Dokumentation der Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2011 ... · einigen Jahren mit seiner Frau in...

51
Dokumentation der Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2011 im Schloss Schwerin Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Transcript of Dokumentation der Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2011 ... · einigen Jahren mit seiner Frau in...

Dokumentation der Gedenkveranstaltung

am 27. Januar 2011 im Schloss Schwerin

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Herausgeber: Landtag Mecklenburg-Vorpommern

Öff entlichkeitsarbeit

Schloss, Lennéstraße 1, 19053 Schwerin, Telefon (0385) 5 25-0

Herstellung: Drucksache Balewski

Werkstraße 214, 19061 Schwerin

Telefon (0385) 61 38 83

Gedruckt auf 135g Off set

Schwerin im März 2011

Gedenktagfür die Opfer des

Nationalsozialismus

Dokumentation der Gedenkveranstaltung

am 27. Januar 2011

2 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern hat am 27. Januar,

dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, der Millionen Opfer der

nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht.

Als Gastredner der Gedenkveranstaltung berichtete der Holocaust-

Überlebende Dr. Alexej Heistver.

Er wurde 1941 in Kaunas/Litauen geboren, ist Historiker und lebt seit

einigen Jahren mit seiner Frau in Wismar.

Herr Dr. Heistver ist Präsident der Bundesassoziation »Phönix

aus der Asche – Die Überlebenden der Hölle des Holocaust e.V.«,

die in Deutschland lebende Holocaustopfer aus der

ehemaligen Sowjetunion betreut.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 3

Sylvia Bretschneider

Präsidentin des Landtages Mecklenburg-Vorpommern

Sehr geehrter Herr Dr. Heistver,

sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meine sehr geehrten

Damen und Herren Vizepräsidenten und Fraktionsvorsitzende,

Abgeordnete und ehemalige Abgeordnete des Landtages

Mecklenburg-Vorpommern, meine sehr geehrten Damen und Herren

Minister, sehr geehrter Herr Seniorkonsul Stankevich,

sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,

meine sehr geehrten Damen und Herren!

4 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Es ist mir eine ganz besondere Freude zur heutigen Gedenkver-

anstaltung auch Frau Esther Bauer als Gast begrüßen zu dürfen.

Frau Bauer ist wie Herr Dr. Heistver Zeitzeuge und Überlebende des

Holocaust. Ihre Anwesenheit, liebe Frau Bauer, ehrt uns sehr.

Ihnen allen, meine sehr geehrten Damen und Herren, danke ich sehr

herzlich dafür, dass Sie mit uns gemeinsam den Tag des Gedenkens

an die Opfer des Nationalsozialismus begehen. Zugleich heiße ich

nochmals Herrn Dr. Alexej Heistver in unserer Mitte ganz herzlich will-

kommen. Als kleines Kind haben Sie ganz unmittelbar den Völker- und

Massenmord Hitlerdeutschlands miterlebt. Nur knapp sind Sie den

Massenerschießungen der SS in Ihrer Heimat entkommen, mussten

den Sadismus im KZ Kaunas erdulden und haben erst nach dem Ende

der Sowjetunion die Hintergründe zum Tod Ihrer Eltern erfahren kön-

nen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie der Einladung zur heutigen

Gedenkveranstaltung gefolgt sind und vor unserem Auditorium über

Ihre Erlebnisse, Ihre Gedanken und Erinnerungen sprechen werden.

Denn nichts kann die Schrecken der NS-Diktatur emotional und nach-

haltiger vermitteln als die Schilderungen der Opfer, die das Grauen

überlebt haben.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 5

Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Bundespräsident Roman

Herzog den heutigen Gedenktag im Januar 1996 proklamierte, ging es

ihm darum, dass der unfassbare Terror des Hitlerregimes als Mahnung

für Gegenwart und Zukunft stärker und dauerhaft in unser Bewusstsein

tritt.

Er begründete sein Anliegen wie folgt – und ich zitiere:

„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen

zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des

Erinnerns zu fi nden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid

und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein

und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“ Ende des Zitates.

Dieser Gedenktag wird in anderen Ländern bereits seit vielen Jahren

begangen, in Israel zum Beispiel schon seit 1959. 2002 erklärten

die europäischen Bildungsminister auf Initiative des Europarates

den 27.  Januar zum Tag des Gedenkens an den Holocaust und der

Prävention von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Initiative

wurde schließlich von den Vereinten Nationen aufgegriff en, sodass

die Generalversammlung der UNO am 1. November  2005 in

einer Resolution den 27. Januar offi ziell zum „Internationalen

Holocaustgedenktag“ ernannte.

6 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Meine sehr geehrten Damen und Herren, als die sowjetische Armee

am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreite,

befanden sich noch etwa 7.500 kranke und erschöpfte Häftlinge im

Lagerkomplex. Fast fünf Jahre, fünf unendlich lange Jahre, hatte das

Lager bestanden. In dieser Zeit wurden allein dort über eine Million

Menschen ermordet. Auschwitz ist damit der größte Friedhof der

menschlichen Geschichte. Auschwitz, das war die absolute Abkehr von

allen zivilisatorischen Werten und Normen. Der Historiker Dan Diner

spricht von einem „Zivilisationsbruch Auschwitz“. Der Holocaust – so

Diners Hypothese – kontaminiere in seiner präzedenzlosen Singularität

nicht nur die nachfolgende, sondern auch die Zeit davor.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 7

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir gedenken heute, am

66. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, aller Opfer, die in die

Tötungsmaschinerie des nationalsozialistischen Systems gerieten.

Wir besinnen uns aller, die um ihre Würde, ihre Gesundheit, ihr Hab

und Gut, am Ende um ihr Leben gebracht wurden: Juden, Sinti und

Roma, Menschen mit Behinderungen, Zwangsarbeiter, Homosexuelle,

politisch Andersdenkende, Künstler, Wissenschaftler, alle, die als so

genannte Feinde des Nationalsozialismus gebrandmarkt wurden. Wir

erinnern mit dem heutigen Tage ebenso an diejenigen, die gepeinigt,

inhaftiert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder

verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten.

8 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Die Zahl der Opfer, so erschreckend sie ist, zeichnet nur ein unvollkom-

menes Bild des monströsen Völkermords. Das Elend, die Verzweifl ung,

die Angst der Menschen, die vergast, erschossen oder erschlagen

wurden, können wir nur erahnen. Den Opfern wollen wir durch unser

Gedenken die Würde und Anerkennung zuteil werden lassen, die ihnen

ihre barbarischen Mörder genommen haben. Die Auseinandersetzung

mit den Untaten des Nationalsozialismus soll uns helfen, unsere

Vergangenheit anzunehmen.

Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus dient

dazu, die Erinnerung für alle Zeit in unserem kollektiven Gedächtnis

zu verankern. Jede Gegenwart muss sich neu mit ihrer Vergangenheit

in Beziehung setzen. Jedes Gedächtnis bestimmt unseren Umgang

mit gesellschaftlichen Normen und Werten. Deshalb lässt sich das

Gedächtnis einer Gesellschaft nicht als statischer Speicher, sondern

nur als Bestandteil eines dynamischen Prozesses verstehen. Aber die

Erinnerung an den Holocaust darf keinem Prozess des Erkaltens und

Verblassens unterworfen sein, sondern muss aufgrund der diaboli-

schen Ausmaße als eine Jahrzehnte und Jahrhunderte überdauernden

„Zeitinsel“ in unser zivilisatorisches Gedächtnis Eingang fi nden.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 9

Meine sehr geehrten Damen und Herren, nachdem auf deutschem

Boden ein totalitäres System die Würde der Menschen in beispiello-

ser Weise verletzt und letztlich das eigene Land politisch, wirtschaft-

lich und moralisch ruinierte und Millionen Opfer zurückließ, zählt

die Auseinandersetzung mit dem Holocaust für die Bundesrepublik

Deutschland gleichsam zu den Grundlagen ihrer off enen

Gesellschaftsordnung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der 27. Januar ist ein Tag des

Erinnerns. Erinnern heißt – so formulierte es Bundespräsident Richard

von Weizsäcker in seiner Rede anlässlich des 40. Jahrestages des Ende

des Zweiten Weltkrieges –, eines Geschehens so ehrlich und so rein zu

gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.

Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit. Indem

wir uns klar und off en unserer Vergangenheit stellen, vergegenwär-

tigen wir uns, wie schnell und auch skrupellos die Gräueltaten des

20. Jahrhunderts heutzutage verklärt, geleugnet oder verharmlost wer-

den, wie leicht die Ideologie der Täter von einst wieder neue Anhänger

fi ndet und schleichend in unserer Gesellschaft salonfähig zu werden

droht.

10 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Es ist für mich beschämend, das es heute noch, gerade auch hier in

Mecklenburg-Vorpommern, wieder Rechtsextremisten gibt, die sym-

bolhaft für diese Leugnung unserer Vergangenheit stehen.

Wir Demokraten setzen uns seit dem Jahre 2006 hier im Landtag mit

den Feinden der Demokratie auseinander. Wir haben in der höchsten

Vertretung unseres demokratischen Bundeslandes wieder diejenigen

mit dabei, die diese Institution und die gesamte freiheitlich-demokra-

tische Grundordnung, unser System der Grund- und Menschenrechte

ablehnen.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 11

Auch in den Jahren vor der Machtübernahme durch die National-

sozialisten im Jahre 1933 gab es auf allen Ebenen aufrechte Bürger,

die sich den Predigern autoritären nationalen Hasses entgegengestellt

haben. Sie wurden im so genannten 3. Reich verfolgt, aus ihren Berufen

gedrängt, durch willkürliche Strafmaßnahmen eingeschüchtert und

oft in Konzentrationslager verbracht.

Ein besonders prominentes Beispiel ist Johannes Stelling, zu dessen

Ehren die SPD-Landtagsfraktion seit einigen Jahren regelmäßig einen

Preis vergibt. Johannes Stelling war in Mecklenburg-Schwerin Minister

und Ministerpräsident. Am 21. Juni 1933 wurde er von SA-Männern

12 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

in seiner Wohnung überfallen, verschleppt und misshandelt. Er starb

noch in der Nacht zum 22. Juni. Seine Leiche wurde erst zwei Wochen

später aus der Dahme bei Grünau geborgen.

Aber Johannes Stelling ist kein Einzelfall. Am 21. Juni 1933 fanden

in ganz Deutschland Massenverhaftungen sozialdemokratischer

Funktionäre statt. Auch in dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-

Vorpommern wurden Politiker inhaftiert und eingeschüchtert, miss-

handelt und bedroht.

Der damalige Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion von Mecklenburg-

Strelitz Karl Bartosch etwa wurde noch 1933 zur „Umerziehung“ in

das KZ Sachsenhausen eingewiesen und starb 1936. Der frühere

Abgeordnete Karl Paul Massel war Parteisekretär der KPD für Köslin und

wurde bereits im März 1933 in das KZ Hammerstein verbracht und spä-

ter in das KZ Lichtenburg verlegt. Er hat in dieser Zeit sein Gehör und

sämtliche Zähne des Oberkiefers verloren.

Die jeweiligen Anlässe für diese Verfolgungsmaßnahmen mögen uns

heute vielfach belanglos vorkommen. Auf dem Gut des früheren DNVP-

Abgeordneten Hans-Joachim von Rohr etwa starben zwei sowjetische

Kriegsgefangene. Allein für seine Teilnahme an deren christlichen

Begräbnis wurde er zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 13

wurde allerdings gegen ausdrückliche Weisung Adolf Hitlers in zweiter

Instanz aufgehoben, was im Übrigen zeigt, dass es auch Spielräume

unter der Nazi-Herrschaft gab, wenn man nur mutig genug war, sie zu

nutzen.

An solche Schicksale früherer Abgeordneter müssen wir gerade

hier im Landtag erinnern. Extremistische Gruppierungen versu-

chen in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Mit einer schon erschrecken-

den Unverschämtheit präsentieren sich Extremisten bei Festen, in

Bürgerinitiativen, Elternversammlungen in Schulen und eben auch in

den Gemeindevertretungen, Kreistagen und letztlich im Landtag. Sie

machen kein Hehl aus ihrer menschenverachtenden Gesinnung und

bekennen sich in zunehmenden Maße off en und ohne Scheu zum

Nationalsozialismus.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Landtag von

Mecklenburg-Vorpommern hat sich mit dem Einzug der NPD im Herbst

2006 deutlich gegen Rechtsextremismus positioniert. In einer gemein-

samen Erklärung sprachen sich die Vorsitzenden der demokratischen

Fraktionen von SPD, CDU, DIE LINKE und FDP gegen jegliche politische

Gewalt und gegen Fremdenfeindlichkeit aus. Zugleich betonten sie

die Notwendigkeit der Zurückgewinnung von Wählern rechtsextremer

Gruppierungen. Gemeinsam nutzen die demokratischen Fraktionen

14 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

seitdem alle parlamentarischen Möglichkeiten, um die Feinde unserer

Gesellschaft in ihre Schranken zu weisen. Denn Rechtsextremismus,

Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt schaden der

Demokratie und gefährden die Grundlagen unserer Gesellschaft.

Gleichwohl kann es nicht die Aufgabe eines Landesparlamentes

allein sein, dem Rechtsextremismus die Stirn zu bieten. Vielmehr ist

es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich ständig mit unserer

deutschen Vergangenheit und ihren Spuren bis in die Gegenwart

auseinanderzusetzen. Wir alle gemeinsam müssen ausländerfeindli-

che, rechtsextreme und antisemitische Gedanken und Gewalt off en

und couragiert abwehren. Eltern müssen ihren Kindern Toleranz und

Mitmenschlichkeit vorleben. Schulen und Einrichtungen der politi-

schen Bildung müssen mehr als bisher die Grundlagen und Werte der

Demokratie und auch die historische Wirklichkeit, die Ursachen und

Folgen von Menschenverachtung und Nationalsozialismus vermitteln.

Niemand darf wegsehen, wenn Gewalt gegen Menschen verübt wird,

egal ob der Anlass deren Hautfarbe, deren religiöse und politische

Überzeugung oder deren Behinderung ist.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 15

Wir müssen uns in Handeln und Denken bemühen, die Einzigartigkeit

eines jeden Lebens und die unveräußerliche Würde jedes Menschen

zu verinnerlichen und das Gebot der Hilfe und Mitmenschlichkeit mit

Leben erfüllen. Es ist an uns, immer aufzumerken, aufzuschreien, wenn

Unrecht geschieht und Vorurteile das Bewusstsein der Menschen prä-

gen und ihr Handeln zu bestimmen drohen. Unsere demokratische

Gesellschaft verträgt keine Gleichgültigkeit! Wir müssen unsere Werte

immer wieder aufs Neue durch das verantwortungsbewusste Handeln

eines jeden von uns stärken und erneuern.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, bevor ich jetzt Herrn

Dr. Alexej Heistver an das Rednerpult bitte, bitte ich Sie, sich von Ihren

Plätzen zu erheben. In einer Schweigeminute wollen wir aller Opfer der

rassistischen, nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedenken. 

16 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Schweigeminute zum Gedenken

an die Opfer des Nationalsozialismus

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 17

Dr. Alexej Heistver

Präsident der Bundesassoziation »Phönix aus der Asche –

Die Überlebenden aus der Hölle des Holocaust e.V.«

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren!

Meinen Bericht beginne ich mit einem Zitat aus der Rede von Professor

Elie Wiesel, die er am 27. Januar 2000 im deutschen Bundestag hielt.

18 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

„Mein Volk hatte zahllose Feinde, seitdem es auf der Weltbühne auftrat.

Aber keiner hat uns so tief verwundet wie Hitler-Deutschland. Ich sage

es unter Schmerzen: Kein Volk, keine Ideologie, kein System hat je in

so kurzer Zeit ein solches Ausmaß an Brutalität, Leid und Demütigung

über ein Volk gebracht wie das Ihrige über uns [...] Die bis ins Kleinste

geplante Endlösung war geradezu eschatologisch; ihr Ziel war die

Vertilgung auch noch des allerletzten Juden vom Antlitz der Erde [...]

Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz Teil Ihrer Geschichte sein, so

wie es Teil der meinen sein wird.“ Ende des Zitas.

Heute, 65 Jahre nach dem 2. Weltkrieg, besuchen jährlich und

besonders am Gedenktag des Holocaust tausende Menschen aus

allen Ländern, auch aus den deutschen Bundesländern, Auschwitz,

Dachau, Treblinka, Buchenwald und viele andere Orte, um es zu ver-

stehen, wie Menschen anderen Menschen millionenfachen Mord

bereiten konnten. Viele KZ waren unmittelbar in Deutschland. Allein

im Bundesland Hessen gab es 532 Konzentrations-, Zwangsarbeits-,

Erziehungs-, Kriegsgefangenen-, Justizstraf- und Nebenlager. Die

meisten Konzentrationslager aber waren von Deutschland weit ent-

fernt. Hier begingen sie die Verbrechen gegen politische Gegner des

Regimes, gegen Kriegsgefangene, gegen die eigenen Landsmänner

und Ausländer. Alles war ein bürokratisch organisiertes Massenmorden,

einschließlich der so genannten „Endlösung der Judenfrage“.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 19

Noch weiter weg waren die Orte im Osten, auf dem besetzten

Territorium der Sowjetunion, wo die Gräueltaten der Wehrmacht

und SS-Einheiten besonders gegen die jüdische Bevölkerung ihren

Höhepunkt erreicht hatten. Im Osten wurde die „Endlösung“ nicht so

„bürokratisch“ durchgeführt und somit den Tätern viele Freiheiten für

mörderische Fantasien eingeräumt, um hier alle Juden kaltblütig zu

vernichten.

Und das wurde auch fast geschaff t: Nur weniger als ein Prozent

der drei  Millionen der hiesigen jüdischen Bevölkerung hat bis zum

Kriegsende überlebt. An jedem Ort vernichteten die Nazis die

gesamte jüdische Bevölkerung, die ihnen in die Hände fi el. Alle –

ohne Ausnahme – wurden zur Hinrichtung geführt. Kinder, die noch

nicht laufen konnten, Gelähmte und Kranke sowie hinfällige Alte,

die sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen konnten, wurden in

Bettlaken zur Hinrichtungsstätte geschleppt oder auf Lastwagen und

Fuhrwerken dorthin transportiert.

Heute versucht unsere „Vereinigung der überlebenden Opfer des

Holocaust – jüdischen Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion“

im Rahmen der Projekte „Die letzten Zeugen warnen!“ und „Wissen

statt vergessen“ diese Seite unserer gemeinsamen Geschichte für

die gegenwärtige Generation zu öff nen und zu bezeugen. Die

20 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Erinnerungen der Überlebenden von ihrem sogenannten „Leben“

während des Krieges sollen den jungen Leuten helfen, die unmensch-

liche Natur des Nazismus besser zu verstehen.

Die meisten Opfer, die bis zur Befreiung überlebt hatten, sind schon

aus dem Leben gegangen. Ihre Erinnerungen wurden nur teilweise

im von Ilja Ehrenburg und Wasilij Großmann herausgegebenen

Schwarzbuch – jetzt in deutscher Ausgabe – gesammelt. Hier fi ndet sich

die Beschreibung der wenigen überlebenden Menschen, die unmittel-

bare Zeitzeugen der Massenmorde waren: in der Ukraine – in Babi Jar

bei Kiew – eine Viertel Millionen Opfer, bei den tausendfachen Morden

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 21

in Berditschew, Charkow, Odessa, Lwow, Krim; in Weißrussland  – in

Minsk, Witebsk, und in vielen Hunderten großen und kleinen Orten auf

dem ganzen besetzten Territorium.

Jetzt können wir die Erinnerungen nur noch von den Leuten erhal-

ten, die in den Kriegsjahren sehr jung oder halbwüchsig waren. Wir

sammeln ihre Erinnerungen, in denen sie von ihrer geraubten Kindheit

erzählen. Zurzeit haben wir schon mehr als 70 Zeitzeugenberichte

gesammelt.

22 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Maya Schulman, die während des Kriegsbeginns 15 Jahre alt war und

mit der Tante in Odessa wohnte, erinnert sich. Nur kurze Zeit nach

dem Einmarsch der Deutschen wurde der Befehl erlassen, dass die

jüdische Bevölkerung in Odessa an ihre Kleidung gut sichtbar den

gelben Stern anzunähen hatte. Zu einer bestimmten Zeit mussten

sich die Sternträger beim angegebenen Sammelpunkt einfi nden. Die

Anweisungen zu ignorieren, bedeutete die Todesstrafe. Die Tante von

Maya verbot ihr, zur Bettenfabrik zu gehen. Von dort wurden alle Juden

ins Ghetto gesperrt. Sie sagte zu ihr: „Du siehst nicht jüdisch aus, bleib

zu Hause und warte auf mich. Ich gehe selbst dorthin. Ich hoff e, es

dauert nicht so lange.“

Und wirklich, es dauerte nicht lange. In einigen Tagen waren alle

Juden im Ghetto erschossen. Aber zuerst sollten die Häftlinge für

sich eine große Grube graben, danach sich nackt ausziehen und alle

Wertsachen abgeben. Bei den Frauen wurden die Haare abgeschnit-

ten und in Säcken gesammelt. Den Leuten mit Goldzähnen wurden

an Ort und Stelle mit Schlosserzangen die Zähne herausgebrochen.

Danach begannen die Massenerschießungen.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 23

Das Schicksal von Mayas Tante und den vielen anderen jüdischen

Leuten aus Odessa erzählte dem Mädchen eine Bekannte, die diese

„Aktion“ durch ein Wunder überlebte und unter den Leichen bis zur

Nacht lag ...

Jetzt wohnt Maya Schulman in Leipzig. Sie ist schwerstbehindert und

sitzt im Rollstuhl. Die Alpträume wegen des psychischen Traumas ver-

folgen sie ihr ganzes Leben. Auch nach dem Krieg wurde sie von den

sowjetischen Behörden viele Jahre verfolgt.

Im Herbst 1941 überließen die deutschen Machthaber die Stadt

Odessa zur rumänischen Okkupation und Verwaltung. Dazu auch das

ganze Territorium zwischen den beiden Flüssen Dnjestr und Bug, das

sogenannte „Transnistrien“.

Kurz darauf, im Oktober 1941, begannen die Rumänen, auf Befehl des

Marschalls Antonescu, mit der systematischen Aussiedlung der Juden

aus der süd-östlichen Ukraine, aus dem nördlichen Moldawien, der

Bukowina, aus Bessarabien und Rumänien. Es entstanden 228 Ghettos,

in die alle Juden hineingetrieben wurden und wo mehr als 420.000

Leute ermordet wurden.

24 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Vom Leben in einem Ghetto in Transnistrien schreibt der deutsche

Schriftsteller Edgar Hilsenrath in seinem Roman „Nacht“. In einer

Rezension auf diesen Roman schrieb „Der Spiegel“:

„In Dantes Inferno geht es nicht höllischer zu. Zum Wolf gewordene

Menschen schlagen sich für eine verfaulte Kartoff el, kämpfen brutal

und gerissen um einen elenden Schlafplatz. Ein Jude aus Deutschland

beschreibt so, wie er als Halbwüchsiger im Zweiten Weltkrieg in einem

rumänischen Ghetto überlebt hat.“

Für die Arbeit eines Häftlings kassierten die größten Konzerne, wie

„I.G.Farbenindustrie“, Siemens, Krupp, Thyssen, Flick und viele andere

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 25

Firmen, auch Organisationen und Einheiten von SS und SD, 1.631

Reichsmark pro Kopf. Außerdem hatten sie riesige Gewinne aus dem

beschlagnahmten Vermögen der zur Vernichtung bestimmten Juden.

Die täglichen Unterhaltskosten eines Häftlings im KZ betrugen 70

Pfennig pro Kopf und der reine Gewinn war 6 Reichsmark.

Hierzu möchte ich bemerken, dass die kärglichen Entschädigungs-

leistungen im Rahmen des Vertrages von 1997 zwischen der

Bundesregierung und der Claims Conference nur denjenigen zuer-

kannt werden, die mindestens sechs Monate im Konzentrationslager

und 18 Monate im Ghetto oder in Verstecken auf dem von der

26 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

deutschen Wehrmacht okkupierten Territorium waren. Da die meisten

Ghettos weniger als 18 Monate bestanden und ihre Insassen sehr bald

vernichtet worden waren, ist nur eine kleine Handvoll der Geretteten

nicht leer ausgegangen.

Ich habe schon gesagt, dass wir zurzeit mehr als 70 Erinnerungen

der ehemaligen minderjährigen Häftlinge der faschistischen KZs und

Ghettos haben. Für sie ist der Holocaust keine Geschichte, sondern ein

Teil ihrer Biographie.

Es ist auch ein Teil meiner Biographie. Ich wurde im Jahre 1941 im

Ghetto Kaunas in Litauen geboren. Ab 1943 wurde das Ghetto in ein

Konzentrationslager umgewandelt. In meiner Geburtsurkunde, die

mir nach dem Krieg ausgestellt wurde, steht nur das Geburtsjahr und

keine Angaben über den Tag und Monat. Meine Erinnerungen sind

sehr fragmentarisch und lückenhaft.

Ich weiß nicht genau, wann und wie es geschah, dass ich mich mit

einer Gruppe anderer Kinder in einem Block im Ghetto Kaunas befun-

den habe. Hier wurden die Waisen gesammelt, deren Eltern schon

ermordet waren. Wir hatten keine Ahnung, wozu wir da sind und was

auf uns wartet.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 27

Viele Jahre nach dem Krieg erzählte mir eine 80-jährige Frau in Kaunas,

die in dem Block als Putzfrau gearbeitet hatte, dass dieser Block unter

der Kontrolle eines Militärarztes war. Dieser relativ junge Arzt mit sei-

nen Kollegen stellte in Versuchen fest, wie die kleinen Kinder verschie-

dene Infektionsinjektionen oder sogar Amputationen ertragen kön-

nen. Die wenigen Kinder, die wie durch ein Wunder die sogenannten

Operationen und Spritzen-Experimente überlebten, brauchten nach

dem Krieg viele Jahre zu ihrer Heilung.

Hier, in diesem Block, war ich die letzten vier Monate von vier Jahren im

Kaunaer Konzentrationslager. Hier wurde ich geboren und hier sollte

ich sterben. Schmerz, Hunger und Angst – das waren die stärksten

und ständigen Gefühle, mit denen wir Kinder im Konzentrationslager

Tag und Nacht gelebt haben. Wen die Ärzte nicht mehr brauchten,

den sahen wir kurz nach der letzten Blutabnahme oder nach der

Untersuchungsspritze nie wieder ...

Jeder, der am Morgen zur Operationsabteilung gebracht werden

musste, bekam vorher kein Abendbrot. Es war für alle ganz klar: mor-

gen wartet auf ihn der Operationsblock. Ich erinnere mich, wie wir die

Reste von unserem Abendbrot unter den Kissen zu verstecken ver-

suchten, um sie am Morgen zu zeigen, um sagen zu können, dass wir

zur Operation nicht gehen könnten. Obwohl wir immer sehr hungrig

28 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

waren, war unsere Angst vor diesen ärztlichen Experimenten noch

stärker als der Hunger. Die alten Leute können mich verstehen: Bei

Hunger kann der Mensch sich nicht gedulden.

Nach dem Krieg, als ich aus dem Waisenhaus adoptiert wurde, litt

ich an einer groben Rachenverletzung durch die Entfernung des

Gaumenzäpfchens. Fast drei Jahre danach konnte ich wegen dieser

Amputation kein Wort sagen und wurde auch später als andere Kinder

eingeschult.

Vor dem Krieg, laut offi ziellen Angaben, lebten in Kaunas etwa 40 000

Juden – ein Viertel der Einwohnerschaft der damaligen litauischen

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 29

Hauptstadt. Nur wenigen von ihnen gelang die Flucht, bevor die Nazi-

Truppen am 24. Juni 1941 die Stadt besetzten. Als die Rote Armee im

Juli 1944 die faschistische Besatzungsmacht aus Litauen wieder ver-

trieb, hatten an verschiedenen Orten in Europa noch etwa 2.000 der

Juden aus Kaunas überlebt. Der faschistischen „Neuordnung“ waren

38.000 Juden aus Kaunas zum Opfer gefallen.

30 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Die Autoren des Buches „Hessen hinter Stacheldraht“ schreiben klar

und ehrlich:

„Was hier geschah, das können wir nicht so leicht verdrängen oder

von uns wegschieben, wie es nach dem Kriege überall üblich

war. Theologen sprachen damals gern von der ,Dämonie des

Nationalsozialismus‘, Politiker glaubten mit dem Wort ,Verstrickung‘

ihre Eigenverantwortung verringern zu können. Die Wahrheit sieht

anders aus. Sie ist konkret. Nicht ein ,anonymes Verhängnis hat damals

gewaltet‘, sondern Männer und Frauen haben sich im Namen einer

rassistischen Ideologie und eines primitiven Freund-Feind-Denkens in

den Dienst der Menschenverfolgung gestellt. Die Mörder und Folterer

und Quäler waren Menschen unseres Volkes, Menschen wie ich und

du. Andere hätten sehen können, was geschah, oder doch erfahren

müssen, was gefl üstert wurde. Aber es war natürlich leichter, wegzu-

blicken und wegzuhören. Es lebte sich gefahrloser, wenn man vorgab,

nichts zu wissen, oder wenn man wirklich alles vergaß. So war es wäh-

rend der Nazizeit, so danach.“

Der berühmte Historiker Simon Wiesenthal machte nach seiner

Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen im Mai 1945 die

„Suche nach Gerechtigkeit für Millionen unschuldig Ermordeter“ zu

seiner Lebensaufgabe. Dadurch wurde er zu einem Zeitzeugen des

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 31

Holocaust, der weltweit Tätern aus der Zeit des Nationalsozialismus

nachforschte, um sie einem juristischen Verfahren zuzuführen.

Er schrieb im Jahre 1996: „Wir Überlebende, wir Zeitzeugen, werden

immer weniger, daher ist es unsere unabdingbare Verpfl ichtung, unser

Wissen und die Erkenntnisse aus unseren Erfahrungen – solange wir

die Kraft dazu haben – nicht mit uns sterben zu lassen. Wir müssen sie

weitergeben, wir müssen den nachfolgenden Generationen schildern,

was Menschen anderen Menschen antun können.“

Wir versuchen mit zwei unserer Projekte – „Letzte Zeuge warnen!“ und

„Wissen statt Vergessen“ – zu zeigen, dass die Opfer konkrete Leute

waren, mit ihren eigenen Kinder und Eltern. Hätten sie weiter leben

können, würden sie, genau wie Sie, ihre Felder bestellt, Häuser gebaut,

Maschinen konstruiert oder Bücher geschrieben haben ... Doch sie hat-

ten laut der NS-Gesetze kein Recht darauf, ihr Leben galt als unwert.

Wir möchten für Schüler ein Lesebuch und einen Videofi lm vorbe-

reiten, in denen die Orte der Geschehnisse und die Geschichten der

Überlebenden gezeigt werden. Das soll eine lebendige Geschichte

sein. Leider muss ich bemerken, dass es für dieses Projekt bis jetzt keine

fi nanzielle Unterstützung gibt.

32 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Heute fragt sich der denkende Mensch: Muss ich mich schämen,

Deutscher zu sein? Sind deutsche Jugendliche heute verantwortlich

für die Verbrechen, die ihre Urgroßeltern und Großeltern begangen

haben? Sind wir für die Versäumnisse der Großeltern und Eltern bei der

Verfolgung dieser Verbrechen verantwortlich? Wir wollen mit unseren

Projekten auf diese Fragen antworten. Ich und meine Mitbrüder und

Mitschwestern glauben: NEIN.

Elie Wiesel sagt:

„Der Gegensatz von Liebe ist nicht Hass.

Der Gegensatz von Hoff nung ist nicht Verzweifl ung.

Der Gegensatz von geistiger Gesundheit und von gesunden

Menschenverstand ist nicht Wahnsinn.

Der Gegensatz von Erinnerung heißt nicht Vergessen,

sondern es ist nichts anderes als die GLEICHGÜLTIGKEIT.“

Dieses ist heute aktueller in Deutschland und besonders in unserem

Bundesland. Viele Leute wissen von dem Dorf Jamel in der Nähe von

Wismar. Dieses Dorf macht seit Jahren durch Neonazis mit Negativ-

Schlagzeilen auf sich aufmerksam. Eine Familie blieb in diesem Dorf

wohnen, während andere wegzogen. Es ist widernatürlich im heuti-

gen demokratischen Staat zu sehen, wie Nachbarn und Besucher mit

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 33

„Heil Hitler!“ begrüßt werden. Für die Langmut der deutschen Politik

und der Behörden gegenüber den Neonazis habe ich kein Verständnis.

Soll das Dorf Jamel als Muster der baldigen Zukunft für das ganzes

Deutschland werden?

Ich glaube, dass unsere junge Generation die Zukunft Deutschlands

ganz anders sehen will. In das Besucherbuch im „Haus der

Wannseekonferenz“ schrieb eine 15-jährige Schülerin aus Berlin: „Wir

können nichts für unsere unmenschlichen Vorfahren, aber wir können

was dafür, wie wir in Zukunft mit anderen Menschen leben wollen.“

Diese Worte gleichen einer anderen Botschaft eines Mädchens, das

auch 15 Jahre alt war und auf einem Zettel vor seinem Tod in Auschwitz

schrieb: „Einige müssen überleben – ihnen allen zum Trotz. Um eines

Tages die Wahrheit zu sagen.“

Zum Schluss möchte ich im Namen der Mitglieder unserer Vereinigung

allen demokratischen Fraktionen des Landtages und der Regierung

des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern für ihre Unterstützung

unseres Aufrufes aus dem Jahre 2009 danken. Mecklenburg-

Vorpommern ist das einzige Bundesland, das sich mit der Initiative für

die offi zielle Anerkennung der Holocaust-Überlebenden als „Verfolgte

des NS-Regimes“ und für die Gewährung einer Rente, statt einer

Grundsicherung, eingesetzt hat. Es ist schwer zu sagen, wie viele von

34 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

uns die endgültige Entscheidung von Berlin noch erleben werden. Das

ist ein Fakt.

Mit einem Zitat von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker will

ich meinen Vortrag schließen.

„Die Geschichte wird nicht allein bestimmt von Macht und Gewalt, von

Leid und Verfolgung, sondern von Menschen, die über Abgründe hin-

weg die Hände ausstrecken können.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 35

Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar

nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen

machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird

blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern

will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(lang anhaltender Beifall)

36 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Die künstlerische Umrahmung der Gedenkstunde gestalteten

Preisträger des internationalen Wettbewerbs „Verfemte Musik“

Schwerin 2010. Leona Rötzsch (Querfl öte), Anne Haasch (Gitarre),

Sabina Egea Sobral (Saxophon) und Jung-Youn Kum (Klavier) spielten

Werke von Paul Hindemith, Alexandre Tansman und Günter Raphael.

Der Landtag dankt dem Verein Jeunesses Musicales, Landesverband

Mecklenburg-Vorpommern e.V., sowie Herrn Volker Ahmels, Leiter des

Konservatoriums Schwerin und des Zentrums für Verfemte Musik an

der Hochschule für Musik und Theater in Rostock, für die Unterstützung.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 37

MUSIK

Paul Hindemith entstammte einer schlesischen Arbeiterfamilie,

wurde jedoch seit frühester Kindheit musikalisch unterrichtet.

Er besuchte das Hoch´sche Konservatorium, wo er Violine und

Komposition studierte, und war 1915-1923 Konzertmeister

an der Frankfurter Opernbühne. Im Amar-Quartett spielte er

zunächst die 2. Violine, dann die Bratsche. Bereits Anfang der 20er

Jahre wurden mehrere seiner Werke bei den Donaueschinger

Leona Rötzsch, Querfl öte

Paul Hindemith (1895 - 1963)

Acht Stücke für Flöte allein

38 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Musiktagen uraufgeführt, deren künstlerischer Leiter er von

1923-1930 war. In dieser Zeit konnte er sich als einer der bedeu-

tendsten, aber auch umstrittensten Komponisten Deutschlands

etablieren, und die Berliner Hochschule für Musik berief ihn 1927

zum Professor für Kompositionen. In den 30er Jahren verlagerte

Hindemith seine musikalischen Aktivitäten zunehmend ins

europäische Ausland, Konzertreisen führten ihn auch in die USA.

Von der NSDAP wurde seine Arbeit mehr und mehr behindert.

NS-Anhänger bezweifelten nicht das musikalische Können von

Hindemith, agitierten aber gegen seine «untragbare Gesinnung».

Auch die von ihm gewählten Textvorlagen für seine Werke erreg-

ten Ablehnung. 1934 erhielten seine Werke ein Sendeverbot im

deutschen Rundfunk.

Propagandaminister Joseph Goebbels bezeichnete ihn im glei-

chen Jahr öff entlich als «atonalen Geräuschemacher ». Ab 1936

wurden die Auff ührungen seiner Werke verboten, und 1938

wurde in der Ausstellung «Entartete Musik » ausdrücklich auf die

jüdische Abstammung seiner Ehefrau, Gertrud Rottenberg, die

er 1924 geheiratet hatte, hingewiesen. Mit ihr ging er 1938 in die

Schweiz ins Exil und 1940 weiter in die USA. An der Universität

Yale nahm Hindemith eine Lehrtätigkeit auf. Ende der 40er Jahre

machte er weltweit Karriere als Dirigent. 1953 siedelte er wieder

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 39

zurück in die Schweiz und lehrte abwechselnd mit Yale auch in

Zürich. 1957 beendete er seine Lehrtätigkeit und ging seinen

eigenen Weg als Komponist und Dirigent, bis er 1963 in Frankfurt

am Main an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung starb.

Die 1983 in Dresden geborene Flötistin Leona Rötzsch absol-

vierte ihr Musikpädagogikstudium an der Musikhochschule in

Nürnberg in den Fächern Querfl öte und Traversfl öte (Alte Musik).

Dem folgte ein Ergänzungsstudium an der Musikhochschule

Weimar bei Prof. Wally Hase, welches sie im Juli 2010 mit dem

Künstlerischen Diplom im Fach Querfl öte abschloss. Zahlreiche

Meisterkurse bei Prof. Felix Renggli, Robert Aitken, Carin Levine,

Jeanne Baxtresser und Paul Meisen vertiefen ihre künstlerische

Ausbildung. Für die Spielzeit 2008/2009 war sie Praktikantin bei

den Nürnberger Symphonikern. Im September 2010 gewann

sie einen Sonderpreis beim Wettbewerb »Verfemte Musik« in

Schwerin.

40 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Alexandre Tansman wurde in Lodz geborgen. Tansman schrieb

bereits in den 30er Jahren die Filmmusik zum französischen

Kinostreifen «Poil de Carotte» von Julien Duvivier. Nach seiner

Ankunft in den USA 1941 hoff te er, seine Familie durch Aufträge

aus der Filmbranche ernähren zu können. Gut ein Jahr später

hatte er das Glück, erneut mit Duvivier zusammenzuarbeiten und

die Hollywood-Produktion «Flesh & Fantasy» zu vertonen. Drei

MUSIK

Anne Haasch, Gitarre

ALEXANDRE TANSMAN (1897–1986)

Variations sur un thème de Scriabine

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 41

Jahre später wurde er für die Filmmusik zu «Paris Underground»

für den Oscar nominiert. Danach folgten jedoch nur drei wei-

tere Filmmusiken. Das Komponieren für die Filmbranche war

kein leichtes Geschäft. Uneinigkeiten zwischen Komponisten

und Produzenten waren keine Seltenheit, da letztere meistens

musikalisch weniger versiert waren. Tansman schreibt in sei-

nen «Rückblicken » über David Selznick, einen der wichtigsten

Filmproduzenten der Welt damals: «Er war sehr sympathisch, aber

ungebildet wie ein Bauer. Er wollte, dass ich als Hauptthema ein

Thema von einem Hollywood-Chansonnier benutze, was er mir

dann zeigte. Die Melodie war von einer fürchterlichen Plattheit,

und ich weigerte mich kategorisch, diese Melodie auch nur in

irgendeiner Form in meine Musik zu integrieren. » Tansman starb

1986 in Paris.

Anne Haasch wurde 1987 in Teterow geboren. Bereits im Alter

von sieben Jahren erhielt sie ihren ersten Unterricht im Fach

Gitarre. Eine Ausbildung in den Fächern Klavier und Saxophon,

mit dem sie lange Zeit in einer Jazzband mitwirkte, folgte.

Die Gitarristin war vielfache Preisträgerin beim Wettbewerb

»Jugend musiziert« in den Kategorien Gitarre solo, Gitarre

Kammermusik und Alte Musik – sowohl auf Landes- als auch

auf Bundesebene. Entscheidend war in diesen frühen Jahren

42 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

besonders die Bekanntschaft und Förderung durch den öster-

reichischen Komponisten Dietmar Ungerank, der ihre musikali-

sche Entwicklung bis heute entscheidend mitgeprägt hat. Seit

2006 studiert Anne Haasch an der Hochschule für Musik »Franz

Liszt« in Weimar in der Klasse von Prof. Thomas Müller-Pering.

Zahlreiche Meisterkurse im In- und Ausland gaben ihr dabei

wichtige Impulse für ihre musikalische Entwicklung – u. a. bei

Carlo Marchione und Hopkinson Smith. Im Frühjahr 2010 spielte

sie das Eröff nungskonzert zum Frankfurter Gitarrenfrühling in

Dr. Hoch´s Konservatorium. Im Winter 2010 stand ein Programm

mit Komponisten an, und im September 2010 gewann sie den

Sonderpreis der Hans-Kauff -Stiftung bei dem Wettbewerb

»Verfemte Musik« in Schwerin.

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 43

MUSIKGÜNTER RAPHAEL (1903-1960)

Sonate für Altsaxophon und Klavier op. 74 a

Der am 30. April 1903 in Berlin geborene Günter Raphael

entstammte einer evangelischen Familie. Sein Vater war

jüdischer Herkunft und galt somit als «Halbjude». 1922 bis

1925 studierte Raphael an der Berliner Musikhochschule

u. a. bei Robert Kahn und Max Trapp. Erste große Erfolge

feierte Raphael mit seiner Sinfonie Nr. 1, die 1926 im Leipziger

Gewandhaus unter Leitung von Wilhelm Furtwängler uraufgeführt

Sabina Egea Sobral, Saxophon und Jung-Youn Kum, Klavier

44 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

wurde. 1926 erhielt Raphael eine feste Anstellung als Theorie- und

Kompositionslehrer am Leipziger Konservatorium. 1933 wurde er

sogar in der Fachpresse als Wegweiser für die Zukunft der deut-

schen Musik gewürdigt. 1934 verlor Raphael seine Lehrposition.

1939 ereilte ihn sein endgültiges Berufsverbot als Komponist

und Klavierpädagoge. Emigrationsversuche nach England oder

Skandinavien scheiterten. Trotz der extrem schwierigen Jahre

der Ausgrenzung und Verfolgung komponierte Raphael sehr

viel. Später äußerte er sich über die Zeit der Verfolgung, dass ihn

die Verfolgung eigenständiger als Komponist hat werden lassen.

Nach dem Krieg gelang es ihm, seine Lehrtätigkeit erfolgreich

fortzuführen. Zwei Jahre vor seinem Tod wurde er als Professor

an die Staatliche Musikhochschule Köln berufen.

Sabina Egea Sobral ist 1982 in Buenos Aires, Argentinien, gebo-

ren. Ihren ersten Saxophonunterricht erhielt sie im Alter von

neun  Jahren im Conservatorio de Marón »Alberto Ginastera«.

Der Ausbildung dort folgte das Studium an gleicher Stelle. Von

1996 bis 2002 war sie Mitglied verschiedener Musikkapellen. Im

Jahr  2002 bekam sie ein Engagement beim Jubiläumskonzert

des Symphonieorchesters von Salta/Argentinien. Zeitgleich

wurde sie erste Preisträgerin bei der Nationalauswahl unter

jugendlichen Klassikinterpreten und erhielt den zweiten Preis

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 45

im ersten Wettbewerb für Kammermusik der BSFFyL 2002 im

»Salón Dorado« des Teatro Colón. Abschließend absolvierte sie

die Schulmusikerprüfung im Hauptfach Saxophon und bestand

ihr Pädagogikdiplom mit Auszeichnung. In ihrer Studienzeit

erhielt sie Unterricht von renommierten Professoren, u. a. Claude

Delangle und Christian Hougaard. Im Oktober 2003 begann sie

ihr künstlerisches Studium an der UdK Berlin unter der Leitung

von J. Ernst und schloss es im Jahr 2006 mit dem Diplom ab.

Seit April 2006 ist sie Saxophonistin an der »Staatskapelle

Weimar« und hat im Oktober 2007 einen Masterstudiengang

im Fach Kammermusik an der Hochschule für Musik in Weimar

begonnen.

In den Sommermonaten 2008 fand eine ausgedehnte Tournee

in Südamerika statt. Im Oktober 2009 hat sie ein Aufbaustudium

an der Hochschule für Musik in Weimar im Fach Kammermusik

bei Prof. Ulrich Beetz, Prof. Walter Hilgers und Prof. Rolf-Dieter

Arens aufgenommen mit dem Ziel, das Konzertexamen

zu erwerben. Zeitgleich wurde sie erste Preisträgerin beim

Concorso Internazionale di Musica »Pietro Argento« in Bari

(Italien) und beim Concorso Libertango »Astor Piazzolla« in

Laciano (Italien) und auch Sonderpreisträgerin beim 6. Festival

für »Verfemte Musik« 2010 in Schwerin.

46 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Im November 2009 erhielt sie einen Lehrauftrag an der

Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Weimar. Im Februar 2010

spielte sie als Solistin an der Hochschule für Musik unter der

Leitung von Stefan Mai. Gleichzeitig erhielt sie im Februar 2010

das Charlotte-Krupp-Stipendium.

Jung-Youn Kum wurde 1979 in Korea geboren. Nach ihrem

Bachelor of Music an der Sookmyung Women´s University in

Seoul studiert sie seit 2005 an der Hochschule für Musik «Franz

Liszt» in Weimar. In der Klasse von Prof. Jacob Leuschner schloss sie

die Studiengänge Künstlerische Ausbildung und Aufbaustudium

A im Fach Klavier solo erfolgreich ab und befi ndet sich nun im

Studiengang Konzertexamen Klavierkammermusik bei Prof.

Ulrich Beetz. Schon die Aufnahme in diesen künstlerisch höchst

anspruchsvollen Studiengang stellt eine seltene Auszeichnung

dar. Jung-Youn Kum nahm an Meisterkursen u. a. bei Prof. Paul

Badura-Skoda, Prof. Malcom Bilson, Prof. Bernd Glemser, Prof.

Péter Nagy, Prof. Eugene Skovorodnikov und Prof. Maurizio

Moretti sowie beim Minguet Quartett teil.

Ihr Interesse gilt auch historischen Tasteninstrumenten; so hat sie

häufi g mit großem Erfolg auf den Instrumenten der Sammlung

Beetz im Weimarer Stadtschloss konzertiert. Unter anderem

27. Januar 2011 im Schloss Schwerin 47

in Konzerten der Weimarer Goethegesellschaft und der Klassik

Stiftung Weimar konnte sie sich einem größeren Publikum

präsentieren.

Zahlreiche Erfolge bei internationalen Wettbewerben unterstrei-

chen ihre künsterlischen Qualitäten. Zuletzt erspielte sie sich mit

ihrer Kammermusikpartnerin Sabina Egea Sobral den 1. Preis

beim Concorso Internazionale di Musica «Pietro Argento» in

Italien sowie einen Sonderpreis beim Interpretationswettbewerb

«Verfemte Musik» 2010 in Schwerin. Das Duo Egea Sobral/

Kum hat sich in den letzten Jahren auch überregional einen

Namen gemacht und begeistert mit einem für diese Besetzung

ungewöhnlich vielfältigen Repertoire und mitreißenden

Interpretationen.

48 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung dankte Ladtagspräsidentin

Sylvia Bretschneider den Holocaust-Überlebenden Frau Esther Bauer

für ihr Kommen und Dr. Alexej Heistver für seine Gedenkrede. Für die

Medienvertreter bestand die Gelegenheit zu Interviews.

Dokumentation der Gedenkveranstaltung

am 27. Januar 2011 im Schloss Schwerin

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus