Diplomarbeit - othes.univie.ac.atRudolf Steiner hatte zunächst, ... 4 Insbesondere wurden und...
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Diplomarbeit
Titel der Arbeit
Genese und Struktur der Erkenntnistheorie Rudolf Steiners
mit besonderer Rücksicht auf ihre Fundierung in Denk- und
Bewusstseinserlebnissen
Verfasser:
Stefan Engelmayer
Angestrebter akademischer Grad
Magister der Philosophie (Mag. phil.)
Wien, im September 2012
Studienkennzahl: 298
Studienrichtung: Psychologie
Betreuer: Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Slunecko
3
Inhalt
Kurzbiographie Rudolf Steiners: ........................................................................................... 5
Einleitung ............................................................................................................................... 6
1. Erste Phase – Entstehungsmomente der Steiner’schen Erkenntnistheorie .................... 8
1.1 Rudolf Steiners ‚geistiges Erleben‘ ....................................................................... 10
1.2 Erkenntnisdrang und die Philosophie als Weg ...................................................... 14
1.3 Manuskript zu Fichtes Wissenschaftslehre ........................................................... 20
1.4 Auflösung des Gegensatzes zwischen Geist und Natur ........................................ 26
2. Zweite Phase – Ausbildung der Erkenntnistheorie in Anknüpfung an Goethe ........... 33
2.1 Steiners Weg zu Goethe ............................................................................................. 33
2.2 Steiners Goethe Forschung und Deutung .................................................................. 35
2.3 Anknüpfungspunkte in Goethes Naturwissenschaft .................................................. 40
2.4 Rudolf Steiners an Goethe orientierter Entwurf einer Erkenntnistheorie .................. 47
2.4.1 Methode und Zielrichtung der Grundlinien ........................................................ 47
2.4.2 Der Begriff der „reinen Erfahrung“ .................................................................... 49
2.4.3 Die Bestimmung des „Denkens“ ........................................................................ 56
2.4.4 Das Erkennen mit Hilfe des „Wahrnehmungsurteils“ ........................................ 61
3. Dritte Phase – Die in sich selbst gründende Erkenntnistheorie ................................... 65
3.1 Steiners Dissertationsschrift ...................................................................................... 65
3.1.1 Die Methode der Dissertation ............................................................................. 67
3.1.2 Steiners Kantkritik .............................................................................................. 67
3.1.3 Voraussetzungslose Erkenntnistheorie ............................................................... 74
3.1.4 Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis ............................................. 78
3.1.5 Der Erkenntnisakt ............................................................................................... 82
3.2 Die Philosophie der Freiheit ...................................................................................... 87
4
3.2.1 Methode der Philosophie der Freiheit ................................................................. 88
3.3.2 Die Denk-Beobachtung ....................................................................................... 90
3.3.3 Das Verhältnis des Ich zum Denken und die Überwindung der Subjekt-Objekt-
Trennung ...................................................................................................................... 96
Zusammenfassung ............................................................................................................... 99
Literaturverzeichnis ........................................................................................................... 103
5
Kurzbiographie Rudolf Steiners:
Rudolf Steiner wurde 1861 im heutigen Kroatien, damals Teil des Österreich-ungarischen
Reiches, geboren. Der Vater war Bahnhofsvorsteher, wodurch die Familie schließlich in
die Nähe von Wiener Neustadt zog, wo Rudolf Steiner später auch das Realgymnasium
besuchte. Mit 18 Jahren kam er zum Studium nach Wien, wo er an der Technischen
Hochschule Mathematik und Naturwissenschaften studierte. Nebenbei besuchte er
Vorlesungen zur Literatur, Philosophie und Geschichte an der Universität Wien. Im Alter
von nur 21 Jahren begann er, vermittelt durch den Literaturprofessor und Goetheforscher
Karl Julius Schröer, mit der Arbeit an der Herausgabe von Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften. Später sollte er im Goethe- und Schillerarchiv in
Weimar arbeiten (1890-1896). 1891 promovierte er in Rostock (in der k.u.k. Monarchie
war ihm das aufgrund seines Realschulabschlusses nicht möglich) zum doctor
philosophiae. Seine Promotionsschrift wurde ein Jahr später erweitert unter dem Titel
Wahrheit und Wissenschaft herausgegeben. Steiner sah darin das Vorspiel zu seiner
Philosophie der Freiheit, die 1893 erschien und die er als sein philosophisches Hauptwerk
betrachtete. Als großer Nietzsche-Kenner und -Bewunderer – er veröffentlichte 1895 sein
Werk Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit – wurde er kurzzeitig von dessen Schwester
zur Ordnung der Bibliothek des zu dem Zeitpunkt bereits geistig Umnachteten bestellt.
1897 übernahm er die Herausgabe des Magazins für Litteratur in Berlin und wurde dort
1899 an die Arbeiterbildungsschule gerufen um Geschichte, Literatur und
Naturwissenschaften zu unterrichten. 1900 und 1901 erscheint Die Welt- und
Lebensanschauung im 19. Jahrhundert in zwei Teilen, eine Geschichte der Philosophie
dieser Zeit.
Nach der Jahrhundertwende wandte er sich im öffentlichen Schaffen zunächst der
abendländischen mystischen Tradition zu und wurde schließlich Vorsitzender der neu
gegründeten deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, jedoch unter der immer
wieder bekräftigten Einschränkung, dass er „nur über dasjenige sprechen könne, was in mir
als Geisteswissenschaft lebt“ (GA 28/393)1. Nach der Trennung von der Theosophischen
1 Zur Zitierung aus Steiners Werken siehe Literaturverzeichnis.
6
Gesellschaft, mit deren Ansichten er zunehmend in Konflikt stand, gründete er 1913 die
Anthroposophische Gesellschaft.
Damit begann die wirkmächtigste Zeit Steiners. Aus der Anthroposophie sollten im Laufe
der Zeit eine Vielzahl an Kulturimpulsen auf verschiedensten Gebieten ausgehen; wie z.B.
die soziale Dreigliederungsbewegung, Innovationen in Kunst und Architektur, die
Gründung einer religiösen Erneuerungsbewegung (Christengemeinschaft), eine
Bewegungskunst (Eurythmie), die anthroposophische Medizin, die biologisch-dynamische
Landwirtschaft und nicht zuletzt die Waldorfpädagogik. Rudolf Steiner starb 1925 in der
Schweiz.
Das Rudolf Steiner Gesamtwerk umfasst mit seinen zahlreichen Vorträgen weit über 300
Bände.
Einleitung
Ziel der Arbeit war es, die Steiner‘sche Erkenntnistheorie von ihrer biographischen
Entstehung bis zu ihrer endgültigen Ausformung einer immanent-kritischen Untersuchung
zu unterziehen. Es sollte untersucht werden aus welchen persönlichen Erfahrungen und
philosophischen Kontexten sich seine Erkenntnistheorie ergab. Besonderes Augenmerk
sollte auf die phänomenologische Fundierung in den Denk- und Bewusstseinserlebnissen
Steiners gelegt werden.
Steiners erkenntnistheoretisches Schaffen überspannt von seinen ersten (zu Lebzeiten
unveröffentlichten) Gehversuchen bis zu seinem philosophischen Hauptwerk, der
Philosophie der Freiheit, 24 Lebensjahre. Daran erkennt man bereits die große Bedeutung,
die dieses Thema für ihn hatte. Sie ist im Wesentlichen zwei Eigenschaften Steiners
geschuldet: einer gesteigerten geistigen Erlebnisfähigkeit2 und seiner Neigung zu einem
kritischen philosophischen Denken. Erstere warf die Erkenntnisfragen auf, letztere bot ihm
einen Rahmen zu ihrer systematischen Beantwortung. Daher sollen zunächst die
Eigentümlichkeit seines ‚geistigen Erlebens‘ sowie das Werden seines philosophischen
Denkens dargestellt werden. Durch die biographische Aufarbeitung werden Motive und
2 Steiner schildert in seiner Autobiographie diese gesteigerte geistige Erlebnisfähigkeit als wesentliches
Merkmal seiner Kindheit. Er spricht dort vom Erleben einer dem Anschein nach eigenständigen ‚geistigen
Welt‘. Dieses ‚geistige Erleben‘ Steiners wird in Kapitel 1.1. näher behandelt.
7
Erfahrungshintergründe sichtbar, die zu einem Verständnis der Steiner’schen
Erkenntnistheorie beitragen.
Die Entwicklung von Steiners Erkenntnistheorie lässt sich in drei Phasen gliedern. Die
erste Phase fällt in seine Kindheit und Jugend. In ihr stellen sich die Erkenntnisfragen zum
ersten Mal und ihre Beantwortung wird zu einem inneren Ringen und existentiellen
Bedürfnis. Steiner entwickelt in einer Dialektik von persönlichen Bewusstseinserlebnissen
und philosophischer Reflexion seine erkenntnistheoretische Position. In der zweiten Phase
stößt er auf Goethe und findet seine erkenntnistheoretische Grundhaltung in Goethes
naturwissenschaftlichen Schaffen wieder. Er veröffentlicht daher seine erste
erkenntnistheoretische Schrift in Anlehnung an Goethe. In der dritten Phase löst er sich
von der Orientierung an Goethe und findet zu einer in sich selbst begründeten
philosophischen Darstellungsweise.
Diese Arbeit folgt in ihrem Aufbau dieser biographischen Chronologie, wobei die erste
Phase die oben angesprochenen Elemente des philosophischen Werdens und das
gesteigerte geistige Erleben bis hin zu geistigen Schlüsselerlebnissen beinhaltet. In der
Darstellung der zweiten Phase (Anlehnung an Goethe) wird Steiners Auseinandersetzung
mit Goethes Naturwissenschaft behandelt, in der er versucht das geistige Erleben
erkenntnistheoretisch zu begründen. Bei der Darstellung der letzten Schaffensphase wird
die ausgeformte und nun eigenständige Erkenntnistheorie in ihren wichtigsten
Begründungselementen und schließlich in ihrer denk-phänomenologischen Fundierung
untersucht.
8
1. Erste Phase – Entstehungsmomente der Steiner’schen
Erkenntnistheorie
Für die Schilderung der Kindheit und Jugend Rudolf Steiners, vor allem was sein geistiges
Erleben betrifft, muss man in erster Linie auf seine autobiographischen Darstellungen
zurückgreifen. Das wirft natürlich das Problem auf, sich an Steiners Selbstdarstellung
orientieren zu müssen. Allerdings erweisen sich, wie der Chronist und Biograph Christoph
Lindenberg bemerkt, die Angaben in Steiners „Erinnerungswerk“ als „sehr zuverlässig“
(vgl. Lindenberg, 1988, S. 9). Der Eindruck der Zuverlässigkeit lässt sich allerdings nur
aus jenen Schilderungen Steiners gewinnen, denen nachprüfbare Fakten gegenüberstehen.
Was Steiners Selbstbeschreibung betrifft, insbesondere die Schilderungen seiner geistigen
Erlebnisse, so stehen diese aufgrund der Quellenlage unüberprüfbar im Raum. Sowohl die
Annahme ihrer (subjektiven) Richtigkeit als auch die Annahme einer Verfälschung aus
persönlichen Motiven (vgl. Zander 2007) muss daher Spekulation bleiben. Der vorliegende
Text entscheidet sich dafür den Selbstbeschreibungen Steiners dort (mit kritischer Distanz)
zu folgen, wo es keine ergänzenden Quellen gibt.
Rudolf Steiner hatte zunächst, wie in seiner Autobiographie Mein Lebensgang zu lesen ist,
„wenig Neigung“ zu einer Darstellung seines persönlichen Lebens. Allerdings sah er sich
mit Zunahme des öffentlichen Interesses an seiner Person3 auch mit verschiedenen ihn
betreffenden Gerüchten (wie auch Vorwürfen gegenüber seiner Werkentwicklung4)
3 Steiner war spätestens in den 1920er Jahren Gegenstand zahlreicher Zeitungsartikel. Ein Vortrag Steiners
konnte bis zu 2000 Hörer anziehen (vgl. Lindenberg 1997).
4 Insbesondere wurden und werden (siehe Zander, 2007) Steiner immer wieder Brüche in seinem geistigen
Werdegang vorgeworfen. Nicht nur sein Betätigungsfeld wandelte sich vom Philosophischen ins
Theosophische, sondern beispielsweise auch seine Haltung zu Nietzsche oder dem Christentum unterlag
deutlichen Veränderungen. Er selbst verwies aber stets auf die Kontinuität in seiner geistigen Entwicklung
und sah die Veränderungen lediglich im Hinzugewinnen neuer Erkenntnisquellen begründet, nicht aber in der
Veränderung seiner menschlichen und wissenschaftlichen Grundhaltung. Günter Röschert fasst den
Kontinuitätsimpuls in Steiners Werk als die „Suche nach der Rechtfertigung der inneren Geistanschauung
vor dem intuitiven Denken“ zusammen (Röschert, 2007, online). Andere Vorwürfe bestanden in Gerüchten
seinen Werdegang betreffend. Zum Beispiel gab es das Gerücht seitens der Theosophischen Gesellschaft,
Steiner wäre von Jesuiten erzogen worden, womit man eine schädliche geistige Prägung verband (vgl.
9
konfrontiert, die ihn zu dem Schritt veranlassten, „die Dinge in das rechte Licht zu stellen“
(28/7).
Steiners autobiographische Aufzeichnungen wurden ab 1923 fortlaufend bis zu seinem Tod
1925 in der Zeitschrift Das Goetheanum veröffentlicht. Steiner konzentrierte sich in der
Darstellung seines Lebens einerseits auf seinen äußeren und andererseits auf seinen
geistigen Werdegang. Seine „Privatverhältnisse“ – worunter etwa die Darstellung seiner
engen persönlichen Beziehungen zu verstehen ist oder auch die der Nöte und Widerstände,
durch die er sich durchzukämpfen hatte – enthielt er der Öffentlichkeit vor. Dies trug ihm
die Kritik mancher früher Weggefährten ein, wie etwa von Rosa Mayreder5, die in Steiners
Darstellungsweise „Schönfärberei“ sah, wie sie wenig schmeichelhaft in ihrem Tagebuch
festhielt (Vögele, 2005, S. 50).
Steiner selbst hatte vorgehabt, die geplante Buchausgabe seiner Biographie „mit
Anmerkungen, in denen auch das Innerliche berücksichtigt wird“ (zitiert nach Lindenberg,
1997, S 17.), zu versehen, verstarb aber noch, bevor auch nur die in der Zeitschriftenreihe
erscheinende Biographie abgeschlossen werden konnte. Schließlich wurde noch im
Todesjahr diese unvollendet gebliebene Autobiographie in Buchform unter dem Titel Mein
Lebensgang veröffentlicht.
Aber bereits 1913 sah sich Steiner nach der Trennung von der Theosophischen
Gesellschaft veranlasst, in einem Vortrag eine Skizze eines Lebensabrisses zu geben, um
Gerüchten entgegen zu treten, die im Zuge der problematischen Trennung entstanden
waren.6
Aus diesen beiden Quellen – der Autobiographie sowie dem autobiographischen Vortrag –
B83/84).
5
Rosa Mayreder, österreichische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin der ersten Stunde, die mit Steiner
noch über dessen Wiener Zeit hinaus befreundet blieb, hielt von Rudolf Steiner als Philosophen viel, „denn
er war ein Denker von außergewöhnlichen Gaben“ (Vögele 2005, S. 44), von dem späteren Anthroposophen
Rudolf Steiner jedoch recht wenig. Über seine Autobiographie hielt sie fest: „er stellt darin seine geistige
Entwicklung so dar, wie es nur ein umfassend gebildeter Philosoph vermag. Und doch macht diese
Darstellung einen schattenhaften Eindruck, weil sie sich nur im Geistigen bewegt“ (a.a.O., S. 50).
6 siehe Fußnote
3
10
muss eine Darstellung Steiners früher Entwicklung, seiner Begabungen und
Eigentümlichkeiten in erster Linie schöpfen. Wo vorhanden wurde auf Kommentare
Steiners Zeitgenossen als Ergänzung oder Kontrastierung zurückgegriffen.
1.1 Rudolf Steiners ‚geistiges Erleben‘
Auch wenn diese Arbeit den vortheosophischen Steiner (den Philosophen und
Erkenntnistheoretiker) im Blick hat, so kann sie dennoch nicht gänzlich vom Späteren
unberührt bleiben. Überall dort haben wir es mit dem späten, theosophischen bzw.
anthroposophischen Steiner zu tun, wo dieser rückblickend seinen Werdegang oder sein
frühes Schaffen kommentiert. Dies trifft im Rahmen dieser Arbeit insbesondere auf die
Beschreibung von Steiners Kindheit und Jugend zu, die die Entstehungsgeschichte seines
erkenntnistheoretischen Strebens erzählt.
So finden sich in Steiners biographischer Rückschau bereits in der Kindheit Anlagen einer
geistigen Erlebnisfähigkeit beschrieben, die in der theosophischen und anthroposophischen
Schaffensphase grundlegend wurden. Diese Anlage zu einem gesteigerten geistigen
Erleben ist aber nach Steiners Schilderungen auch maßgeblich für die Entstehung seiner
Erkenntnistheorie verantwortlich7, da sie ihm – wie sich zeigen wird – jene
Erkenntnisfragen aufwarf, die er auf philosophischem Wege zu beantworten suchte. Daher
wird auf Steiners diesbezügliche Schilderungen bei der Darstellung der Genese seines
erkenntnistheoretischen Schaffens auch eingegangen.
Um ein Bild Steiners geistiger Veranlagung zu zeichnen, wollen wir uns also zunächst an
die Spuren seiner biographischen Stationen und Erinnerungen heften.
Rudolf Steiner verlebte seine frühe Kindheit in Pottschach, einem kleinen Ort im südlichen
Niederösterreich. Der Vater, Johann Steiner (1829 – 1910), war als Stationsvorsteher
dorthin versetzt worden, als Rudolf Steiner zwei Jahre alt war. Steiner erinnert sich: „Eine
wundervolle Landschaft umschloss meine Kindheit. Der Ausblick ging auf die Berge, die
Niederösterreich mit Steiermark verbinden […] Man hatte in der Ferne des Umkreises die
7 Allerdings ist Steiners vortheosophisches Werk, zu dem maßgeblich seine erkenntnistheoretischen
Arbeiten gehören, klar von seinem esoterischen Spätwerk zu trennen, da es sich zwar auf idealistischem aber
dennoch rein philosophischem Boden bewegt.
11
Majestät der Gipfel, und in der unmittelbaren Umgebung die Anmut der Natur“ (28/9f).
Den scharfen Kontrast zu dieser in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch
weitgehend unberührten Natur am Fuße des Schneeberges, bildete der Bahnhof an dem
Steiner mit seiner Familie lebte. Steiner sah sich in einen Gegensatz von einer herrlichen
Natur einerseits – mit der sich er sich innig verbunden fühlte – und den modernsten
technischen Errungenschaften andererseits – die wie ein Fremdkörper in die ländliche
Idylle hereinragten, gleichzeitig aber eine große Faszination auf ihn ausübten –
hineingestellt.
Als Steiner acht Jahre alt war, wurde der Vater an den Bahnhof in Neudörfl versetzt, das
auf der ungarischen Seite des österreichisch-ungarischen Grenzgebietes nahe Wiener
Neustadt lag. Die östlichen Ausläufer der Alpen, von denen er so angetan war, waren nur
mehr „erinnerungweckend“ in der Ferne sichtbar. Dafür waren ihm nun die „mäßigen
Erhebungen mit schönen Waldungen“ in und um das Rosaliengebirge „unbegrenzt lieb“
geworden (GA 6/17).
Diese Erinnerungen künden von einem innigen Naturerleben, aus dem für Steiner ein
weiterer Gegensatz hervorging, der für die Genese seiner Erkenntnistheorie von großer
Bedeutung ist:
Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor
meinem achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich
unterschied Dinge und Wesenheiten, ‚die man sieht‘ und solche, ‚die man nicht
sieht‘. (GA 28/22)8
Denn unter Dinge und Wesenheiten, die man „nicht sieht“, fiel das, was Steiner an der
Natur innerlich erlebte. Er erlebte in sich eine „Art Seelenraum“, „in welchem sich
durchaus diejenigen Welten offenbarten, aus denen nicht nur die äußeren Bäume, die
äußeren Berge zu der Seele des Menschen sprechen, sondern auch jene Welten, die hinter
8 Steiners Anmerkung dazu: „Ich erzähle diese Dinge wahrheitsgemäß, trotzdem die Leute, welche nach
Gründen suchen, um die Anthroposophie für phantastisch zu halten, vielleicht daraus den Schluss ziehen
werden, ich wäre eben als Kind schon phantastisch veranlagt gewesen; kein Wunder, dass dann auch eine
phantastische Weltanschauung sich in mir ausbilden konnte“ (28/22).
12
diesen sind“ (B 83/84, S. 7).9
Auch von einer anderen Seite her erlebte Steiner eine Welt, die seinen Seelenraum mit
Leben füllte. Es waren die Feierlichkeit und die Musik, die er als Ministrant im
katholischen Kultus erlebte und die ihn tief bewegten.
Von Anfang an war mir das alles nicht eine bloße Form, sondern tiefgehendes
Erlebnis. Das war um so mehr der Fall, als ich damit im Elternhause ein Fremdling
war. Mein Gemüt verließ das Leben, das ich mit dem Kultus aufgenommen hatte,
auch nicht bei dem, was ich in meiner häuslichen Umgehung erlebte. (GA 28/28)
Von Seiten seines Elternhauses erhielt Steiner für dieses intensive Erleben seiner
Innenwelt weder Anregung noch Verständnis, vielmehr war er damit alleine. Dennoch
lebte er gerne in dieser anderen Welt, denn die rein gegenständliche Welt wäre ihm
„geistige Finsternis“ gewesen, „wenn sie nicht Licht von dieser Seite bekommen hätte“
(28/23). Dem für Steiner selbst naheliegenden Schluss, er wäre eben ein Träumer gewesen,
hält er entgegen, er habe sich nichtsdestotrotz in alle lebenspraktischen Verrichtungen wie
selbstverständlich hineingefunden (28/28).
Schwierigkeiten, die für ihn im Zusammenhang mit der geschilderten Veranlagung
standen, hatte er im Bereich des Sprachlichen. Bis zu seinem vierzehnten oder fünfzehnten
Lebensjahr hatte ihm nur der Inhalt über seine zahlreichen grammatikalischen und
orthographischen Fehler in den Schulaufgaben hinweggeholfen: „Ich las in meiner
Knabenzeit über die Worte hinweg; ging mit der Seele unmittelbar auf Anschauungen,
Begriffe und Ideen, so daß ich vom Lesen gar nichts für die Entwickelung des Sinnes für
orthographisches und grammatikalisches Schreiben hatte“ (GA 28/30). Weiters erzählt
Steiner im Rückblick, er habe nicht viel Verständnis für die Verbindung von Worten mit
Dingen gehabt, wenn die Worte nur selten ausgesprochen wurden. Dagegen aber einen
merkwürdigen Sinn für den „Klang des Wortes“. So unterschrieb er als zehn-jähriger
Knabe einmal eine Glückwunschkarte an seine Eltern mit den Worten „Ihr herzlich
9 Steiner betonte in seiner theosophischen Schaffensphase, dass Beschreibungen der erlebten geistigen Welt
nur metaphorisch möglich seien, da es sich eben um eine genuin geistige Erfahrung handle, die sich von allen
sinnlichen Erfahrungen grundlegend unterscheiden (vgl. GA 9/130). In der Kulturgeschichte des Menschen
treten solche Metaphern in allen Kulturen auf und fanden ihren Eingang in die Welt der Volksweisen, der
Mythen und der Märchen (vgl. Storl, 1997).
13
ergebener Neffe“, da ihm im Klang des aufgeschnappten Wortes „Neffe“ etwas besonders
Herzliches zu liegen schien (B 83/84, S. 10).
Steiners Erleben als Kind spielte sich seiner Erzählung nach also verstärkt in einer
Innerlichkeit ab, die zwar weitgehend durch äußere Erlebnisse angeregt, aber dennoch als
eigenständige Welt erlebt wurde. Steiner selbst spricht dabei von einer ‚geistigen Welt‘, zu
der neben den ‚Wesenheiten und Dingen, die man nicht sieht‘ auch Begriffe und Ideen
gehören. Dem jungen Steiner war aber nicht entgangen, dass er mit seinem Erleben einer
von den äußeren Sinnen unabhängig erscheinenden Welt in seinem Umfeld alleine dastand.
Er entwickelte daher das Bedürfnis nach einer Rechtfertigung dieser geistigen Welt; nach
Erkenntnissen, die zeigen konnten, dass sie keine Täuschung war.
Ein für Steiner bedeutsamer Zwischenschritt auf diesem Weg war seine Entdeckung der
Geometrie. Etwa im achten Lebensjahr stieß er im Zimmer des Neudörfler Hilfslehrers auf
ein Lehrbuch. Ihm wurde erlaubt, es auszuborgen, und er machte sich voll Enthusiasmus
darüber her:
Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von
Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo
sich eigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoreische Lehrsatz bezauberte
mich. (GA 28/20)
Die Geometrie war ein faszinierender Fund für den jungen Steiner, denn an ihr erlebte er
eine Unabhängigkeit von der äußeren Sinnlichkeit, die seinem geistigen Erleben analog zu
sein schien. „Dass man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen
leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten
Befriedigung“ (GA 28/21). In der Geometrie hatte er etwas gefunden, das ebenfalls rein
geistig erfasst werden konnte, aber gleichzeitig Teil eines allgemein anerkannten inneren
Erlebens war.
Bei der Geometrie sagte ich mir, hier darf man etwas wissen, was nur die Seele
selbst durch ihre eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die
Rechtfertigung, von der geistigen Welt, die ich erlebte, ebenso zu sprechen wie von
der sinnlichen. (GA 28/22)
Steiners Faszination gegenüber der Geometrie steht in der Tradition abendländischer
14
Esoterik. Über den Toren von Platons Akademie stand einer in der Spätantike lancierten
Legende nach „Ἀγεωμέτρητος μηδεὶς εἰσίτω“, d.h. „Ohne Kenntnis der Geometrie soll
keiner eintreten“, was als Hinweis auf die für platonische Akademiker notwendige
Abstraktionsfähigkeit bzw. rein innere Erlebnisfähigkeit zu deuten ist, wenn man in das
Reich der Ideen aufsteigen will (Slunecko 2010, S. 5f). Denn eine Schulung durch die
Geometrie verhalf dem Geist dazu, sich von einer gegenständlichen (sinnlichen) Welt
unabhängig zu machen. In Steiner schien diese Fähigkeit bereits veranlagt gewesen zu sein
und er betrat die Geometrie als Brücke zwischen den Welten in umgekehrter Richtung: von
einer dem Anschein nach nur von ihm erlebten rein geistigen Welt, hin zu einem allgemein
akzeptierten Leben in rein gedanklichen Inhalten. Für Steiner selbst war die erlebte
geistige Welt mit so viel Realitätssinn10 ausgestattet, dass er an der Wirklichkeit dieser
Erfahrungswelt ebenso wenig zweifelte, wie an jener der sinnlichen Welt. Der Umstand
jedoch mit dem Erlebten in seiner Umgebung auf Unverständnis zu stoßen, trieb ihn dazu
nach einer Rechtfertigung der für ihn „gewissen“ geistigen Welt zu suchen. Durch die
Geometrie allein konnte dieses Bedürfnis allerdings nicht nachhaltig erfüllt werden, denn
immer neue Fragen ergaben sich aus dem Erleben und der Konfrontation mit einer Welt,
die diesem Erleben ablehnend gegenüber stand. So wandte sich Steiner schließlich der
Philosophie zu, um auf diesem Weg eine Rechtfertigung für sein geistiges Erleben zu
suchen, und den Widerspruch der zwei Welten in denen er lebte, aufzulösen.
1.2 Erkenntnisdrang und die Philosophie als Weg
1872 kam Rudolf Steiner in die Realschule in Wiener Neustadt. Der Elfjährige hatte die
Lehrerschaft bei der Aufnahmeprüfung auf die Bürgerschule vor allem durch eine Reihe
von Zeichnungen beeindruckt, die vorgezeigt wurden. (siehe Abb. 1)
10
Es ist durchaus die Frage zu stellen, woraus sich der Realitätssinn speist, wenn man von rein
materialistischen Bezugspunkten (d.h. die Beschränkung auf rein sinnlich Erlebtes) absieht. Messen wir etwa
Erlebnissen dann Realität bei (im Gegensatz zu Träumen beispielsweise), wenn sie von einem hohen Maß an
Klarheit bzw. Bewusstheit begleitet werden?
15
Abb. 1: Kohlezeichnung Rudolf Steiners ca. 1871(Graf Szechenyi) (B 83/84 S. 43)
Rudolf Steiners Vater war an der Ausbildung seines Sohnes sehr interessiert, um ihm einen
Aufstieg aus den ärmlichen Verhältnissen zu ermöglichen. Er nahm die beeindruckte
Lehrerschaft der Bürgerschule zum Anlass, Steiner auch zur Aufnahmeprüfung an die
Realschule zu bringen. Dem kleinen Bahnbeamten, der kaum genug verdiente, um seine
Familie ernähren zu können, schwebte für seinen Sohn eine Laufbahn als Eisenbahn-
Ingenieur vor. Rudolf Steiner war es seinen Schilderungen nach zu diesem Zeitpunkt egal,
auf welche Schule er gehen solle. Bedeutend für ihn war lediglich, das zu erlernen, was
ihm bei der Beantwortung der brennenden Fragen über das Leben und die Welt behilflich
sein würde (GA 28/32).
Er bestand auch die Aufnahmeprüfung an die Realschule. Zunächst war der Schulbesuch
für seine Eltern mit erheblichem finanziellem Aufwand verbunden. Für ihn selbst lag der
Aufwand in einem oft mühseligen Schulweg in das fünf Kilometer entfernte Wiener
Neustadt. Besonders im Winter, wenn die Südbahn eingeschneit war, blieb ihm oft nur der
Fußmarsch durch knietiefen Schnee. Die finanzielle Belastung der Eltern verringerte sich,
nachdem Steiner in der dritten Klasse zum Vorzugsschüler wurde, wodurch den Eltern das
Schulgeld erspart blieb.
Rudolf Steiners Lerneifer war aber nicht allein der angespannten finanziellen Situation im
Elternhaus (in dem vier Kinder durchzubringen waren) geschuldet, denn er ging über die
schulischen Anforderungen weit hinaus. Als beispielsweise am Ende des ersten
16
Schuljahres in einem Jahresbericht ein Aufsatz des Schuldirektors, „Die Anziehungskraft
betrachtet als eine Wirkung der Bewegung“, erschien, war Steiners Erkenntnisdrang
entfacht. Er erinnert sich: „Ich konnte als elfjähriger Junge von dem Inhalte zunächst fast
nichts verstehen. Denn es fing gleich mit höherer Mathematik an. Aber von einzelnen
Sätzen erhaschte ich doch einen Sinn“ (GA 28/35). Steiner wollte jedoch den gesamten
Aufsatz verstehen und sparte so lange, bis er sich das Buch des Direktors kaufen konnte,
auf das im Aufsatz verwiesen war („Die allgemeine Bewegung der Materie als
Grundursache aller Naturerscheinungen“). Er nahm sich vor, so schnell als möglich all das
zu lernen, was für das Verständnis von Aufsatz und Buch erforderlich war.
Und ich tat alles dazu, um dahin zu gelangen. Wo ich nur mathematische und
physikalische Bücher auftreiben konnte, benützte ich die Gelegenheit. Es ging recht
langsam. Ich setzte mit dem Lesen von Aufsatz und Buch immer wieder an; es ging
jedesmal etwas besser. (GA 28/36)
In der dritten Klasse stieß er im Jahresbericht auf einen Aufsatz seines Physiklehrers über
Wahrscheinlichkeitsrechnung und Lebensversicherungsrechnung. Wieder war er
angespornt, sich das nötige Wissen anzueignen, um den Aufsatz verstehen zu können.
Schließlich brachte er sich durch Lehrmaterialien zum Selbstunterricht „analytische
Geometrie, Trigonometrie und auch Differential- und Integralrechnung“ bei, „lange bevor
ich sie schulmäßig lernte“ (GA 28/42). Mit den nun erworbenen mathematischen
Kenntnissen wandte er sich erneut dem Buch des Direktors zu und begann es immer besser
zu verstehen.
Steiner war also, folgt man seiner autobiographischen Darstellung, über Jahre an seinem
Vorsatz drangeblieben, sich das nötige Wissen zum Verständnis des Aufsatzes
anzueignen.11
Dabei fühlte er gar nichts in sich, das ihn dazu drängte, sich zu der
dargelegten Anschauung zu bekennen; sie nichtsdestotrotz zu verstehen, schien ihm
11
Der damit verbundene, an Versessenheit grenzende, Erkenntnisdrang kann durchaus als kennzeichnend
für Steiners Leben betrachtet werden. Stefan Zweig äußerte sich über seine Begegnungen mit Steiner in
Berlin um die Jahrhundertwende folgendermaßen: „Es war aufregend ihm zuzuhören, denn seine Bildung
war stupend und vor allem gegenüber der unseren, die sich allein auf die Literatur beschränkte, großartig
vielseitig […]. An seinem phantastischen und zugleich profunden Wissen erkannte ich, dass die wahre
Universalität, derer wir uns mit gymnasiastischer Überhebung schon bemächtigt zu haben meinten, nicht
durch flüchtiges Lesen und Diskutieren, sondern nur in jahrelanger brennender Bemühung erarbeitet werden
kann“ (Vögele 2005, S. 131f).
17
dennoch von großer Bedeutung zu sein (28/36).12
Was ihn dabei antrieb, war der Gedanke, die äußeren Naturvorgänge verstehen zu müssen,
um ihr Verhältnis zu der von ihm erlebten geistigen Erlebniswelt bestimmen zu können.
Ich sagte mir, man kann doch nur zurechtkommen mit dem Erleben der geistigen
Welt durch die Seele, wenn das Denken in sich zu einer Gestaltung kommt, die an
das Wesen der Naturerscheinungen herangelangen kann. Mit diesen Gefühlen lebte
ich mich durch die dritte und vierte Realschulklasse durch. Ich ordnete alles, was
ich lernte, selbst daraufhin an, mich dem gekennzeichneten Ziele zu nähern. (GA
28/37)
Steiner erlebte also immer stärker den Gegensatz zwischen den äußeren Naturvorgängen
und den sich ihm offenbarenden geistigen Vorgängen. In der Geometrie hatte er das
Denken als auf sich selbst gegründet erfahren und damit eine Rechtfertigung der für ihn
selbstevidenten geistigen Welt (die ihrerseits ebenfalls vom Denken umspannt wurde)
gefunden. Zwischen den geistigen Erlebnissen, die er im Zusammenhang mit der Natur
hatte, und den äußeren Naturerscheinungen tat sich eine Kluft auf, die nur dann
überwunden werden konnte, wenn das Denken – das ihm eben ein Teil der geistigen Welt
war – an das Wesen der Naturerscheinungen heran kam. Das heißt, ihr gegenüber nicht als
ein Wesensfremdes stehen blieb. Es war der Zusammenhang zu finden zwischen den
äußeren Erscheinungen und dem innerlich Erlebten. Bei der Suche nach diesem
Zusammenhang warf sich die Frage auf, ob das Denken die Kluft zu überbrücken im
Stande sei und so wandte sich Steiner schließlich der Philosophie zu.
Die wenigen Kreuzer, die er mit Nachhilfeunterricht verdiente, investierte er nun in den
Erwerb vorwiegend philosophischer Bücher. Von seiner außerschulischen Umgebung in
Wiener Neustadt bekam er, bis auf die Buchhandlung, die er gerne aufsuchte, wenig mit,
da er nachmittags mit dem Zug nach Neudörfl zurück fahren musste. Da die Züge damals
nicht oft verkehrten, entstanden Wartezeiten, die Steiner für das Studium seiner
philosophischen Lektüre nutzte. Ein Mitschüler erinnert sich:
Dadurch, dass Rudolf Steiner sämtliche sieben Jahre [1872-1879] niemals abends in
12
Rudolf Steiner betonte später oft die Wichtigkeit, sich in der eigenen Denkart fremde und
entgegengesetzte Anschauungen hinein versetzten zu können.
18
Wiener Neustadt war, mit uns also niemals am „Glacis“ oder sonstwo spazieren ging,
war er für uns als Kamerad eigentlich gestrichen. […] Dieses von den Verhältnissen
erzwungene Alleinsein brachte es aber mit sich, dass er im Eisenbahnwagen sich mit
Lektüre beschäftigte, anfänglich Kindergeschichten, später jedoch Kantische,
Hegelsche und Herbartsche Philosophie. (Vögele 2005, S. 21) 13
In besagter Wiener Neustädter Buchhandlung entdeckte er 1877 Kant. Die „Kritik der
reinen Vernunft“ war gerade als Reclam Ausgabe erschienen und damit für den
Sechzehnjährigen14 erschwinglich. Wieder sparte er jeden Kreuzer, um sich dieses Buch zu
kaufen, welches ihm eine Antwort auf seine offenen Fragen verhieß. Zu jenem Zeitpunkt
wusste er noch nichts über die Bedeutung Kants in der Geistesgeschichte, aber die Frage
„was menschliche Vernunft für einen wirklichen Einblick in das Wesen der Dinge zu
leisten vermag“, war ihm ja im Zusammenhang mit seinen Erlebnissen bereits vor die
Seele getreten (GA 28/38). Steiner nutzte nun jede Gelegenheit, sich in Kant zu vertiefen.
„Ich las wohl manche Seite mehr als zwanzigmal hintereinander. Ich wollte zu einem
Urteile darüber kommen, wie das menschliche Denken zu dem Schaffen der Natur steht“
(GA 28/39). Er suchte in Kants Gedanken feste Anhaltspunkte, um mit seinem eigenen
Denken zurechtzukommen.
Wo und wann ich meine Ferienspaziergänge machte: ich musste mich irgendwo
still hinsetzen, und mir immer von neuem zurechtlegen, wie man von einfachen,
überschaubaren Begriffen zur Vorstellung über die Naturerscheinungen kommt. Ich
verhielt mich zu Kant damals ganz unkritisch; aber ich kam durch ihn nicht weiter.
(GA 28/41)
Bemerkenswert ist, mit welchem Enthusiasmus sich der junge Rudolf Steiner anscheinend
13
Steiner selbst hingegen beschrieb sich als stets geselligen Menschen und spricht, was die Wiener
Neustädter Zeit betrifft, von vielen Freundschaften. Die Geselligkeit ist immerhin für seine Wiener und
Berliner Zeit gut dokumentiert, bewegte er sich doch in Wien in den Literatenkreisen um Marie Eugenie
Delle Grazie und Rosa Mayreder und war für feurige Diskussionen im Café Griensteidl bekannt. In Berlin
durchzechte er mit Otto Erich Hartleben und anderen viele Nächte am sogenannten „Verbrechertisch“ (vgl.
Vögele 2005 und Lindenberg 1997). Möglicherweise holte er dort seine in Wiener Neustadt verpasste
„Pubertät“ nach.
14 Steiner selbst gibt an 15 Jahre alt gewesen zu sein, aber anhand des Erscheinungsdatums der Reclam
Ausgabe, kann das als Erinnerungsfehler ausgewiesen werden (vgl. Lindenberg 1997).
19
seinen philosophischen Studien widmete. Das Kant-Studium wurde in den folgenden
Jahren auf alle anderen Werke, die in der Reclam Ausgabe erschienen waren, ausgedehnt.
Unterstützende Anregungen von außen bekam er dazu nicht – im Gegenteil. Ein
Mitschüler erinnert sich, wie der gemeinsame Literaturprofessor, der wenig Freude mit
Steiners langen Aufsätzen hatte, diesen getadelt hatte: „Sie scheinen zu Hause eine
philosophische Literatur zu besitzen! Ich rate Ihnen, dieselbe nicht zu lesen; denn Sie
können sie ja jetzt noch nicht verstehen!“ (Vögele 2005, S.22). Steiner gibt selbige
Begebenheit mit leicht verändertem Wortlaut wieder und kommentiert sie ironisch: „Ich
konnte nun durchaus nicht begreifen, warum ich meine Gedanken durch Lesen derselben
Bücher verwirren sollte, aus denen er die seinigen hatte. Und so blieb denn das Verhältnis
zwischen ihm und mir weiter ein gespanntes“ (GA 28/47). Der Mitschüler erinnert sich
weiter: „Unsere ironischen Bemerkungen machten auf Rudolf Steiner keinen Eindruck; im
Gegenteil vertiefte er sich immer mehr in sein Lieblingsstudium (Kant)“ (Vögele 2005,
S.22).
Es wird deutlich, wie sich Steiner ganz aus eigenem Erkenntniseifer in die Philosophie
vertiefte und mit welcher Intensität ihn seine Erkenntnisfragen schon als Jugendlicher
umtrieben.
Doch mit Kant konnte er nicht weiterkommen, denn die Kant’sche Philosophie
widersprach ganz seinem Empfinden. Er empfand, dass das Denken so ausgebildet werden
könne, dass es die Dinge und Vorgänge in der Welt wirklich zu umfassen im Stande war.
Dass das Denken nur dazu in der Lage sein solle, über etwas nachzudenken, und dass
dabei das Ding an sich außerhalb des Denkens bleiben müsse, war ihm ein unerträglicher
Gedanke. „Was in den Dingen ist, das muss in die Gedanken des Menschen herein, das
sagte ich mir immer wieder“ (GA 28/40). Aus diesem Grund sollte sich Steiners
Erkenntnistheorie später in scharfen Gegensatz zu Kants Erkenntniskritik begeben.15
Dennoch, so schildert Steiner, setzte er immer wieder aufs Neue an, Kant besser zu
verstehen, denn es schien ihm notwendig alle Fragen, die Kant in Bezug auf das Denken
aufwarf, gründlich durchzuarbeiten (GA 28/54f).
Wieder einmal vertiefte sich Steiner also in eine Anschauung, die seinem eigenen
Empfinden widersprach, von der er sich aber dennoch erhoffte, sie würde ihm dabei helfen,
15
siehe Kapitel: 3.1.1 Steiners Kantkritik
20
seine eigenen Anschauungen in klar bestimmte Gedanken zu gießen.
1879 maturierte Rudolf Steiner mit Auszeichnung. Der Vater ließ sich nun nach Inzersdorf
bei Wien versetzten, um dem Sohn das Studium an der Technischen Hochschule in Wien
zu erleichtern. Steiner nutzte seinen ersten Wienbesuch, um sich eine größere Anzahl
philosophischer Bücher zu kaufen. Darunter waren unter anderem Werke von Kant,
Reinhold, Schelling, Hegel und vor allem Fichte, dem sich Steiner in diesem Sommer vor
Beginn seines Hochschulstudiums ganz besonders widmete.
1.3 Manuskript zu Fichtes Wissenschaftslehre
Steiner wandte sich im Sommer nach seiner Matura mit „besonderer Liebe“ dem ersten
Entwurf (1794) von Fichtes Wissenschaftslehre zu. „Aber ich hatte doch meine eigenen
Ansichten. Und so nahm ich denn die ‚Wissenschaftslehre‘ Seite für Seite vor und schrieb
sie um“ (GA 28/52). Dabei entstand ein, nach Steiners Angaben, langes Manuskript.
Erhalten sind lediglich neun Seiten mit einer ausführlichen Einleitung, einem ersten
Kapitel und dem Beginn eines zweiten Kapitels, wo es schließlich abbricht. Ob dies die
Reste eines tatsächlich längeren Manuskripts sind, oder Steiners frühe Arbeit unvollendet
geblieben ist, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren (vgl. B 30, S. 35). In jedem Fall
sind es die ersten Fußabdrücke, die Steiner auf erkenntnistheoretischem Gebiet hinterließ.
Das Manuskript gibt Einblick in das sehr frühe, aber bereits eigenständige Denken
Steiners. An ihm werden auch die Entwicklungsschritte deutlich, die er noch gehen sollte.
Steiner war es in diesen Jugendjahren darum zu tun, „das lebendige Weben der
menschlichen Seele“ (GA 28/51), also seine inneren und daselbst lebendigen
Anschauungen16
, nach dem Vorbild Fichtes, in die Form eines strengen Gedankenbildes zu
bringen. So zeigt das Manuskript auch eine systematische Gedankenentfaltung.
In der Einleitung wird zunächst das Streben nach Wissen als ein Charakteristikum des
Menschen angeführt. Der menschliche Geist wolle über die gegebenen Objekte
16
Der Topos der „lebendigen Anschauung“ ist bestimmend für Steiners Denken. Die Steigerung des
Gedankenlebens zu einer lebendigen Anschauung findet sich schon bei Fichte (vgl. Fichte 1794/95, S. 88).
21
hinausgehen und ihre „Natur“ ergründen. „Man möge die Welt- und Kulturgeschichte
aufschlagen, auf welcher Seite man wolle, man findet dieses Streben nach einem gewissen
Ziele auf jeder Seite“ (B 30, S.26). Dieses augenscheinliche Streben nach Erkenntnis ruht
für Steiner nicht, ehe es befriedigt wird. Daran anknüpfend wirft er die Frage auf, ob der
Mensch denn auch zu einem gültigen, und damit befriedigendem, Wissen kommen könne.
Steiner führt aus, dass die Beantwortung dieser Frage nicht durch die Einzelwissenschaften
geschehen kann17, sondern einer Wissenschaft bedarf, die die Grundlagen des Wissens
selbst untersucht. „Wir können eine solche Lehre als Wissenschaft vom Wissen selbst oder
als Wissenschaftslehre bezeichnen“ (B 30, S. 27). Dass eine solche Wissenschaftslehre
überhaupt möglich ist, sieht er in der Zirkularität des dieser Annahme entgegenstehenden
skeptischen Arguments begründet: „Denn man nehme das Gegenteil an und sage: es ist
nichts gewiss; so muss der Satz, wenn er allgemein gelten soll, vermöge seiner Natur auf
sich selbst anwendbar sein, d.h. er ist selbst nicht gewiss. Er hebt also sich selbst auf […]
er ist also ein vollkommener Widerspruch und es ist mit ihm nichts anzufangen“ (ebd.).
Die Vernunft, die diesen Widerspruch sogleich aufdeckt, wird im Umkehrschluss zum
Bürgen für die Möglichkeit einer Wissenschaftslehre im oben genannten Sinn. Hierin
haben wir Steiners ersten (negativen) Versuch, das Denken als tragfähiges, erstes Prinzip
zu bestimmen.
Mit dieser Legitimation im Gepäck macht sich Steiner nun daran, nach dem „wie?“ der
Erkenntnis zu fragen. Es gilt nun jene Quelle ausfindig zu machen, die ein sicheres
Wissen, ein erstes Wissen hervorbringt. Weiß man, wie Erkenntnis zu Stande kommt, und
hat man dies als sicheres Wissen, dann kann auch die Bedeutung und Geltung
einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse festgestellt werden. Steiner nimmt also den
Erkenntnisvorgang in den Blick, um in ihm einen sicheren Ausgangspunkt für diese
Untersuchung zu finden:
Wollen wir dieser Quelle auf die Spur kommen, so müssen wir uns fragen, was
denn zum Zustandekommen einer Erkenntnis eigentlich gehört.
Dazu gehört 1. Offenbar ein zu erkennender Gegenstand; davon können wir
aber […] nicht ausgehen. 2. der Akt des Erkennens selbst. Da es sich aber darum
17
Was szientistische Wissenschaftsprogramme bis heute versuchen (vgl. Zeidler 2000).
22
handelt eben zu untersuchen, welches die Grundlagen der Gültigkeit von
Wahrheiten sind, so können wir vom Akt der Erkenntnis nicht ausgehen und es
bleibt uns daher
3. nur noch: Der Erkennende. In diesem müssen wir die Grundlagen der
Erkenntnisse, insoferne sie als gewiß angesehen werden sollen, suchen. Die Quelle
der Gewißheit und somit auch der Wissenschaftslehre ist die erkennende Person. (B
30, S. 29)
Von den Gegenständen kann nicht ausgegangen werden, da ja über die Bedingungen der
Gegenstandserkenntnis Gewissheit erlangt werden soll. Was den Akt des Erkennens
betrifft, so sollte Steiner im späteren Entwurf seiner Erkenntnistheorie, Wahrheit und
Wissenschaft, allerdings von diesem ausgehen, da er als einziger das Kriterium der völligen
Voraussetzungslosigkeit erfüllt, d.h., vor jeder Bestimmung ist.18 Vorerst wollen wir aber
noch Steiners frühen Gedankengängen folgen. Als bevorzugte Quelle erweist sich also die
erkennende Person, denn ohne sie scheint das Erkennen undenkbar. Aus ihr geht
augenscheinlich der Erkenntnisvorgang hervor – aber eben unter der Voraussetzung, dass
das erkennende Subjekt als solches schon bestimmt ist. Konsequenterweise wird eine
Bestimmung des „Ich“ alsdann im ersten Kapitel des Manuskripts auch vorgenommen.
Hier zeigt sich die Orientierung an der Vorlage, Fichtes Wissenschaftslehre, denn auch
dieser bedient sich der bereits bestimmten Erkenntnislogik, wenn er den Satz der Identität,
A=A, zum Ausgangspunkt macht, um davon ausgehend auf das schlechthin unbedingte
und sich selbst setzende Ich zurückzugehen (vgl. Fichte 1794/95, S. 91ff).
Der achtzehnjährige Steiner hatte aber, wie zitiert, seine eigenen Ansichten und ging in der
Bestimmung des Ich einen bemerkenswert eigenständigen Weg.
Zunächst dekonstruiert er die Annahme, das Ich wäre eine Vielheit – also ein Ich das
denkt, ein Ich das handelt usw. Will beispielsweise eine Handlung (b) eines handelnden
Ich (B) für das denkende Ich (A) eine Bedeutung haben, so müsse b in die
Bildungsgesetzte von A eingehen. „Wir sehen, daß also für das eine Ich A, welches von B
18
Er wird die Argumentation sogar radikal umkehren und sagen: „Nicht vom Bewußtsein aus wollen wir
das Erkennen bestimmen, sondern umgekehrt: vom Erkennen aus das Bewußtsein und das Verhältnis von
Subjektivität und Objektivität“ (GA 3/56). Siehe auch Kapitel: 3.1.2 Voraussetzungslose Erkenntnistheorie.
23
verschieden sein soll, die Handlungen des B nur dann eine Bedeutung haben, wenn es (sie)
zu seinen Handlungen werden“ (B 30, S. 30). Daraus leitet Steiner ab, dass das reine Ich
ein „Unicum“ ist. „Was hier gemeint ist, ist die qualitative und numerische Identität des
Ich mit sich selbst“ (ebd.). Weiters: „Das Ich ist in aller Mannigfaltigkeit von
Anschauungen, Erkenntnissen u. s. f. jener Brennpunkt, welchen zu ergreifen unmöglich
ist, da er immer und immer nach rückwärts entschlüpft, wenn wir ihn ins Auge fassen
wollen“ (ebd.).
Von diesem reinen und nicht festmachbaren aber eine Einheit bildenden Ich wesentlich
verschieden, ist nun das empirische oder psychologische Ich. „Das psychologische Ich
entsteht dadurch, daß ich alle meine Vorstellungen auf einen gemeinsamen Mittelpunkt
beziehe, in dem sie sich durchkreuzen, und dieses Bezogensein der Vorstellungen auf
einen gemeinsamen Mittelpunkt ist das psychologische Ich“ (B 30, S. 31). Das Beziehen
als Tat muss dem Bezogensein aber vorausgehen und ist folglich die Tat des reinen Ich.
Das psychologische Ich ist also durch die Reflexion, durch die Tätigkeit des reinen Ich,
entstanden.
Das ist ein durchaus schlüssiger Gedankengang, denn ginge man davon aus, dass das
psychologische Ich lediglich ein virtueller Bezugspunkt einer unbestimmten Anzahl von
Ichs wäre, so bliebe die Frage offen, was die Quelle des Beziehens selbst sein könnte.
Nun ergibt sich etwas Interessantes: weil Steiner ganz aus seinen inneren Anschauungen
heraus argumentiert und – wie wir gesehen haben – das Ich ihm immer „nach rückwärts
entschlüpft“, wenn er es zum Gegenstand einer direkten Betrachtung machen will, muss er
zu folgender Bestimmung kommen:
Das reine Ich ist weder, noch ist es irgend etwas im strengsten Sinne des Wortes.
Sein ganzes ergreifbares Wesen ist gegeben durch sein Tätigsein, wir können nicht
wissen, was es ist, sondern nur, was es tut. (ebd.)
Steiner erlebt an sich zu diesem Zeitpunkt das Ich nur als Tätigkeit. Im Gegensatz zu
Fichte erschöpft sich diese Tätigkeit des reinen Ichs nicht in der ‚Tathandlung‘ des sich
selbst Setzens. Die unterschiedliche Bestimmung des Ich sei daher noch einmal an Steiners
eigenen Worten verdeutlicht; zuerst ist Fichtes Gedankengang dargestellt:
Es sei A das Ich, dieses ist tätig und setzt sich selbst = A. Dies ist das Was, und die
24
Handlung ist versinnlicht durch A = A; es sollte das Wesen des A eben im Setzen
von A bestehen. Unseren Gedankengang kann man folgendermaßen bildlich
darstellen.
Das Ich sei dargestellt durch A, es ist tätig in den Weisen α, ß, y und bekommt
dadurch immer einen ganz bestimmten Charakter a, b, c...; was den
Gesamtcharakter A gibt. Wir behaupten nun: soll A, sowie auch a, b, c usw.
wirklich für das Ich eine Bedeutung haben, so muß sich das Ich selbst zu a, b, c
resp. A machen, ganz unentschieden, was a, b, c . . . A sei. (B 30, S. 32)
Steiner berichtet in seiner Autobiographie, wie er vom Ich ausgehend einen Weg in die
Natur finden wollte (vgl. Lindenberg 1997, S. 83): „Vorher hatte ich mich damit geplagt,
für die Naturerscheinungen Begriffe zu finden, von denen aus man einen solchen für das
‚Ich‘ finden könne.19 Jetzt wollte ich umgekehrt von dem Ich aus in das Werden der Natur
einbrechen. Geist und Natur standen damals in ihrem vollen Gegensatz vor meiner Seele“
(GA 28/52).20 Diesen Gegensatz galt es für Steiner aufzulösen. Auf der einen Seite stand
das Ich als ein Geistiges, vermittelt durch seine Tätigkeit, klar in seinem Bewusstsein. Auf
der anderen Seite war die Frage immer noch ungeklärt, wie die Natur, respektive die
gegenständliche Welt, ihren Weg in dieses Ich finden soll, sodass letzteres unmittelbare
Erkenntnis hat und nicht, wie im Falle Kants, einem unerkennbaren „Ding an sich“
gegenüber steht.
So wendet sich das zweite Kapitel des Manuskripts dann auch der Lehre vom „Nicht-Ich“
zu. Wenn die Tätigkeit des Ich nicht „reiner Akt“ oder „bloßes Vermögen“ sein solle, so
müsse etwas dem Ich Fremdes in dasselbe eintreten. Das Subjekt bedarf eines Objekts, um
empirisch tätig zu werden; sei es eine Vorstellung zu bilden oder eine Handlung zu
19
Als Einundzwanzigjähriger schrieb Steiner dazu in einem Brief an den Philosophen F.T. Vischer, dem
sein Aufsatz Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe (siehe Kapitel 1.4.) beigelegt war: „Ich habe
einstmals mich ganz in die mechanisch-materialistische Naturauffassung hineingelebt, hätte auf ihre
Wahrheit geschworen, wie es viele andere der Jetztzeit machen; aber ich habe auch die Widersprüche, die
sich aus derselben ergeben, selbst durchlebt.“ (Faksimile in GA 28)
20 Schelling stand in seinen philosophischen Anfängen vor einer ähnlichen Frage, als er an Hegel schrieb:
"Vom Unbedingten muss die Philosophie ausgehen. Nun fragt sich’s nur, worin dies Unbedingte liegt, im Ich
oder im Nicht-Ich“ (Schelling 1869, S. 76).
25
vollziehen. Steiner ist sich der scheinbaren Widersprüchlichkeit dieses Gedankengangs zu
der vorangegangenen Bestimmung des Ichs bewusst. Er schreibt: „Denn tritt etwas fremdes
ein, so ist das Ich nicht mehr durch sich selbst, was es ist, sondern durch ein anderes“ (B
30, S. 33). Diese Aporie versucht Steiner nun dadurch aufzulösen, dass kein fremdes
Element „ohne das Zutun des Ich“ in selbiges eintreten kann. Das Ich wandelt das in es
Eintretende zu seinem „eigensten Wesen, damit das Ich bleiben könne, zu was es sich
selbst macht“ (B 30, S. 34). Diesen Vorgang nennt Steiner nun das „Bestimmen“, in dem
sich zwei einander entgegengesetzte Elemente vereinigen. Steiner schreibt:
Nehmen wir an, das Bestimmende sei das Ich, als tätiges bestimmendes. Das
aufgenommene fremde Objekt sei A; das A ist also ein Nicht-Ich, es ist entstanden
durch Bestimmung und zwar durch Bestimmung seitens des Ich, insoferne es durch
die Tätigkeit desselben, und zwar in seiner ganzen Ausdehnung A entstanden, d. i.
bestimmt ist, durch Bestimmung seitens eines anderen als das Ich und abgesehen
vom Ich, insoferne es durch die Tätigkeit des Ich gerade A geworden ist. (ebd.)
[Hervorhebung S.E.]
Was das „andere“ ist, durch welches das Ich überhaupt erst bestimmen kann, das bedarf, so
Steiner, noch einer Erörterung. Allerdings bricht das Manuskript an dieser Stelle ab und
das Dunkle dieses Gedankengangs lässt sich nicht weiter erhellen. Es ist damit aber eben
jener Gegensatz markiert (Ich vs. Nicht-Ich), um dessen Auflösung Steiner in dieser Zeit
ringt.
Wenngleich Steiner in seiner Autobiographie von einem „längeren Manuskript“ schreibt –
was weitere Seiten suggeriert – so scheint es doch wahrscheinlicher, dass eine
weiterführende Erörterung nicht stattgefunden hat. Diese Annahme wird u.a. dadurch
plausibel, wenn man Steiners Widerwillen in Betracht zieht, sich über klare Anschauungen
hinaus auf Spekulationen einzulassen. In jedem Fall war das Erkenntnisproblem an dieser
Stelle nicht zu einer befriedigenden Lösung gekommen, denn, so schreibt Steiner in
Erinnerung an die Arbeit an diesem Manuskript: „Die Natur wollte aber in die erlebte
Geisteswelt nicht herein“ (GA 28/52).
26
1.4 Auflösung des Gegensatzes zwischen Geist und Natur
Nach dem Sommer, der ganz dem philosophischen Studium hingegeben war, begann
Rudolf Steiner im Oktober 1879 sein Studium an der Technischen Hochschule in Wien. Er
erhielt dafür ein Stipendium von Karl Ritter von Ghega, dem Erbauer der Semmeringbahn,
was er vermutlich den Kontakten seines Vaters zu verdanken hatte (Lindenberg 1988).
Dennoch musste er auch seinen Nachhilfeunterricht fortsetzen, um das Auskommen zu
sichern. Studienziel war ein Realschullehramt; seine Studienfächer waren neben
Mathematik vor allem naturwissenschaftlicher Art. Ein geisteswissenschaftliches Studium,
das für Steiner wohl naheliegend gewesen wäre, setzte damals eine Gymnasialbildung
voraus. Damit war ein solches Studium für den Absolventen einer Oberrealschule
ausgeschlossen. Steiner besuchte jedoch neben seinem Studium an der Technischen
Hochschule als außerordentlicher Hörer auch Vorlesungen und Übungen an der Universität
Wien. Insbesondere waren es die des Herbartianers Robert Zimmermann und des
Philosophen und Psychologen Franz Brentano.21 Es machte tiefen Eindruck auf Steiner, die
Philosophie nicht nur aus Büchern zu lernen, sondern unmittelbar von Philosophen selbst
zu hören (GA 28/55). Auch seine eigenen philosophischen Studien setzte Steiner fort. Das
Studium der Naturwissenschaften machte die Angelegenheit für ihn umso dringender,
seine Erkenntnisfragen auf sicherem philosophischen Boden zu beantworten. Aber Steiner
mahnte sich zur Vorsicht: „Voreilig einen Gedankengang bis zum Ausbilden einer eigenen
philosophischen Anschauung zu führen, schien mir gefährlich“ (GA 28/63).
Von Seiten der Naturwissenschaften drangen Ideen an ihn heran, die nur schwer mit
seinem Erleben in Einklang zu bringen waren. Die physische Welt wurde als Resultat von
Bewegungsvorgängen der Materie gedeutet. Auch alle sinnlichen Wahrnehmungen wurden
letztlich auf solche Bewegungsvorgänge zurückgeführt. Farb- und Wärmeempfindungen
entstünden qua Affizierung der entsprechenden Wahrnehmungsorgane durch
Schwingungsvorgänge. Diese Anschauungen machten Steiners Denken „unsägliche
Schwierigkeiten“, denn sie trieben allen Geist aus der objektiven Außenwelt hinaus (GA
28/69). Den Geist erlebte er aber ebenso als Realität, wie die Außenwelt. „Ich sah, daß
Viele einen Gegensatz empfanden zwischen der Erfahrung und dem Denken. Mir war das
21
Mit der Philosophie und Psychologie Brentanos setzte sich Steiner später intensiv auseinander (siehe u.a.
GA 21 Von Seelenrätseln).
27
Denken selbst Erfahrung, aber eine solche, in der man lebt, nicht eine solche, die von
außen an den Menschen herantritt“22 (GA 28/63). Der Lebendigkeit des Denkens und den
als objektiv wahrgenommenen Qualitäten standen Vorstellungen einer auf atomare
Bewegungsvorgänge reduzierten Außenwelt gegenüber. Der Weg von der geistigen
Innenwelt zur materiellen Außenwelt war noch nicht gefunden und Steiner wollte die Kluft
keinesfalls mit einem gewagten Glaubenssprung überbrücken. „Immer wieder musste die
leicht zu erdenkende Kritik dieser Denkungsart innerlich niedergerungen werden, um die
Zeit abzuwarten, in der weitere Erkenntnisquellen und Erkenntniswege eine größere
Sicherheit geben würden“ (GA 28/69).
Es müssen Erlebnisse wie jenes gewesen sein, das Steiner in einem Brief 1881 an einen
Freund schildert, die ihm schrittweise diese größere Sicherheit gaben:
Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief.
Ich hatte mich bis ½ 1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen
beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war
voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr sei, was Schelling sagt: „Uns allen
wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in
unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst
zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns
anzuschauen.“ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar
an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst -; die ganze
idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor
mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!“ (zitiert nach
Lindenberg 1997, S. 84)
Das im Brief vorkommende Schellingzitat stammt aus Philosophische Briefe über
Dogmatismus und Kritizismus, ein Werk aus Schellings noch stark an Fichte orientierter
Frühphase. Das geschilderte Vermögen bezeichnet Schelling als „intellektuale
Anschauung“, die dort auftritt, „wo wir für uns selbst aufhören, Objekt zu sein, wo, in sich
selbst zurückgezogen, das anschauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist“
(Schelling 1856, S.319). Es ist äußert bemerkenswert, dass Rudolf Steiner das
22
Was das intensive Gedankenleben betrifft, fand er sich bei Hegel wieder, wodurch dieser ihm sehr
wertvoll wurde. (ebd.)
28
unmittelbares Erlebnis wurde, wozu Schelling selbst lediglich auf dem Weg
philosophischer Spekulation gekommen war23 (vgl. Tilliette 2004).
Die Schilderungen Steiners lassen erkennen, welch bedeutsame Erfahrung dieses Erlebnis
für ihn war. Viele Jahre später schrieb er darüber: „Mein Leuchtstern war aber stets die
ganz durch sich selbst bewirkte Anerkennung der Tatsache, daß der Mensch sich innerlich
als vom Körper unabhängiger Geist stehend in einer rein geistigen Welt schauen kann“ (B
63/13). Die idealistische Philosophie hatte damit einen festen Ausgangspunkt im eigenen
Erleben gefunden. Und auf nichts anderes als auf die eigene Erfahrung wollte Steiner seine
Philosophie bauen. Das empirische Ich abgestreift zu haben, sich durch und durch in sich
selbst begründet als reines Ich zu erleben, das gab den Weg frei, die Brücke zwischen
Natur und Geist zu schlagen. Schlussendlich war es aber Schiller, der Steiner den letzten
Anstoß gab, den Weg auch zu gehen.
In Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen schildert Schiller (1875) den
Menschen in einer Pendelbewegung zwischen dem Sinnlichen und den Trieben auf der
einen und der Logik und dem Verstand auf der anderen Seite. In der Mitte dieser beiden,
dem „Null“-Zustand, könne er eine „ästhetische Stimmung“ ausbilden. In der ästhetischen
Stimmung gibt sich der Mensch der sinnlichen Betrachtung hin, aber gleichzeitig öffnet er
sich für die Welt der ästhetischen Ideen.
Steiner zogen diese Gedankengänge an, da sie davon sprachen, „dass man das Bewusstsein
erst in einer bestimmten Verfassung haben müsse, um ein Verhältnis zu den Erscheinungen
der Welt zu gewinnen, das der Wesenheit des Menschen entspricht“ (GA 28/34). Schiller
hatte von einem Bewusstseinszustand gesprochen, der da sein muss, um die Schönheit der
Welt zu erleben. Steiner ging es um einen Bewusstseinszustand, der das Wesen der Dinge
vermitteln würde.
23
Schelling nahm Anleihen vor allem bei Spinoza, aber auch bei anderen Philosophen und Mystikern, sah
jedoch deren Fehler in der Interpretation als Aufgehen im Absoluten anstatt als Selbstschau (vgl. SW1, S.
321ff). Ein solcher Bewusstseinszustand, bei dem jegliche Verarbeitung sinnlicher Reize sowie jegliches
diskursive Denken zum Stillstand kommen, findet seine Beschreibung üblicherweise in den mystischen
Traditionen des Ostens und des Westens. Die Benennung und Interpretation eines solchen Zustandes variiert
freilich vor dem jeweiligen kulturellen Hintergrund. Im Allgemeinen gilt aber, dass sich ein solcher Zustand
der Versenkung – in dem sich die Subjekt-Objekt-Spaltung in reines Selbstgewahrsein auflöst – in der Regel
als Folge einer jahre- oder jahrzehntelangen meditativen Schulung einstellt (vgl. Wilber 2006).
29
Wenn das berechtigt ist, dann kann man nicht in Kantscher Art das zunächst
gegebene menschliche Bewusstsein betrachten und untersuchen, ob dieses an das
wahre Wesen der Dinge herankommen könne. Sondern man musste erst den
Bewusstseinszustand erforschen, durch den der Mensch sich in ein solches
Verhältnis zur Welt setzt, dass ihm die Dinge und Tatsachen ihr Wesen enthüllen.
(ebd.)
Damit ist ein zentrales Motiv der Steiner’schen Erkenntnistheorie gegeben. Der Mensch
muss zuerst aus dem gewöhnlichen Bewusstsein heraustreten, um zu erkennen, in welchem
Verhältnis Erkenntnissubjekt (empirisches Ich) und Erkenntnisobjekt (Außenwelt) zu
einander stehen. Steiner glaubte, ein solcher Zustand außerhalb des gewöhnlichen
Bewusstseins sei bis zu einem gewissen Grad dann erreicht, „wenn der Mensch nicht nur
Gedanken habe, die äußere Dinge und Vorgänge abbilden, sondern solche, die er als
Gedanken selbst erlebt“ (GA 28/71).
Das Erleben des reinen Ich – wie wir es oben gesehen haben – stellt lediglich einen
Spezialfall dieses Bewusstseinszustandes dar, in dem das Anschauende gleichzeitig das
Angeschaute ist. Das Angeschaute ist dabei ein rein ideeller Inhalt, nämlich in diesem Fall
das (reine) Ich. Von Bedeutung für die Lösung der Frage, wie der begrifflich-ideelle Inhalt
in Verbindung zu den Sinneseindrücken steht, ist es, den ideellen Inhalt in seinem vollen
Umfang, in seiner Wesenhaftigkeit zu erleben. Dann würde er über seine Verbindung
selbst aufklären können. Entscheidend dabei ist ebenfalls die Sinnlichkeitsfreiheit des
anschauenden Bewusstseins, d.h., dass keine räumliche und gegenständliche Orientierung
auftritt.
Nicht nur im Erleben des reinen Ichs sondern auch im Erleben des Denkens ohne
gegenständlichen Bezug, erhebt sich der Mensch demnach zu einem Bewusstseinszustand,
der eine neue Perspektive auf das Verhältnis von innerer und äußerer Erfahrung eröffnet.24
24
Eine Metapher für diesen Wechsel des Bewusstseinszustandes, und der damit einhergehenden
Veränderung der der Perspektive, wäre der Wechsel von der Ebene der Ausgabe eines Computerprogrammes
auf einem Bildschirm zu dem ihr zu Grunde liegenden Programmcode. Auch hier führt kein Weg von der
Anschauung der dargestellten Informationen auf dem Bildschirm zur hierarchisch übergeordneten
Informationsebene. Es muss der Fokus erst auf eine ganz andere Ebene verlagert werden, um das Dargestellte
in seiner Bedingtheit und seinem größeren Zusammenhang erfassen zu können.
30
Dieses Leben in Gedanken offenbarte sich mir als ein ganz anderes als das ist, in
dem man das gewöhnliche Dasein und auch die gewöhnliche wissenschaftliche
Forschung verbringt. (28/71)
Nun handelte es sich für Steiner bei diesem veränderten Bewusstseinszustand nicht um
tranceartige Erlebnisse, mit denen er eine Herabdämpfung an Bewusstseinsklarheit
assoziierte, sondern um eine geistige Anschauungen, „die aber doch die Besonnenheit und
Helligkeit des Gedankens sich bewahren“ und „die an Durchsichtigkeit dem
mathematischen Denken sich voll vergleichen“ ließen (28/72). Diese geistige Anschauung
nimmt für Steiner „den Geist wahr wie die Sinne die Natur; aber sie steht mit dem Denken
der geistigen Wahrnehmung nicht ferne wie das gewöhnliche Bewußtsein mit seinem
Denken der Sinneswahrnehmung, sondern sie denkt, indem sie das Geistige erlebt, und sie
erlebt, indem sie die erwachte Geistigkeit im Menschen zum Denken bringt“ (ebd.). In
dem veränderten Bewusstseinszustand wird also das ebenfalls veränderte Denken zu einem
Wahrnehmungsorgan, wobei Wahrnehmungsobjekt (Begriffe und Ideen) und
Wahrnehmungsorgan (Denken) gewissermaßen zusammenfallen. Dadurch geht freilich
auch die klassische Subjekt-Objekt-Erkenntnisstellung verloren. Begriffe und Ideen
werden so nicht mehr als Abstraktionen wahrgenommen, die das Subjekt auf die
beobachteten Objekte anwendet, sondern als in sich selbst begründete Elemente, die ihren
Zusammenhang mit der durch die Sinne wahrgenommenen Natur offenbaren.25
Mit dem durchsichtigen Erleben dieser ideellen Welt und dem erlebten Zusammenhang mit
der Natur, fühlte sich der Einundzwanzigjährige nun so weit, diese Anschauungen „auch
vor dem Forum des naturwissenschaftlichen Denkens für gerechtfertigt“ zu halten (ebd.).
Einen gewissen Abschluss dieser Phase des Ringens um die Auflösung des Gegensatzes
zwischen Geist und Natur, findet in dem unveröffentlicht gebliebenen Aufsatz Einzig
mögliche Kritik der atomistischen Begriffe (1882) seinen Ausdruck. Steiner hatte ihn,
begleitet von einem Brief mit der Bitte um einen Kommentar, an den Philosophen und
Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer geschickt, der ihm auch mit einigen zustimmenden
Worten antwortete (vgl. B63/13).
25
Slunecko (2012) spricht – wenn auch in einem anderen (therapeutischen) Kontext – ebenfalls von der
Möglichkeit des Kollabierens der klassischen Subjekt-Objekt-Stellung, die er auch als „Zuschauerontologie“
bezeichnet: „Die Antithese zu dieser Zuschauerontologie ist eine der Performativität – nicht ein Beobachten
und Wissen, sondern ein Zulassen dessen, wie sich die Dinge zur Darstellung bringen, wie die Situationen
selbst ‚performen‘“ (ebd. S. ??).
31
In dem Aufsatz behandelt Steiner den Begriff in seinem Zusammenhang mit der sinnlichen
Außenwelt und kritisiert eine nominalistische Auffassung desselben. Er wendet sich gegen
die damals (und heute) herrschende Anschauung, Begriffe wären bloße Abstraktionen –
bzw. im Kant’schen Sinn, durch die geistige Organisation des erkennenden Subjekts
bedingt – und somit keine objektiven Vermittler einer Außenwelt. Auch dürfe der Begriff
nicht als eine der Sinneswelt korrespondierende Photographie aufgefasst werden. Sondern:
„Man muß dem Begriffe seine Ursprünglichkeit, seine eigene auf sich selbst gebaute
Daseinsform lassen und ihn in dem sinnenfälligen Gegenstande nur in anderer Form
wiedererkennen“ (B63/6). Keineswegs will er aber damit die sinnliche Wahrnehmung in
ihrer Bedeutung für den Erkenntnisvorgang einschränken. Denn: „Erst, wenn man einsieht,
daß es Begriff und Idee ist, was die Wahrnehmung bietet, aber in wesentlich anderer Form
als in der von allem empirischen Gehalt befreiten des reinen Denkens, und daß diese Form
das Ausschlaggebende ist, begreift man, daß man den Weg der Erfahrung einschlagen
muß“ (B62/7).26 Der Vermittler des Begriffs eines Gegenstandes oder eines Vorganges der
Außenwelt ist demnach der Begriff selbst, der lediglich in veränderter Form erscheint.
Dieser Gedankengang wendet sich in Steiners Aufsatz schließlich gegen die auf einer
Theorie des Atoms aufbauende materialistische Naturwissenschaft. Nachdem sich das
Atom der sinnlichen Anschauung entzieht, sei es – im Gegensatz zur materialistischen
Vergegenständlichung – als bloße Abstraktion aufzufassen.27 Dabei wendet sich Steiner
nicht gegen das Atom als mathematisch-physikalisches Modell – gegen ein solches dürfe
seiner Meinung nach nichts eingewendet werden –, sondern dagegen, eine Abstraktion für
die eigentliche Wirklichkeit zu nehmen (gegen ihre Hypostasierung) und aus ihr alle
Erfahrungen ableiten zu wollen.28 Mit anderen Worten, gegen einen auf einer Abstraktion
beruhenden materialistischen Reduktionismus. Gleiches gelte für die Absolutheit des
26
Wie sich später zeigen wird, spaltet allein das menschliche Bewusstsein die Welt in Wahrnehmung und
Begriff, im Akt der Erkenntnis fügt es zusammen, was seinem Wesen nach eine Einheit bildet.
27 Das Argument gilt, obwohl sich die Vorstellungen der Teilchenphysik wesentlich weiterentwickelt haben,
auch heute noch. Denn das Atom entzieht sich nach wie vor einer direkten sinnlichen Betrachtung und
spätestens die ihm zugrundegelegten Teilchen sind reine Produkte messtechnischer Geräte und
mathematischer Modelle. Vergleiche auch die Kritik am Physikalismus von Hans-Dieter Klein (Klein 1993).
28 Von Abstraktion spricht Steiner, wenn Begriffe entwickelt werden, die nicht in der unmittelbaren (auch
geistigen) Erfahrung wurzeln.
32
Raumes und der Zeit, erstere sei nur an den Gegenständen und letztere nur an den
Prozessen gegeben. Sobald sie als Abstraktionen verabsolutiert werden, verlieren sie ihren
Realitätsgehalt.
Steiner fügt dieser Argumentation noch einen anderen Gedankengang hinzu. Nimmt man
ein Atom als letzten Wirklichkeitsfaktor an, so müsse man ihm jede sinnliche Qualität
absprechen. Es sei die größte Inkonsequenz, etwas, das nicht sinnlich wahrnehmbar ist,
sinnliche Qualitäten beizulegen (z.B. Ausdehnung, Bewegung, Festigkeit). Konsequent
wäre es hingegen, den Begriff des Atoms eben rein begrifflich zu denken. Wenn das Atom
als Gegenstand gedacht wird, aber als solcher nicht angeschaut werden kann, so vernichte
sich der Begriff des Gegenstandes von selbst.
Die Konsequenz aus der materialistischen Reduktion ist für Steiner schließlich das Postulat
unüberwindbarer Erkenntnisgrenzen, wogegen sich im Grunde sein gesamtes
erkenntnistheoretisches Steben richtete.
Wenn man das Denken auch als eine Funktion der Wechselwirkung gleichgültig
gegeneinander bleibender Atomkomplexe ansieht, so ist durchaus nicht zu
verwundern, warum der Zusammenhang zwischen Bewegung der Atome einer-,
Denken und Empfindung andrerseits nicht zu begreifen ist, welches der Atomismus
daher als eine Grenze unserer Erkenntnis ansieht. (B63/9)
Steiner hatte also nach langem Ringen die Brücke zwischen Geist und Natur darin
gefunden, beides als Begriff in unterschiedlichen Erscheinungsformen aufzufassen. Und er
fand, ihm tragfähig erscheinende, Argumente gegen die materialistische Gegenposition, die
nur auf der Grundlage begrifflicher Inkonsequenzen Bestand haben könne. Damit war eine
philosophische Position in ihren Grundzügen errungen, in der Steiners geistige Welt einen
Platz fand. Im Erringen dieser Position durch innere Erlebnisse und das Ausbilden klar
umrissener Begriffe sah er nun die Legitimation, seine Anschauungen auch vor einer
wissenschaftlichen Öffentlichkeit vertreten zu können.
Die Möglichkeit dazu ließ nicht lange auf sich warten, denn noch im selben Jahr wurde
Steiner mit der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften betraut. Dies
gab ihm die Möglichkeit, seine Ideen im Fahrwasser Goethes einer größeren Leserschaft
bekannt zu machen.
33
2. Zweite Phase – Ausbildung der Erkenntnistheorie in
Anknüpfung an Goethe
2.1 Steiners Weg zu Goethe
Die ersten Hinweise auf eine tiefergehende Auseinandersetzung Steiners mit Goethe finden
sich in einem Brief vom 13. Jänner 1881 an seinen Freund Köck. Steiner zeigt sich darin
begeistert von Goethes Faust und dankt es Gott, dass er in Karl Julius Schröer – seinem
Literaturprofessor an der Technischen Hochschule – „den besten Faustkenner“
kennengelernt hatte (GA 38/15). In seiner Autobiographie gibt Steiner an, erst durch
Schröer zur Lektüre des Faust angeregt worden zu sein (GA 28/46).
Schröer war Mitbegründer des 1878 gegründeten „Wiener Goethe-Vereins“, und in der
1886 gegründeten Vereinszeitschrift „Chronik“ als Chefredakteur tätig. Bekanntheit
erlangte er durch einen, in zwei Bänden (und mehreren Auflagen) erschienenen, Faust-
Kommentar (vgl. Streitfeld, 1999). Wie Zander (2007) schreibt, gehörte Schröer
deutungsgeschichtlich zur idealistischen Goetherezeption (ebd., S. 442).
Steiner war durch Schröers Herangehensweise, immer auf den ideellen Gehalt auszugehen,
stark angeregt. Schon nach wenigen Vorlesungen trat er in ein engeres Verhältnis zu dem
verehrten Lehrer ein. „Er nahm mich dann oft mit nach seinem Hause, sprach dies oder
jenes zu mir in Ergänzung seiner Vorlesungen, antwortete gern auf meine Fragen und
entließ mich mit einem Buche aus seiner Bibliothek, das er mir zum Lesen lieh“ (GA
28/57). Im Laufe der Jahre sollte sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu einer Freundschaft
weiterentwickeln, die bis zum Tod Schröers 1900 Bestand hatte.
Aber schon 1882 gewann das Verhältnis der Beiden eine neue, gewichtige Dimension, als
Schröer Steiner als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Werken vorschlug.
Unter der Ägide Joseph Kürschners war ein monumentales Editionswerk in der
„Deutschen National-Litteratur“ (DNL) im Entstehen, an dem sich „die Crème der
deutschen Literaturwissenschaft“ abarbeitete (Zander 2007, S. 446). Schröer schrieb im
Juni 1882 an Kürschner:
34
Ein Student in höheren Semestern, der Physik, Mathematik und Philosophie
betreibt, bei mir auch seit Jahren Vorlesungen hört, befasst sich eingehend mit
Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. […] Aus Gesprächen aber ersehe ich,
dass er den Stoff beherrscht und eine selbstständige, mir richtig scheinende
Anschauung gewonnen hat. Er heißt Steiner.“ (zitiert nach Zander 2007, S. 446)
Kürschner forderte daraufhin in einem Brief an Steiner, „einen eingehenden Plan über die
wissenschaftlichen Schriften Goethes zu entwerfen“ sowie die „Übermittlung einer kurzen
Darlegung Ihres Standpunktes gegenüber den wissenschaftlichen Schriften Goethes“ (GA
38/53). Dies dürfte zur Zufriedenheit Kürschners erledigt worden sein, denn schließlich
erfolgte im März 1883 die Übersendung des Vertrages, in dem Steiners Aufgaben
festgehalten waren:
Herr Rudolf Steiner übernimmt für die im Verlag von W. Spemann erscheinende
Deutsche National-Literatur die Herausgabe (Einleitung, Textrevision, erläuternde
Anmerkungen etc.) von Goethes wissenschaftlichen Schriften. (GA 38/63)
Es mag verwundern, dass eine derart gewichtige Aufgabe einem – mittlerweile – 22-
jährigen Studenten übertragen wurde. Es dürfte damit zu erklären sein, dass sich immerhin
der arrivierte Goetheforscher Schröer für Steiner einsetzte und selbst bereit war, ein
Vorwort für den ersten Band zu erstellen. Weiters dürfte Kürschner nicht näher über das
Alter Steiners und die Dauer seines Studiums informiert gewesen sein (Schröer hatte es ja
nur mit „höheren Semestern“ angegeben), denn in einem Brief an Steiner vom Dezember
1884 spricht Kürschner diesen fälschlicher Weise mit „Dr.“ an.29 Nichtsdestotrotz schloss
Steiner den ersten Band 1884 zur vollsten Zufriedenheit Kürschners ab – dieser sprach in
einem Brief an Steiner sogar von einer „geradezu meisterhaften Arbeit“ (GA 38/76). Aus
der akademischen Welt erhielt Steiner mehrfach Anerkennung für seine Goethe-
Interpretation (vgl. Lindenberg 1988, S. 69). Eine in den Philosophischen Monatshefen
1886 erschienene Rezension spricht gar von einer „philosophischen Errungenschaft“ der
„in gleicher Hinsicht keine zweite ebenbürtig an die Seite gestellt werden“ (zitiert nach
Sijmons 2008, S. 103) kann. Der Beginn seiner Arbeit als Goethe-Forscher war also
geglückt.
29
Steiner promovierte erst 1891.
35
2.2 Steiners Goethe Forschung und Deutung
Mit Kürschner waren 1883 drei Bände zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften
vereinbart worden, die innerhalb eines Jahres (sic!) fertiggestellt werden hätten sollen. Es
wurden daraus vier Bände, wobei Steiner den letzten davon vierzehn Jahre später
ablieferte. Steiner verfasste in diesen vierzehn Jahren zahlreiche Aufsätze zu Goethe,
begründete den ersten Entwurf seiner Erkenntnistheorie auf dessen Weltanschauung und
wurde schließlich Mitarbeiter am Goethe Archiv in Weimar. Die Herausgabe des besagten
vierten Bandes innerhalb Kürschners „Deutscher National-Litteratur“ und die im gleichen
Jahr (1897) erschienene Monographie Goethes Weltanschauung beschlossen etwa vierzehn
Jahre intensiver Goethe-Forschung. Diese Jahre waren allerdings – wie zu zeigen sein wird
– nicht von restloser Begeisterung gegenüber seiner Rolle als Goethe-Forscher getragen.
Doch zunächst zurück zur Rezeption von Steiners frühen Goethearbeiten. 1886 hatte
Steiner eine Einladung zur Mitarbeit im Goethe-Archiv in Weimar erhalten. Nachdem zu
diesem Zeitpunkt erst der erste Band in der Kürschner Ausgabe erschienen war, darf diese
Einladung als ein weiterer Nachweis für eine positive Aufnahme von Steiners erster
Goethe-Interpretation gelten. Im selben Jahr erschien Steiners erstes Buch Grundlinien
einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Aber bereits mit diesem
Erstlingswerk stellte Steiner klar, dass er an Goethe zwar anknüpfen wollte, mit seinen
eigenen Ideen aber bereits über diesen hinausgewachsen war. So schrieb er an den
Philosophen Friedrich Theodor Vischer bei der Übersendung seiner Erkenntnistheorie30:
„Wenn sich dieselbe auch an Goethe anschließt, so gestehe ich doch ganz offen, daß ich in
erster Linie einen Beitrag zur Erkenntnistheorie und keineswegs einen solchen zur
Goetheforschung habe geben wollen. […] Goethes und Schillers wissenschaftliche
Darlegungen sind für mich eine Mitte, zu der Anfang und Ende zu suchen ist“ (GA
38/141). Genauer genommen war es Goethes implizite Forschungsmethode, in der Steiner
die richtige „Weltbetrachtungsweise“ sah, von der auszugehen war, um an das Wesen der
Dinge heranzukommen.
30
Steiner sandte Exemplare der Grundlinien an mehrere Philosophen und Schriftsteller, mit deren Werken
er sich auseinandersetzte und zum Teil schon in brieflichem Kontakt stand. Darunter waren, neben Friedrich
Theodor Vischer, Eduard von Hartmann, Gideon Spicker, Robert Hamerling, Johannes Volkelt, Johannes
Rehmke, Max Koch, Friedrich Zarnke (vgl. GA 38)
36
In Goethe drückte sich für Steiner ein Genius aus, der sich intuitiv in ein richtiges
Verhältnis zur Welt gebracht hatte, d.h., sich der Welt so gegenüber stellte, dass er seine
Erkenntnisse ganz aus den eigenen Erlebnissen schöpfen konnte, die er unmittelbar an
dieser Welt gewann.
Goethe bekannte sich zu einem Anthropomorphismus (vgl. GA 6), der eben ganz aus dem
unmittelbaren, menschlichen und individuellen Erleben schöpfen wollte und mit
Abstraktionen und metaphysischen Setzungen wenig anzufangen wusste. Hierin trafen sich
Steiner und Goethe, denn Steiner wollte seinerseits nur die eigene, an der Erfahrung
gewonnene Erkenntnis gelten lassen und lehnte jede Form der Offenbarung oder
metaphysischen Setzung kategorisch ab. Steiner war der Meinung, dass Goethes
Herangehensweise auf ihre Prinzipien hin untersucht und dieselben weitergedacht, zu der
in den Grundlinien dargelegten Erkenntnistheorie führen würde.
Der Umstand, dass in Steiners Erkenntnistheorie bereits eine bedeutende Eigenleistung
vorhanden war, warf in der Rezeptionsgeschichte schließlich die Frage auf, ob es sich
tatsächlich noch um Goethes Weltanschauung handelte, die Steiner – wie der Titel angibt –
zur Darstellung brachte. So bekundete etwa Robert Hamerling in einem Brief an Steiner
großes Interesse für dessen „Ringen zwischen Idealismus und Realismus“, merkte jedoch
an: „Fast möchte ich wünschen, Sie hätten die Beziehung auf Goethes Erkenntnistheorie
im Titel des Buches weggelassen“ (zitiert nach Lindenberg 1988, S. 80). Die Diskussion
darüber inwiefern Steiners hermeneutische Goethe Deutung gerechtfertigt sei, oder ob er
seine eigene Weltanschauung Goethe untergeschoben habe, dauert in jedem Fall bis heute
an (vgl. Zander 2007). Aber die Frage der weltanschaulichen Einordnung Goethes ist kein
Problem, das spezifisch bei Steiner auftritt, denn bereits im 19. Jahrhundert lassen sich
nach Zander (2007) fünf verschiedene Traditionen der Goethedeutung unterscheiden. Und
auch Steiner selbst weist in den Grundlinien darauf hin, dass Weltanschauungen, die gar
nichts miteinander gemein haben, sich mit scheinbar gleichem Recht auf Goethe beziehen
(GA 2/18f). Neben Hegel, Schopenhauer, Haeckel, Humboldt und vielen anderen hat
Steiner, so gesehen, lediglich eine weitere Deutung des vielschichtigen Œuvres Goethes
hinzugefügt.
Steiners eigener hermeneutischer Schlüssel bei der Arbeit mit Goethes Werk bestand im
Herauswachsen aus der Gesamtheit der Goethe’schen Weltanschauung. Nicht um das
Herausreißen und Vergleichen von Einzelheiten war es Steiner zu tun, sondern um das
37
Herausarbeiten aus „einer Totalität, die als solche [in Goethe] wirksam ist“ (GA 2/20).
Diese Totalität war für ihn der Ausgangspunkt, in den es sich zu vertiefen galt, ohne
bereits fertige Ansichten in ihn hineinzutragen. Nachdem für Steiner Goethes Geisteskräfte
immer im Sinne dieser Totalität wirksam waren, Goethe aber diese nicht durch
philosophische Reflexion als systematisches Ganzes zur Darstellung brachte (da Goethe
„kein Philosoph im gewöhnlichen Sinne des Wortes“ (GA 2/20) war), bedurfte es
jemanden mit „philosophischen Anlagen“, der „jenen philosophischen Sinn loslösen und
ihn als Goethesche Wissenschaft darlegen“ (GA 2/21) konnte.
Wenngleich Steiner vorurteilsfrei an Goethe herangehen wollte, so sah er in der deutschen
idealistischen Philosophie jene „Ideenrichtung“, die in der Lage war, die Totalität, als
deren Konsequenz sich Goethes dichterisches und wissenschaftliches Schaffen darlege
(vgl. GA 1/121f), wahrzunehmen. Auch hatte er, wie schon gezeigt wurde, seinen eigenen
idealistischen Standpunkt in Grundzügen bereits gefunden. Die idealistische Philosophie
sollte das Vermögen besitzen, jene Prinzipien offenzulegen, die der goetheschen
Weltanschauung implizit zugrunde liegen. Denn Steiner wollte die Goethe‘sche
Wissenschaft nicht auf dessen Autorität begründet wissen, sondern auf ihren
philosophischen Prinzipien, die er in ihrer Systematik zur Darstellung bringen wollte. Dass
Steiner dazu seinen eigenständigen Entwurf idealistischer Philosophie in Anschlag brachte,
wird sich im Laufe der vorliegenden Arbeit noch genauer zeigen.
1887, ein Jahr nach den Grundlinien erschien der zweite Band in der Kürschner-Ausgabe;
wiederum mit ausführlichen Einleitungen und Kommentaren Steiners, die zum Teil eine
Zusammenfassung der erkenntnistheoretischen Position aus den Grundlinien darstellten.
1889 folgte Steiner schließlich der Einladung zur Mitarbeit am Goethe-Archiv und
übersiedelte ein Jahr später nach Weimar, um dort eine feste Anstellung im Archiv
anzunehmen. Steiner besorgte in seiner Zeit im Goethe-Archiv die Herausgabe von fünf
Bänden der Weimarer Sophien-Ausgabe, die ebenfalls Goethes naturwissenschaftliche
Schriften zum Inhalt hatten. Im Gegensatz zur Arbeit an der Kürschner-Ausgabe waren
hier keine Einleitungen und Kommentare zu verfassen, die Herausforderung bestand in der
Aufarbeitung und Systematisierung des naturwissenschaftlichen Goethenachlasses, der
zum Teil noch völlig unbearbeitet war. Der anfänglichen Begeisterung über die Tätigkeit
folgte bald große Frustration. Zum einen empfand Steiner die archivarischen und
philologischen Arbeiten schnell als stumpfsinnig. Immerhin hatte er sich bereits sieben
Jahre intensiv und in schöpferischer Art und Weise mit Goethe auseinandergesetzt; zum
38
anderen empfand er die Anhängerschaft Goethes immer mehr als zu enges Korsett, um
seine eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Auch in der Rezeption Steiners als
Philosoph wurde Goethe langsam zum Hindernis. Steiner strebte nämlich eine Professur
für Philosophie in Jena an, dort dachte man aber – wohl aufgrund seiner Goethe-Arbeiten –
an eine Dozentur für Literaturgeschichte, was für Steiner nicht in Frage kam (vgl.
Lindenberg 1988, S. 106). 31 In einem Brief an Rosa Mayreder im Mai 1891 beschreibt er
seine Situation so: „Und so sehe ich mich denn den ganzen vollen Tag hindurch in einer
Tätigkeit, die mein ‚Ich‘, wie es vor fünf bis vier Jahren war, mit großer Hingebung getan
hätte. Indem ich sie heute vollbringe, tue ich sie nicht mehr“ (GA 39/97). Weiters schreibt
Steiner in jenem Brief, er wolle die Haut endlich einmal abwerfen, die ihn nur mehr wie
eine „anorganische Schale“ umgäbe, „ sonst ist mein ganzes Dasein Lüge und Unsinn;
mein Wirken nicht meines, sondern das einer elenden Marionette, gezogen von den Fäden,
die ich vor Jahren gesponnen habe, die ich aber jetzt nicht einmal berühren, geschweige
denn selbst führen möchte“ (GA 39/98). Dass Steiner mit seinen eigenen Gedanken schon
spätestens seit den Grundlinien über Goethe hinausgegangen war, und dass er seine
Gedanken nicht einmal in die Arbeit an der Sophien-Ausgabe einflechten konnte32 (wie es
bei der Kürschner-Ausgabe der Fall war), sich gleichzeitig aber mit großen und vielfältigen
Schwierigkeit in der Sichtung des Goethe’schen Nachlasses konfrontiert sah (vgl. Zander
2007, S.464f), frustrierte Steiner zusehends.
Diese Entwicklung spiegelte sich schließlich in seinen Goethepublikationen. Während die
Bände der Sophienausgabe philologische Mängel und Fehler aufweisen – die Steiner in
seiner Autobiographie auch freimütig eingestand (vgl. GA 28/314) –, nahmen Steiners
Einleitungen und Kommentare in den Bänden drei und vier der Kürschner-Ausgabe nur
mehr allgemeinen Bezug auf das Textmaterial und lesen sich mehr wie Kommentare der zu
diesem Zeitpunkt gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Diskussion.
Mehr noch als Steiners beruflichen Zielen entsprang diese Entwicklung aber dem
31
Steiner dazu in einem Brief an Rosa Mayreder: „Ich liebe die Philosophie ebensosehr, wie ich mich der
Literaturgeschichte gegenüber ganz gleichgültig verhalte, und bin in der Philosophie ebenso tüchtig wie in
der Literaturgeschichte untüchtig. Aber es liegt etwas Tragisches in dem Umstande, daß alle meine
bisherigen Publikationen sich in irgendeiner Weise an Goethe anschließen“ (GA 39/93).
32 Mit Ausnahme der Textanordnung, die Steiner, aufgrund des Fehlens einer Vorgabe letzter Hand und
unvollständiger Textdatierungen anhand seiner Goethe-Interpretation vornahm (vgl. Zander 2007, S. 465).
39
Fortschreiten seiner eigenen Philosophie. 1891 legte Steiner seine Dissertation Die
Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichte's
Wissenschaftslehre – Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstseins
mit sich selbst vor. Zwei Jahre später war sein philosophisches Hauptwerk Die Philosophie
der Freiheit fertig. In beiden Werken vertiefte und erweiterte Steiner seine
Erkenntnistheorie und verzichtete dabei auf eine Anknüpfung an Goethe.
1897 erschien Goethes Weltanschauung, in der Steiner neben der Würdigung schließlich
auch zur Kritik an Goethe anhob. Namentlich war es für Steiner das Denken über das
Denken, zu dem sich Goethe nicht aufschwingen konnte, was ihn in Unsicherheiten führte,
sobald er den Bereich der Naturbetrachtung verließ. Goethe selbst drückte sein Verhältnis
zum eigenen Denken so aus:
„Wie hast du’s denn so weit gebracht?
Sie sagen, du habest es gut vollbracht!“
Mein Kind! ich hab‘ es klug gemacht,
Ich habe nie über das Denken gedacht. (Goethe 1996, S. 329)
Für Steiner ließ Goethe damit den entscheidenden Schritt aus, sich nicht nur der Natur in
ganz unbefangener Betrachtung gegenüber zu stellen, sondern auch dem eigenen Denken.
Entscheidend ist dieser Schritt nicht nur in Bezug auf die Untersuchung der menschlichen
Erkenntnis (die Steiner ja vornimmt), sondern auch in Bezug auf die Erfahrung der
menschlichen Freiheit.33 Aber es war nicht eine bloße philosophische Reflexion auf das
Denken, die Steiner bei Goethe vermisste, sondern, dass letzterer nicht zu einer
Anschauung des Denkens kam, wie er sie gegenüber der Natur hatte. „Sonst wäre er
[Goethe] zur Einsicht gelangt, dass man gerade im Sinne seiner Weltanschauung es wohl
ablehnen könne, über das Denken zu denken, dass man aber doch zu einer Anschauung der
Gedankenwelt kommen könne“ (GA 6/86). Goethe war seiner Natur nach ganz dem
äußeren Leben hingegeben, weshalb er bekannte, „dass mir von jeher die große und so
bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List
geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen
verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen
33
Steiner begründet mit seiner Erkenntnistheorie gleichzeitig die Freiheit des Individuums, sie ist
gleichermaßen eine Erkenntnistheorie wie eine Philosophie der Freiheit (siehe unten).
40
Beschaulichkeit verleiten wollten“ (Goethe 2002, S. 38). Der Mensch, so Goethe, kenne
sich selbst nur so weit, als er die Welt kenne. Für Steiner war das Umgekehrte wahr: „der
Mensch kennt die Welt nur, insofern er sich kennt“ (GA 6/91). Die Introspektion allein
verbürgte für Steiner, das Wesen des Menschen und seine Stellung zur Welt zu erkennen:
Denn in seinem Innern offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den
Außendingen nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol als Anschauung vorhanden ist.
[…] Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle in unmittelbarer Gestalt sieht,
gewinnt er die Kraft und Fähigkeit, dieses Ideelle auch in aller äußeren
Erscheinung, in der ganzen Natur aufzusuchen und anzuerkennen. (ebd.)
Freilich – wie sich aus dem bisherigen ergibt – gestand Steiner Goethe diese Kraft und
Fähigkeit zu, insofern sie die Betrachtung der Natur betraf. Gegenüber der Natur war sich
Goethe gewiss, die richtigen Anschauungen (bzw. Ideen, wie er sie später auch hieß)
auffinden zu können. Auf anderen Gebieten neigte Goethe zur Annahme von
Erkenntnisgrenzen, was für Steiner eine, aus mangelnder Selbsterkenntnis bzw.
Selbstanschauung resultierende, Inkonsequenz seiner Weltanschauung war. In der
Selbstanschauung des Denkens lag für Steiner schließlich das entscheidende Moment, aus
dem die „Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst“, und damit
die Klärung der Erkenntnisfrage, hervorging.
2.3 Anknüpfungspunkte in Goethes Naturwissenschaft
Steiner schrieb 1884, „daß die Erkenntnistheorie, welche jetzt als eine philosophische
Grundwissenschaft allerwärts auftritt, erst dann wird fruchtbar werden können, wenn sie
ihren Ausgangspunkt von Goethes Betrachtungs- und Denkweise nehmen wird“ (GA
1/57). Natürlich sah sich Steiner selbst als derjenige, der diese Forderung einlösen würde.
Der Weg war über Goethe zu gehen, da dieser innerhalb seines naturwissenschaftlichen
Wirkens Steiners Forderung aus dem Aufsatz Einzig mögliche Kritik der atomistischen
Begriffe (1882), man müsse den Begriffen ihre Ursprünglichkeit, ihre eigene auf sich selbst
gebaute Daseinsform lassen und sie in den sinnlichen Gegenständen nur in anderer Form
wiedererkennen, einzulösen versprach. Wie schon gezeigt wurde, war dafür ein
Bewusstseinszustand notwendig, der sich vom gewöhnlichen Denken und Urteilen
41
unterschied. Einen solchen meinte Steiner bei Goethe ausmachen zu können:
Die objektive Versenkung in die betrachteten Gegenstände verursacht, daß der
Geist in ihnen völlig aufgeht, so daß uns Goethes Theorien so erscheinen, als ob sie
nicht ein Geist von den Gegenständen abstrahierte, sondern als ob sie die
Gegenstände selbst in einem Geiste bildeten, der sich bei der Betrachtung selbst
vergißt. (GA 1/56f)
Dies würde sich besonders anschaulich bei Goethes Lehre vom Organismus bzw. der
Lehre vom Wesen des Organismus, die für Steiner gleichzeitig dessen wichtigste
Entdeckung war. Am Organismus sollte sich das Ideelle zeigen, dass an den unbelebten
Dingen (zunächst) in Verborgenheit blieb. Beim Organismus war es das belebende und
selbstorganisierende Prinzip, das ihn überhaupt ausmacht. Nach Steiner kann ein
Organismus nie anhand seiner einzelnen Teile vollständig erfasst werden. Denn man müsse
sich nur einen toten Organismus vor Augen halten. Das äußere Nebeneinander seiner
Glieder bestehe noch eine Zeitlang fort. „Aber was wir an einem toten Organismus vor uns
haben, ist in Wahrheit kein Organismus mehr. Es ist jenes Prinzip verschwunden, welches
alle Einzelheiten durchdringt“ (GA 1/16). Goethe drückt dies dichterisch in Faust aus,
wenn er Mephistopheles sagen lässt:
Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben;
Dann hat er die Teile in der Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band. (Goethe 1986, S. 54)
Im Organismus haben wir demnach etwas vor uns, in dem sich das Ideelle und seine
sinnliche Erscheinung als untrennbare Einheit darstellen. Der Begriff führt
notwendigerweise über die sinnliche Erscheinung hinaus. In der anorganischen Natur
stehen Idee und sinnliche Erscheinung in einem anderen Verhältnis. Nach Steiner besteht
das Wesentliche des Vorgangs in der anorganischen Natur darin, „daß er durch einen
anderen ebenfalls nur der Sinnenwelt angehörigen Prozeß bewirkt und determiniert wird“
(GA 1/81). Die Begriffe können also unmittelbar an dem sinnlich Anschaubaren gewonnen
werden und drücken, im Gegensatz zum Organismus, lediglich dieses sowie die
Wechselwirkungen zwischen den Sinnesdingen aus.
Wollten wir aber die organische Natur erkennen, so müßten wir das ideelle
42
Moment, das Begriffliche nicht als ein solches fassen, das ein anderes ausdrückt,
bedeutet, von diesem sich seinen Inhalt borgt, sondern wir müßten das Ideelle als
solches erkennen; es müßte einen eigenen aus sich selbst, nicht aus der räumlich-
zeitlichen Sinnenwelt stammenden Inhalt haben. (GA 1/82)
Ein Begriff, der das Ideelle erkennt, ist nicht durch Abstraktion aus der Sinneswelt
genommen, sondern intuitiv, im Sinne von anschauend (von lat. intueri: betrachten),
erfasst. Das der Mensch zu so einer anschauenden Erkenntnis fähig sei – entgegen der
Annahme Kants –, das habe Goethe durch seine wissenschaftliche Tätigkeit gezeigt (GA
1/83).
Goethe nannte das rein Ideelle am Organismus einen Typus, den Typus der Pflanzen
nannte er die Urpflanze. Der Gedanke der Urpflanze war für Goethe erst nach und nach aus
seinen botanischen Studien hervorgegangen. So schrieb er etwa 1786 während seiner
Italienreise: „Hier in dieser neu mir entgegentretenden Mannigfaltigkeit wird jener
Gedanke immer lebendiger, daß man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus e i n e r
entwickeln könne“ (Goethe 1925, S. 64). Es ging Goethe aber, gemäß den obigen
Ausführungen, nicht darum, einen abstrakten Begriff einer Urpflanze zu bilden, sondern
sie als lebendige, sich metamorphosierende Gestalt in Form einer Anschauung aus der
Erfahrung zu gewinnen. Dieses anschauliche Moment wird in einer Anekdote Goethes
verdeutlicht, in der er einen Dialog mit Friedrich Schiller am 17. Juli 1794 schildert:
Ich erwiderte darauf: daß sie den Eingeweihten selbst vielleicht unheimlich bleibe
und daß es doch wohl noch eine andere Weise geben könne, die Natur nicht
gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem
Ganzen in die Teile strebend darzustellen. Er wünschte hierüber aufgeklärt zu sein,
verbarg aber seine Zweifel nicht; er konnte nicht eingestehen, daß ein solches, wie
ich behauptete, schon aus der Erfahrung hervorgehe.
Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die
Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und ließ, mit manchen charakteristischen
Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm
und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als
ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: „Das ist keine Erfahrung, das ist
eine Idee". Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen; denn der Punkt, der uns trennte,
43
war dadurch aufs strengste bezeichnet. Die Behauptung aus ‚Anmut und Würde‘
fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen; ich nahm mich aber zusammen
und versetzte: „Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen,
und sie sogar mit Augen sehe.“ (Goethe 1851, S. 28)
Goethe sollte diese Art der Anschauung später, in Auseinandersetzung mit Kants Kritik der
Urteilskraft, „anschauende Urteilskraft“ nennen. Kant schreibt dort:
Nach der Beschaffenheit unseres Verstandes ist hingegen ein reales Ganze der
Natur nur als Wirkung der concurrirenden Kräfte der Theile anzusehen. Wollen wir
uns also nicht die Möglichkeit des Ganzen als von den Theilen, wie es unserm
discursiven Verstande gemäß ist, sondern nach Maßgabe des intuitiven
(urbildlichen) die Möglichkeit der Theile (ihrer Beschaffenheit und Verbindung
nach) als vom Ganzen abhängend vorstellen: so kann dieses nach eben derselben
Eigenthümlichkeit unseres Verstandes nicht so geschehen, daß das Ganze den
Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Theile (welches in der discursiven
Erkenntnißart Widerspruch sein würde), sondern nur daß die Vorstellung eines
Ganzen den Grund der Möglichkeit der Form desselben und der dazu gehörigen
Verknüpfung der Theile enthalte. (KdU, S. 407f)
Kant differenziert einen anschauenden Verstand, den er intellectus archetypus nennt, von
„unserem“ diskursiven Verstand. Der intellectus archetypus wäre im Stande, unmittelbar
das Ganze zu erfassen und davon ausgehend seine Teile zu bestimmen. Ein solches
Vermögen spricht aber Kant dem Menschen ab und meint, er könne nur vermittels der
Vorstellung ein solches Ganzes denken. Nach Kant kann eine Anschauung immer nur
sinnlicher Natur sein, jedenfalls soweit es den Menschen betrifft, denn nur dem Absoluten
wäre eine intellektuelle Anschauung im obigen Sinn zuzuschreiben. Goethe wiederum war
es in seiner wissenschaftlichen Forschung gerade um einen solchen intuitiven Verstand,
eine das Sinnliche übersteigende Anschauung, zu tun (vgl. Schieren 1998, S. 73;
Muschalle 2010).
In seinem Aufsatz Anschauende Urteilskraft schreibt Gothe über sein Verhältnis zur
Kant’schen Philosophie:
Als ich die Kantische Lehre wo nicht zu durchdringen doch möglichst zu nutzen
suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft
44
ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken
bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem
Seitenwink hinausdeutete. […] In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst
bedeutend: "Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der
unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der
Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem
Ganzen zu den Teilen. - Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher
intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung
unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der
Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus
geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte." [S.E., KdU, S. 361]
Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein
wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns
in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen; so dürft' es
wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer
immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig
machten. (Goethe 2002, S. 30)
Wichtig war für Goethe, dass die Erkenntnisfähigkeit nicht ein für alle Mal gegeben war
(oder nicht) – wie bei Kant –, sondern, dass der Mensch zur Entwicklung und
Weiterentwicklung angehalten war, um sich ‚der geistigen Teilnahme würdig zu machen‘.
In dem Aufsatz Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt schreibt Goethe,
man müsse „ein schweres Tragwerk übernehmen“, sich ganz von persönlichen „Maßstäben
des Gefallens und Mißfallens“ freimachen, „gleichsam einem göttlichen Wesen suchen
und untersuchen was ist, und nicht, was behagt“ (ebd., S. 10) – eben jene objektive
Versenkung bei der der Geist im Gegenstand völlig aufgeht und sich bei der Betrachtung
selbst vergisst, die Steiner Goethe attestiert hatte und die Steiners Forderung nach einem
neuen Bewusstseinszustand entsprach.
Wie Jost Schieren in seiner Dissertation über Goethes „anschauende Urteilskraft“
herausarbeitet hat, handelt es sich dabei aber nicht um ein passives Empfangen einer Idee,
sondern um eine Transformation des Verstandesgebrauchs, die es ermöglicht, den
urteilenden Verstand zurückzuhalten und ihn blicklenkend auf eine Erfahrung höherer Art
hin zu gebrauchen. Er schreibt:
45
Wissenschaftliche Forschung hat es demnach in dem Maße, wie sie eine Erkenntnis
des Objektes anstrebt, mit einer Schulung des Subjektes zu tun. […] Es geht nicht
um eine Eliminierung des Subjektes, sondern um eine Qualifizierung. Nicht der
größere Informations- und Gedächtnisspeicher und die schnellere Taktfrequenz der
Urteilsfestlegungen im Rahmen einer paradigmatisch vorgebildeten
Weltanschauungssoftware, sondern die produktiv ideelle Phantasie, die neue
Blicklenkungen auf die Erfahrung leistet, sich diese übend mitvollziehend einlebt
und deren ideellen inneren Zusammenhang zum Ausdruck bringt, ist das Ideal der
Goetheschen Wissenschaft und erst in der Lage, eine Vermittlung von Objekt und
Subjekt zu leisten. (Schieren 1998, S. 123)
Goethe gelangte zu seinen Erkenntnissen zudem nicht ad hoc, sondern es mussten ihnen
eine lange Reihe von Versuchen und Beobachtungen vorausgehen. In immer neuen
Konfigurationen und leichten Abwandlungen stellte er einen Untersuchungsgegenstand vor
sich, um ihn immer aufs Neue unbefangen zu betrachten. Sei es Goethes Idee der
Urpflanze, die Metamorphosenlehre oder die Farbenlehre, ihnen allen geht eine
systematische und umfangreiche Beobachtungs- und Versuchsreihe voraus.
Ich habe in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe
von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst aneinander grenzen und sich
unmittelbar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und übersieht, gleichsam
nur Einen Versuch ausmachen, nur Eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten
Ansichten darstellen. Eine solche Erfahrung, die aus mehreren anderen besteht, ist
offenbar von einer höhern Art. (Goethe 2002, S. 18)
Aus den mannigfaltigen Einzelerfahrungen bildet sich für Goethe eine Gesamterfahrung,
die ihm in einer anderen, höheren Qualität erscheint. Herbert Witzenmann schreibt dazu
folgendes:
Es ist ganz deutlich: Goethe gewinnt seine Erfahrung ‚höherer Art‘ dadurch, daß er
die Vorstellungen, welche im Bilden der lückenlosen Reihe entstehen, innerlich in
Bewegung bringt und dadurch zur Intuition der urbildlichen Idee gelangt, die sich
in den einzelnen Erscheinungen der Reihe offenbart. Das Experiment hat für ihn
daher die Bedeutung einer Meditation, die durch das Bewegen von Vorstellungen
zur Intuition aufsteigt. (Witzenmann, zitiert nach Schieren 1998, S. 123f)
46
Was Witzenmanns Interpretation zu Grunde liegt, ist der Gedanke, dass sich in der
beobachtbaren Natur immer nur ein Aspekt der ihr entsprechenden Idee manifestiert.
Goethe erklärt die Schwierigkeit Idee und Erfahrung miteinander zu verbinden damit, dass
die Idee unabhängig von Raum und Zeit ist, weshalb in der Idee Simultanes und
Sukzessives innigst verbunden sind, während in der Naturforschung Erfahrungen immer
räumlich und zeitlich getrennt auftreten müssen (vlg. Schieren 1998, S. 169). In dem
Goethe nun in vielen Versuchsreihen das getrennt in Erscheinung tretende aufnimmt und in
Gedankenbewegungen (Vorstellungen) nachvollzieht, nähert er sich an die Idee an, sodass
er sich ihrer würdig erweist. Erst das in Bewegung versetzte Denken ist in der Lage das
Ideelle in sich aufzunehmen. Rudolf Steiner spricht deshalb auch von einem lebendigen
Denken. Um das Wesen des Organischen zu erkennen, muss sich das Denken also
transformieren und zu einem Organ der Anschauung werden, denn das Wesentliche, die
Idee, ist nicht mehr sinnlich erfassbar. Dass Goethe einen solchen Transformationsprozess
durchlaufen zu haben meint, lässt sich u.a. aus einem Brief an Herder ersehen:
Meine Übung, alle Dinge wie sie sind zu sehen und zu lesen, meine Treue, das
Auge Licht seyn zu laßen, meine völlige Entäusserung von aller Prätention, machen
mich hier höchst im Stillen glücklich. (Goethe, zitiert nach Schieren 1998, S. 178)
Die stark sinnlich geprägte Metaphorik das Auge Licht sein zu lassen (oder wir erinnern
uns an die Anekdote mit Schiller, S. 39), erklärt sich dadurch, dass Goethe das dieser Art
transformierte (lebendige) Denken immer ganz auf die sinnliche Natur gerichtet ließ und
gar eine Abneigung gegenüber einer Anwendung des Denkens auf sich selbst hatte.
Letzteres ließ ihn auch Distanz zur spekulativ-idealistischen Philosophie seiner
Zeitgenossen Schelling34 und Hegel halten. Goethes Reflexion der eigenen
Erkenntnismethodik war jedoch durchaus gründlich, wie auch die intensive
Auseinandersetzung mit Kant zeigt35, aber es reichte ihm, sie in metaphorischer und
34
Goethe in einem Brief an Schiller: „Mit Schelling habe ich einen sehr guten Abend zugebracht. Die große
Klarheit, bei der großen Tiefe, ist immer sehr erfreulich. Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf
poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei mir die Poesie und das wohl deshalb, weil sie
mich ins Objekt treibt. Indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann, sondern gleich zu jedem Satze eine
Anschauung suchen muß und deshalb gleich in die Natur hinausfliehe“ (Goethe, zitiert nach Sijmons 2008,
S. 247)
35 Wie sehr sich Goethe in der Reflexion seiner eigenen Erkenntnisposition an der Kant’schen Philosophie
abarbeitete, zeigen neben seinen Bezugnahmen in Briefen und Aufsätzen auch die Begriffsschöpfung der
47
aphoristischer Weise darzulegen.
Rudolf Steiner sah sich hingegen berufen, Goethes Erkenntnisart hinsichtlich ihres
philosophisch-wissenschaftlichen Gehalts systematisch auszuarbeiten.
2.4 Rudolf Steiners an Goethe orientierter Entwurf einer Erkenntnistheorie
2.4.1 Methode und Zielrichtung der Grundlinien
Im Vorwort zu seinen 1886 erschienenen Grundlinien einer Erkenntnistheorie der
Goetheschen Weltanschauung betont Rudolf Steiner, dass das Bedeutende der
Goethe’schen Wissenschaft nicht das ist, was ihm von der damaligen Wissenschaft an
Einzelentdeckungen zugestanden wurde, sondern in seiner großartigen Naturauffassung zu
suchen sei. Alles was Goethe ausgesprochen hat, könne aus der „Totalität seines Genius“
abgeleitet werden (GA 2/14).
Die Prinzipien, nach denen dies zu geschehen hat, sind der Gegenstand des
vorliegenden Schriftchens. Es soll zeigen, daß das, was wir als Goethes
wissenschaftliche Anschauung hinstellen, auch einer selbstständigen Begründung
fähig ist. (ebd.)
Steiner wollte also die Prinzipien, die für ihn in Goethes genialem Geist wirksam waren
herausarbeiten und zeigen, dass sie philosophisch begründbar sind.
Als methodisches Vorbild für diese Untersuchung führt Steiner Friedrich Schiller an, der
wie kein anderer die Größe des Goethe’schen Genius geschaut habe. „Schillers Blick ist
auf Goethes Geist gerichtet; und die Betrachtungsweise, die er dabei befolgt, soll das Ideal
Anschauenden Urteilskraft sowie Formulierungen wie „[…] die Natur nicht gesondert und vereinzelt
vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen […], die
sich auf Formulierungen Kants beziehen wie „sondern nach Maßgabe des intuitiven (urbildlichen) die
Möglichkeit der Theile (ihrer Beschaffenheit und Verbindung nach) als vom Ganzen abhängend vorstellen“
(KdU, S. 407) oder „[…] vom Synthetisch-Allgemeinen […] zum Besonderen, d.i. vom Ganzen zu den
Teilen geht“ (KdU, S. 361; vgl. Schieren 1998).
48
unserer Methode sein“ (GA 2/24).
Schiller, den Lorenzo Ravagli als Hermeneutiker36 identifiziert, praktiziert die immanente
Methode: „die selbstlose Hingabe an den anderen Geist, um aus dessen Anschauung eine
Einsicht in seine Intuitionen zu gewinnen“ (Ravagli 2003, S. 80).
Steiner versuchte nun, den Geist Goethes bzw. die Goethe’sche Art Dinge anzusehen, nicht
wie Goethe auf die Naturerscheinungen, sondern auf das Phänomen des Erkennens
anzuwenden (vgl. Sijmons 2008, S. 245). Wesentlich für Goethes Anschauungsweise war
der Erfahrungsbezug (wie bereits dargestellt) und so erläutert Steiner die Methodik der
Grundlinien weiter: „Eine im Sinne der Goetheschen Weltanschauung begründete
Erkenntniswissenschaft legt das Hauptgewicht darauf, daß sie dem Prinzip der Erfahrung
durchaus treu bleibt“ (GA 2/45). Ziel der Erkenntniswissenschaft war für Steiner die
gegenseitigen Beziehungen von ideeller und gegenständlicher Welt klarzulegen (von
Denken und Erfahrung) (vgl. GA 2/26). Im Sinne einer Forschungsfrage formuliert Steiner
weiter: „Was für eine Bedeutung hat die Spiegelung der Außenwelt in dem menschlichen
Bewußtsein, welche Beziehung besteht zwischen unserem Denken über die Gegenstände
der Wirklichkeit und den letzteren selbst?“ (ebd.).
Steiner will zunächst die Gebiete der Erfahrung und des Denkens scharf umgrenzen. An
erster Stelle ist für ihn der Erfahrungsbegriff zu klären und dann soll die Natur des
Denkens untersucht werden. Schließlich kann aus dem Verhältnis der beiden die
Wissenschaft abgeleitet werden.
Steiner kam es bei der Untersuchung des Denkens und seinem Verhältnis zur
Erscheinungswelt – im Sinne Goethes – darauf an, das Gebiet der Erfahrung nicht zu
verlassen. Im Gegensatz zu Goethe, der seine Methodik auf Gegenstände der Natur
36
Der Begriff „Hermeneutik“ hat seit der Antike zahllose Bedeutungsveränderungen erfahren (vgl. Joisten
2009), sodass in der Verwendung des Begriffes im Grunde immer seine jeweilige Definition mitgeliefert
werden muss. Ravagli erläutert seine Auffassung des Begriffes folgendermaßen: „Kritische Besonnenheit
und selbstlose Hingabe sind demnach die methodischen Leitparadigmen, die der Hermeneutiker
verwirklichen muß. Kritische Besonnenheit schützt ihn vor subjektgeprägten Urteilen, die sich wie ein
Schleier vor das Verständnis des Anderen legen und zu dessen interpretativer Verformung, Entstellung
führen müssen. Selbstlose Hingabe ermöglicht die Aufnahme der fremden Intuitionen und deren immanentes
Verstehen aus ihnen selbst. Das Zusammenspiel beider Maximen ermöglicht Kongenialität durch Einfühlung
und kritische Reflexion aus der Distanz zugleich (Ravagli 2003, S. 80).
49
angewandt hatte, musste Steiner sich in unbefangener Betrachtung den Vorgängen beim
Erkennen hingeben. Steiners Argumentation bedient sich aber nicht des Postulats eines
höheren Bewusstseinszustandes zur Begründung der Erkenntnistheorie der Goethe’schen
Weltanschauung, sondern der Ergebnisse phänomenologischer37
Denk-Beobachtung und
philosophischer Argumentation.
2.4.2 Der Begriff der „reinen Erfahrung“
Mit der oben behandelten Forschungshaltung unternimmt Steiner zunächst die
Bestimmung des Erfahrungsbegriffs.
Was ist Erfahrung? Jedermann ist sich dessen bewusst, dass sein Denken im
Konflikte mit der Wirklichkeit angefacht wird. Die Gegenstände im Raume und in
der Zeit treten an uns heran; wir nehmen eine vielfach gegliederte, höchst
mannigfaltige Außenwelt wahr und durchleben eine mehr oder minder reichlich
entwickelte Innenwelt. Die erste Gestalt, in der uns das alles gegenübertritt, steht
fertig vor uns. Wir haben an ihrem Zustandekommen keinen Anteil. Wie aus einem
uns unbekannten Jenseits entspringend, bietet sich zunächst die Wirklichkeit
unserer sinnlichen und geistigen Auffassung dar. (2/27)
Der Begriff der Erfahrung bezieht sich für Steiner auf all unsere Erlebnisse, die ohne unser
Zutun zustande kommen. Steiner bezeichnet dieses unmittelbar Gegebene näherhin als
reine Erfahrung. In der reinen Erfahrung tritt uns, so Steiner, eine Mannigfaltigkeit von
Gestalten, Kräften, Farben, Tönen usw. entgegen; gleichgültig ob sie durch einen äußeren
oder einen inneren Sinn vermittelt sind. Diese Sinneseindrücke gelten solange als reine
Erfahrung, als sie nicht durch das Denken aufgegriffen und verarbeitet worden sind.
Kennzeichnend für die reine Erfahrung ist, dass in ihr ein gleichwertiges Nebeneinander
37
Das Wort ‚phänomenologisch‘ ist hier als Chiffre zunehmen für Steiners – sich an Goethe anschließende –
Methodik. Steiner selbst kennzeichnet in einem Vortrag von 1920 diese Methodik als ‚Phänomenologie‘:
„Eine Phänomenologie ist nicht eine Zusammenstellung der bloßen Phänomene in willkürlicher Weise, oder
so wie sie gerade durch die wissenschaftlich angestellten Versuche ergibt; sondern eine wirkliche
Phänomenologie ist eine solche Systematisierung der Phänomene, wie sie etwa versucht worden ist von
Goethe in seiner ‚Farbenlehre‘“ (GA 324a/164).
50
von Dingen im Raum sowie ein gleichwertiges Nacheinander in der Zeit auftritt.38
Gleichwertig in dem Sinn, dass sie beziehungs- und bestimmungslos vorliegen. Steiner
zeichnet gedanklich ein Bild dieses Zustandes:
Die Welt ist uns auf dieser Stufe der Betrachtung gedanklich eine vollkommen
ebene Fläche. Kein Teil dieser Fläche ragt über den anderen empor; keiner zeigt
irgendeinen gedanklichen Unterschied von dem anderen. Erst wenn der Funke des
Gedankens in diese Fläche einschlägt, treten Erhöhungen und Vertiefungen ein,
erscheint das eine mehr oder minder weit über das andere emporragend, formt sich
alles in bestimmter Weise, schlingen sich Fäden von einem Gebilde zum anderen
[…]. (GA 2/31)
In diesem Sinn ist auf dieser Ebene auch nicht zwischen äußerer und innerer Erfahrung zu
unterscheiden, wodurch zum unmittelbar Gegebenen auch die Erscheinungen des Fühlens
und Denkens zählen. Sie erscheinen, wie alle Erfahrungen zunächst einfach am Horizont
des jeweiligen Bewusstseins. Auch von einem Bezug auf ein Subjekt, das diese
Erfahrungen hat, kann auf der Ebene der reinen Erfahrung noch nicht die Rede sein, denn
es erscheint im zusammenhanglosen Nebeneinander ebenso gegeben, wie die anderen
Erfahrungsinhalte. Steiner spricht im Hinblick auf die reine Erfahrung von einem Zustand
vollständiger Selbstentäußerung (GA 2/28).
Für die weitere Entwicklung der Steiner’schen Erkenntnistheorie ist nun entscheidend,
dass das Denken – im ersten Hinblick – ein Gegenstand der Erfahrung ist, wie alles andere
auch. Damit ist für Steiner nämlich die folgende Untersuchung in ihrer
Wissenschaftlichkeit (im Goethe’schen Sinn) legitimiert, da sie rein aus der Erfahrung
schöpft und es nicht nötig hat, diese in Richtung einer metaphysischen Spekulation zu
verlassen. Was Gegenstand des Wissens werden soll, muss uns erst in Form der Erfahrung
gegenüberstehen. Für Steiner ist daher klar: „Sollen wir an dem Denken ein Mittel
gewinnen, tiefer in die Welt einzudringen, dann muß es selbst zuerst Erfahrung werden“
(GA 2/30). Was Goethe also innerhalb seiner naturwissenschaftlichen Forschungen
versucht hat, nämlich das Wesen der Natur über die Erfahrung aufzuschließen, das
versucht Steiner in Bezug auf das Denken. Kein fremdes Element, d.h. nichts außerhalb der
38
Mit Kant gesprochen erscheinen die Dinge unter den Anschauungsformen Raum und Zeit, aber haben
keinerlei Bestimmung durch die Verstandeskategorien erfahren.
51
(reinen) Erfahrung Liegendes, soll zur Erklärung der Wirklichkeit herangezogen werden;
das ist Steiners empiristischer Leitgedanke.
Steiner charakterisiert in diesem ersten Entwurf seiner Erkenntnistheorie die reine
Erfahrung als „bloßes Nebeneinander im Raume und Nacheinander in der Zeit; ein
Aggregat aus lauter zusammenhanglosen Einzelheiten“ (Hervorhebung S.E., GA 2/30).
Damit sieht er sich vor einem Einwand gefeit, dass unsere Erfahrungswelt ja schon
unendliche Unterschiede in ihren Objekten zeige, bevor das Denken an sie herantritt. Eine
rote Fläche unterscheide sich etwa auch ohne Betätigung des Denkens von einer grünen
(GA 2/32). Steiner nutzt diesen möglichen Einwand, um seinen Begriff der reinen
Erfahrung weiter zu präzisieren:
Das ist richtig. Wer uns aber damit widerlegen wollte, hat unsere Behauptung
vollständig mißverstanden. Das gerade behaupten wir ja, daß es eine unendliche
Menge von Einzelheiten ist, die uns in der Erfahrung geboten wird. […] Von einer
Unterschiedlosigkeit der wahrgenommenen Dinge ist gar nicht die Rede, sondern
von ihrer vollständigen Beziehungslosigkeit, […]. (ebd.)
Den so bestimmten Begriff der reinen Erfahrung entnimmt Steiner den Untersuchungen
des deutschen Philosophen Johannes Volkelt, dem es, so Steiner, „vorzüglich gelungen
[ist], das in scharfen Umrissen zu zeichnen, was wir reine Erfahrung zu nennen berechtigt
sind“ (2/33). Volkelt, der heute in Vergessenheit geraten ist, war damals ein anerkannter,
an Kant anknüpfender Erkenntnistheoretiker und Professor für Philosophie in Jena. Volkelt
geht in seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen von einer unmittelbaren
Selbstgewissheit von Bewusstseinsinhalten aus. Diese Bewusstseinsinhalte – für Volkelt
sind es im Sinne Kantens Vorstellungen – sind vorlogischer Natur und sie sind das einzige,
was uns mit absoluter Gewissheit gegeben ist. Volkelt nennt sie reine Erfahrung oder
allgemeiner: das positivistische Erkenntnisprinzip. Aus der völligen
Zusammenhanglosigkeit der mit unmittelbarer Selbstgewissheit gegebenen
Bewusstseinsinhalte, leitet Volkelt eine Notwendigkeit zum Denken ab, um die Welt als
geordnet und gesetzmäßig erkennbar zu machen. Dem Denken fehle zwar die unmittelbare
Selbstgewissheit der reinen Erfahrung, aber sei als Erkenntnisprinzip unverzichtbar, denn
wer „dem positivistischen Fundamentalsatze des Erkennens Alleingeltung zuspricht, darf
weder von gesetzmäßiger, noch von regelmäßiger Verknüpfung der Vorstellungen reden;
er hat kein Mittel, etwas gegen die Möglichkeit einzuwenden, daß die kommenden, resp.
52
gehenden Vorstellungen aus dem Nichts entstehen, resp. Ins Nichts verwinden“ (Volkelt
1879, S.171). Begriffe wie Kontinuität, Regelmäßigkeit, Kausalität, Ordnung usw. könnten
nicht aus dem positivistischen Erkenntnisprinzip entnommen werden, sie müssten zu
diesem hinzugedacht werden.39 Steiner folgt Volkelt freilich nicht in der Einschätzung dem
Denken fehle die unmittelbare Selbstgewissheit der reinen (sinnlichen) Erfahrung, aber er
folgt Volkelts Erfahrungsbegriff soweit es letztere betrifft. So zitiert er in weiterer Folge
Volkelts vorzügliche Charakterisierung der reinen Erfahrung. Sie soll uns, so Steiner,
einfach die Bilder schildern, die in einem beschränkten Zeitabschnitt in völlig
zusammenhangloser Weise vor unserem Bewusstsein vorüberziehen:
Jetzt hat zum Beispiel mein Bewusstsein die Vorstellung, heute fleißig gearbeitet
zu haben, zum Inhalte; unmittelbar daran knüpft sich der Vorstellungsinhalt, mit
gutem Gewissen spazieren gehen zu können; doch plötzlich tritt das
Wahrnehmungsbild der sich öffnenden Türe und des hereintretenden Briefträgers
ein; das Briefträgerbild erscheint bald handausstreckend, bald mundöffnend, bald
das Gegenteil tuend; zugleich verbinden sich mit dem Wahrnehmungsinhalte des
Mundöffnens allerhand Gehörseindrücke, unter anderen auch einer, dass es draußen
zu regnen anfange. Das Briefträgerbild verschwindet aus meinem Bewusstsein, und
die Vorstellungen, die nun eintreten, haben der Reihe nach zu ihrem Inhalte:
Ergreifen der Schere, Öffnen des Briefes, Vorwurf unleserlichen Schreibens,
Gesichtsbilder mannigfachster Schriftzeichen, mannigfache sich daran knüpfende
Phantasiebilder und Gedanken; kaum ist diese Reihe vollendet, als wiederum die
Vorstellung, fleißig gearbeitet zu haben, und die mit Missmut begleitete
Wahrnehmung des fortfahrenden Regens eintreten; doch beide verschwinden aus
meinem Bewusstsein, und es taucht eine Vorstellung auf mit dem Inhalte, dass eine
während des heutigen Arbeitens gelöst geglaubte Schwierigkeit nicht gelöst sei;
[…]. (Volkelt 1879, S. 168f)
39
Man denke an das Scheitern des Neopositivismus an eben jenem Problem einige Jahrzehnte später.
Michael Muschalle schreibt dazu: „Der naiv angewandte Positivismus der Wissenschaft übersieht die
Tatsache, dass unsere Auffassung der Wirklichkeit keineswegs ein stabiles, kompaktes und tragfähiges
Gebilde ist, sondern allenfalls eine Art Schaum oder ein schwammartiges Gebilde, dessen Hohlräume aus
den Resultaten begrifflich-logischer Operationen bestehen und nur dieses verleihen dem Schaum seine
Struktur und Stabilität“ (Muschalle 200, online).
53
Steiner schließt dieses Zitat mit der Bemerkung ab: „Da haben wir für einen gewissen,
beschränkten Zeitabschnitt das geschildert, was wir wirklich erfahren, diejenige Form der
Wirklichkeit, an der das Denken gar keinen Anteil hat“ (GA 2/34).
Nun wirft diese Charakterisierung samt der Kommentierung durch Steiner einige Probleme
auf, und ruft, wie Michael Muschalle in seiner Untersuchung von Rudolf Steiners Begriff
des Gegebenen treffend feststellt, so manches Stirnrunzeln hervor, „weil man sich der
Steinerschen Auffassung nicht leicht anschließen mag, weil nicht nur die dort
beschriebenen Erfahrungsinhalte selbst vielfach gedankengesättigt sind, sondern auch die
Wahrnehmung dieser Bilder an die verschiedensten Formen des Denkens und Urteilens
gebunden zu sein scheint“ (Muschalle 2001, online).
In der Tat erscheinen die Beispiele Volkelts derart gedankengesättigt, dass man sich fragen
muss, wie Steiner behaupten kann, das Denken habe an ihnen keinen Anteil. Was Volkelt
betrifft, so könnte man anführen, dass er die Kant’sche Idee eines Dinges an sich
übernommen hatte und dieses wohl als Ursache für das vorlogische Gegebensein der
Vorstellungs- bzw. Bewusstseinsinhalte annimmt. Steiner übernimmt zwar in den
Grundlinien Volkelts Konzept der reinen Erfahrung, weist aber gleichzeitig darauf hin,
dass Volkelt es „nun freilich zur Unterstützung einer Ansicht getan [hat], die von der
unsrigen grundverschieden ist und in einer wesentlich anderen Absicht, als die uns
gegenwärt ist“ (GA 2/33). Steiner versuchte ja gerade die Kant’sche Idee eines
unerkennbaren Dinges an sich sowie die Annahme, dass alles Gegebene nur unsere
Vorstellung sei, zu widerlegen.40 Muschalle äußert diesbezüglich die Vermutung, dass sich
Steiner mit der Übernahme von Volkelts Konzept der reinen Erfahrung ein trojanisches
Pferd eingefangen haben könnte, das sein eigenes Vorhaben sabotiert (vgl. Muschalle
2001. online).
Jedenfalls hat Steiner das Problematische dieser Darstellung spätestens ein Jahr nach
Herausgabe der Grundlinien eingesehen, wenn er im zweiten Band der Kürschner-Ausgabe
40
Gegen Volkelt wendet er beispielsweise ein, dass dieser sich in einen Widerspruch verwickle, wenn er ein
zusammenhangloses Chaos an Bildern als eine subjektive Vorstellung bestimmt. Denn er hätte einsehen
müssen, dass „das Subjekt des Erkennens, der Betrachter, ebenso beziehungslos innerhalb der
Erfahrungswelt dasteht wie ein beliebiger anderer Gegenstand derselben. Legt man aber der
wahrgenommenen Welt das Prädikat subjektiv bei, so ist das ebenso eine gedankliche Bestimmung, wie wenn
man den fallenden Stein für die Ursache des Eindruckes im Boden ansieht“ (GA 2/38).
54
schreibt: „Der vollständig von allem Gedankeninhalt entblößten Sinnenwelt stehen wir
wohl niemals gegenüber. Höchstens im Kindesalter, wo vom Denken noch keine Spur da
ist, kommen wir der reinen Sinnesauffassung nahe“ (GA 1/165).
In seiner einige Jahre später erscheinenden Dissertation Die Grundfrage der
Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichte's Wissenschaftslehre verweist er
zwar weiterhin auf Volkelts Vorarbeit, schränkt den Begriff des – nun – unmittelbar
Gegebenen (statt ‚reine Erfahrung‘) jedoch schon viel weiter ein, wenn er schreibt: „Das
Absondern individueller Einzelheiten aus dem ganz unterschiedlosen gegebenen Weltbild
ist schon ein Akt gedanklicher Tätigkeit“ (GA 3/50).
In den Grundlinien bleibt die Genese der Einzelheiten im unmittelbar Gegebenen noch
unberücksichtigt. Wenn das auch eine Schwachstelle des Erstlingswerkes ist, so tut es dem
Gedankengang keinen allzu großen Abbruch. Denn immerhin ist für die geschilderten
Wahrnehmungsinhalte kein aktueller Denkakt mehr zu vollziehen, es wird auf frühere
Denk- und Lernleistungen zurückgegriffen. In diesem Sinne kann von einem unmittelbar
Gegebenen gesprochen, das aber immer noch aktuelle Denkleistungen braucht, um in
seiner Kontinuität und Kausalität erfassbar zu sein.
Steiner selbst beruft sich in den Grundlinien aber noch auf einen didaktischen Grund
seiner problematischen Bestimmung.
Nun kann man uns ja einwenden, daß auch wir der reinen Erfahrung eine Menge
von Attributen beigelegt haben. Wir bezeichneten sie als unendliche
Mannigfaltigkeit, als ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten usw. Sind das
denn nicht auch gedankliche Bestimmungen? In dem Sinne, wie wir sie
gebrauchten, gewiß nicht. Wir haben uns diese Begriffe nur bedient, um den Blick
des Lesers auf die gedankenfreie Wirklichkeit zu lenken. Wir wollen diese Begriffe
der Erfahrung nicht beilegen; wir bedienen uns ihrer nur, um die Aufmerksamkeit
auf jene Form der Wirklichkeit zu lenken, die jedes Begriffes bar ist. (GA 2/40)
Ein Bewusstsein für gewisse Probleme in der Bestimmung der reinen Erfahrung lässt sich
also schon in den Grundlinien nachweisen, allerdings lässt es Steiner an dieser Stelle bei
den lakonischen Hinweisen darauf bewenden. Steiners Aufmerksamkeit gilt vielmehr dem
Versuch nachzuweisen, dass die reine Erfahrung nicht als subjektive Vorstellung
aufgefasst werden kann, weil das Subjekt auf dieser Ebene allenfalls eine Erfahrung unter
55
Erfahrungen ist.41 Für Steiner kann im Falle der reinen Erfahrung daher nicht von einer
subjektiven Erfahrung gesprochen werden.
Um zu seinem Ziel der wahren Erkenntnis der Dinge zu kommen, muss Steiner Argumente
gegen die Subjektivität der Erfahrung finden. Neben der bewusstseinstheoretisch
begründeten Subjektivität gilt es für Steiner die Subjektivität noch von einer anderen Seite
her abzuwehren: der physiologischen.
Man mißverstehe uns nur ja nicht. Wir wollen nicht gegen die physiologischen
Errungenschaften der Gegenwart einen gewiß ohnmächtigen Protest erheben. Was
aber physiologisch vollkommen gerechtfertigt ist, das ist deshalb noch lange nicht
berufen, an die Pforte der Erkenntnistheorie gestellt zu werden. (GA 2/36f.)
Steiner weist darauf hin, dass es eine unumstößliche physiologische Wahrheit sein möge,
dass „erst durch die Mitwirkung unseres Organismus der Komplex von Empfindungen und
Anschauungen entsteht, den wir Erfahrung nannten“ (GA 2/37). Mit Sicherheit sei aber
eine solche Erkenntnis das Resultat vieler Erkenntnisse und Forschungen. Daher kann sie
nicht Ausgangspunkt für eine erst zu leistende Untersuchung der Erkenntnis sein bzw.
jenes Zustandes, der vor aller, durch das Denken vermittelten, Erkenntnis existiert (der
reinen Erfahrung). Eine Erkenntnistheorie hat sich für Steiner aller Vorannahmen zu
entledigen und von diesem Punkt aus ihre Untersuchung zu beginnen. Dieses Konzept der
Voraussetzungslosigkeit nahm Steiner in seiner Dissertationsschrift noch schärfer in den
Blick, siehe die Argumentation dort (Kapitel 3.1.3.2).
Wenn Steiner nun die reine Erfahrung als vor jeder gedanklichen Verarbeitung
charakterisiert, stellt sich die Frage, ob sich innerhalb dieser reinen Erfahrung ein Weg
zum Denken auftut und in welchem Verhältnis diese zwei Elemente der menschlichen
Erfahrung stehen. Gemäß Steiners strengem Empirismus muss sich innerhalb der reinen
Erfahrung ein solcher Weg finden, soll Erkenntnis erklärbar werden.
41
Siehe den Einwand gegen Volkelt in Fußnote 38
56
2.4.3 Die Bestimmung des „Denkens“
Vielfach wurde bereits darauf hingewiesen, wie innerhalb Steiners
Wissenschaftsverständnis von der Erfahrung auszugehen ist. Bliebe man allerdings bei der
bisher charakterisierten reinen Erfahrung stehen, würde sich die Wissenschaft allenfalls in
einer zusammenhanglosen Notizensammlung unserer Wahrnehmungen erschöpfen (GA
2/42).42 Daher muss etwas innerhalb der Erfahrung gesucht werden, das ihre innere
Gesetzmäßigkeit aufdeckt. Steiner schreibt:
Bei der Erfahrung stehen zu bleiben, ist eine berechtigte wissenschaftliche
Forderung. Nicht weniger aber ist eine solche die Aufsuchung der inneren
Gesetzmäßigkeit der Erfahrung. Es muß also dieses Innere selbst an einer Stelle
der Erfahrung als solche auftreten. (GA 2/44, kursiv im Original)
Dieses „Innere“ ist das Denken. Schon weiter oben haben wir mit Steiner festgestellt, dass
das Denken auf der Bewusstseinsebene der reinen Erfahrung ebenso als unmittelbar
Gegebenes erscheint, wie alle übrigen Bewusstseinsinhalte auch. Das Denken
unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt von den anderen
Bewusstseinsinhalten. Während man bei Letzteren über die Zusammenhanglosigkeit nicht
hinauskommt, weist ein Gedanke immer schon über sich hinaus. Steiner führt als Beispiel
an: „Wenn ich […] den Gedanken der Ursache fasse, so führt mich dieser durch seinen
eigenen Inhalt zu dem der Wirkung. Ich brauche die Gedanken nur in jener Form
festzuhalten, in der sie in unmittelbarer Erfahrung auftreten, und sie erscheinen schon als
gesetzmäßige Bestimmungen“ (GA 2/43). Der gesetzliche Zusammenhang, den man bei
der übrigen Erfahrung erst aufsuchen muss, ist beim Denken schon in der ersten Form des
Auftretens gegeben. „Im Denken ist dasjenige, was wir bei der übrigen Erfahrung suchen,
selbst unmittelbare Erfahrung geworden“ (GA 2/44). Während bei allen anderen
Bewusstseinsinhalten, so Steiner, erst die Hülle (Erscheinung für die Sinne) durchdrungen
42
Man ist hier an die Versuche des Neopositivismus (Wiener Kreis) erinnert, die Wissenschaft in Form von
– aus der unmittelbaren Erfahrung genommenen – Protokollsätzen sich aussprechen zu lassen. Die
Bemühungen des Wiener Kreises scheiterten daran, dass „nicht geklärt werden konnte, wie „sinnvolle
(=empirische) Sätze“ von vornherein von „sinnlosen (=metaphysischen) Sätzen“ zu unterscheiden sind“
(Zeidler 2000, S. 35).
57
werden muss, um zum Kern zu kommen, sind Hülle und Kern beim Denken eine
ungetrennte Einheit (ebd.).
Besteht nun eine wissenschaftliche (empiristische) Forderung danach
Bewusstseinsgegenstände in ihrer unmittelbaren Form, d.h. in der Form ihres ersten
Auftretens, zu Objekten der Wissenschaft zu machen, so ist dies streng genommen nur im
Falle des Denkens einzulösen. „Nur beim Denken kann das [wissenschaftlich methodische]
Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden“ (GA 2/45).
Damit hat Steiner das Denken für die Wissenschaft nicht nur als innerhalb der Erfahrung
liegend bestimmt, sondern es sogar als die vollständigste Form der Erfahrung – als eine
Erfahrung höherer Art – ausgewiesen.
Schließlich muss in der Anwendung des Denkens auf die übrige Erfahrung somit das
Gebiet der Erfahrung überhaupt nicht überschritten werden. Es werden lediglich
verschiedene Erfahrungsgebiete miteinander verbunden (wie auch verschiedene sinnliche
Erfahrungsgebiete miteinander verbunden werden).
Dass verschiedene Erfahrungsgebiete miteinander verknüpft werden, heißt aber noch lange
nicht, dass sie berechtigter Weise miteinander verknüpft werden. Die
erkenntnistheoretische Frage mit welcher Berechtigung unser Denken auf
Sinnesgegenstände angewendet werden kann, kann an dieser Stelle noch nicht als
beantwortet betrachtet werden. Bislang sehen wir uns lediglich einer Notwendigkeit
gegenüber, das Denken auf die Sinneserfahrung anzuwenden (wie sie auch schon bei
Volkelt zu finden ist), um der Zusammenhanglosigkeit zu entgehen.
Dass das Denken aber Erfahrungstatsache ist, wie andere Bewusstseinsinhalte auch, und
das darüber hinaus im Denken sogar das strengste methodische Erfahrungsprinzip erfüllt
ist, rückt es aber immerhin schon perspektivisch auf eine Ebene mit den übrigen
Erfahrungsinhalten.
Über das tatsächliche Verhältnis von Sinneserfahrung und Denken kann uns letztlich nur
das Denken selbst aufklären, da in ihm alles Gesetzmäßige zu finden ist. Deshalb lenkt
Steiner die Aufmerksamkeit auf eine Untersuchung des Denkens. „Fast nie trachtet man
danach, das Reich der Gedanken innerhalb seines eigenen Gebietes einmal zu
durchwandern, um zu sehen, was sich hier ergibt“ (GA 2/55). Als ob es alle Wirklichkeit
58
wäre, soll das Denken untersucht werden, von Vorannahmen über das Verhältnis des
Denkens zur Erscheinungswelt, soll abgesehen werden. Steiner bezeichnet es als
verhängnisvolle Unterlassung der sich auf Kant stützenden Erkenntnistheorien (sicher ist
hier auch Volkelt gemeint), dies nicht getan zu haben. Im Durchwandern des
Gedankengebietes sollen letztlich reine Denkerfahrungen gemacht werden. Ganz im Sinne
Goethes geht es darum Beobachtungsreihen anzustellen, die rein das Denken als
Beobachtungsgegenstand haben, damit dieses sein Wesen offenbaren könne. „Im Sinne
Goethes handelt man nur, wenn man sich in die eigene Natur des Denkens selbst vertieft
und dann zusieht, welche Beziehung sich ergibt, wenn dann dieses seiner Wesenheit nach
erkannte Denken zu der Erfahrung in ein Verhältnis gebracht wird“ (GA 2/56). Zuerst soll
das Denken an und für sich untersucht werden, unter völliger Fernhaltung aller subjektiven
Meinungen seiner Natur nach durchdrungen werden. In einem zweiten Schritt soll es in
seiner Wechselwirkung mit Objekten der Sinneserfahrung beobachtet werden, um zu
ersehen, was sich daraus ergibt (ebd). Diese methodische Herangehensweise gibt Steiner in
seinem Selbstverständnis schließlich auch die Legitimation von einer Erkenntnistheorie
der Goetheschen Weltanschauung zu sprechen.
In der Beobachtung43 des Denkens zeigt sich, dass es nur prima facie ein unmittelbar
Gegebenes ist. Während ich bei den übrigen Erfahrungen behaupten kann, dass sie ohne
mein Zutun zu Inhalten meines Bewusstseins werden, ist dies beim Denken nicht der Fall.
„Beim Gedanken bin ich mir klar, daß jenes Werden ohne meine Tätigkeit nicht möglich
ist. Ich muß den Gedanken durcharbeiten, muß seinen Inhalt nachschaffen, muß ihn
innerlich durchleben bis in seine kleinsten Teile, wenn er überhaupt irgendwelche
Bedeutung für mich haben soll“ (GA 2/47). Gegenüber der Erscheinung der übrigen Welt
verhalten wir uns passiv, damit aber ein Gedanke in unserem Bewusstsein erscheinen kann,
bedarf es einer Betätigung unseres Geistes.
An dieser Stelle tut sich eine Widersprüchlichkeit – jedenfalls eine Doppelnatur – in Bezug
auf das Denken auf. Denn einerseits haben wir mit Steiner festgestellt, dass das Denken als
einziger unter den Erfahrungsinhalten als voll Bestimmtes, als Ganzes auftritt – man
könnte auch sagen als das Objektivste. Auf der anderen Seite erfordert seine Erscheinung
die Tätigkeit eines Subjektes. In Steiners Worten: „Das eine Mal erscheint er [der
43
Wie sich zeigen wird, kann das Denken nur mit Hilfe des Denkens selbst beobachtet werden. Das Gebiet
der reinen Erfahrung wurde dabei immer schon verlassen.
59
Gedankengehalt der Welt] als Tätigkeit unseres Bewußtseins, das andere Mal als
unmittelbare Erscheinung einer in sich vollendeten Gesetzmäßigkeit, ein in sich
bestimmter ideeller Inhalt“ (GA 2/48).
Für Steiners objektiven Idealismus (wie er seine Philosophie in seiner Dissertation auch
nennt) ist es notwendig, die Objektivität des Denkens gegenüber der Subjektivität seines
Auftretens zu erweisen. Dafür werden in den Grundlinien folgende Argumente angeführt:
1. Man dürfe nicht den Schauplatz des Auftretens unserer Gedanken mit jenem
Element verwechseln, von dem sie ihre inhaltliche Bestimmung erhalten. Weder
bestimmt unsere subjektive Organisation den Zusammenhang zwischen zwei
Gedanken a und b, wie bei Kant, noch bestimmen wir bei der Produktion eines
Gedankeninhalts, welche Verbindungen unsere Gedanken einzugehen haben (GA
2/49). „Unser Geist vollzieht die Zusammensetzung der Gedankenmassen nur nach
Maßgabe ihres Inhaltes“ (ebd.).
Die Gesetzmäßigkeit der Gedankenverbindungen ist also allein durch den Gedankeninhalt
bestimmt.
2. Wenn schon die Gesetzmäßigkeit vom Gedankeninhalt abhängig ist, so könnte es ja
sein, dass wir nicht nur den Gedanken zur Erscheinung bringen, sondern auch seine
inhaltliche Bestimmung ein subjektives Produkt unseres Geistes ist. Steiner
argumentiert zur Entkräftigung dieses Einwandes verworren und zirkulär: „Diesem
Einwande ist aber ganz leicht zu begegnen. Wir würden nämlich, wenn er
begründet wäre, den Inhalt unseres Denkens nach Gesetzen verknüpfen, von denen
wir wahrhaftig nicht wüßten, wo sie herkommen. Wenn dieselben nicht aus unserer
Subjektivität entspringen, was wir vorhin doch in Abrede stellten […], was soll uns
denn Verknüpfungsgesetzte für einen Inhalt liefern, den wir selbst erzeugen?“ (GA
2/50).
In dieser lapidaren Form ist die Argumentation schwer nachvollziehbar. Es ist nicht
einzusehen, warum wir die Verknüpfungsgesetzte nicht nach wie vor als vom Inhalt – den
wir aber nun selbst bestimmen – hervorgehend zu betrachten. Wenn es in der
Selbstevidenz der Denkerfahrung liegt, dass die Verknüpfungsgesetzte aus dem
Gedankeninhalt hervorgehen, dann muss auch die Selbstevidenz aufweisen, ob der Inhalt
durch das Subjekt bestimmt ist oder seine Bestimmung von einem „anderen Elemente“,
60
wie Steiner sagt, erhält. Steiners Gedankengang scheint an dieser Stelle zirkulär und damit
redundant.
Ein anderer Gedankengang Steiners ist möglicherweise dazu geeignet die Sache etwas
aufzuhellen. Dadurch, dass wir an der Hervorbringung eines Gedankens beteiligt seien,
müsse uns dieser in seiner Gesamtheit bekannt sein, d.h. nicht nur seiner Erscheinung nach
sondern auch seinem Wesen nach. Es sei nicht denkbar etwas anders zur Erscheinung zu
bringen, als in Kenntnis seines innersten Wesens. Auf diesem Weg landet man wieder bei
einem Argument der Selbstevidenz des Gedankens, der als „ein in sich bestimmter ideeller
Inhalt“ erscheint.
3. Zur Erhöhung der Plausibilität des objektiven Gedankeninhaltes trotz Beteiligung
des Subjekts an dessen Hervorbringung verweist Steiner darauf, dass es zwar
ungewohnt sei, dass wir ein Objektives wahrnehmen und zugleich hervorbringen,
aber keineswegs unstatthaft. Man brauche nur das Vorurteil aufzugeben, dass es so
viele Gedankenwelten gäbe, wie menschliche Individuen (GA 2/52). Es sei genauso
möglich, dass es nur einen einzigen Gedankeninhalt gäbe und „unser individuelles
Denken sei weiter nichts als ein Hineinarbeiten unseres Selbstes, unserer
individuellen Persönlichkeit in das Gedankenzentrum der Welt“ (ebd.).
Für Steiner ist unsere Gedankenwelt eine völlig auf sich selbst gebaute Wesenheit, eine in
sich vollkommene Ganzheit. Mit Verweis auf Hegel bzw. dessen Interpreten warnt er aber
vor einer Vergegenständlichung des Denkens. Hegel habe das Denken in allzu schroffer
Form verteidigt und damit Verwirrung heraufbeschworen, er habe die Idee in der
sinnfälligen Wirklichkeit wie eine Sache gesucht (GA 2/51). Nach Steiner müsse
festgestellt werden, „daß das Feld des Gedankens einzig das menschliche Bewußtsein“ sei
und dass es darum aber nichts an Objektivität einbüße (GA 2/51). Steiner setzt eben den
Begriff und das Ding nicht in eins. Denn den Sinnesdingen kommt eine Eigenschaft zu, die
dem Begriff abgeht: die Besonderheit. In der Einleitung zum zweiten Band der Sofien-
Ausgabe schreibt Steiner: „Der Begriff selbst kennt die Besonderheit gar nicht. […] Das,
was die Besonderheit eines Objektes ausmacht, läßt sich nicht begreifen, sondern nur
anschauen“ (GA 1/153). Steiner wendet sich damit gegen idealistische Entwürfe, wie etwa
bei Hegel und Fichte, die die gesamte Erscheinungswelt aus dem Begriff ableiten wollen
und gegen eine einseitig-platonische Geringschätzung der sinnlichen Welt. Die
Differenzierung ist hier allerdings weniger eine ontologische, denn Begriff und
61
Anschauung sind für Steiner zwei Seiten einer Medaille, sondern sie bezieht sich auf die
Realisierung der Erkenntnis von Wirklichkeit. Diese bedarf der Anerkennung beider Seiten
der Welt. Erkenntnis kann auf die Anschauung nicht verzichten, während umgekehrt die
Anschauung ohne das Denken leer bliebe. Im Gegensatz zu Kant muss die Anschauung
aber nicht gegenständlich sein. Steiner sieht in der durch die Erkenntnis
wiedergewonnenen Einheit von Anschauung und Begriff die ganze Wirklichkeit, eine
Vernachlässigung der Erfahrung hieße, wieder nur einem Teil der Wirklichkeit gerecht zu
werden, sich in eine einseitige Geistigkeit zu begeben. Dies ist auch Steiners Kritik an
Platon, jedenfalls in der Art in der er ideengeschichtlich44 wirksam wurde, nämlich in einer
Geringschätzung der sinnlichen Welt und in einer Abspaltung der Ideenwelt von ihr. Die
Gegenreaktion dazu trat schließlich im englischen Empirismus zutage, ausgehend von
Francis Bacon, später Hume und dominiert bis heute als Materialismus die
wissenschaftliche Denkart (vgl. GA 6).
2.4.4 Das Erkennen mit Hilfe des „Wahrnehmungsurteils“
In der bisherigen Bestimmung der Gebiete Erfahrung und Denken zeigte sich schon eine
gewisse Verflechtung der beiden. Soll die Erfahrung etwas für uns bedeuten, muss sie
durch die ihr korrespondierenden Begriffe ergänzt werden, die wir zwar selbst
hervorbringen, die aber ihre inhaltliche Bestimmung in sich selbst haben. Bleibt man bei
der Erfahrung stehen, verfängt man sich in den Aporien des (Neo)Positivismus. Stützt man
sich nur auf das Denken, so endet man in einem Fichte’schen Solipsismus oder in
rationalistischer Spekulation. Wie aber ist nun der Zusammenhang zwischen Anschauung
und Denken herzustellen?
Steiner spricht davon, dass wir der Sinneswahrnehmung wie einem Rätsel
gegenüberstehen, zu dessen Lösung wir aus dem Dunkel unseres Bewusstseins einen
Begriff emporarbeiten müssen (GA 2/64). Haben wir einen entsprechenden Begriff
gefunden, vollziehen wir ein Wahrnehmungsurteil. Im Wahrnehmungsurteil wird eine
Wahrnehmung (Subjekt) mit einem Begriff (Prädikat) verbunden. Aber wie finden wir den
44
In der christlichen Scholastik und schließlich bei Descartes oder Spinoza.
62
richtigen Begriff? Steiner löst das Problem dadurch, dass das Denken zu einem
Wahrnehmungsorgan wird. Als solches empfängt es aber nicht passiv den
korrespondierenden Begriff, sondern es begibt sich in eine Art dialektischen Prozess mit
der sinnlichen Anschauung. Wir erinnern uns an die Beobachtungsreihen der Goethe’schen
Methodik, die es erst ermöglichen den richtigen Begriff – respektive die Idee als
dynamische Begriffseinheit – zu erfassen. Obschon man den Begriff an der sinnlichen
Anschauung gewinnt, entnimmt man, so Steiner, „alle Bestimmungen des Gedankens aus
der Gedankenwelt. Von dem Sinnesobjekte fließt in diesen Inhalt ja doch nichts ein. Ich
erkenne in diesem Sinnesobjekt den Gedanken, den ich aus meinem Inneren herausgeholt,
nur wieder“ (GA 2/66).
Deshalb sind genaue Sinnesbeobachtungen auch notwendig, denn wie soll ich den
richtigen Begriff finden – ihn schließlich im Objekt wiedererkennen – wenn ich nur eine
unzureichende Beobachtung habe? Der Inhalt der Welt wird allerdings nicht aus der
Sinneswelt geschöpft, sondern aus der Gedankenwelt.45 Steiner hält es deshalb für eine
notwendige Erkenntnis aller Wissenschaften, „daß ihr Inhalt lediglich Gedankeninhalt ist
und daß sie mit der Wahrnehmung in keine anderen Verbindung stehen, als daß sie im
Wahrnehmungsobjekte eine besondere Form des Begriffes sehen“ (GA 2/68).
Begriff und Wahrnehmung (Erscheinung für die Sinne) erscheinen nur für das Erkennende
Bewusstsein als getrennt. An sich sind es zwei Erscheinungsformen einer Wirklichkeit,
weshalb auch erst die Erkenntnis Wirklichkeit vermittelt und nicht das Gegebene. Damit
ist für Steiner auch: „Die Gestalt von der Wirklichkeit, welche der Mensch in der
Wissenschaft entwirft […] die letzte wahre Gestalt derselben“ (GA 2/85).
Die Frage nach der begrifflichen Identifizierbarkeit von Wahrnehmungen ist eines der
Kernprobleme der Erkenntnistheorie. Kants diesbezügliche Lehre vom transzendentalen
Schematismus gilt als verworren und dunkel (vgl. Ludwig 1995). Kant selbst spricht vom
Schematismus unseres Verstandes als einer „verborgenen Kunst in den Tiefen der
menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und
sie unverdeckt vor Augen legen werden“ (KrV, B 180) können.
45
Etwas, wofür ich mir nicht Begriffe erarbeitet habe, bleibt für mich bedeutungslos, wenn ich ihm in der
Welt begegne. Steiner verweist dabei auf denjenigen mit reichem Seelenleben, der dem geistig Armen
gegenüber tausend Dinge sieht, die Letzterem Null sind (GA 2/67).
63
Kurt Walter Zeidler schreibt hinsichtlich der obigen Frage in seiner Prolegomena zur
Wissenschaftstheorie, sie bezeichne „die Grenzen der sprachanalytischen und der
neopositivistischen Philosophie“ (Zeidler 2000, S. 44), die innerhalb ihrer Mittel keine
befriedigende Lösung erbringen konnten. Das Scheitern an erkenntnistheoretischen
Problemen wie diesem führte letztendlich dazu, dass die postmoderne Philosophie selbst
dem Versuch einer Beantwortung, und damit dem Stellen der Frage überhaupt, den Rücken
kehrte und die Erkenntnistheorie als Zeiterscheinung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
in die Bedeutungslosigkeit verabschiedete.
Zeidler führt jedoch zur Lösung des Problems in Anlehnung an Charles Sanders Peirce
(und Hegel) die Abduktion als dritte Schlussform neben der Deduktion und der Induktion
ein. Sie ist für ihn notwendig, wenn es eine Begriffsbildung überhaupt geben soll:
Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Schließens kann demnach
dahingehend beantwortet werden, daß die Deduktion zusätzlich zur Induktion, die von
‚Resultat‘ (Konklusion auf ‚Fall‘ (Untersatz) auf die im Obersatz des deduktiven
Schlusses vorgesetzte ‚Regel‘ schließt, noch eines weiteren synthetisierenden
Verfahrens bedarf, das zur Regel und zum Resultat den Fall ermittelt, auf den die Regel
angewendet werden kann. Mit anderen Worten: die Subsumption eines Besonderen
unter ein Allgemeines setzt nicht nur die induktive Erschließung des Allgemeinen,
sondern auch die begriffliche Bestimmung des Besonderen voraus, das als besonderer
Fall unter die allgemeine Regel subsumiert werden soll. Diese Formulierung
verdeutlicht die fundamentale Bedeutung des abduktiven Schlusses: als logische
Synthesis, die den Fall zur Regel und damit die Anwendbarkeit der Regel erschließt,
formuliert die Abduktion den Aktus der begrifflichen Bestimmung und
Begriffsbildung. (Zeidler 2000, S. 159)
Die begriffliche Identifizierung ist eine fortwährend erlebte Tatsache des menschlichen
Erlebens. Ihr muss ein Vermögen gegenüberstehen, das in der klassischen Logik nicht
explizit vorkommt. Nicht nur zur begrifflichen Identifikation von Wahrnehmungen,
sondern auch zur Subsumtion von Fällen unter eine Regel ist ein solches Vermögen
notwendig. Für Zeidler müssen daher Deduktion und Induktion durch die Abduktion
ergänzt werden, um Erkenntnis überhaupt erklären zu können.
Zeidler verweist in diesem Zusammenhang auch auf Ernst Cassirer, der ebenfalls in der
64
Begriffsbildung, eine Bestimmungsleistung abseits von Induktion und Abduktion sah
(ebd.). Genau diese Notwendigkeit einer Identifizierung des Erfahrungsinhaltes (die
Identifikation eines Besonderen) drückt sich auch in Steiners Wahrnehmungsurteil aus,
also in einem Vermögen zur Wahrnehmung eines Zusammenhangs von Begriff und
Gegenstand. Dass Erkenntnis anders gar nicht schlüssig zu denken ist, kann als Indiz für
die tatsächliche Einheit von Begriff und Gegenstand gelten.
65
3. Dritte Phase – Die in sich selbst gründende Erkenntnistheorie
“Die Erkenntnistheorie soll eine wissenschaftliche Untersuchung
desjenigen sein, was alle übrigen Wissenschaften ungeprüft
voraussetzen: das Erkennen selbst.” (3/25)
3.1 Steiners Dissertationsschrift
Zur Verwirklichung von Steiners akademischen Karriereplänen (eine Professur in
Philosophie) war der Erwerb eines akademischen Titels notwendig. Aufgrund des
fehlenden gymnasialen Abschlusses, war eine Promotion in Wien nicht möglich. Aus
mehreren Gründen dürfte die Universität Rostock als Ausweichmöglichkeit in Steiners
Blickfeld geraten sein. Karl Julius Schröer hatte 1871 ein Ehrendoktorat von der
Universität Rostock erhalten und der von Steiner verehrte Philosoph Eduard von Hartmann
hatte in Rostock promoviert (vgl. Hoffmann, Kugler und Trapp 1991). Schließlich waren
Steiner auch Heinrich von Steins Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus „in die
Hände gefallen“, die ihn „außerordentlich fesselten“ (GA 28/198). Von Stein war
Ordinarius für Philosophie in Rostock und wurde 1890 auch Rektor der Universität. Im
Mai desselben Jahres übersandte Steiner seine Grundlinien an die Universität Rostock mit
der Anfrage, ob sein Buch als Dissertationsschrift angenommen werden könne (GA
38/227f). Heinrich von Stein zollte in einem Antwortschreiben Steiner große Anerkennung
für das übersandte Werk, verwies aber darauf, dass unter den hohen Anforderungen der
Universität eine Promotionsschrift mit „streng wissenschaftlicher Gestalt“ von Nöten sei.
Darunter seien eine „auch äußerlich heraustretende Auseinandersetzung mit der Litteratur
des betreffenden Gegenstandes, genaue Citate und methodische Beweisführung“
(Hoffmann et al. 1991, S. 188) zu verstehen. Steiner sollte darüber hinaus seine Kantkritik
strenger erörtern.
Im Jahr darauf reichte Steiner schließlich seine Dissertation unter dem Titel „Die
Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichte’s
Wissenschaftslehre. Prolegomena zu einer Verständigung des philosophierenden
66
Bewusstseins mit sich selbst.“ ein.
Steiner lässt im Literaturverzeichnis erkennen, dass er dem Aufruf zu einer umfassenden46
Auseinandersetzung mit der gegenstandsrelevanten Literatur nachgekommen war. Darin zu
finden sind die damals wichtigsten deutschen Titel über Erkenntnistheorie (vgl. Sijmons
2003), insbesondere eine Reihe Vertreter des Neukantianismus wie Liebmann, Cohen,
Riehl, Paulsen, Volkelt, Windelband, Vaihinger, F.A. Lange; Kantforscher wie Kuno
Fischer, Benno Erdmann, Johannes Witte u.a. sowie Werke zur Logik u.a. von Wundt,
Trendelenburg, Mill, Lotze. Was die geforderte streng wissenschaftliche Gestalt betraf,
war Heinrich von Stein wohl nicht gänzlich zufrieden, denn Steiner erinnert sich in seiner
Autobiographie an die Worte: „Ihre Dissertation ist nicht so, wie man sie fordert; man sieht
ihr an, daß Sie sie nicht unter der Anleitung eines Professors gemacht haben; aber was sie
enthält, macht möglich, daß ich sie sehr gerne annehme“ (Hoffmann et al. 1991, S. 187).
Ein Jahr nach dem Einreichen wurde die Dissertation unter dem Titel Wahrheit und
Wissenschaft (GA 3) und einer Erweiterung um eine Vorrede und eine „Praktische
Schlußbetrachtung“ veröffentlicht.47 Der Untertitel der Buchausgabe lautete „Vorspiel
einer Philosophie der Freiheit“ und zielte auf die praktischen Schlussbetrachtungen ab, die
ihrerseits bereits das nächste, in Planung befindliche Werk Steiners ankündigten. Auch ist
der Untertitel als eine Anlehnung an Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (1886) zu
sehen, dem dieser den Untertitel „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ gab. In
Nietzsche sah Steiner damals einen Geistesverwandten, da dieser, wie er selbst, eine
normative Moral und jegliches Offenbarungswissen ablehnte. Für Steiner musste sich aus
seiner Erkenntnistheorie eine individualistische Ethik ergeben, einer Ethik die sich der
Mensch selbst in Freiheit gibt und nicht eine, die ihm offenbart und normativ vorgegeben
wird. Aber für die Dissertation wollte er das Thema noch nicht behandeln und so findet es
sich erst in der erweiterten Buchausgabe. Dennoch gilt ihm die ganze Erkenntnistheorie als
Vorspiel zu einer Begründung der menschlichen Freiheit.
46
Steiner nennt über 70 Autoren und über 100 Werke der „neueren Literatur“ (philosophische Klassiker
führt er explizit nicht an), wobei er darauf hinweist, dass zwar nicht auf alle Werke unmittelbar Bezug
genommen wird, sie aber ähnliche Fragen erörterten.
47 Im Folgenden wird die Buchausgabe als Zitiergrundlage herangezogen, Zitate aus der Vorrede umfassen
die Seiten 9-14; Zitate aus der „Praktischen Schlussbetrachtung“ umfassen die Seiten 90-92.
67
3.1.1 Die Methode der Dissertation
Trotz der einschränkenden Bemerkung von Steins, weist die Dissertation gegenüber den
Grundlinien eine strengere Methodik auf. Es sollte auch nicht mehr die Goethe’sche
Weltanschauung philosophisch gerechtfertigt werden, sondern eine philosophische
Rechtfertigung der Wissenschaft überhaupt erbracht werden. Nur mehr in der Vorrede wird
Goethe angesprochen, wenn Steiner schreibt: „Mit dieser Schrift hoffe ich aber gezeigt zu
haben, daß mein Gedankengebäude eine in sich selbst begründete Ganzheit ist, die nicht
aus der Goetheschen Weltanschauung abgeleitet zu werden braucht“ (GA 3/13). Anstatt
von Goethe auszugehen, ist es Steiner nun darum zu tun, eine in sich selbst begründete
Erkenntnistheorie vorzulegen. Für Steiner bedeutet das zuerst einen voraussetzungslosen
Anfang zu finden, von dem aus eine Erkenntnistheorie entwickelt werden kann.
Die Methodik der „Verständigung eines philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst“,
wie es im Untertitel heißt, besteht in der Beobachtung der Vorgänge im Bewusstsein,
insbesondere der Denkbeobachtung und unterscheidet sich damit im Grunde nicht von der
der Grundlinien. Sijmons (2003, S. 288) verweist im Zusammenhang mit der Methode der
Denkbeobachtung auf die Parallele zum idealistischen Dreigestirn Fichte
(‚Selbstbeobachtung‘), Hegel (‚reines Zusehen‘) und Schelling (‚Selbstanschauung‘), die
ihrerseits zu einer Methodik der intellektuellen Selbstreflexion gefunden hatten. Auf die
Methodik und Problematik der ‚Selbstbeobachtung‘ bzw. ‚Denkbeobachtung‘ wird später
bei der Behandlung der Philosophie der Freiheit eigegangen werden, da Steiner sie dort
selbst näherhin beleuchtet.
3.1.2 Steiners Kantkritik
Steiner hatte sich schon in den Grundlinien deutlich gegen die Kant’sche Philosophie
gestellt, weshalb von Stein ihn aufforderte, seine Kantkritik in der Dissertation zu
präzisieren. Für Steiner hatte sich, wie er im Vorwort der Buchausgabe schreibt, ein
„ungesunder Kant-Glauben“ (GA 3/9) in der Philosophie der damaligen Zeit breitgemacht.
Gemeint war der erkenntnistheoretische Dualismus Kants, der in verschiedenen Spielarten
wirkmächtig geworden war und die Welt in Wahrnehmung bzw. Vorstellung und ein
68
unerkennbares Ding an sich spaltete. Steiner sah diesen Einfluss nicht nur bei den
aufkommenden Neukantianern wirksam, sondern auch bei den sich nicht unmittelbar auf
Kant beziehenden Erkenntnistheoretikern seiner Zeit (z.B. Eduard von Hartmann). Steiner
stellte sich in Opposition zu einem philosophischen Zeitgeist, der sich seit dem Tod Hegels
etabliert hatte und in erkenntnistheoretischen Grundannahmen wieder auf Kant zurückging.
Trotz seines fundamentalen Gegensatzes zu Kant, unterließ es Steiner nicht, diesem eine
Würdigung dafür zukommen zu lassen, dass er die dogmatische Philosophie widerlegt
habe48 – mit dem Vorwurf jedoch, nichts an deren Stelle gesetzt zu haben (GA 3/10).
Jedenfalls nichts, womit sich Steiner einverstanden zeigen konnte, denn was Kant an Stelle
der dogmatischen Spekulation gesetzt hatte, war das unerkennbare Ding an sich.
Kant wollte mit seiner Kritik der reinen Vernunft die Grenzen des Verstandes und der
Vernunft aufzuzeigen, um letztlich für den Glauben und eine künftige, undogmatische
Metaphysik Platz zu machen. Den Weg in eine Metaphysik – sein eigentliches Anliegen –
konnte Kant mit den von ihm gesetzten Erkenntnisgrenzen nicht finden. Nachdem Kant zu
zeigen versucht hatte, was das Erkenntnisvermögen nicht vermag (um für den Glauben
Platz zu machen), versuchte Steiner im Gegensatz dazu zu zeigen, wozu es wirklich
imstande ist (GA 3/11). Wo Kant Erkenntnisgrenzen zog, wollte Steiner „den Beweis […]
führen, daß für unser Denken alles erreichbar ist, was zur Erklärung und Ergründung der
Welt herbeigezogen werden muß“ (GA 3/10).
Steiner sah das Problem in den Voraussetzungen Kants49, die das erkenntnistheoretische
Unternehmen von vornherein in eine solche Schieflage gebrachten, dass der Weg zu einer
Lösung der erkenntnistheoretischen Probleme verfehlt werden musste. Steiners Kantkritik
48
„Er hat gezeigt, dass der jenseits unserer Sinnen- und Vernunftwelt liegende Urgrund der Dinge, den
seine Vorgänger mit Hilfe falsch verstandener Begriffsschablonen suchten, für unser Erkenntnisvermögen
unzugänglich ist“ (GA 3/9).
49 Kant selbst sah seine Erkenntnistheorie durchaus voraussetzungslos: „In der Kritik der reinen Vernunft
bin ich […] synthetisch zu Werke gegangen, nämlich so, daß ich in der reinen Vernunft selbst forschte und in
dieser Quelle selbst die Elemente sowohl als auch die Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Prinzipien zu
bestimmen suchte. Diese Arbeit ist schwer und erfordert […] sich nach und nach in ein System
hineinzudenken, was noch nichts als gegeben zum Grunde legt außer die Vernunft selbst und also, ohne sich
auf irgendein Faktum zu stützen, die Erkenntnis aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht“ (Kant
2001, S. 38f).
69
hebt daher bei wenigen Grundgedanken der Kant’schen Erkenntnistheorie an, ohne auf
Detailfragen und Probleme einzugehen. Von manchen Seiten (z.B. Zander 2007) wird
daraus auf ein mangelndes Kantverständnis Steiners geschlossen. Dies erscheint allerdings
aufgrund der eineinhalb Jahrzehnte überspannenden Kantrezeption und der angegebenen
und ausführlichen Kontextliteratur als unwahrscheinlich. Eine Reduktion auf die
Grundgedanken Kants dürfte auch durch innere Widersprüchlichkeiten in Kants
Erkenntnistheorie bedingt sein, die nicht zuletzt zu einer derart heterogenen Kantrezeption
geführt haben (vgl. Zeidler 1997). Steiner war es darum zu tun, grundsätzliche – durch
Kant entstandene – perspektivische Schieflagen zu begradigen und nicht darum sich in
akademische Spezialdiskussionen einzubringen, die ihren Ursprung (für Steiner) bereits in
falschen Fragestellungen und folglich falschen Herangehensweisen hatten. Er wollte also
nicht die dunklen Stellen der Kant’schen Erkenntnistheorie aufhellen, sondern jene
Grundsatzirrtümer aufzeigen, die letztlich bereits ursächlich für erstere waren.
Was sind nun Grundgedanken Kants, die für Steiner ohne tragfähiges Fundament
dastehen? Kügler (1982) schreibt dazu in seiner Dissertation über Steiners Kantkritik :
Erkenntnis fängt mit der Erfahrung an. Diesen Satz der Empiristen stellt Kant an
den Anfang seiner Kritik der reinen Vernunft. Denn wie sollten wir etwas
erkennen, wenn nicht Gegenstände an unsere Sinne rührten und unsere
Verstandestätigkeit in Bewegung bringen? Die Erfahrung geht zeitlich der
Erkenntnis voraus. Damit ist aber nicht gesagt, daß alle Erkenntnis aus der
Erfahrung entspringt. Bei vielen unkritischen Metaphysikern in der Zeit des 17./18.
Jahrhunderts wurde diese Erfahrung als etwas schlechthin Gegebenes
hingenommen. Kant hingegen fragt, […] woher kommt die Erfahrung?, wie wird
sie möglich?, wie wird die Erkenntnis selbst erkannt? (Kügler 1982, S. 47)
Kants Frage gilt zunächst also ‚den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung‘
überhaupt. Da die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung die
Erfahrung als bedingtes ausweist, schränkt Kant die Gültigkeit des Erfahrungswissens
(Erkenntnisse a posteriori) ein. Wodurch die Erfahrung bedingt ist, wird sich noch zeigen.
Kant ist aber auf der Suche nach einem unbedingt gültigen Wissen auf dem sich eine
Wissenschaft aufbauen lässt. Ein solches notwendiges und streng allgemeines Wissen,
muss für ihn aus Erkenntnissen a priori bestehen, d.h., ein Wissen sein, das vor aller
Erfahrung (unabhängig von den Sinneseindrücken) gewonnen werden kann. Als Beispiel
70
für reine Urteile a priori nennt Kant die Mathematik.
Die Form, in der für Kant Wissen gegeben ist, ist das Urteil. Ein Urteil wird gebildet,
indem einem Subjekt ein Prädikat beigefügt wird. Nun nennt Kant zwei mögliche Arten
von Urteilen: analytische und synthetische. Analytische Urteile sind dadurch
gekennzeichnet, dass das Prädikat im Subjektbegriff bereits enthalten ist; z.B. die
Ausdehnung des Körpers. Weil ein Körper für Kant nicht anders als ausgedehnt gedacht
werden kann, steckt der Begriff der Ausdehnung schon im Begriff des Körpers. Das
analytische Urteil besteht somit lediglich in einer Begriffszergliederung. Dadurch erhalten
wir zwar ein apriorisches, aber gleichzeitig tautologisches Wissen; d.h. einem analytischen
Urteil kommt kein eigentlicher Erkenntnisgewinn zu. Bei synthetischen Urteilen hingegen,
wird dem Subjektbegriff ein Prädikat hinzugefügt, das in diesem noch nicht enthalten ist.
Erfahrungsurteile sind synthetische Urteile. Sie verfügen für Kant allerdings – wie oben
schon angedeutet – über eine eingeschränkte Gültigkeit, nur über komparative
Allgemeinheit, wie es Kant nennt. Die Einschränkung kommt daher, dass die
Erfahrungsurteile lediglich induktiv gewonnen werden und ihnen daher keine
Notwendigkeit zukommen kann. Wenn ich beispielsweise die Erfahrung gemacht habe,
dass Schwäne immer weiß sind, so kann ich dies dennoch nicht mit strenger Allgemeinheit,
d.h. mit Notwendigkeit, behaupten, denn es besteht die Möglichkeit, dass ich doch noch
auf einen schwarzen Schwan treffe. Da also analytische Urteile tautologisch sind und
synthetische Urteile, die aus der Erfahrung geschöpft sind, nur komparative Allgemeinheit
besitzen, braucht Kant (unter diesen Voraussetzungen), um zu einem unbedingt gewissen
Wissen zu kommen, eine neue, hybride Form von Urteilen: synthetische Urteile a priori.
Nun beruht auf solchen synthetischen d.i. Erweiterungs-Grundsätzen die ganze
Endabsicht unserer spekulativen Erkenntnis a priori; denn die analytischen sind
zwar höchst wichtig und nötig, aber nur um zu derjenigen Deutlichkeit der Begriffe
zu gelangen, die zu einer sicheren und ausgebreiteten Synthesis, als zu einem
wirklich neuen Erwerb, erforderlich ist. (Kant, KrV B, S. 13f)
Steiner identifiziert die Frage nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori als
Kants erkenntnistheoretische Grundfrage. Diese Frage ist für Steiner aber bereits mit
wesentlichen Voraussetzungen verbunden, die Kant dogmatisch an den Anfang seiner
erkenntnistheoretischen Untersuchung setzt. Er stimmt mit Kant soweit überein, dass wir
„wahrhaftes Wissen nur durch solche Urteile erlangen können, die zu einem Begriffe einen
71
zweiten hinzufügen, dessen Inhalt wenigstens für uns in jenem ersten noch nicht gelegen
war“ (GA 3/30). Dass solche Urteile aber a priori sein müssen, kritisiert Steiner als
Vorannahme, die für den Anfang der Erkenntnistheorie „als gänzlich unausgemacht
gelten“ (ebd.) sollte. Denn es könnte ja gut sein, dass es solche Urteile überhaupt nicht
gibt; in jedem Fall steht für Steiner eine solche Annahme einer unbefangenen
Untersuchung von Beginn an im Weg.
Entgegen der Annahme synthetischer Urteile a priori, die unabhängig von der Erfahrung
gewonnen werden sollen, argumentiert Steiner:
Denn was auch immer Gegenstand unseres Wissens werden mag: es muss doch
einmal als unmittelbares, individuelles Erlebnis an uns herantreten, das heißt zur
Erfahrung werden. Auch die mathematischen Urteile gewinnen wir auf keinem
anderen Wege, als indem wir sie in bestimmten einzelnen Fällen erfahren. (ebd.)
Steiner, der selbst auch Mathematik studiert hatte, begründet an dieser Stelle nicht näher,
warum mathematische Urteile immer erfahren werden müssen.50 Der Satz wendet sich
jedoch gegen Kants Behauptung, in der Mathematik (jedenfalls die reine Mathematik)
hätten wir es mit synthetischen Urteilen a priori zu tun. Es ist hier nicht der Ort auf
mathematische-philosophische Spezialprobleme näher einzugehen, aber es sei darauf
verwiesen, dass die Notwendigkeit und Allgemeinheit, die Kant für synthetische Urteile a
priori fordert, soweit es die Mathematik betrifft, von dem Mathematiker Gödel zu Beginn
des 20. Jahrhunderts widerlegt wurde. Gödels Unentscheidbarkeitsbeweis hatte nämlich
gezeigt, dass man innerhalb einer logischen Systemsprache keinen Beweis für die
Widerspruchsfreiheit dieser Systemsprache führen kann und dass es sogar relativ einfache
Probleme aus der Theorie der gewöhnlichen Zahlen gibt, die sich nicht aus ihren Axiomen
entscheiden lassen (vgl. Zeidler 2000, S. 35 und Penrose 2002).
Als zweites Gebiet in dem wir es mit synthetischen Urteilen a priori zu tun haben, nennt
Kant die Geometrie; jedoch ergeben sich auch hier seit dem Siegeszug der
Relativitätstheorie und damit der nicht-euklidischen Geometrie große Schwierigkeiten für
Kants Argumentation, da die nach Kant als notwendig postulierten geometrischen Gesetzte
50
Der Mathematiker Roger Penrose (2002, S. 92ff) spricht auch davon, dass mathematische Ideen erfahren
werden und geht sogar so weit, von einem Wahrnehmen im Sinne platonischer Ideen zu sprechen.
72
dadurch bereits ihre Allgemeingültigkeit verloren haben.
Steiners Argumentation gegen Kant gründet aber darin, dass er den Erfahrungsbegriff
anders fasst als Kant. Denn für Steiner sind, wie schon gezeigt wurde, alle
Bewusstseinsinhalte immer schon Erfahrung, auch das Denken. Das ist wesentlich, weil
damit Kants erkenntnistheoretischer Dualismus von vornherein ausgehebelt wird. Kant
sieht die Erfahrung allein durch die, für ihn apriorischen Anschauungsformen von Raum
und Zeit gegeben. Dadurch beschränkt er die Erfahrung einerseits auf in der sinnlichen
Anschauung gegebene Gegenstände und andererseits wird sie zur Vorstellung, was dazu
führt, dass das Ding an sich, das der Vorstellung ursächlich zugrunde liegt, unerkannt
bleiben muss. Kant schreibt:
Also ist es nur die Form der sinnlichen Anschauung, dadurch wir a priori Dinge
anschauen können, wodurch wir aber auch die Objekte nur erkennen, wie sie uns
(unseren Sinnen) e r s c h e i n e n können, nicht, wie sie an sich sein mögen; (Kant
2001, S. 40)
Damit spaltet Kant die Welt in unerkennbare Dinge an sich und Wahrnehmungen, die erst
durch die Anschauungsformen Raum und Zeit konstruiert sind. Unter diesen
Voraussetzungen – da erstere unerkennbar sind und bei letzterem Notwendigkeit und
strenge Allgemeinheit fehlen – muss es für Kant synthetische Urteile a priori geben, wenn
es Wissenschaft (sicheres Wissen) geben soll. Weil Kant keinen anschauenden Verstand
und damit kein Wahrnehmungsurteil bzw. keine Abduktion (Zeidler) kennt, muss er sich in
ein kompliziertes Konstrukt retten, um seiner Forderung nach notwendigem Wissen
nachkommen zu können.
Für Steiner ergeben sich somit im Wesentlichen zwei ungeprüfte Voraussetzungen, die
Kant, so Steiner, aus der dogmatischen Philosophie übernommen hat: „erstens, daß wir
außer der Erfahrung noch einen Weg haben müssen, um zu Erkenntnissen zu gelangen,
und zweitens, daß alles Erfahrungswissen nur bedingte Gültigkeit haben könne“ (GA
3/31). Kant konstruiert seine Erkenntnistheorie eben unter dem Motiv des allgemeinen und
notwendigen Wissens und muss dieses vor seinen Vorannahmen in Sicherheit bringen.
Steiner verweist diesbezüglich auf das Urteil Johannes Volkelts, der zu der Annahme, dass
es ein solches Wissen überhaupt geben müsse, schrieb: „Diese von Kant nie ausdrücklich
in Prüfung gezogene Voraussetzung steht mit dem Charakter der kritischen
73
Erkenntnistheorie derart in Widerspruch, daß man sich ernstlich die Frage vorlegen muß,
ob die Kritik der reinen Vernunft als kritische Erkenntnistheorie gelten dürfe“ (Volkelt,
zitiert nach GA 3/34).
Steiners fasst die Gedankengänge Kants in der Kritik wie folgt zusammen:
Weil Mathematik und reine Naturwissenschaft apriorische Wissenschaften sind,
deshalb muss die Form aller Erfahrung im Subjekt begründet sein. Es bleibt also
nur das Material der Empfindungen, das empirisch gegeben ist. Dieses wird durch
die im Gemüte liegenden Formen zum Systeme der Erfahrung aufgebaut. Nur als
ordnende Prinzipien für das Empfindungsmaterial haben die formalen Wahrheiten
der apriorischen Theorien Sinn und Bedeutung, sie machen die Erfahrung möglich,
reichen aber nicht über dieselbe hinaus. Diese formalen Wahrheiten sind aber die
synthetischen Urteile a priori, welche somit als Bedingungen aller möglichen
Erfahrung so weit reichen müssen als diese selbst. Die Kritik der reinen Vernunft
beweist also durchaus nicht die Apriorität der Mathematik und reinen
Naturwissenschaft, sondern bestimmt nur deren Geltungsgebiet unter der
Voraussetzung, dass ihre Wahrheiten von der Erfahrung unabhängig gewonnen
werden sollen. (GA 3/33)
Was mir in der Erfahrung gegeben ist, ist für Kant durch die ‚formalen Formen‘
(Anschauungsformen und Kategorien) bedingt, letztere können in Form von synthetischen
Urteilen a priori erkannt werden. Die Erkenntnis dieser Formen ist für Kant somit das
einzig Gewisse. Was der Erfahrung tatsächlich zugrunde liegt, das Ding an sich, davon
kann ich nichts wissen – so das Kant’sche Resultat seiner Vorannahmen.
Steiner verweist schließlich darauf, dass seine Kritik an der Voraussetzung der
apriorischen Gültigkeit von Mathematik und reinen Naturwissenschaften auch von vielen
Philosophen seiner Zeit geteilt würde (u.a. O. Liebmann, Windelband, Ed. V. Hartmann
und Kuno Fischer). Dass es Erkenntnisse geben soll, die unabhängig von der Erfahrung
gewonnen werden, und dass die Erfahrung nur Erkenntnisse komparativer Allgemeinheit
liefere, sind für Steiner Folgesätze, denen schon eine Reihe von Urteilen vorausgegangen
sind. Solchen Behauptungen müsse „unbedingt eine Untersuchung über das Wesen der
Erfahrung und eine solche über das Wesen unseres Erkennens vorangehen“ (GA 3/35).
Eine tragfähige Erkenntnistheorie muss für Steiner daher ohne Vorannahmen auskommen,
74
d.i., die Bedingung der Voraussetzungslosigkeit erfüllen.
3.1.3 Voraussetzungslose Erkenntnistheorie
Da die Erkenntnistheorie für Steiner philosophische Fundamentalwissenschaft war und
damit die Grundlage allen wissenschaftlichen Strebens bilden sollte, konnte sie ihrem
Wesen nur dann gerecht werden, wenn sie von einem voraussetzungslosen Anfang ihren
Ausgangspunkt nehme. An Kant kritisierte er, dass dieser das Prinzip der
Voraussetzungslosigkeit nicht erfüllte und damit bei der Lösung der Erkenntnisfrage auf
Abwege geriet. Steiner wollte mit seinem Entwurf hingegen dem „Charakter der
Erkenntnistheorie als vollständig voraussetzungsloser Wissenschaft“ (GA 3/27) gerecht
werden. Die Suche nach erkenntnistheoretischer Voraussetzungslosigkeit kann als
philosophische Zeiterscheinung betrachtet werden, die schon bald nach Steiner wegen ihrer
Uneinbringlichkeit aus der Mode kam. Wie sich zeigen wird, gerät auch Steiner im
Versuch dieses Prinzip einzulösen in zirkuläre Argumentationsstrukturen.
3.1.3.1 Die Welt als Vorstellung
Obschon sich Steiner in Teilen seiner Kantkritik mit vielen Philosophen seiner Zeit einig
wusste, gab es eine Voraussetzung Kants, die „fast ein Bestandteil des ganzen modernen
wissenschaftlichen Bewußtseins geworden“51 (GA 3/39) war. Nämlich die Anschauung,
dass alle uns gegebenen Gegenstände unsere Vorstellung seien. Steiner räumt ein, dass
diese und andere Annahmen richtig sein oder zu richtigen Problemstellungen führen
können, dass sie aber niemals am Anfang einer erkenntnistheoretischen Erörterung
vorausgesetzt werden dürfen. „Denn sie stehen, als ganz bestimmte Einsichten, alle schon
innerhalb des Gebietes des Erkennens“ (GA 3/39, Hervorhebung im Original). Ein
51
Steiner führt neben G.E. Schulze, Schopenhauer und O. Liebmann auch den von ihm hoch geschätzten
Eduard von Hartmann (dem Steiner auch die Buchausgabe seiner Dissertation gewidmet hatte) als Vertreter
dieser Voraussetzung an.
75
derartiges Erkenntnisurteil kann für Steiner nicht einer grundsätzlichen Untersuchung des
Erkenntnisvermögens vorangehen.
Steiner sieht den Grund für dieses Vorurteil vorwiegend in den falsch angewandten
wissenschaftlichen Erkenntnissen der Physik und Physiologie bzw. Psychophysik. Die
Physik hatte alle Erscheinungen auf Schwingungen im Raum zurückgeführt. Die
Physiologie bzw. Psychophysik hatte festgestellt, dass Sinnesorgane immer nur
entsprechend ihrer Organisation auf äußere Reize reagieren können; d.h., dass
beispielsweise ein Sehnerv immer eine Lichtempfindung hervorruft, unabhängig davon, ob
Druck, elektrischer Strom oder Licht auf ihn einwirkt. Schließlich kannte man in Ansätzen
Vorgänge im Gehirn, die eine weitere Umwandlungsphase des Reizes darstellte und die
man ursächlich für die erzeugten Vorstellungen ansah. Im Verfolgen dieses
Wahrnehmungsvorganges schien also die Außenwelt erst nach vielen
Umwandlungsprozessen als menschliche Sinneswahrnehmung im Bewusstsein aufzutreten,
sodass daraus geschlossen wurde, dass das eigentliche Wesen der Außenwelt von ihrem
Auftreten im Bewusstsein gänzlich verschieden sei. Dieses Argument konsequent verfolgt,
müsste man zu der Ansicht gelangen, dass, was ein Subjekt wahrnimmt, immer nur
Modifikationen seiner eigenen psychischen Zustände sind.
Eine solche Sichtweise musste zweifelsohne als ein wissenschaftlicher Fortschritt
gegenüber einem naiven Realismus angenommen werden, der die Außenwelt
unhinterfragt, als im Sinne der Wahrnehmung, real annahm. Steiners Einwand gegen diese
Sichtweise ist aber, dass sich der Gedankengang konsequent selbst aufhebt; denn es
werden Erkenntnisse herangezogen, die selbst im Sinne des naiven Realismus in Form von
einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen gewonnen wurden, um damit den naiven
Realismus zu überwinden. In Steiners Worten: „Der transzendentale Idealismus erweist
seine Richtigkeit, indem er mit Mitteln des naiven Realismus, dessen Widerlegung er
anstrebt, operiert. Er ist berechtigt, wenn der naive Realismus falsch ist; aber die
Falschheit wird nur mit Hilfe der falschen Ansicht selbst bewiesen“ (GA 3/45). Nun
fordert Steiner keineswegs ein Zurück zu einem naiven Realismus, sondern vielmehr das
kritische Geschäft der Erkenntnistheorie gänzlich ohne diesen zu besorgen; d.i. auch ohne
Rückgriff auf Erkenntnisse aus Einzelwissenschaften; nämlich allein durch das Denken
über das Denken. Allein die philosophische Untersuchung des Erkenntnisvermögens wäre
somit in der Lage den Deutungshorizont zu bestimmen, vor dem Erkenntnisse der
positiven Wissenschaften einzuordnen sind.
76
In Die Philosophie der Freiheit greift Steiner das Thema der Vorstellungen wieder auf und
entwickelt seinen eigenen Vorstellungsbegriff. Der Mensch bildet zwar Vorstellungen aus,
aber er hat auch Wahrnehmungen. Der Begriff der Wahrnehmung entspricht dem des
unmittelbar Gegebenen, also dem, was Inhalt der Beobachtung wird. Die menschliche
Erkenntnis sucht zu jeder Wahrnehmung einen Begriff. Die Vorstellung ist für Steiner nun
der auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene und damit verknüpfte Begriff. „Mein
Begriff eines Löwen ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von Löwen gebildet. Wohl aber
ist meine Vorstellung vom Löwen an der Wahrnehmung gebildet. Ich kann jemandem den
Begriff eines Löwen beibringen, der nie einen Löwen gesehen hat. Eine lebendige
Vorstellung ihm beizubringen, wird mir ohne sein eigenes Wahrnehmen nicht gelingen“
(GA 4/107). Die Vorstellung ist für Steiner der durch die Wahrnehmung individualisierte
Begriff; sie bleibt zurück, wenn die Wahrnehmung aus dem Bewusstsein verschwindet.
„Als Wahrnehmung und Begriff stellt sich uns die Wirklichkeit, als Vorstellung die
subjektive Repräsentation dieser Wirklichkeit dar“ (GA 4/108). In Wahrnehmung und
Begriff steht man also einer objektiven Wirklichkeit gegenüber; die Vorstellungen, die das
Subjekt bildet, erhalten aber ein individuelles Gepräge durch den jeweiligen „Standort“,
den man in der Welt einnimmt sowie durch die Gefühle, die mit den Wahrnehmungen
verknüpft werden (GA 4/110). Der Mensch erkennt also eine reale Welt, aber aus seiner
subjektiven Perspektive.
3.1.3.2 Der voraussetzungslose Ausgangspunkt
Um die Erkenntnis zum Objekt einer Untersuchung machen zu können, lag für Steiner auf
der Hand, zuerst einen Zustand vor aller Erkenntnis aufsuchen zu müssen. Nur ein
vorurteilsfreier Ausgangspunkt konnte garantieren, den Erkenntnisakt in seiner
Ursprünglichkeit aufzuspüren. Keine implizite oder gar explizite Erkenntnis durfte sich
einschleichen und die vorurteilsfreie Beobachtung des Erkenntnisaktes desavouieren.
Einen voraussetzungslosen bzw. theoriefreien Ausgangspunkt galt es also zunächst zu
bestimmen. Einen solchen unbestimmten Ausgangspunkt haben wir schon unter den
Begriffen reine Erfahrung (GA 2) und unmittelbar Gegebenes kennengelernt. Steiner ist
sich bewusst, dass dieses unmittelbar Gegebene dem Menschen nie wirklich vorliegt, denn
„es ist in seiner Entwicklung nirgends eine Grenze zwischen reinem, passiven
77
Hinauswenden zum unmittelbar Gegebenen und dem denkenden Erkennen desselben
vorhanden“ (GA 3/51). Die Grenze zwischen dem bestimmungslos Gegebenen und dem
Erkannten muss daher zur Untersuchung der Erkenntnis zunächst künstlich gezogen
werden. Dieses künstliche Ziehen einer Grenze kann freilich, so gesteht Steiner, nur in
Form von begrifflichen Überlegungen erfolgen. Er argumentiert aber, den Begriffen
komme „auf dieser Stufe kein Erkenntniswert zu, sie haben die rein negative Aufgabe,
alles aus dem Gesichtsfelde zu entfernen, was der Erkenntnis angehört, und dahin zu leiten,
wo die letztere erst einsetzt“ (GA 3/53). Die Gedanken sollen den Blick lediglich darauf
lenken, was vor allem Denken völlig unbestimmt ist. Hier tut sich aber ein Problemfeld in
der Steiner’schen Argumentation auf, denn da das unmittelbar Gegebene selbst nicht
unmittelbare (reine) Erfahrung ist, ist es zunächst als Begriff gegeben und setzt damit seine
Erkenntnis bereits voraus. Steiner muss seinen empirischen Ansatz verlassen, er setzt einen
Erkenntnisbegriff voraus, um an den Punkt zu kommen, von wo er glaubt die Erkenntnis
voraussetzungslos untersuchen zu können. Dass zu dem Begriff des ‚unmittelbar
Gegebenen‘ die entsprechende Erfahrung aufgesucht werden kann, ist aber immerhin
denkbar. Sijmons bemerkt dazu: „Es [das unmittelbar Gegebene] ist also erstens Begriff,
und dann erst zusätzlich ein Erlebnis, insofern wir diese Negation des Erkennens als ‚reine
Unmittelbarkeit‘ aushalten können, ohne gleich wieder eine Erkenntnistätigkeit an ihr
auszuüben“ (Sijmons 2008, S. 291). Steiner versucht hier zu der für ihn realen
Voraussetzung der Erkenntnis zu kommen, verletzt dabei aber seine Prämisse der
theoretischen Voraussetzungslosigkeit. Er dürfte dieses Problem später bemerkt haben,
denn in der Philosophie der Freiheit kehrt er die Reihenfolge um und beginnt – da das
Erkennen eine Tätigkeit des Denkens ist – beim Denken (vgl. ebd.).
Auch wenn man den Vorsatz der Voraussetzungslosigkeit als verletzt ansehen kann,
verliert Steiners weitere Argumentation dadurch nicht automatisch ihre Berechtigung, denn
die Erfahrung zu der hingeleitet wird, wird deshalb nicht weniger möglich, auch wenn sie
uns für gewöhnlich nicht gegeben ist.52
Steiners negative Charakterisierung des voraussetzungslosen Anfangs sieht
folgendermaßen aus:
52
Sijmons merkt dazu an: „Es ist fraglich, ob wir dieser künstlichen Erfahrung ohne weiteres innewerden
können, ohne uns darauf durch besondere Übung einzustellen (vgl. die langjährigen Bemühungen Husserls,
das Sinnesfundament der Lebenswelt aufzudecken)“ (Sijmons 2008, S. 291).
78
Vor aller erkennenden Tätigkeit stellt sich im Weltbilde nichts als Substanz, nichts
als Akzidenz, nichts als Ursache oder Wirkung dar; die Gegensätze von Materie
und Geist, von Leib und Seele sind noch nicht geschaffen. Aber auch jedes andere
Prädikat müssen wir von dem auf dieser Stufe festgehaltenen Weltbilde fernhalten.
Es kann weder als Wirklichkeit noch als Schein, weder als subjektiv noch als
objektiv, weder als zufällig noch als notwendig aufgefasst werden; ob es «Ding an
sich» oder bloße Vorstellung ist, darüber ist auf dieser Stufe nicht zu entscheiden.
(GA 3/50)
Weil es sich nur um ein negatives – quasi didaktisches – Hinlenken des Blickes auf ein
völlig Bestimmungsloses handle, meint Steiner, könne auch von Richtigkeit oder
Unrichtigkeit der Ausführung gar nicht die Rede sein. Ein Irrtum könne sich erst mit dem
Erkennen ergeben, nicht aber vor dem Erkennen. Mit diesem negativen Hinlenken zum
unmittelbar Gegebenen glaubt Steiner einen festen Ausgangspunkt gefunden zu haben, von
dem aus das Erkennen voraussetzungslos untersucht werden kann.
3.1.4 Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis
Steiner weist darauf hin, dass in seinem voraussetzungslosen Anfang, d.i. im Unmittelbar-
Gegebenem, noch nicht einmal davon gesprochen werden kann, dass das Unmittelbar-
Gegebene Bewusstseinsinhalt eines Subjekts ist, denn auch die Ich-Vorstellung sowie das
Bewusstsein an sich sind ebenfalls nur Teile dieses Gegebenen. Erst durch den Akt des
Erkennens könne das Bewusstsein, Subjektivität, Objektivität und alles weitere bestimmt
werden (GA 3/56). Das wirft nun die Frage, wie wir sie auch schon aus den Grundlinien
kennen, wie in dieses völlig Bestimmungslose die Erkenntnis einsetzen kann? Steiner
fragt: „Wie können wir den einen Teil des Weltbildes z. B. als Wahrnehmung, den andern
als Begriff, den einen als Sein, den andern als Schein, jenen als Ursache, diesen als
Wirkung bezeichnen, wie können wir uns selbst von dem Objektiven abscheiden und als
‚Ich‘ gegenüber dem ‚Nicht-Ich‘ ansehen?“ (ebd.).
Steiner stellt unter den charakterisierten Voraussetzungen – die ja für ihn gerade den
voraussetzungslosen Ausgangspunkt darstellen sollen – die Frage nach den Bedingungen
der Möglichkeit der Erkenntnis. Er will in Form eines Postulats jene Bedingungen
79
aufstellen, die erfüllt sein müssen, damit wir im Unmittelbar-Gegebenen „mit unserer
Erkenntnistätigkeit einsetzen können“ (GA 3/58). Dieses Postulat finden wir in mehreren
Formulierungen:
1. „Wir müßten im Gegebenen irgendwo den Ort finden, wo wir eingreifen können,
wo etwas dem Erkennen Homogenes liegt“ (ebd.). Steiner meint damit, dass es
nicht nur passiv Gegebenes geben kann, soll es Erkenntnis geben. Etwas „dem
Erkennen Homogenes“ bedeutet: etwas aktiv Hervorgebrachtes.
2. „Es hängt für das wahrhafte Erkennen alles davon ab, daß wir irgendwo im
Gegebenen ein Gebiet finden, wo unsere erkennende Tätigkeit sich nicht bloß ein
Gegebenes voraussetzt, sondern in dem Gegebenen tätig mitten darinnen steht. Mit
anderen Worten: Es muß sich gerade bei dem strengen Festhalten an dem Bloß-
Gegebenen herausstellen, daß nicht alles ein solches ist“ (GA 3/57).
3. „Es muß im Gebiete des Gegebenen etwas liegen, wo unsere Tätigkeit nicht im
Leeren schwebt, wo der Inhalt der Welt selbst in diese Tätigkeit eingeht“53 (ebd.).
4. „Wo finden wir irgend etwas in dem Weltbilde, das nicht bloß ein Gegebenes,
sondern das nur insofern gegeben ist, als es zugleich ein im Erkenntnisakte
Hervorgebrachtes ist?“ (GA 3/59).
Steiner leitet in dialektischen Schritten dahin, dass ein Teil des für die Erkenntnis
Gegebenen ein von der erkennenden Tätigkeit Hervorgebrachtes ist. Seine Bestimmung
soll das Hervorgebrachte durch den „Inhalt der Welt“ erhalten. Es ist zu beachten, dass
für Steiner an diesem Punkt noch gar nicht von einem erkennenden Subjekt die Rede
sein kann (und damit nicht von einem subjektiven Erkenntnisakt), denn dieses geht
ebenfalls erst aus vollzogenen Erkenntnissen hervor. Der Erkenntnisakt liegt zunächst
jenseits von Subjekt und Objekt, weshalb die Bestimmung des Hervorgebrachten nicht
subjektiv ist, sondern durch den „Inhalt der Welt“ erfolgt.
Steiner verletzt auch hier gewissermaßen seinen Vorsatz der Voraussetzungslosigkeit,
indem er den Erkenntnisbegriff bereits voraussetzt, für den er die Bedingungen der
Möglichkeit postuliert. Er ist sich aber des Umstandes bewusst, dass aus dem
53
Steiner weist diesen Satz als das eigentliche Postulat aus.
80
Unmittelbar-Gegebenen anders nicht herauszukommen ist: „Da muß also die
erkennende Tätigkeit einen Machtspruch tun und sagen: so und so muß dieser Teil
beschaffen sein“ (G 3/58). Ohne diesen Machtspruch müsse die Erkenntnis unerklärbar
bleiben. Steiner selbst vertieft die Reflexion über die notwendige Zirkularität an dieser
Stelle nicht weiter. Aber schon Hegel bemerkte, die Philosophie sei notwendig ein
Kreis, da sie sich nicht im Voraus rechtfertigen könne. Steiner will ja letztlich mit
seiner philosophischen Argumentation an den Punkt leiten, wo sich auf dem Weg der
denkenden Betrachtung die Evidenz in Form neuen Denk- bzw.
Bewusstseinserfahrungen von selbst erweist.
Die philosophische Argumentation führt, jedenfalls soweit sie sich um
Letztbegründung bemüht, unweigerlich in ein seit der Antike bekanntes
Begründungstrilemma und bedarf eines Postulats, um aus diesem herauszukommen.54
Nach Hans Albert besteht das Begründungstrilemma aus folgenden Elementen:
1. einem infiniten Regreß, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der
Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht
durchführbar ist und daher keine sichere Grundlage liefert;
2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, daß man im
Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als
begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der, weil logisch fehlerhaft,
ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich:
3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar
prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des
Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde.“ (Albert 1968, zitiert
nach Zeidler 2000, S.61f)
K. W. Zeidler weist darauf hin, dass das Begründungstrilemma solange nicht überwindbar
ist, als man Vernunft mit formal-logischen Mitteln zu begreifen versucht oder sie an ihr
äußerliche Dogmen knüpft:
54
Vergleiche die Ausführungen im Kapitel 1.4 zur Unmöglichkeit ein Subsystem nur aus sich selbst zu
erklären.
81
Während der ontologische Dogmatismus daraus gefolgert hatte, daß die tätige als
allgemeinverbindliche vorliegende (objektive) Vernunft eine überindividuelle und
göttliche Vernunft sein müsse, und der neuere Dogmatismus sich dieser Folgerung
unter Berufung auf den ‚Common Sense‘, ‚die Wissenschaft‘ oder ‚die Sprache‘
anschließt, hat die aufgeklärte Vernunft keine Grundlage, die nicht auch ihre
Grundlegung wäre und somit keinen Ort an dem sie sich zur Ruhe setzen könnte.
Für die aufgeklärte und tätige Vernunft stellt sich daher die Aufgabe auch ihren
eigenen Ort in Frage zu stellen und die Gültigkeit aller Wahrheitsansprüche an
ihnen selbst zu prüfen. An die Stelle der dogmatischen Berufung auf eine
allgemeinverbindlich vorliegende Vernunft tritt darum ein Verfahren der
Selbstprüfung, in dem die Vernunft sich ihren Ort und die Grenzen ihres Feldes
selbst bestimmt. (Zeidler 1997, S. 207f)
Die Vernunft kann sich also nur indem sie sich selbst ergreift bestimmen. Sie muss tätige
Vernunft sein, ‚einen Machtspruch tun‘, um Gegenstand ihrer kritischen Reflexion zu
werden. Deshalb trägt Steiners Dissertation auch den Untertitel Prolegomena zur
Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst und wird er in Die
Philosophie der Freiheit schließlich auch die Selbstbeobachtung des Denkens zum
Ausgangspunkt seiner Philosophie machen.
Doch zunächst zurück zu Steiners Postulat. Das Postulat: „Wo finden wir irgend etwas in
dem Weltbilde, das nicht bloß ein Gegebenes, sondern das nur insofern gegeben ist, als es
zugleich ein im Erkenntnisakte Hervorgebrachtes ist?“, findet für Steiner in den Begriffen
und Ideen55 seine Entsprechung (GA 3/61). Im Gegensatz zu allem anderen Gegebenen,
„wissen wir unmittelbar, daß Begriffe und Ideen immer erst im Erkenntnisakt und durch
diesen in die Sphäre des Unmittelbar-Gegebenen eintreten“ (GA 3/59) und „wir müssen sie
hervorbringen, wenn wir sie erleben wollen“ (GA 3/60).56 Wenn Steiner hier von einem
55
„Unter Begriff verstehe ich eine Regel, nach welcher die zusammenhanglosen Elemente der
Wahrnehmung zu einer Einheit verbunden werden. Kausalität z.B. ist ein Begriff. Idee ist nur ein Begriff mit
größerem Inhalt. Organismus, ganz abstrakt genommen, ist eine Idee“ (GA 3/60).
56 So einleuchtend wie Steiner hier schreibt, ist es zunächst nicht, dass wir am Hervorbringen von Gedanken
beteiligt sind bzw. uns dessen bewusst sind; daher spezifiziert Steiner später in der Neuauflage der
Philosophie der Freiheit von 1918: „Man sollte nur nicht verwechseln: ‚Gedankenbilder haben‘ und
Gedanken durch das Denken verarbeiten. Gedankenbilder können traumhaft, wie vage Eingebungen in der
82
„wir“ spricht, so bemerkt er dazu, dass es sich lediglich um eine stilistische Wendung
handelt, denn ein erkennendes Subjekt setzt die Erkenntnis eines solchen voraus. Steiner ist
es hier aber um den reinen Erkenntnisbegriff zu tun. Die Erkenntnis (der
Erkenntnisbegriff) an sich erfordert, „daß ein ‚Gegebenes‘ vorliegt, und daß aus einem
Punkt dieses ‚Gegebenen‘ das oben angeführte Postulat entspringt; endlich, daß Begriffe
und Ideen das Gebiet sind, das diesem Postulat entspringt“ (GA 3/61).
Steiner meint nun, dass wir im Abtrennen dessen, was wir im Sinne des Postulats
hervorbringen, vom Gegebenen, „die Einheit des Weltbildes künstlich zerrissen haben“,
um das Erkennen begreifen zu können. Die Trennung besteht notwendig für die
Erkenntnis; daraus geht aber nicht hervor, dass sie an und für sich besteht. Mit anderen
Worten, die Trennung in Gegebenes und Hervorgebrachtes (Begriffe und Ideen) besteht
lediglich für das Erkennen, es muss die Einheit zerreißen, um überhaupt möglich zu
werden. Es ist somit eine Bedingung für die Möglichkeit der Erkenntnis. Im Erkenntnisakt,
wird diese künstliche Trennung wieder aufgehoben, weshalb erst die Erkenntnis die
Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein zur Erscheinung bringt. Deshalb schreibt
Steiner in der Vorrede: „Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts
Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu
schaffen, das mit der sinnfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit
ergibt“ (GA 3/11). Es soll kein begriffliches Abbild des Gegeben entstehen, sondern ein
für das erkennende Bewusstsein neues Gebiet muss aktiv erschlossen werden, nämlich die
Begriffs- und Ideenwelt, die für sich selbst nicht vom Gegebenen getrennt ist.
3.1.5 Der Erkenntnisakt
Wie aus dem Obigen hervorgeht ist das Denken jenes Element, das Begriffe und Ideen
hervorbringt und so Erkenntnis vermittelt. „Die gegebene Welt mit Begriffen und Ideen
durchdringen, ist aber denkende Betrachtung der Dinge“ (GA 3/63). Das Denken hat die
Aufgabe den Inhalt des Weltbildes zu ordnen und im Moment des Erkennens einen
Seele auftreten. Ein Denken ist dieses nicht“ (GA 4/55). Das Denken, von dem Steiner spricht, ist immer ein
aktives, ein gewolltes.
83
eigenen Inhalt hervorzubringen (ebd.). Was wir selbst hervorbringen – die Denkinhalte –
ist für uns ganz durchsichtig. Reine Begriffe und Ideen sind uns in Form der Intellektuellen
Anschauung gegeben, in der Denkform und Inhalt vereint sind (GA 3/60). Deshalb
brauchen wir hier „bloß zu beobachten; und wir haben das Wesen unmittelbar gegeben“
(GA 3/63). Weil wir das Denken und seine Inhalte selbst hervorbringen begreifen wir es
vollständig, denn „was ich hervorbringe, dem erteile ich seine Bestimmungen“ (GA 3/57).
Die Beschreibung des Denkens stellt für Steiner daher gleichzeitig die Wissenschaft des
Denkens dar. „In der Logik ist alle Theorie nur Empirie; in dieser Wissenschaft gibt es nur
Beobachtung“ (GA 3/63). Das macht das Denken auch unhintergehbar – zum ersten
Prinzip. Wollen wir etwas außerhalb des Denkens erkennen – das Gegebene –, dann
können wir dies wiederum nur mit Hilfe des Denkens tun.
Nach Steiner lässt sich nun der Erkenntnisakt in mehrere Elemente aufgliedern:
1. Das Gegebene
Das Gegebensein sei keine Eigenschaft des Gegebenen, da es nur ein Verhältnis zum
Erkennen ausdrückt. Es kann auch ein Hervorgebrachtes sein, aber vom Standpunkt
des Erkennenden ist es ein Gegebenes. „Was das Gegebene seiner eigenen Natur nach
ist, bleibt also durch diese Bestimmung völlig im Dunkeln“ (GA 3/69)
2. Das Denken als formendes Prinzip
Das Denken löst Einzelheiten aus Gegebenen, bei dem alles in kontinuierlicher
Verbindung steht (Wahrnehmungsurteile, siehe oben) (GA 3/64).
3. Produzieren der Formen (Kategorien)
Das Denken produziert jene Formen (Kategorien) mit Hilfe derer er die Einzelheiten in
ein Verhältnis bringt (ebd.).
4. Beobachten
Das Denken (als Wahrnehmendes) beobachtet, was sich aus dem Verhältnis, in das es
(als Formendes) die Einzelheiten gebracht hat, von selbst ergibt (ebd.).
Auf die Elemente 1 und 2 wurde schon ausführlich eingegangen. Werfen wir also einen
näheren Blick auf die Elemente 3 und 4.
84
Steiner illustriert sein Verständnis der Formen bzw. Kategorien anhand des Begriffes
‚Kausalität‘. ‚Kausalität‘ stellt für ihn einen reinen Begriff dar, d.h. einen Begriff, der
unabhängig von der (sinnlichen) Erfahrung gewonnen werden muss. Aus der Erfahrung
kann er nicht genommen werden, auch nicht, wie Hume meinte, aus der
gewohnheitsmäßigen Erfahrung, dass zwei Ereignisse wiederholt aufeinander folgen.
Steiner argumentiert gegen Hume, dass die Erfahrung zeigt, dass wir nicht deshalb eine
Kausalität annehmen, weil zwei Dinge gewohnheitsmäßig aufeinander folgen. „Begegne
ich durch eine Reihe von Tagen immer demselben Menschen, wenn ich aus dem Tore
meines Wohnhauses trete, so werde ich mich zwar nach und nach gewöhnen, die zeitliche
Folge der beiden Ereignisse zu erwarten, aber es wird mir gar nicht einfallen, hier einen
Kausalzusammenhang zwischen meinem und des anderen Menschen Erscheinen an
demselben Orte zu konstatieren. Ich werde noch wesentlich andere Teile des Weltinhaltes
aufsuchen, um die unmittelbare Folge der angeführten Tatsachen zu erklären“ (GA 3/66).
Den Begriff der Kausalität müssen wir unabhängig von aller Erfahrung erst hervorbringen,
bevor wir die ihm entsprechenden Ursachen und Wirkungen in der Welt auffinden können.
Steiner erläutert:
Denn man nehme an, es seien zwei Elemente des Weltinhaltes gegeben: a und b.
Soll ich zwischen denselben ein Verhältnis aufsuchen, so muß ich das an der Hand
einer inhaltlich bestimmten Regel tun; diese kann ich aber nur im Erkenntnisakte
selbst produzieren, denn aus dem Objekte kann ich sie deshalb nicht nehmen, weil
die Bestimmungen dieses letzteren mit Hilfe der Regel eben erst gewonnen werden
sollen. Eine solche Regel zur Bestimmung des Wirklichen geht also vollständig
innerhalb der rein begrifflichen Entität auf. (GA 3/60f)
Weil wir den Begriff der Kausalität hervorgebracht haben, können wir die zu ihm
gehörenden Begriffe ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ innerhalb des Gegebenen identifizieren.57
Im Gegensatz zu Kants Vorstellungen richtet sich das Gegebene nicht nach den
Kategorien, sondern letztere werden zwar im Erkenntnisakt hervorgebracht, bilden aber
unabhängig vom Erkenntnisakt – wie oben gezeigt wurde – eine Einheit mit dem
Gegebenen. Kant war der Meinung, die Gesetzte der Naturwissenschaft müssten sich aus
den Kategorien ableiten lassen, da alle Erscheinungen nur den Kategorien gemäß erfahrbar
57
Zur Subsumtion der Wahrnehmung unter die Regel brauche ich wieder das Wahrnehmungsurteil bzw. den
abduktiven Schluss.
85
wären. Steiner hält Kant vor: „er hat dabei nicht bedacht, daß die synthetische Tätigkeit des
Denkens nur eine solche ist, welche die Gewinnung der eigentlichen Naturgesetze
vorbereitet“ (GA 3/65). Wenngleich der Mensch die Kategorien, mit Hilfe derer er das
Gegebene ordnet, unabhängig von letzterem hervorbringt, so muss sich ihre Anwendung
allemal erst innerhalb der Erfahrung erweisen. Steiner verweist darauf, dass uns die
Erfahrung der Wissenschaft sowie des Alltags zeigt, dass oft erst viele Denkversuche
notwendig sind, bis die Elemente des Gegebenen in ein richtiges Verhältnis gebracht
worden sind.58 Dem Denken kommt es also zu, die Elemente des Gegebenen in ein solches
Verhältnis zu bringen, dass sich ihre Beziehung untereinander (ihre Gesetzmäßigkeit)
ersichtlich wird. Im Gegensatz zur Kant’schen Vorstellungen folgen also „aus der bloßen
synthetischen Tätigkeit des Denkens […] keinerlei objektive Gesetze“ (ebd.). Noch anders
formuliert: „Das Denken sagt nichts a priori über das Gegebene aus, aber es stellt jene
Formen her, durch deren Zugrundelegung a posteriori die Gesetzmäßigkeit der
Erscheinungen zum Vorschein kommt“ (GA 3/67). Somit kann die Evidenz einer
Gesetzmäßigkeit nur beobachtet werden. Das Denken wird zum Wahrnehmungsorgan für
Begriffe und Ideen bzw. für die begrifflichen und ideellen Zusammenhänge. In der
Philosophie der Freiheit wird Steiner diese Wahrnehmung von Begriffen und Ideen
Intuition nennen. „Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist.
Intuition und Beobachtung sind die Quellen unserer Erkenntnis“ (GA 4/95).59
Es schließt sich nun mit Blick auf Kant die Frage an, ob und wie einer durch Beobachtung
gewonnen Erkenntnis Notwendigkeit zukommen kann?
Notwendigkeit ergibt sich für Steiner dann, wenn alle wesentlichen Elemente für ein
Ereignis erkannt werden. Treten alle wesentlichen Elemente wieder auf, so kann auch mit
Notwendigkeit auf das Ereignis geschlossen werden. Die Erfahrung liefert daher nicht
grundsätzlich nur Erkenntnisse mit komparativer Allgemeinheit (Kant), sondern sie
erfordert lediglich Vollständigkeit in der Identifizierung der wesentlichen Elemente und
58
Viele der vergeblichen Denkversuche, so Steiner, kämen uns im Alltag gar nicht zu Bewusstsein, da so
schnell ein richtiger gefunden würde (GA 3/64f).
59 Steiners Gebrauch des Wortes „Beobachtung“ ist inkonsistent, denn während es hier für die
Wahrnehmung sinnlicher Gegenstände steht, ist es in der Denk-Beobachtung der „Intuition“ gleichgesetzt.
86
deren richtige Ordnung durch die Formen des Denkens.60 Die Erkenntnis an sich trägt
somit das Potential der Notwendigkeit in sich; für die Praxis des Erkennens heißt das
jedoch, dass sie gegenüber neuen Elementen offen bleiben muss, die Gegenstand meiner
Erfahrung werden könnten.
Einen Gedankengang, der sich daran anschließt, arbeitet Steiner später in Die Philosophie
der Freiheit heraus: Alles mir in der Erfahrung Gegebene kann ich seiner Bedeutung nach
nur in Relation zu anderem Gegebenem erkennen. Steiner schärft diesen Gedankengang
am Begriff der Existenz: „Die einfachste Aussage, die ich von einem Dinge machen kann,
ist die, daß es ist, daß es existiert. Wie dann dieses Dasein näher zu bestimmen ist, das ist
bei keinem Dinge, das in den Horizont meiner Erlebnisse eintritt, sogleich im Augenblicke
zu sagen. Es wird jeder Gegenstand erst in seinem Verhältnisse zu andern zu untersuchen
sein, um bestimmen zu können, in welchem Sinne von ihm als einem existierenden
gesprochen werden kann“ (GA 4/46f). Welche Wahrnehmungen ich habe, erkenne ich
demnach unmittelbar; welche Bedeutung ihnen zukommt, kann ich nur durch die
Erkenntnis der Relationen zu anderen Wahrnehmungen ergründen. „Da kann ich aber
wieder nicht mehr wissen, als wie er [der Wahrnehmungsvorgang] im Verhältnisse zu
diesen Dingen steht“ (GA 4/47). Steiner thematisiert in diesem Zusammenhang auch, wie
man etwas als real, als Einbildung oder als Traum identifizieren kann. Diesen Begriffen
kommt folglich nur relative Bedeutung zu, da sie jeweils einen Bezugsrahmen erfordern.
Ein Traum ist so gesehen nicht weniger ‚wirklich‘, als unsere Erfahrungen im
Wachbewusstsein, erst durch das in Relation setzen beider, kann das Verhältnis zueinander
bestimmt werden.
Wie sich gezeigt hat, bedarf der Erkenntnisakt des Gegebenen, denn nur, was wir nicht
selbst hervorgebracht haben, müssen wir erkennen. Was wir selbst ‚produzieren‘, Begriffe
und Ideen, müssen demnach nicht erkannt werden (GA 3/70). Sie sind die „zweite,
ursprünglich nicht gegebene Seite des Weltinhaltes“ (ebd.), die aber „enthüllt“ werden
muss. „Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen, sondern
eine Summe von Bestimmungen (Kategorien), die aber für den übrigen Weltinhalt Form
sind“ (ebd.). Erkannt wird die jeweilige Zusammengehörigkeit von Wahrnehmung und
Begriff, nicht die Begriffe selbst. Zum jeweiligen Erfahrungsinhalt muss die entsprechende
60
Wir erinnern uns an die vielen Modifikationen im Versuchsaufbau in der Goethe‘schen Forschungspraxis
(siehe Kapitel 2.3), die alle für ein Phänomen relevanten Elemente zum Vorschein bringen sollen.
87
begriffliche Form gefunden werden. Die Einheit von Form und Inhalt ist daher nur für das
erkennende Bewusstsein zerrissen, wodurch „erst die durch die Erkenntnis gewonnene
Gestalt des Weltinhaltes, in der beide aufgezeigte Seiten desselben vereinigt sind […]
Wirklichkeit genannt werden“ (ebd., Hervorhebung im Original) kann. Wirklichkeit ist
für das menschliche Bewusstsein also erst im Erkennen gegeben und wird nicht, im Sinne
einer Abbildtheorie, durch das Erkennen begrifflich wiederholt.
3.2 Die Philosophie der Freiheit
Nur ein Jahr nach der Herausgabe von Wahrheit und Wissenschaft erschien Die
Philosophie der Freiheit (‚PHDF‘).61 Steiner hatte dieses Werk bereits angekündigt, indem
er der Veröffentlichung seiner Dissertationsschrift den Untertitel „Vorspiel zu einer
Philosophie der Freiheit“ gab. Die Freiheitsfrage konnte für Steiner nur über den Weg der
Erkenntnisfrage geklärt werden, so ist in Wahrheit und Wissenschaft zu lesen: „Das Wesen
der freien Selbstbestimmung zu untersuchen, wird die Aufgabe einer auf unserer
Erkenntnistheorie gestützten Ethik und Metaphysik sein“ (GA 3/83). Für Steiner, der sich
einmal als ‚anarchischen Individualisten‘ bezeichnete, war die Lösung der menschlichen
Freiheitsfrage und damit die Begründung der moralischen Autonomie des Menschen, die
wichtigste Aufgabe der Philosophie. Der radikale Individualismus und die Ablehnung
einer äußeren (offenbarten) Moral brachten ihn auch in die philosophische Nähe von
Nietzsche und Stirner. So nennt Steiner schließlich in der Philosophie der Freiheit zwei
„Wurzelfragen“ des Menschen, die es zu klären galt:
1. „Die eine ist, ob es eine Möglichkeit gibt, die menschliche Wesenheit so
anzuschauen, daß diese Anschauung sich als Stütze erweist für alles andere, was
durch Erleben oder Wissenschaft an den Menschen herankommt, wovon er aber die
Empfindung hat, es könne sich nicht selber stützen“ (GA 3/7).
61
Die Philosophie der Freiheit erschien im November 1893, obwohl am Titelblatt die Jahreszahl 1894
abgedruckt war. Wahrscheinlich um das Werk länger aktuell erscheinen zu lassen, denn der Verleger wollte
ursprünglich vermeiden, dass das Werk gegen Ende des Jahres erschien, was sich durch Verzögerungen
seitens Steiners nicht verhindern ließ (vgl. GA 4a).
88
2. „Darf sich der Mensch als wollendes Wesen die Freiheit zuschreiben, oder ist diese
Freiheit eine bloße Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der
Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen ebenso hängt wie ein
Naturgeschehen?“ (ebd.).
Hinter der ersten Formulierung verbirgt sich die Erkenntnisfrage, in der Steiner einen sich
selbst tragenden Ausgangspunkt finden wollte, von dem aus die Stellung des Menschen zur
Welt bestimmbar würde. Die zweite Frage nach der Freiheit des Menschen benötigt eben
diesen Ausgangspunkt.62 Steiner gliederte die Philosophie der Freiheit von diesen zwei
Wurzelfragen ausgehend auch in zwei Teile. In einen erkenntnistheoretischen und einen,
der einen ethischen Individualismus ausarbeitet. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird
der zweite Teil ausgespart und der Blick darauf gelenkt, was sich als Erweiterung bzw.
Vertiefung der bisherigen Erkenntnistheorie in der Philosophie der Freiheit findet.
3.2.1 Methode der Philosophie der Freiheit
Möglicherweise, weil die Forderung nach theoretischer Voraussetzungslosigkeit zu
gewissen Aporien (siehe oben) führte, versuchte Steiner von einer anderen Seite ein
gleichsam voraussetzungsloses wie tragfähiges Fundament zu finden. Vielleicht war es
aber auch die größere Freiheit gegenüber der Dissertation, die es Steiner ermöglichte, den
Fokus noch einmal neu auszurichten. Denn es ist in der Philosophie der Freiheit nicht eine
vordergründig philosophische, sondern eine psychologische Methode, die Steiner ins
Zentrum rückt: die Selbstbeobachtung. Genauer: die Denk-Beobachtung. Freilich basierten
Steiners frühere Arbeiten bereits auf den phänomenologischen Betrachtungen des
Denkens, in der Philosophie der Freiheit hebt er jedoch zu einer Reflexion über diese
Methode an und weist sie als das gesuchte sich-selbst-tragende Fundament seiner
Erkenntnistheorie aus.
Der Methodik folgend trägt nun auch die Erstausgabe der Philosophie der Freiheit den
Untertitel: „Seelische Beobachtungsresultate nach Methode der Naturwissenschaften“. Mit
62
„Wir mögen die Sache anfassen wie wir wollen: immer klarer muß werden, daß die Frage nach dem
Wesen des menschlichen Handelns die andere voraussetzt nach dem Ursprunge des Denkens“ (GA 4/26).
89
der Wendung „Methode der Naturwissenschaften“ grenzt sich Steiner bewusst von der
Methode der spekulativen Philosophie63 ab und bekräftigt sein Selbstverständnis als
strenger Empirist. Wenn Steiner schreibt: „Wir wollen keine Spekulationen anstellen über
die Wechselwirkung von Natur und Geist. Wir wollen aber hinuntersteigen in die Tiefen
unseres eigenen Wesens“ (GA 4/34), so ist das methodisch ernst zu nehmen, denn, dass
Steiner das tatsächlich so ge- und erlebt hat, lässt sich einem Brief an seine Freundin Rosa
Mayreder entnehmen: „ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie
ich es gelebt habe. Es ist alles in meinem Buche persönlich gemeint“ (GA 39/232). Im
Vorwort zur Erstausgabe heißt es dazu: „Sie [die PHDF] soll nicht ‚den einzig möglichen‘
Weg zur Wahrheit führen, aber sie soll von demjenigen erzählen, den einer eingeschlagen
hat, dem es um Wahrheit zu tun ist“ (GA 4/269). Steiner sieht in dem persönlichen
Durchleben ein „organisch-lebendig werden“ (GA 4/270) der Wissenschaft. „Das abstrakte
Denken gewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben“ (ebd.). Hier schwingt die
Forderung mit, zu einem gesteigerten Denkerleben zu kommen, zu einem lebendigen
Denken, wie wir es schon gesehen haben. Nicht abstrakt und passiv will Steiner die
Philosophie (und Wissenschaft allgemein) betreiben, sondern als tätiges Bewusstsein, das
sich seiner schöpferischen Rolle beim Hervorbringen von Wissen bewusst ist bzw. durch
den Prozess der Selbstbeobachtung bewusst wird und sich dabei über das Verhältnis von
Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozess aufklärt. Dass diese Methodik dem Forscher
mitunter mehr abverlangt, als in der Wissenschaft für gewöhnlich üblich ist, deutet Steiner
mit einem Hinweis darauf an, dass man heute zwar keine „frommen Übungen und keine
Aszese mehr“ wie bei den orientalischen Gelehrten verlange, aber „dafür den guten Willen,
63
Neben der spekulativ-idealistischen Philosophie Fichtes, Schellings und Hegels, ist diese Wendung auch
als unmittelbare Bezugnahme auf Eduard von Hartmann zu verstehen, dessen Philosophie des Unbewussten
den Untertitel „Spekulative Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher Methode“ trägt. Steiner hatte
Wahrheit und Wissenschaft ja Hartmann gewidmet, zu dem er aber dennoch „in dem denkbar schärfsten
Gegensatze“ (GA 39/187) stand, wie er in einem Brief zur Übersendung der PHDF an Vincenz Knauer
anmerkte. Im Hintergrund dieser Formulierung sind auch die Bemühungen der noch jungen Psychologie zu
sehen, die sich noch nicht ganz von der Philosophie getrennt hatte, ihren wissenschaftlichen Standort zu
bestimmen. So meinte etwa Franz Brentano (einer der Pioniere der Psychologie, dessen Vorlesungen Steiner
auch in Wien gehört hatte), die Methode der Philosophie solle keine andere sein, als die der
Naturwissenschaft (vgl. Sijmons 2008, S. 322). Wilhelm Wundt hatte erst 14 Jahre zuvor das erste
psychologische Laboratorium begonnen, um die Psychologie auf empirisch-wissenschaftliche Beine zu
stellen.
90
kurze Zeit sich den unmittelbaren Eindrücken des Lebens zu entziehen, und in das Gebiet
der reinen Gedankenwelt sich zu begeben“ (GA 4/269). Dieser programmatische Satz darf
als Schlüssel der Steiner’schen Philosophie verstanden werden und er findet, wie zu zeigen
sein wird, in der Beobachtung des eigenen Denkens notwendigerweise seine Anwendung.
Sie führt zu dem erweiterten Bewusstsein, mit dem sich der Mensch über die Dinge und
sein Verhältnis zu ihnen, grundlegend aufklären kann.
3.3.2 Die Denk-Beobachtung
Die Ausführungen zur Denk-Beobachtung finden sich im dritten Kapitel der PHDF. Dort
widmet sich Steiner auch der Frage, warum in der Klärung der Erkenntnisfrage unmittelbar
vom Denken auszugehen ist. Zunächst rekapituliert Steiner seine Befunde aus den früheren
Schriften, nämlich, dass die Welt ohne denkende Betrachtung stumm und undifferenziert
bliebe. Begrifflich tritt an die Stelle der Wahrnehmung nun der Begriff der Beobachtung.
„Ein bloß beobachteter Vorgang oder Gegenstand ergibt aus sich selbst nichts über seinen
Zusammenhang mit anderen Vorgängen oder Gegenständen“ (GA 4/38). Erst in der
Verbindung mit dem Denken erscheinen die Zusammenhänge. Daher sind „Beobachten
und Denken […] die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen“
(ebd.). Sie sind in ihren Gegensätzen vor allen anderen Dingen zu untersuchen.
Beobachtungsinhalt ist immer ein Gegebenes, das können „Empfindungen,
Wahrnehmungen, Anschauungen, die Gefühle, Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde,
Vorstellungen, Begriffe und Ideen, sämtliche Illusionen und Halluzinationen“ (GA 4/39)
sein. Was davon sie sind, darüber kann uns erst das Denken Aufschluss geben. Auch wenn
die Beobachtung dem Denken zeitlich vorausgeht, so ist doch das Denken jenes Element,
ohne das eine erkennende Weltbetrachtung unmöglich ist, weshalb es für eine
philosophische Betrachtung das erste und unmittelbarste Element darstellt. „Ehe anderes
begriffen werden kann, muß es das Denken werden“ (GA 4/53). Nicht etwa Fragen, wie
das Denken entstanden ist, welche Gehirnprozesse beteiligt sind, wie ein Bewusstsein als
Träger des Denkens beschaffen sein muss usw., können als Ausgangspunkte zur Erklärung
der Welt genommen werden, sondern das „was uns als das Nächste, als das Intimste
gegeben ist“ (ebd.).
91
Solange die Philosophie alle möglichen Prinzipien annehmen wird, wie Atom,
Bewegung, Materie, Wille, Unbewusstes, wird sie in der Luft schweben. Erst wenn
der Philosoph das absolut Letzte als sein Erstes ansehen wird, kann er zum Ziele
kommen. Dieses absolut Letzte, zu dem es die Weltentwicklung gebracht hat, ist
aber das Denken. (ebd.)
Das Denken ist uns das Nächste und Intimste, weil wir es selbst hervorbringen. Steiner
verweist darauf, dass René Descartes deshalb das ganze menschliche Wissen auf den Satz
gründen wollte: Ich denke, also bin ich. „Alle andern Dinge, alles andere Geschehen ist
ohne mich da; ich weiß nicht, ob als Wahrheit, ob als Gaukelspiel und Traum. Nur eines
weiß ich ganz unbedingt sicher, denn ich bringe es selbst zu seinem sichern Dasein: mein
Denken“ (GA 4/46). Daher ist für Descartes und Steiner im Denken „ein fester Punkt
gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen
Welterscheinungen suchen kann“ (ebd.). Alles andere was mir Wahrnehmungs- bzw.
Beobachtungsinhalt werden kann, finde ich einfach vor, nur beim Denken, so Steiner, weiß
ich, wie es gemacht wird; weshalb es keinen ursprünglicheren Ausgangspunkt für das
Betrachten alles Weltgeschehens gibt als das Denken (GA 4/50). Steiner sieht es daher als
gerechtfertigt an, bei einer Untersuchung des Denkens anzuheben. Dies kann freilich im
Sinne von Steiners Empirismus auf keinem anderen Weg erfolgen, als dass das Denken
selbst Gegenstand der Beobachtung wird.
Hier tut sich allerdings abermals eine unumgängliche Zirkularität in der Argumentation
auf, denn dass mir das Denken das Intimste ist (weil ich es selbst hervorbringe), weiß ich
wiederum nur, weil ich mein Denken beobachtet und analysiert habe. In der Zirkularität
spricht sich aber auch das Selbsttragende des Denkens aus, das es schließlich auch zum
‚archimedischen Hebel‘, zum ‚fixen Punkt‘ macht, von dem aus die Welt begriffen werden
kann. Ergebnisse der Denk-Beobachtung und Begründung (auch methodisch) der Denk-
Beobachtung weisen eine zirkulär vertiefende Dynamik auf. Es scheint dem Verfasser
dieser Arbeit aber immerhin jener Punkt zu sein, der am ehesten mit der Vorstellung und
dem Begriff eines voraussetzungslosen Anfangs, um den es ja Steiner für seine
Erkenntnistheorie zu tun ist, in Übereinstimmung zu bringen ist.
Was ergibt sich nun aus der Denk-Beobachtung?
Nach Steiner unterscheidet sich das eigene Denken von allen anderen
92
Beobachtungsobjekten dadurch, dass es nicht unmittelbar beobachtet werden kann. Für alle
Beobachtungsobjekte gilt, dass sich die Aufmerksamkeit während des Denkens auf das
Objekt richtet, nicht auf die Tätigkeit des Denkens selbst. „Das ist die eigentümliche Natur
des Denkens, daß der Denkende das Denken vergißt, während er es ausübt“ (GA 4/42).
Steiners erstes Beobachtungsresultat ist daher, „daß [das Denken] das unbeobachtete
Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist“ (ebd.). Der Grund liegt für Steiner darin,
dass das Denken auf unserer eigenen Tätigkeit beruht. „Zwei Dinge vertragen sich nicht:
tätiges Hervorbringen und beschauliches Gegenüberstellen. Das weiß schon das erste Buch
Moses“ (GA 4/43).64 Wollte man sein gegenwärtiges Denken beobachten, so müsste man
sich in zwei Persönlichkeiten spalten. In eine, die denkt, und in eine, die dabei zusieht
(ebd.). Das Denken muss erst hervorgebracht werden, bevor man es beobachten kann (GA
4/44).
Die Unbeobachtbarkeit der eigenen geistigen Vorgänge war schon in der Psychologie des
19. Jahrhunderts Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte. So schrieb Drobisch bereits
1842: „Die absichtslose Selbstbeobachtung ist aber immer keine Beobachtung des
gegenwärtigen geistigen Vorgangs, sondern nur eine nachkommende, eine Erinnerung, und
die absichtliche, die also durch Willenskraft zu erreichen strebt, was ungesucht nicht statt
hat, ist im Grunde ein fortgesetztes Misslingen: denn stets kommt die Beobachtung später
als das Geschehen“ (Drobisch 1842, S. 141). Franz Brentano (1874) schrieb in Psychologie
vom empirischen Standpunkt: „In der That ist es offenbar, dass vermöge einer
unabänderlichen Nothwendigkeit der menschliche Geist alle, nur nicht die eigenen
Phänomene direct beobachten kann, fehlt es ja doch hier an dem, welcher die Beobachtung
machen könnte“ (S. 39), und etwas später Comte zitierend: „Das denkende Individuum
kann sich nicht in zwei zertheilen, von welchen das eine nachdenkt, während das andere es
nachdenken sieht“ (ebd., S. 40).65 Aber bereits Thomas von Aquin hielt „den Verstand nur
für fähig, einen einzelnen Gedanken zugleich zu fassen, einen Akt zugleich auszuführen“
(Sijmons 2008, S. 328).
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach der Beobachtbarkeit des Denkens
64
Gott brachte in den ersten sechs Tagen die Welt hervor, um am siebenten zu sehen, dass es gut war.
65 Steiner wird Brentanos Haltung diesbezüglich gekannt haben, da er während seiner Wiener Zeit dessen
Vorlesungen besucht hatte.
93
Gegenstand eines Disputs zwischen Karl Bühler und Wilhelm Wundt. Bühler (1907) hatte
Experimente zur Psychologie der Denkvorgänge durchgeführt, indem er die
Versuchspersonen durch Fragen zum Denken anregte und sie hinterher um eine
Schilderung des Erlebten bat. Wundt, der den Versuchsaufbau – anscheinend
missverstehend – kritisierte, schrieb: „Kann es psychische Vorgänge, z.B. logische
Denkakte, geben, zu deren Erzeugung die äußerste Spannung unserer Aufmerksamkeit
erfordert wird, und die wir gleichzeitig unter Aufbietung einer eben solchen Spannung der
Aufmerksamkeit beobachten? In der verneinenden Beantwortung dieser Frage sind wohl
alle Psychologen einig, die sich irgendwie ernsthafter mit dem Problem der
Aufmerksamkeit beschäftigt haben“ (Wundt 1908, S. 331). Bühler reagierte geradezu
empört auf den Vorwurf Wundts, seine Versuchspersonen hätten neben der Denktätigkeit
die Aufgabe, diese gleichzeitig zu beobachten, was zeigt, dass die Unbeobachtbarkeit des
aktuellen Denkens als Selbstverständlichkeit galt (vgl. auch Muschalle 2012).
Wie ist Denk-Beobachtung also zu verstehen, wenn das gegenwärtige Denken das
„unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens“ ist?
Steiner schreibt: „Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die
Erfahrungen, die ich über meinem Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum
Objekt des Denkens machen“ (GA 4/43, Hervorhebung S.E.). Bühler kommt 14 Jahre
später zur selben methodischen Schlussfolgerung und fragt: „Was erleben wir, wenn wir
denken?“ (Bühler 1904, S. 303, Hervorhebung S.E.). In seiner Replik auf Wundt stellt
Bühler klar, dass seine Versuchspersonen ihre Denk-Erlebnisse aus der Erinnerung
beschreiben sollten: „Ist es denn Wundt nie in den Sinn gekommen, sich zu überlegen, ob
man nicht über seine Erlebnisse Aussagen machen könne, ohne sein Ich zu verdoppeln? Es
gibt doch im Menschen auch etwas, was man Gedächtnis nennt, auch ein unmittelbares
Gedächtnis“ (Bühler 1908, S. 99). Was also zum Gegenstand der Denk-Beobachtung
gemacht werden kann, sind die in das Gedächtnis eingegrabenen Erlebnisse.
Im Rahmen von Bühlers Experimenten fanden die Versuchspersonen verschiedene
Elemente in ihrem Denkerleben: begleitende Gefühle, akustische und motorische
Wortvorstellungen, visuelle Vorstellungen usw. (vgl. Bühler 1904, S. 319). Wesentlich im
Zusammenhang mit Steiners Denk-Beobachtung ist aber das Ergebnis Bühlers hinsichtlich
der Frage, was die wichtigsten Elemente der Denkerfahrung seien:
94
Die wichtigsten Erlebnisstücke sind etwas, was durch all die Kategorien, wodurch
diese Gebilde [Vorstellungen] bestimmt werden können, gar nicht getroffen wird
[…]; etwas, was vor allem keine sinnliche Qualität, keine sinnliche Intensität
aufweist; etwas, von dem man wohl einen Klarheitsgrad, einen Sicherheitsgrad,
eine Lebhaftigkeit, mit der es das psychische Interesse in Anspruch nimmt,
aussagen kann, das aber inhaltlich ganz anders bestimmt ist als alles, was sich
letzten Endes auf Empfindungen zurückführen läßt; etwas, bei dem es gar keinen
Sinn hätte, bestimmen zu wollen, ob es eine größere oder geringere Intensität
besessen oder gar, in welche sinnlichen Qualitäten es aufzulösen wäre. Diese
Stücke sind das, was die Vp. in Anlehnung an Ach als Bewußtheiten, oder auch als
Wissen oder schlicht als ‚das Bewußtsein, daß…‘, am häufigsten und korrektesten
als Gedanken bezeichnet haben. (Bühler 1904, S. 315f, Hervorhebung S.E.)
Bühler bringt damit zum Ausdruck, dass innerhalb der Beobachtung der Denk-Erfahrung
tatsächlich das Denken an sich, als distinktes und eigenständiges Element (ohne
Vorstellungen oder begleitende Gefühle) vorkommt und retrospektiv
Beobachtungsgegenstand werden kann. Steiner interessiert sich eben für genau diese
Beobachtung des Denkens an sich; nicht für andere psychische Erlebnisse, die das Denken
oft begleiten und deshalb auch in der Denk-Erfahrung auffindbar sind. Dieses Denken an
sich ist auch sinnlichkeitsfrei, wie Bühler feststellte. Daher eignet es sich, im Sinne
Steiners, als ein Beobachtungselement, das den Menschen aus dem gewöhnlichen,
gegenständlichen Bewusstsein hinausführen kann.
Für Steiner können wir nun das Denken aus demselben Grund, aus dem wir es in seinem
gegenwärtigen Verlauf nicht beobachten, auch „unmittelbarer und intimer erkennen […]
als jeden anderen Prozeß der Welt“ (GA 4/44). „Eben weil wir es selbst hervorbringen,
kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht
kommende Geschehen vollzieht“ (ebd.).66 Steiner meint damit, dass wir im Gegensatz zu
Beobachtungsgegenständen zu denen wir den gedanklichen Inhalt erst finden müssen,
beim Denken diesen unmittelbar gegeben haben (vgl. intellektuelle Anschauung, siehe
66
Dass wir das Denken selbst hervorbringen, ist wiederum ein empirisches Ergebnis der Denk-
Beobachtung. Schon in Wahrheit und Wissenschaft schreibt Steiner: „Wir müssen uns vollständig klar
darüber sein, daß wir das Hervorbringen in aller Unmittelbarkeit wieder gegeben haben müssen. Es dürfen
nicht etwa Schlußfolgerungen nötig sein, um dasselbe zu erkennen“ (GA 3/54).
95
oben).
Warum für meine Beobachtung der Donner auf den Blitz folgt, weiß ich nicht ohne
weiteres; warum mein Denken den Begriff Donner mit dem des Blitzes verbindet,
weiß ich unmittelbar aus den Inhalten der beiden Begriffe. Es kommt natürlich gar
nicht darauf an, ob ich die richtigen Begriffe von Blitz und Donner habe. Der
Zusammenhang derer, die ich habe, ist mir klar, und zwar durch sie selbst. (ebd.)
Steiner sieht in der „durchsichtigen Klarheit“, in der das Denken gegeben ist, ein
Argument für seine Nichtreduzierbarkeit. Dass das Denken ein Epiphänomen anderer,
materieller Vorgänge sei, wird für Steiner durch seine Durchsichtigkeit sowohl inhaltlich
als auch hinsichtlich seiner Entstehung widerlegt. „Meine Beobachtung ergibt, daß mir für
meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt
meiner Gedanken; nicht nach den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich
mich“ (GA 4/45). Erst die Denk-Beobachtung und die Erfahrungen, die dabei gemacht
werden, offenbaren das Wesen des Denkens. Wer den „Ausnahmezustand“ der Denk-
Beobachtung nicht herbeiführt, kann sich, so Steiner, das Denken nicht zu Bewusstsein
bringen.
Wer den guten Willen nicht hat, sich in diesen Standpunkt zu versetzen, mit dem
könnte man über das Denken so wenig wie mit dem Blinden über die Farbe
sprechen. Er möge nur aber nicht glauben, daß wir physiologische Prozesse für
Denken halten. Er erklärt das Denken nicht, weil er es überhaupt nicht sieht. (ebd.)
Für Steiner hat bei gutem Willen jeder normal organisierte Mensch die Fähigkeit, sein
Denken zu beobachten. Das Denken wird wiederum allein durch das Denken beobachtet.
Bei der Beobachtung der übrigen Weltinhalte kommt das Denken als unbeobachtetes
Element hinzu. „Wenn ich aber mein Denken betrachte, so ist kein solches
unberücksichtigtes Element vorhanden. […] Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ
derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet“ (GA 4/48). Weil die Denk-Beobachtung
sich ganz in ihrem eigenen Element bewegt und weil sie ergibt, dass wir etwas beobachten,
das wir selbst hervorgebracht haben (und die Beobachtung selbst auch wieder selbst
hervorbringen), können wir das Denken intimer erkennen als alles andere. Im Denken
haben wir somit „ein Prinzip, das durch sich selbst besteht“ (GA/51) und sich selbst
erkennt und durchschaut. Im Denken ist daher für Steiner „ein fester Punkt gewonnen, von
96
dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen
Welterscheinungen suchen kann“ (GA 4/46).
3.3.3 Das Verhältnis des Ich zum Denken und die Überwindung der
Subjekt-Objekt-Trennung
In der Untersuchung und Bestimmung des Denkens hat Steiner zunächst vom Träger dieses
Denkens abgesehen. Ein Weltschöpfer müsse wissen, wie er einen Träger für das Denken
finde, der Philosoph aber müsse von dem ihm nächsten, intimsten ausgehen. Steiner
schreibt daher: „Wir müssen erst das Denken ganz neutral, ohne Beziehung auf ein
denkendes Subjekt oder ein gedachtes Objekt betrachten“ (GA 4/52). Der Grund dafür
liegt darin, dass Subjekt und Objekt bereits Begriffe sind, die vom Denken gebildet werden
müssen. Sie umfassen bereits Denk- und Erkenntnisleistungen, sind daher also nicht mehr
das Unmittelbarste.67 Vom Unmittelbarsten soll zu allem Anderen, zum Früheren,
aufgestiegen werden. Vom Denken ausgehend soll schließlich auf das denkende Wesen
übergegangen werden. „Insoferne der Mensch einen Gegenstand beobachtet, erscheint ihm
dieser als gegeben, insoferne er denkt, erscheint er sich selbst als tätig“ (GA 4/59). Der
Gegenstand wird zum Objekt und er selbst zum denkenden Subjekt. „Weil er sein Denken
auf die Beobachtung richtet, hat er Bewußtsein von den Objekten; weil er sein Denken auf
sich richtet, hat er Bewußtsein seiner selbst oder Selbstbewußtsein. Das menschliche
Bewußtsein muß notwendig zugleich Selbstbewußtsein sein, weil es denkendes
Bewußtsein ist“ (GA 4/60). Steiner bestimmt den Menschen (das menschliche
Bewusstsein) als denkendes Bewusstsein. Selbstbewusstsein gewinnt das denkende
Bewusstsein dadurch, dass es „den Blick auf seine eigene Tätigkeit richtet, dann hat es
seine ureigene Wesenheit, also sein Subjekt, als Objekt zum Gegenstande“ (ebd.).
Aber es ist das Denken selbst, dass in der Selbstanschauung und im Identifizieren von
Objekten, die es nicht selbst hervorbringt, die Begriffe von Subjekt und Objekt
hervorbringt. Weil aber die Bestimmung von Subjekt und Objekt erst durch das Denken
67
Das Unmittelbarste sind für Steiner auch nicht Begriffe und Ideen, denn diese werden erst vom Denken
gewonnen. Steiner sieht hierin seine Differenz zu Hegel (GA 4/57f).
97
erfolgt, es diese Begriffe überhaupt erst bildet, kann das Denken selbst „niemals als eine
bloß subjektive Tätigkeit aufgefaßt werden“ (ebd.). Für Steiner ist das Denken daher
jenseits von Subjekt und Objekt.
Die andere Bestimmung des menschlichen Bewusstseins, neben der, denkendes
Bewusstsein zu sein, ist die des Wahrnehmenden bzw. Beobachtenden. Das menschliche
Bewusstsein ist also dadurch charakterisiert, dass es der Schauplatz ist, „wo Begriff und
Beobachtung einander begegnen und wo sie miteinander verknüpft werden“ (GA 4/59).
Dies war ja schon das Ergebnis aus der Dissertation, dass das menschliche Bewusstsein
überhaupt erst diese Trennung in Wahrnehmung und Begriff hervorruft und dadurch
Erkenntnis ermöglicht. Wenn wir also als denkendes Subjekt im Erkennen einen Begriff
auf ein Objekt beziehen, so darf diese Beziehung, nach Steiner, nicht als etwas nur
Subjektives aufgefasst werden. Denn es ist nicht das Subjekt, das die Beziehung
herbeiführt, sondern das Denken, das jenseits von Subjekt und Objekt ist. „Das Subjekt
denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es
zu denken vermag“ (GA 4/60).
Ich darf niemals sagen, dass mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr
selbst von des Denkens Gnaden. Das Denken ist somit ein Element, das mich über
mein Selbst hinausführt und mit den Objekten verbindet. Aber es trennt mich
zugleich von ihnen, indem es mich ihnen als Subjekt gegenüberstellt.
Darauf beruht die Doppelnatur des Menschen: er denkt und umschließt damit sich
selbst und die übrige Welt; aber er muss sich mittels des Denkens zugleich als ein
den Dingen gegenüberstehendes Individuum bestimmen. (GA 4/60f)
Steiner begründet mit der Transsubjektivität des Denkens die objektive Erkennbarkeit der
Welt. Das Denken ermächtigt ihn über die Grenzen seines eigenen Daseins hinauszugehen.
Als Mensch ist er ein eingeschränktes Wesen, durch seine Raum-Zeitlichkeit ist ihm
immer nur ein beschränkter Teil des gesamten Universums gegeben. Durch sein
Empfinden und Fühlen nimmt er eine individuelle Stellung zur Welt ein. Aber sein Denken
ist seinem Wesen nach nicht individuell, sondern universell. „Es erhält ein individuelles
Gepräge in jedem einzelnen Menschen nur dadurch, daß es auf sein individuelles Fühlen
und Empfinden bezogen ist“ (GA 4/90).
In dem Denken haben wir das Element gegeben, das unsere besondere
98
Individualität mit dem Kosmos zu einem Ganzen zusammenschließt. Indem wir
empfinden und fühlen (auch wahrnehmen), sind wir einzelne, indem wir denken,
sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt. Dies ist der tiefere Grund
unserer Doppelnatur: Wir sehen in uns eine schlechthin absolute Kraft zum Dasein
kommen, eine Kraft, die universell ist, aber wir lernen sie nicht bei ihrem
Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen, sondern in einem Punkte der
Peripherie. Wäre das erstere der Fall, dann wüssten wir in dem Augenblicke, in
dem wir zum Bewusstsein kommen, das ganze Welträtsel. Da wir aber in einem
Punkte der Peripherie stehen und unser eigenes Dasein in bestimmte Grenzen
eingeschlossen finden, müssen wir das außerhalb unseres eigenen Wesens gelegene
Gebiet mit Hilfe des aus dem allgemeinen Weltensein in uns hereinragenden
Denkens kennen lernen. (GA 4/91)
Das Denken ist es, was sowohl uns als Individuen als auch die Welt umfasst. Wir stehen
nicht als getrenntes Subjekt einer objektiven Welt gegenüber, von der wir uns nur
Vorstellungen bilden können, sondern wir bestimmen vom Denken aus sowohl uns als
Subjekt als auch die Welt. Die Grenzen unserer leiblichen Natur werden durch das Denken
aufgehoben. Als Körper sind wir ebenso vom Denken umschlossen, wie alle anderen
Gegenstände. Lediglich als Wahrnehmungssubjekt stehe ich den Objekten gegenüber; im
Denken hebe ich diese Trennung auf und verbinde mich mit den Dingen. In der Denk-
Beobachtung kann sich der Mensch in einen Bewusstseinszustand versetzen, in dem er das
Denken als in sich selbst ruhendes und alles umfassendes Wesen erlebt. Die Steiner’sche
Erkenntnistheorie versucht letztlich auf dieses gesteigerte Erleben hinzulenken, in dem das
Subjektive dadurch überwunden wird, dass das Denken in seiner Eigenschaft als
transsubjektives erlebbar wird.
99
Zusammenfassung
Steiner versuchte mit seinen erkenntnistheoretischen Arbeiten die Frage zu klären, in wie
weit das menschliche Erkenntnisvermögen in der Lage ist, die Welt zu erkennen, wie sie
wirklich ist. Spätestens mit Kant hatte sich der Mensch philosophisch in seine Subjektivität
eingesponnen; Steiner suchte den Weg aus dieser Subjektivität heraus und wollte zeigen,
dass das Erkenntnis vermittelnde Denken seinem Wesen nach transsubjektiv ist und den
Menschen aus seiner Isolierung als Subjekt in die Welt hinausträgt. Steiner wollte die
Vorstellung dekonstruieren, dass die Welt, wie sie den Sinnen gegeben ist, ein in sich
ruhendes Ganzes sei. Aus dieser Vorstellung heraus muss das, was der Mensch denkend,
d.i. erkennend, der Welt hinzufügt, wie ein subjektives Abbild der Wirklichkeit erscheinen,
zumal der Mensch sein Denken als sein Erzeugnis erlebt. Der Weg aus dieser Subjektivität
heraus, führt für Steiner über die Erkenntnis der sinnlichen Welt als Unvollendetes, als
halbe Wirklichkeit. Der Mensch steht so nicht einer objektiven Außenwelt gegenüber, die
in die Subjektivität, in das Bewusstsein des Menschen nicht hineinfinden kann, die er
allenfalls gemäß seiner eigenen Organisation erkennen kann (Kant), sondern sieht sich
einer halben Wirklichkeit gegenüber, die erst im Zusammenschluss mit ihrem ideellen
Inhalt die volle Wirklichkeit bildet. Die Erkenntnis des ideellen Inhaltes vermittelt das
Denken, das nicht aus der Subjektivität herausfließt, sondern das überhaupt erst Subjekt
und Objekt einander gegenüberstellt und so Subjekt und Erkenntnis als Möglichkeit
überhaupt erst konstituiert. Für Steiner ist die menschliche Organisation nicht dafür
verantwortlich, dass Erkenntnis nur ihr gemäß erfolgen kann, sondern dafür, dass es
überhaupt Erkenntnis geben kann. Denn sie ist es, die die Wirklichkeit für das menschliche
Bewusstsein in zwei Hälften spaltet. Die eine erscheint als reine Erfahrung, die andere
muss in einem aktiven Akt durch das Denken in Form von Ideen und Begriffen
hervorgebracht werden. In der Vereinigung dieser zwei Hälften, d.i. in der Erkenntnis,
steht der Mensch erst der Wirklichkeit gegenüber. Nicht ein Abbild einer äußeren
Wirklichkeit erstellt er, sondern er bringt sie überhaupt erst durch seine erkennende
Tätigkeit (für das menschliche Bewusstsein) zur Erscheinung.
Die menschliche Organisation bzw. das gewöhnliche menschliche Bewusstsein löscht für
den ersten Anblick der Dinge aus, was ihrem Wesen nach zu ihnen gehört. Die rein
sinnliche Welt wird damit zum Schein, zur Illusion, die der ideellen Ergänzung bedarf, um
100
Wirklichkeit zu werden. Im Gegensatz zu einem platonischen Idealismus sieht Steiner aber
nicht im Ideellen die volle Wirklichkeit, sondern immer in der Einheit von Idee und
Anschauung. „Nicht der abstrakte Begriff enthält die Wirklichkeit; wohl aber die denkende
Beobachtung, die weder einseitig den Begriff, noch die Wahrnehmung für sich betrachtet,
sondern den Zusammenhang beider“ (GA 18/600). Dadurch erweist sich Steiners
Erkenntnistheorie und das aus ihr fließende Wissenschaftsverständnis als unbedingt
empirisch. Nur was auch als Wahrnehmung vorhanden ist, kann Gegenstand der
Wissenschaft – der Erkenntnis überhaupt – werden. Ihren Prototyp hat Steiners Erkenntnis-
und Wissenschaftsverständnis in der Art gefunden, wie Goethe Wissenschaft betrieben
hatte. Ausgehend von der Empirie, aber hinwendend zu den Ideen. An Goethes
Naturwissenschaft zeigt sich, wie für eine Erkenntnis der ideellen Zusammenhänge auch
ein Bewusstseinszustand notwendig ist, der über das gewöhnliche Bewusstsein hinausgeht.
Es müssen neue Geistorgane aufgeschlossen werden (bei Goethe die anschauende
Urteilskraft), die das Ideelle in seiner konstituierenden, wesenhaften Form offenbaren und
nicht als Abstraktion vom Sinnlichen (wie im gewöhnlichen Bewusstsein) erscheinen
lassen. In der Denk-Beobachtung findet Steiner den philosophischen Weg, sich ein
gesteigertes Bewusstsein und gleichzeitig eine Erkenntnis des Denkens selbst zu erwerben.
Zu Bewusstsein kommt in der Regel nur der Denkinhalt, aber nicht die Tätigkeit, die ihn
hervorbringt. Richtet man seine Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit, also auf das Denken
selbst, so erlebt man sich schließlich in einer sich selbst tragenden, d.h. auch von aller
Sinnlichkeit unabhängigen, ideellen Tätigkeit. „Es kommt hierbei nicht darauf an, in
Gedanken zu leben, sondern darauf, die Denktätigkeit zu erleben. Auf diese Weise reißt
sich die Seele los von dem, was sie in ihrem gewöhnlichen Denken vollführt“ (GA
18/604). Damit ist ein anderer Bewusstseinszustand erreicht, von dem aus erst das Denken
seinem Wesen nach (vollständig) erfasst werden kann. In ihm offenbart sich erst der
Zusammenhang mit der Welt als Wahrnehmung.
Steiner versucht mit seiner Erkenntnistheorie auf dem Weg philosophischer Argumentation
zu dem Zusammenhang zwischen Ideellem und Sinnlichen hinzuführen. Die eigentliche
Einholung dieses Zusammenhanges kann aber letztlich nur empirisch über die Erfahrungen
der Denk-Beobachtung erfolgen, die eine neue und höhere Betrachtungsebene erschließt.
Dazu muss die Aufmerksamkeit für das immer weiter gesteigert werden, was im
gewöhnlichen Seelenleben unbewusst bleibt. Steiners Erkenntnistheorie liefert dazu kaum
empirisches Material, sondern beschränkt sich auf die abstrakte philosophische
101
Auswertung seiner eigenen Erlebnisse. Er sieht die Erforschung dieser Grenzorte des
menschlichen Bewusstseins am besten in psychologischen Laboratorien aufgehoben, d.h.
in einer systematisch-experimentellen introspektiven Psychologie (vgl. GA 21/171).68
Steiners Wissenschaftsverständnis erweist sich durchgehend als empirisch. Wissenschaft –
was so verstanden nur ein Sammelbegriff für systematisches menschliches Erkennen mit
hohem Selbstreflexionsniveau ist und damit das menschliche Erkennen überhaupt – erweist
sich als prozesshaft und immer aufgeschlossen gegenüber einer Erweiterung des
Wahrnehmungsinhaltes und der Korrektur erkannter Gesetzmäßigkeiten.
Auch ich halte es mit der Ansicht, daß weder in intellektueller, noch in ethischer
Beziehung je ein letztes Wort gesprochen werden kann, und daß alles
wissenschaftliche Streben ein Entwicklungsprozeß ist. Ich glaube aber gerade durch
meinen Monismus die Bahn für jede Entwicklungsmöglichkeit frei zu erhalten und
durch meine Methode jede starre wissenschaftliche Ruhe auszuschließen. (GA
39/188)
Die Bahn ist auch für eine Erweiterung des Wahrnehmungsinhaltes, die durch erweiterte
Bewusstseinszustände erfolgt, freigehalten. Goethe sprach davon, dass jeder neue
Gegenstand, „wohl beschaut“, ein neues geistiges Organ aufschließen müsse (Goethe 2002
S. 38). Für Steiner führen diese neuen geistigen Organe ebenso wenig zu apodiktischer
Gewissheit, wie sie als unwissenschaftlich abgelehnt werden können. Sie führen lediglich
zu einer Erweiterung des Erfahrungsinhaltes, der wiederum Gegenstand wissenschaftlicher
Untersuchung werden kann.
Die Rechtfertigung und Notwendigkeit für eine solche Erweiterung der Erfahrungen hin
zum Geistigen will er in seiner Erkenntnistheorie geliefert haben. Ob diese Rechtfertigung
gelungen ist, bleibt dem jeweiligen Rezipienten zu beurteilen und wird stark von dessen
Vorerfahrungen und Überzeugungen abhängen.69 Steiners Gedankengebäude zeigt sich im
68
Wie solche Denkexperimente aussehen könnten, die an die Grenzorte des Erkennens führen, zeigt (von
den Ausführungen Steiners abgesehen) z.B. Renatus Ziegler (1995) in seinem Buch Selbstreflexion.
69 „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein
philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns
beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.“ (Fichte 1845/1846, S. 434)
102
kritischen Nachvollzug für den Verfasser dieser Arbeit als stringent. Die Zirkularität, die in
der Argumentation an manchen Stellen auftaucht, erweist sich als notwendiges Moment
eines Letztbegründungsversuches. Unabhängig davon, ob man der Argumentation Steiners
folgen will, liegt in der Denk-Beobachtung eine psychologische Tradition, die in Steiner
einen (wohl weitgehend unbekannten) Vorläufer hat, von dem sich, in einer Anknüpfung
an diese psychologische Tradition, aber in jedem Fall Anregungen holen ließen. In
ähnlicher Weise wie Bühlers Versuche, aber mit dem Fokus auf das sinnlichkeitsfreie
Erleben, könnte Steiners Erkenntnistheorie empirisch-psychologisch überprüft werden.
103
Literaturverzeichnis
Hinweis zu den Zitaten:
Zitate von Rudolf Steiner werden mit der Nummer der Gesamtausgabe (GA) und nach dem
Schrägstrich mit der Seitenzahl des entsprechenden Bandes angegeben.
1.Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe
Herausgegeben von der RUDOLF-STEINER-NACHLASSVERWALTUNG, Dornach seit
1955
Zitiert wird die bibliographische Nummer des Bandes (=GA) und die Seitenzahl des
Bandes; die Seitenzahlen weichen bei den verschiedenen Auflagen manchmal voneinander
ab, deshalb wird die benutzte Ausgabe durch eine in Klammern gesetzte Jahreszahl
angegeben. (Übernommen von Lindenberg,1997)
Neben den Bänden der GA gibt es die Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, die mit
B zitiert werden.
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GA 2: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. 1886.
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Abbildungsverzeichnis:
Abb1.: B 83/84 S. 43
108
Lebenslauf
Persönliche Daten:
Name: Stefan Engelmayer
Geburtsdatum: 11.01.1977
Geburtsort: Wien
Ausbildungen:
Seit WS 2003 Fortsetzung des Studiums der Psychologie, Uni Wien
1998-1999 Studium der Psychologie, Uni Wien
1997 Matura
1991-1997 HTL Schellinggasse, 1010 Wien
1987- 1991 Gymnasium, BG3 Kundmanngasse , 1030 Wien
1983-1987 Volksschule, Erdbergstraße, 1030 Wien