort auch Chili-ofu, Schokolade mitPfefferkrnern und vega-

    nes Eis. Wer hier einkauft,auf dem Berliner Kollwitzplatz, muss nicht sparen.Die Quadratmeterpreise in den umliegendenStraen gehren zu den teuersten der Stadt. rotz-dem hat der 41-jhrige Linken-Abgeordnete Ste-fan Liebich ausgerechnet hier bei der Bundestags-wahl zum zweiten Mal ein Direktmandat er-kmpft. Einige seiner Whler kenne ich gut, essind Akademiker, die mit ihren Kindern sonntagszur Kirche gehen. Die alten Gespenster von Lie-bichs Partei Stasi, Schiebefehl, Sektierertum sind hier sehr weit weg.

    Ich lebe zwischen brgerlichen Linken. Vermut-lich hat das dazu beigetragen, dass ich auf die Ideekam, ber diese Partei zu berichten. Ich war neugierig die anderen Parteien kenne ich gut, die Linke nicht.Ich ging davon aus, dass sie sich weiter etabliert. DieLinke ist neuerdings strkste Oppositionspartei imBundestag, sie hat sogar gute Chancen, im Herbst inThringen den ersten Ministerprsidenten zu stellen,die SPD schliet rot-rote Koalitionen auf Bundes-ebene nicht mehr aus. Aus Sahra Wagenknecht wirdgerade ein Star fr das breite Publikum, schn, rtsel-haft und intelligent. Sie ist Dauergast in alkshows,wird von Zeitschriften wie Galamit Fotoserien be-

    schenkt, selbst das Handelsblatt verffentlichte amvergangenen Wochenende eine acht Seiten langeTitelgeschichte ber sie. Wem sonst ist das vergnnt?

    Vielleicht bin ich auch nur Gregor Gysi auf

    den Leim gegangen. Der redet momentan viel vonseiner neuen Rolle: Er mache jetzt auch Politikfr die Whler von Union und SPD, sagt er, undsogar fr den Bauern in Bayern, der CSU whlt.Das erklrte er erst krzlich bei einer Pressekonfe-renz. Schlielich wnschten auch Bauern sich einegute Opposition. Die Linke sei erwachsen gewor-den, behauptet die Vorsitzende Katja Kipping.

    Erst fand ich das ganz einleuchtend. Mittler-weile habe ich gemerkt: Ich habe mich geirrt.

    Der sbelrasselnde Bundesprsidentund Kriegsministerin von der Leyen

    Wann habe ich angefangen, mich zu wundern?War es im November, als Rdiger Sagel, Vorsitzen-der der nordrhein-westflischen Linken, denSankt-Martins-ag umbenennen wollte in Sonne-Mond-und-Sterne-Fest wegen all der Kinder,die keine Christen sind? Er wurde schnell aus-gebremst, selbst von Aiman Mazyek vom Zentral-rat der Muslime. Das Leben des heiligen Martinsei auch fr Andersglubige vorbildlich.

    War es im Dezember, als mir klar wurde, mitwelcher Art Parteien die Linke im Europaparla-

    ment eine Fraktionsgemeinschaft bildet? Der Ab-geordnete Helmut Scholz hatte eine Ausstellungber die Opfer des Stalinismus organisiert, es gingum Folter, Zwangsarbeit und Schauprozesse, einehrenwertes Projekt, knnte man finden. Die grie-chischen Kommunisten aus der Fraktionsgemein-schaft riefen zum Boykott der Ausstellung auf.

    Gestaunt habe ich auch ber den Neujahrs-empfang der Linken in Berlin. Katja Ebstein, einSchlagerstar meiner Kindheit, singt vor lteremPublikum. Nach den ersten Minuten kndigt sieein Lied ber die Zeit des Mauerfalls an: Wir

    wollten uns ja alle stndig um den Hals fallen,ich nehme an, das war bei Ihnen wie bei mirso. Das Publikum bleibt reglos. Nee? Ist jazum Kotzen! Also ich denke, die Freude ist bisheute ungebrochen, ruft die Sngerin. EinigeZuhrer lachen, andere pfeifen. Und da war sie

    wieder, die Linke als Nachfolgepartei der SED.Das vergangene Wochenende habe ich inHamburg auf dem Parteitag der Linken verbracht.Die meiste Zeit sa ich auf einer ribne, an derein groes Transparent befestigt war. Darauf stand:Der Hauptfeind steht im eigenen Land. In denReden der Delegierten war viel vom Finanzkapi-talismus und vom Patriarchat die Rede, vor allemaber ging es um den sbelrasselnden Bundespr-sidenten, um die Kriegsministerin Ursula vonder Leyen und um deutsche Gromachtsambi-tionen. Die Bundestagsabgeordnete Inge Hgerfand, Gauck und die Minister von der Leyen undSteinmeier sprchen in den gleichen nen wieKaiser Wilhelm vor dem Ersten Weltkrieg. Dabeihatten die Minister und der Bundesprsident blofr ein strkeres militrisches EngagementDeutschlands in Krisengebieten pldiert. Ein-marschieren wollten sie nirgendwo. Sevim Dag-delen, ebenfalls Abgeordnete im Bundestag, sagte:Sie trommeln fr immer mehr und neue Kriege.

    Vor dem Parteitag hatte die Partei sich langeber die Prambel im Programm fr denEuropawahlkampf gestritten. Dieter Dehmund Wolfgang Gehrke vom linken Flgel hat-

    ten einen Satz durchgesetzt, der vielen Linkenzu antieuropisch klang. Sptestens seit demVertrag von Maastricht wurde die EU zu einerneoliberalen, militaristischen und weithin un-demokratischen Macht, hie es in dem ext.Gysi kritisierte die Passage in einem Interview,auch die beiden Parteivorsitzenden wollten ihnnicht. In Hamburg wurde er gestrichen.

    Der Streit hat mein Staunen ber die Linkenoch verstrkt, denn die Parteivorsitzendenhatten in der entscheidenden Vorstandssitzungeine klare Mehrheit der sogenannten Reformerauf ihrer Seite. Doch selbst die fanden, dasssich auch die Minderheit im ext wiederfindenmsse, deshalb stand der Satz gegen den Willender Chefs im Programm. Man mache ebenkeine Basta-Politik, sagen die dazu. UnsereParteivorsitzenden knnen sich eben nichtdurchsetzen, sagen viele andere.

    In Hamburg habe ich gelernt, dass die Linke anders als CDU, SPD, FDP und Grne ihreParteitage fr eine Mittagspause unterbricht.Inzwischen verstehe ich, warum das ntig ist,denn ich habe fast drei Stunden lang intensiver

    extarbeit gelauscht. Das macht mde. DasProgramm fr die Europawahl wurde nmlichnicht etwa nur verabschiedet, wie es auf deragesordnung hie, sondern Absatz fr Absatzberarbeitet und zwar im Kollektiv. Oft ginges um Petitessen. So regte sich Widerstand, weilim Entwurf des Parteivorstands vom Finanz-kapitalismus die Rede war. Industriekapitalis-mus sei viel besser, mahnten Delegierte. DerLandesverband Sachsen warnte davor, im Pro-gramm die Verursacher der Krise zu kritisie-ren. Kapitalismus sei ein Zwangssystem, jedermache irgendwie mit, insofern sei auch jederein Verursacher der Krise. Lieber solle manvon Profiteuren der Krise sprechen, schlugensie vor. So ging es stundenlang. Ich wnschte,meine Bekannten vom Kollwitzplatz htten da-beigesessen. Ganz sicher bin ich nicht, warumes sie zur Linken zieht. Gerechtigkeitssinn? Lustauf das Exotische? Der nette Herr Liebich?

    Auf dem Parteitag habe ich auch Gesprchegefhrt, mit Florian Wilde beispielsweise, ei-nem Mittdreiiger, der zur Fhrung der Lin-ken gehrt. Er kann gut erklren, warum sichdie Linke anders entwickeln wird als einst die

    Grnen. Seine Generation habe deren abschre-ckendes Beispiel ja miterlebt, vor allem das Jazum Kosovo-Einsatz, und wolle eine Wieder-holung unbedingt verhindern.

    Wilde hat in Italien studiert, weil er von derKommunistischen Partei dort fasziniert war. IhrNiedergang whrend der Jahre an der Machthat ihn geprgt, er lehnt daher jede Regierungs-beteiligung ab. Das Gesprch war aufschluss-reich, trotzdem war ich befremdet. Das lag an

    Wildes schwarzem -Shirt. Darauf stand inweien Buchstaben: FCK SPD. Dann habe

    ich noch Dieter Dehm kennengelernt, Musikprodu-zent und Dichter vieler Schlager. Wie Wilde gehrter zum Parteivorstand.

    Kennen Sie den Unterschied zwischenOnanieren und Geschlechtsverkehr?

    Die Begegnung werde ich so schnell nicht vergessen.Wir treffen uns zum Kaffeetrinken, ich stelle mich zuihm an einen kleinen isch und frage, ob ich stre. Erverabschiedet schnell einen Kollegen und wendet sichmir zu: Macht nichts, ich rede sowieso lieber mitFrauen. Dann tischt er einen Witz auf: Kennen Sieden Unterschied zwischen Onanieren und Geschlechts-verkehr? Leider fllt mir spontan dazu nichts ein. BeimGeschlechtsverkehr lernt man mehr Leute kennen, lster das Rtsel. Ich versuche, unbeeindruckt auszusehen.

    Herr Dehm, ich wollte eigentlich gern wissen, wie Siedie beschlossene Liste der Kandidaten fr Europafinden. Dehm sagt etwas ber die schwindende Mo-tivation der Parteilinken und wendet sich pltzlichmitten im Satz ohne Entschuldigung ab, um einen Par-teifreund zu begren. Er kommt nicht wieder.

    Ich finde, Parteien mssen auch schwierige Men-schen integrieren. Fr eine Partei, die Lobby fr Be-nachteiligte sein will, gilt das erst recht, man darf nichtbelnehmen, wenn nicht jedes Mitglied durch intel-lektuelle Brillanz und perfekte Umgangsformen be-sticht. Wenn auf einem Parteitag jemand aufs Podiumtritt und sagt: Frauen sind sehr solidarisch, womit ichaber nicht sagen will, dass Mnner unsolidarisch sind,dann finde ich das nicht schlimm.

    Ich habe sogar eine Schwche fr Menschen, diebereit sind, sich hingebungsvoll mit Parteiprogram-

    men zu beschftigen. Wer macht das heute noch?rotzdem, eine normale Partei ist die Linke nochlange nicht. Dafr sind viele ihrer Leute einfach vielzu schrg.

    Kann das so bleiben? Sektierertum und Schein-werferlicht vertragen sich in der Politik auf Dauer

    nicht. Meistens fhrt mehr Verantwortung zu mehrPragmatismus, ffentliche Aufmerksamkeit fhrtzu Professionalitt.

    Gysi, Kipping und die anderen irren sich, wennsie denken, sie htten den Scheinwerfer-est bestan-den. Mich jedenfalls berzeugen sie immer weniger,

    je besser ich sie kennenlerne. Deshalb habe ich be-schlossen: Schreiben ohne Kopfschtteln, das gehtbei dieser Partei noch nicht.

    www.zeit.de/audio

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    20. FEBRUAR 2014 DIE ZEIT No96 POLITIK

    S

    ie tun immer noch so, als seialles wie frher. Ein Mon-tag im Februar, im Atriumder Berliner FDP-Zentralestehen eine kleine Bhneund vier Stuhlreihen. AmVormittag hat das Prsidi-

    um getagt, um 13 Uhr will Parteichef

    Christian Lindner der Hauptstadtpresse dieErgebnisse verknden. Als die FDP nochRegierungspartei war, reichten die Pltzefr die Journalisten oft nicht aus. Jetzt, umzehn vor eins, sind alle 32 Sthle leer.

    Als Lindner um 13.02 Uhr erscheint,haben sich sechs Journalisten eingefunden.Lindner sagt ein paar Stze zur SchweizerVolksabstimmung, zur Sicherheitspolitik,zur Energiewende. Gibt es Nachfragen?,sagt der Pressesprecher. Niemand meldetsich. Gut, dann danken wir fr Ihr Inte-resse, sagt der Sprecher. Na, Moment,sagt Lindner, wir knnen ja noch andereFragen zulassen! Zwei Journalisten erbar-men sich. Um 13.22 Uhr ist alles gesagt,Lindner tritt von der Bhne. Am nchstenag steht von all seinen Worten ein einzigerSatz in einer einzigen Zeitung.

    Fnf Monate nach den verheerenden4,8 Prozent bei der Bundestagswahl ringtdie FDP um Aufmerksamkeit, um ihreDaseinsberechtigung. Demoskopen zeich-nen von ihr ein seltsames Bild. Sie messen

    immer wieder hohe Potenziale fr eine li-berale Partei, deutschlandweit ber 20 Pro-zent. Nach einer neuen Umfrage bedauertein Viertel der Deutschen sogar, dass dieFDP nicht mehr im Bundestag sitzt. Wh-len wrden sie trotzdem die wenigsten: Inder Sonntagsfrage klebt die FDP immernoch bei vier bis fnf Prozent. Es scheinteine Sehnsucht nach der FDP zu geben,welche die Partei selbst aber nicht erfllt.

    Ihr Problem ist viel grer als ihr nied-riger Wert in den Umfragen. Die libe-ralisierte Gesellschaft hat die liberaleFDP lngst berholt. Sie wirkt ineilen seltsam gestrig, wie einMbelstck der alten Bundes-republik. Ihre Stammklientelschrumpft, neue Whler kom-men nicht dazu. Eine Strategiefr das digitale Zeitalter hatdie FDP bis heute nicht ent-wickelt. Deshalb hat Lind-ner eine kaum lsbare Auf-gabe vor sich: In den kom-menden drei Jahren muss er

    die FDP ganz neu ver-kaufen und in der ffent-lichen Debatte halten, ermuss so viele Anhngerzurckgewinnen, dass es beider nchsten Bundestagswahl2017 zumindest fr den Wie-dereinzug reicht. Mit bravenStatements zur Energiewendewird er das kaum schaffen. DieVersuchung, populistische neanzuschlagen, wird gro sein.Gleichzeitig ahnt Lindner, dass diealten Erfolgsrezepte der FDP nichtmehr wirken. Warum ist das so? Und wiegeht die Partei damit um?

    In Marco Buschmanns neuem Bro imhomas-Dehler-Haus hngt ein groesBild ber der Sitzecke, es zeigt den Reichs-tag. Das erinnert mich jeden ag daran,wo es 2017 hingehen soll: zurck in denBundestag, sagt Buschmann. An diesemZiel wird auch er gemessen werden. Busch-mann ist der neue politische Geschftsfh-rer der FDP. Das Amt hat Parteichef Lind-ner vor wenigen Wochen extra eingerichtetund mit einem Vertrauten besetzt: Er undBuschmann sind beide Mitte dreiig,stammen aus Nordrhein-Westfalen und sa-en 2009 bis 2013 gemeinsam im Bundes-tag. Nun soll der Jurist als eine Art Gehirnder Berliner Parteizentrale eine neue Strate-gie fr die Bundes-FDP entwickeln.

    Das Gesprch dauert noch keine fnfMinuten, als Buschmann sagt, man habe

    jetzt die Chance, Politik neu zu erfinden.Er will nicht blo das ewige Pingpong ausStatements und Gegen-Statements spielen,sondern die groen hemen angehen. Dendemografischen Wandel. Den Sozialstaat.Das Problem ist, dass Buschmann vor demNeustart erst noch die Altlasten bewltigenmuss. Sie liegen vor ihm auf dem Bespre-chungstisch, in Form eines Diagramms,das er auf ein Blatt Papier gekritzelt hat.

    Das Blatt zeigt zwei Achsen, die sichkreuzen. Die senkrechte Achse beschreibtden Blick auf die Zukunft: Sieht man ihroffen oder ngstlich entgegen? Die waage-

    rechte Achse meint das Menschenbild: In-dividualismus versus Gemeinschaft. ImJahr 2009, sagt Buschmann, htten dieWhler die FDP als eine Partei wahr-genommen, die fr einen zuversichtlichen

    Individualismus stand, als Kreuz im gu-ten Mittelfeld. Doch inzwischen gelte dieFDP als Partei der radikalen Egoisten, dievor der Zukunft vor allem Angst haben.

    Dass es in der Wahrnehmung der Wh-ler so weit gekommen ist, lag nicht zuletztam ehemaligen Parteichef Guido Wester-welle, der den Liberalen ber zehn Jahre

    lang die Richtung vorgab. Westerwelle be-lie es nicht dabei, die optimistischenLeistungstrger anzusprechen, sondernzielte immer wieder auch auf die ngsteder Mittelschicht: auf ihre Furcht vor dem

    Abstieg, auf den ausbeuterischen Staatmit seinen hohen Steuern, auf den Sozial-neid gegen die da unten, die sich aufKosten der Allgemeinheit ein Leben in derHngematte gnnten. Mit diesem giftigenPopulismus schaffte es die FDP weit nachoben, aber sptestens als WesterwelleDeutschlands anstrengungslosen Wohl-stand geielte, der zu sptrmischer De-kadenz einlade, kippte das Image der FDPin das Bild unsozialer Wutbrger.

    Christian Lindner wei um diese Krfteim FDP-Milieu, sie sind ja nicht einfachmit Westerwelle verschwunden, sie schlum-mern blo. Lindner knnte sie wecken.

    Auch er hat rhetorisch das Zeug zum Popu-listen, er kennt die Mobilisierungskraft der

    Abstiegsangst in der Mittelschicht, aber erwei auch, dass der Sozialneid nach unten

    die FDP letztlich ins Verderben gefhrthat. Deshalb will er zumindest die Rich-tung ndern, er versucht,den Sozialneid um-zupolen: DieBsensind

    jetztdie gro-en Player,die da ganz oben.

    Der Emporio-ower inHamburg am Mittwochabend vergangener

    Woche. In einem Saal im Souterrain hren450 Gste dem Starredner zu, weitere 200schafften es blo auf die Warteliste. Im Pu-blikum sieht man viele Goldknopf-Jackettsund grau melierte Frisuren. In bestimmtenKreisen herrscht groe Sehnsucht nach demLiberalen, und Christian Lindner pflegtdiese Klientel. Fr seine Rede und das an-schlieende Abendessen ist er extra ausDsseldorf eingeflogen zum bersee-Club(Eigenwerbung: Willkommen in hervor-ragender Gesellschaft). Wer hier eintretenwill, muss wohlttiges Engagement vorwei-sen und zwei langjhrige Mitglieder als Br-gen. Man bleibt gern unter sich.

    Ich sehe einige etwas erfahrenere Da-men und Herren hier, sagt Lindner auf derBhne. Gelchter. Zeit fr die Klassiker:Lindner lobt die soziale Marktwirtschaftund geielt die Rentenplne der groenKoalition. Doch dann beschwrt er neueFeindbilder. Wie knne es denn sein, sagtLindner, dass die Eigenkapitalquote derDeutschen Bank nur drei Prozent betrage?

    Gehen Sie als mittelstndischer Unterneh-mer mal mit drei Prozent Eigenkapital zuIhrer Bank. Die lachen Sie aus!, ruft Lind-ner, und: Wer nicht haftet, der zockt! AlsNchstes wettert er gegen die kommerziel-

    len Datensammler, gegen Google und Co.Kein Wort gegen Hartz-IV-Empfnger. Dieneuen Gegner des FDP-Chefs sind Gro-banken und Grokonzerne.

    Gut mglich, dass Lindner auch mitdieser Distinktion nach oben wieder denNerv des arrivierten Mittelstndlers trifft,aber darin steckt auch ein Hemmnis fr die

    FDP. Sie war und ist zu groen eilen diePartei des alten BRD-Firmenpatriarchen,der seine Mitarbeiter mit vterlicher Stren-ge fhrt und das klassische Familienbildverkrpert. Modern wirkt die FDP damitnicht. Es ist kein Zufall, dass die Partei zumBeispiel nie das Ehegattensplitting infragestellte, obwohl es ordnungspolitisch Un-sinn ist, weil es ein bestimmtes Lebensmo-dell bevorzugt: das des mnnlichen Haupt-ernhrers mit Hausfrau, die hchstens ineilzeit ein bisschen was dazuverdient.

    Katja Suding nervt das. Sie ist FDP-Fraktionschefin in Hamburg und seit De-zember Mitglied des Parteiprsidiums.Zum Mittagessen bei einem HamburgerItaliener bringt Suding spontan ihre beidenShne mit, sie sind zehn und zwlf Jahrealt. Heute sei schulfrei, und der Vater habekeine Zeit, entschuldigt sich Suding. Siefhrt ein modernes Grostadtleben, als ge-schiedene, voll berufsttige Mutter. DieShne wohnen auch in Hamburg, haupt-schlich beim Vater. Suding sagt, der Alltag

    funktioniere prima, blo finanziell stehesie mit ihrem neuen Lebensmodell wesent-lich schlechter da, weil die

    Vorzge des Ehe-gattensplit-

    tingsnun

    weg-fielen.

    Und Sudingseigene Partei bietet

    fr dieses Problem keine L-sung an: Christian Lindner jedenfalls willdas Ehegattensplitting nicht antasten.

    So liberal die FDP gesellschaftspolitischsei, sagt Suding an diesem Punkt zeigesich, dass die Partei jahrzehntelang von l-teren, konservativen Mnnern dominiertworden sei. Familien shen heute andersaus als frher, damit msse sich die FDPendlich auseinandersetzen. Man lebe jaschlielich nicht mehr in den 1950ern.

    Im Jahr 2014 wird in Deutschland jededritte Ehe geschieden, in Grostdten so-gar jede zweite. Die FDP hat diesen Wan-del augenscheinlich verschlafen, als sei derParteiorganismus zu schwerfllig, um sichan die neuen Lebensumstnde anzupassen.Nun haben andere ihre Nische besetzt.

    Zu den Idealen der liberalen Gesell-schaft, zu individueller Entfaltung und ole-ranz, auf deren Vertretung sich die Frei-demokraten viel einbilden, sagt heuteniemand mehr ernsthaft Nein, nicht maldie CDU diese Schlachten sind so gut wiegeschlagen. Der nchste groe Kampf umdie Freiheit wird auf einem neuen Feld

    stattfinden: in der digitalen Welt. Bisher hatkeine der Bundestagsparteien intellektuellund programmatisch erfasst, was das Inter-net mit unserem Leben anstellt, wie es unsalle verndert. Die FDP htte freie Bahn,

    aber sie macht nichts draus. Zum NSA-Skandal fiel der selbsternannten Daten-schutzpartei wenig ein, die freiwillige Selbst-entblung vieler Facebook-User macht sieratlos. Lindners Angriffe gegen Google undCo. sind ein erstes Anzeichen dafr, wo derneue FDP-Chef die Partei im digitalenZielkonflikt zwischen Unternehmerinteres-

    sen (wirtschaftsliberal!) und Privatsphre(brgerrechtsliberal!) positionieren knnte:im Zweifel gegen die Datenkraken. Das di-gitale Milieu, das junge Unternehmertumim Netz, holt die FDP mit dieser Perfor-mance aber noch lngst nicht ab.

    Man erfhrt das in Berlin-Mitte imSoho House, dem Wohnzimmer der urba-nen Kreativen. Verena Delius, 36, hat denClub fr das Gesprch ausgesucht, sie isthier Mitglied, aber sie ist nicht sehr oft da.

    Als Chefin einer Firma fr Kinder-Appsmit Mitarbeitern in Deutschland undShanghai hat sie eine 60-Stunden-Woche,und sie ist zweifache Mutter. Was will sievon der Politik? Meine Erwartung ist sehrniedrig, im positiven Sinne, sagt Delius.Politik soll nur den Rahmen setzen. Ich als

    junger, gut ausgebildeter Mensch brauchekeine Hilfen vom Staat. Ich muss und willmein Leben selbst organisieren. Deliusklingt wie ein FDP-Werbespot. atschlichhat sie die Partei 2009 gewhlt. Danachwar ich natrlich schwer enttuscht. Die

    FDP hat in der Bundesregierung all ihreVersprechen gebrochen, sagt Delius. Inmeinem Umfeld kann sie gerade nichtsmehr gewinnen. Heute whlt das urbaneBrgertum mehrheitlich grn.

    Ihre berufliche Szene sei sehr liberal,sagt Delius, aber klar wird auch, dass derBegriff sich lngst von der FDP gelst hat:Das digitale Milieu sei schnell, unbro-kratisch, egalitr, international und wenigpatriarchalisch Frauen sen quasi von

    allein zuhauf in den Chefsesseln. Umdie Start-up-Szene habe sich der fr-

    here FDP-Chef Philipp Rsler, heu-te 40, als Bundeswirtschaftsminis-

    ter zwar durchaus gekmmert,sagt Delius, doch Anhnger ge-wann er damit n icht. Von Rs-lers Reise ins Silicon Valleyim Mai 2013 blieben eigent-lich nur die Fotos im Ge-dchtnis, auf denen er Bild-Chef Kai Diekmann in dieArme fllt. Den Jngerenin der FDP hat man noch

    nicht zugetraut, dass sieuns verstehen, sagt Deli-us, und den lteren schongar nicht.

    Ausgerechnet der KielerFraktionschef Wolfgang Ku-

    bicki, 61, soll nun fr denAnschluss der FDP ans Netz-milieu sorgen. Auf dem nchs-

    ten Bundesparteitag im Maiwird Kubicki den Workshop Di-

    gitale Agenda leiten. Er hat vondem hema deutlich mehr Ahnung

    als Kenntnis, sagt ein FDP-Bundes-vorstandsmitglied, aber wir haben zur-

    zeit eben nur Kubicki und Lindner als pro-minente Figuren. Und Lindner kann janicht alles machen.

    Als yp sprach Kubicki bislang eher denbodenstndigen Besserverdiener an, denFahrer eines gehobenen Modells von Opelvielleicht. So zumindest sieht ParteichefLindner, wenn man ihn nach seiner Vor-stellung fragt, den klassischen FDP-Wh-

    ler. Gewinnen mchte er aber Leute, dieCarsharing nutzen, die ein Auto im Alltagmit anderen teilen und in deren Garagehchstens noch ein Oldtimer parkt. Das

    Autobild steht fr eine neue Idee von Ei-gentum, von Gemeinschaftssinn. DieFrage ist, ob der Widerspruch zwischenKubicki und Lindner bei dieser Umpo-lung der FDP nicht zu gro ist. Kubickierinnert an jene autoritren Firmenpatri-archen, von denen die FDP sich eigentlichemanzipieren sollte. Sich selbst beschei-nigte er mal die Ausstrahlung eines Khl-schranks. Und er ist Millionr. Kubickiwird Schwierigkeiten haben, als glaub-wrdiger Kmpfer gegen die da ganzoben aufzutreten. Er knnte Lindner alsPartner mehr Zeit kosten, als die FDP biszur Bundestagswahl hat.

    Vor einigen Wochen hat sich Kubickischon mal ins Neuland begeben. In Berlintraf er die App-Unternehmerin VerenaDelius, man kannte sich aus einer alk-show. Kubicki wollte von ihr wissen, wiedie FDP ihr Milieu erreichen knnte.

    Nach dem reffen zckte Delius ihr Smart-phone, um sich per App ein Auto fr dieHeimfahrt zu buchen, ber Carsharing.

    Carsharing, mit einer App? Kubicki warfasziniert. Er hatte davon noch nie gehrt.

    Der gelbe

    KnotenDie Deutschen vermissen die FDP,wrden sie aber nicht whlen. Jetzt versuchtdie Partei, sich neu zu erfinden: Mit Sozialneid

    nach oben VON MERLIND THEILE

    Illustration:AndreLaamefrDIEZEIT/www.andre-laame.com

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    20. FEBRUAR 2014 DIE ZEIT No 9

    H-B

    H

    ier oben, auf 1000 MeterHhe, wo die Menschen seitGenerationen cker bestel-len und Khe melken, wo siegenau unterscheiden zwi-schen Eidgenossen (leben

    schon immer in der Schweiz)und Schweizern (sind vor Generationen eingebr-gert worden), gibt es auer schner Landschaft ei-gentlich nichts Interessantes. Nichts auer einerZahl: 93,6 Prozent. Fast die gesamte Gemeinde hatvor zwei Wochen fr die sogenannte Massen-einwanderungsinitiative gestimmt, die den Zuzugvon Auslndern begrenzen soll. Und das, obwohlhier gerade einmal drei Auslnder leben.

    Horrenbach-Buchen ist noch nicht mal einDorf, eher eine Ansammlung von Gehften und

    Wohnhusern mit 260 Seelen darin. Das landes-weite Referendum ging knapp aus, doch die Hor-renbach-Buchens der Schweiz haben triumphiert:Die lndlichen, auslnderarmen Regionen stimm-ten mehrheitlich mit Ja, die multikulturellenStdte wie Basel oder Genf mit Nein. Wie konntedas passieren?

    Ein alter Hof auf einem Hgel, unten 20 Khe,oben in der holzgetfelten Wohnkche suppen-topfgroe Almglocken an der Wand: das Zuhausevon Ueli und Rosemarie Mller. Fragt man diezwei nach ihren Werten, sagt er: Wie in der K-che: gutbrgerlich. Also blo nichts Neues,

    fgt sie hinzu und lacht. Die Horrenbacher seienweltoffen, finden beide, und ihre ochter war jaauch gerade ein halbes Jahr in Indien.

    Dennoch strt es sie, dass jedes Jahr 80 000Menschen in die Schweiz ziehen. Die enge Bebau-ung, das Gedrnge in Bussen und Bahnen, derDichtestress, das nehme berhand. Argumente,die man vom Initiator des Referendums kennt, derrechtspopulistischen SVP. Bei der letzten Wahl er-hielt sie hier 80,4 Prozent. Nur: Wo findet sich derviel zitierte Dichtestress, in einem Ort, der nochnicht mal einen Dorfkern hat?

    Natrlich ist das vor unserer Haustr keindringendes Problem, sagt Ueli Mller. Aber inhun und Bern bekommen wir es ja mit. Und die

    Auslnder im Ort? Mit denen kommen wir klar.Ein Hollnder, ein Deutscher und ein Portugiese

    wohnen hier, einige weitere sind eingebrgert.Aber aus der Zeitung und vom Hrensagen erfahreman ja so einiges. Zum Beispiel die Schwarz-afrikaner, die es jetzt in der Region gebe. Die ha-ben ein Problem mit unserem Recht, sagt UeliMller. Er ist im Nebenjob Busfahrer unten im alund erzhlt von Schlgereien, nur weil Asylbewer-

    ber bei einer icketkontrolle erwischt wurden.Letztes Jahr, haben sie gehrt, sei whrend einerFahrscheinkontrolle in Biel gar jemand erstochenworden. Islamisierung sei auch so ein Problem:Die Frauen steigen abends nicht mehr ohne Be-gleitung in den Bus.

    Mit am isch sitzt der Nachbar Samuel Graber,selbst SVP-Mitglied. Wir wollen die guten Leu-te, fasst er zusammen. Die Faulen und die Sozial-schmarotzer brauchen wir nicht. Wer Arbeit hat,soll kommen. Aber wenn er keine mehr hat, soll erwieder gehen. Er sagt das ruhig und freundlich; esklingt fast gar nicht hsslich.

    Es ist nicht neu, dass Menschen, die das Frem-de vor allem aus der Ferne kennen, Fremdem skep-tisch gegenberstehen. Aber im Fall von Horren-bach-Buchen steckt vermutlich noch mehr dahin-ter. Es ist ein Ort, an dem die Menschen eines be-sonders hufig hren: dass es sich fr sie nichtlohne. Die Post, die Bankfiliale, die Verlegung vonGlasfaserkabeln fr schnelles Internet: alles unren-tabel. Die hiesigen Bauern mit ihren zehn, fnf-zehn Khen bekommen viel weniger Subventio-nen als die Bauern unten im Flachland mit ihren

    groen Feldern. Der Ort ist auch fr die jungenMenschen uninteressant geworden, die ein Hausbauen mchten und deshalb in weniger bergigeGegenden ziehen. Es ist die neuntrmste Gemein-de der Schweiz.

    Doch jetzt, mit den 93,6 Prozent, haben dieHorrenbach-Buchener sich interessant gemacht:Eine Salzburger Zeitung war schon da, dieBerner Zeitung Der Bundund heute dieZEIT.

    Angestrebt hat das hier keiner. Willkommen istes trotzdem.

    Samuel Graber und die anderen mchten nichtfalsch verstanden werden. Graber erzhlt von einerPhilippina, die mit einem Einheimischen verhei-ratet und bestens integriert sei. Auch sie habemit Ja gestimmt weil sie aus ihrem Heimatlandwisse, was es heie, wenn es zu viele Menschen

    und zu wenig Arbeit gebe. Eine Lenkung der Ein-wanderung fordern sie. Die Regierung kann dieKontingente jetzt festlegen, so hat es doch frherauch funktioniert, sagt Ueli Mller.

    Mit 23,3 Prozent hat die Schweiz eine derhchsten Auslnderquoten von Europa. Was be-deutet die Abstimmung fr die vielen Firmen, die

    international rekrutieren? Wird die Spitzen-forschung auf auslndische Wissenschaftler ver-zichten mssen? Mssen bilaterale Vertrge aufge-kndigt werden? Drei Jahre hat die Regierung jetztZeit, um diese Fragen zu klren.

    Die Menschen in Horrenbach-Buchen finden:Denen in Bern geschieht das recht. Wir habenein Signal gesetzt, sagt Fritz Fankhauser, der einpaar Hundert Meter bergabwrts wohnt. 62 Pro-zent der Stimmberechtigten haben am 9. Februarihr Votum abgegeben, sonst liegt die Beteiligungeher bei 30 Prozent. Es war wohl allen klar, dassman die Regierung so brskieren konnte. Dabeiwird hier durchaus differenziert: Wir richten unsnicht so sehr gegen Einwanderer aus der EU, er-klrt Fankhauser, sondern gegen solche aus Dritt-lndern. Was, wenn durch Zuzugsbeschrnkun-gen wieder mehr Schweizer die Arbeit machenmssten, die viele Lateinamerikaner oder Ost-europer erledigen? Ja, das wollen viele nicht, dasist so eine Erscheinung, sagt der SVP-MannSamuel Graber bedchtig.

    Ist denn bekannt, wer mit Nein gestimmt hat?Der Knstler und seine Frau, antwortet Samuel

    Graber, ein guter Mann. Heinrich Gartentorwohnt seit fnf Jahren im Ort, er ist sozusagen einZuwanderer, wenn auch ein eidgenssischer. SeineKritik an der Initiative: Sie sei zu rigoros gewe-sen, das Ergebnis habe ihn konsterniert. Garten-tor sagt: Ich sehe das als eine Art Hilfeschrei.

    Die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihmund den anderen seien kein Problem, beteuert er,er schtze die Gastfreundlichkeit der Menschenhier. Doch zum Ende des Gesprchs wird er nach-denklich: Ich sehe ja an meinem Bruder, was dasProblem an dieser Abstimmung ist: Er ist schwerpflegebedrftig und hat eine Pflegekraft aus Slo-wenien. Wenn er die nicht mehr htte, wre dassein odesurteil.

    ww w.zeit.d e/audio

    POLITIK 7

    Leben in 1000 Meter Hhe:Blo nichts Neues

    Die Schweizer Gemeinde Horrenbach-Buchen klagtber zu viele Zuwanderer. Es gibt dort genau drei

    VON MARIKE FRICK

    Angst vor Enge im weiten Tal

    DEUTSCHLAN

    D

    IALIEN

    FRANKREIC

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    BernTun

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    ZEIT-GRAFIK70 km

    Foto(Ausschnitt):ThomasWthrichfrDIEZEIT/www.thomaswuethrich.com

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    20. FEBRUAR 2014 DIE ZEIT No 98 POLITIK

    Fotos:MauriceWeiss/Ostkreuz/AgenturFocus(o.);GoetzSchleser/AgenturFocus(u.)

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    Rechnet man Aufmerksamkeitgleich Erfolg, msste MartinSchulz eigentlich zufrieden seinin diesen agen. Seine Reise nachIsrael hat Schlagzeilen gemacht.In Brssel organisiert er den Wi-derstand des Europaparlaments

    gegen das geplante Gesetz zur Bankenabwicklung.In Rom ist gerade ein Buch von ihm in italienischerbersetzung erschienen.

    Am vergangenen Samstag debattiert er imAachener Rathaus, nahe seiner Heimatstadt Wr-selen, mit dem Historiker Christopher Clark, derdas herausragende Buch zum Weltkriegsgedenk-

    jahr geschrieben hat (Die Schlafwandler).Es gehtum die Erinnerung an 1914, um europische

    Werte, um Geschichte und Gegenwart des Konti-nents. Fast tausend Menschen drngen sich imhistorischen Krnungssaal. So viel Zulauf schaf-fen nicht viele Politiker. Ein Mann meldet sich zu

    Wort: Schulz mge sich von den Knesset-Be-schimpfungen nicht irritieren lassen. Da wirdSchulz misstrauisch. Der 58-Jhrige steht vor denentscheidenden Wochen seiner politischen Kar-riere. Zuspruch ist gut, aber er will keinen Ap-plaus dafr, dass er in Israel einen kleinen umultausgelst hat.

    In wenigen agen werden die europischen So-zialdemokraten Martin Schulz auf einem Parteitagin Rom zu ihrem Spitzenkandidaten fr die Euro-pawahl kren. Im April beginnt der Wahlkampf,Ende Mai wird abgestimmt. Danach knnteSchulz vom Prsidenten des Europischen Parla-ments zum Chef der Europischen Kommissionaufsteigen. Wenn sein Plan funktioniert, wenn er

    selbst wachsam bleibt und keinen Fehler macht.

    Er will als Deutscher solidarisch mitIsrael sein und als Europer kritisch

    Martin Schulz hat sich vorgenommen, ein politi-scher Parlamentsprsident zu sein. Er will keinebelanglosen Gruworte halten, sondern auffallen,auch anecken. Aber nicht in Israel, wo hinter je-dem unbedachten Wort ein politischer Abgrundlauert. Er hat dort als Prsident des EuropischenParlaments gesprochen, auf Deutsch, in seinerMuttersprache. So hatte es ihm der Prsident derKnesset vorgeschlagen. Schulz hatte lange darbernachgedacht, wie er beiden Anforderungen gerechtwerden knne: als Deutscher die uneingeschrnkteSolidaritt mit Israel zu demonstrieren und zu-gleich die Kritik, die das Europische Parlament ander israelischen Siedlungspolitik bt, vorzutragen.Und dann, als er am Rednerpult stand, tat er das,was er gerne tut: Er wich vom Manuskript ab underzhlte von einer persnlichen Begegnung.

    Dazu kann ich Ihnen eine Story erzhlen!Das ist eine der Wendungen, die in Schulz Reden

    wiederkehren. In der Knesset handelte die Story

    von einem palstinensischen Jungen, der ihn ge-fragt hatte: Wie kann es sein, dass Israelis 70 Liter

    Wasser am ag benutzen drfen und Palstinensernur 17? Schulz gab diese Frage weiter, ohne dieZahlen zu prfen. Mehrere Abgeordnete verlieendaraufhin den Saal. Schnell war von einem Eklatdie Rede. Die Zahlen, die er zum Wasserverbrauchgenannt hatte, stimmten nicht. Doch das Missver-hltnis, von dem Schulz reden wollte, besteht: Esgibt verschiedene offizielle Statistiken, die alle da-rauf hinauslaufen, dass Israelis etwa doppelt so viel

    Wasser wie Palstinenser zur Verfgung haben.Die Sache ist fr Martin Schulz noch einmalgut gegangen. Die Abgeordneten, die aus dem Saalstrmten, tun das fter; sie sind Mitglieder der ra-dikalen Partei der Siedler. Die meisten Bericht-erstatter haben Schulz hingegen verteidigt. In derliberalen Zeitung Haaretzbedankte sich ein Kom-mentator bei ihm sogar fr die offenen Worte.Doch seinen Kritikern in Brssel hatte Schulz un-freiwillig eine Vorlage geliefert.

    Einen Moment lang schien er alle Vorbehaltezu besttigen, die gegen ihn im Umlauf sind: derMann, der gerne die Klappe aufreit und dabeiwenig Rcksicht nimmt auf Sensibilitten, wie sieeuropische Spitzenmter verlangen. Kein Diplo-mat, sondern ein rhetorischer Haudrauf. EinLautsprecher in eigener Sache, der mit Peer Stein-brck nicht nur das SPD-Parteibuch teilt. Kann soeiner wirklich Kommissionsprsident sein, also daswichtigste Amt bekleiden, das die EuropischeUnion zu vergeben hat?

    Es ist erst ein paar Jahre her, da zgerten sogardie Fernsehsender, Martin Schulz einzuladen. Zugrob, zu ungelenk, zu wenig gewinnend wirkte erauf dem Bildschirm. Aber Schulz hat zh an sich

    gearbeitet. Heute kann er sich aussuchen, in wel-che alkshow er geht, welches Interview er gibt.Und er kann offen ber den weiten Weg sprechen,den er hinter sich hat.

    Martin Schulz war kein erfolgreicher Schler.Im Gegenteil, sagt er, nun, da er in Aachen nebenChristopher Clark sitzt, dem Professor aus Cam-bridge: Ich war einer der unerfolgreichsten. DasGymnasium verlie er nach der mittleren Reife, ertrumte von einer Karriere als Fuballer, eine Ver-letzung stoppte den raum. Schulz begann zutrinken. Mit Anfang 20 fand er eine Rumungs-klage in seinem Briefkasten. Die Arbeitslosenhilfewurde ihm gestrichen, Freunde und Familie wen-deten sich ab. Ich wei, sagt er, wie das ist,wenn man mal in der Gosse war. Schulz berappel-te sich, hrte auf zu trinken, erffnete einen Buch-laden und las. Schlielich wurde er Brgermeisterin Wrselen.

    Schulz spricht sachlich ber diesen eil seinerBiografie, ohne Koketterie und falschen Stolz. Den-noch, dass er heute regelmig als Autor oder Ge-sprchspartner im Feuilleton der FAZ auftaucht,zeugt weniger von politischem Kalkl als vielmehrvon einem sehr persnlichen Ehrgeiz. Nicht nur ein

    Buchverkufer offenbar, sondern ein Leser, merkteHerausgeber Frank Schirrmacher an, nachdem ergemeinsam mit Schulz nach Verdun gereist war, umdie Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zu be-suchen. Zuletzt warnte Schulz in einem Essay vordem technologischen otalitarismus, der durch dieDigitalisierung der Welt drohe.

    hnlich unwahrscheinlich wie der Weg aus derGosse in das Amt des Brgermeisters mutet derweitere Verlauf seiner Karriere an. Denn MartinSchulz hat sie als Europaabgeordneter bestritten.

    Von Wrselen nach Brssel das wre noch bisvor Kurzem ein Weg ins politische Abseits gewe-sen. Keine Ochsen-, sondern eine Eselstour. Nunzhlt Schulz zu den Krisengewinnlern. Noch soeine ironische Wendung: Je grer die Zweifel andem europischen Einigungswerk wurden, fr daser selbst stets gekmpft hat, desto wichtiger wurdeder Europapolitiker Martin Schulz. Und umsodramatischer wurde die Rhetorik, mit der e