Eduard von Keyserling · 2019. 7. 22. · Eduard von Keyserling Wellen Roman Veröffentlicht im...

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Eduard von Keyserling

Wellen

Roman

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Eduard von Keyserling

Wellen

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019EV: S. Fischer, Berlin, 1920 (253 S.)

1. Auflage, ISBN 978-3-962814-36-6

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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel 4 ............................................................................ Zweites Kapitel 24 ....................................................................... Drittes Kapitel 32 ......................................................................... Viertes Kapitel 41 ......................................................................... Fünftes Kapitel 48 ........................................................................ Sechstes Kapitel 60 ..................................................................... Siebentes Kapitel 66 ................................................................... Achtes Kapitel 72 ......................................................................... Neuntes Kapitel 81 ....................................................................... Zehntes Kapitel 98 ...................................................................... Elftes Kapitel 117 ........................................................................... Zwölftes Kapitel 125 .................................................................... Dreizehntes Kapitel 137 .............................................................. Vierzehntes Kapitel 142 .............................................................. Fünfzehntes Kapitel 151 ..............................................................

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Danke

Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlagentschieden haben.

Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, sch-reiben Sie mir.

IhrJürgen Schulze

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Vous êtes tous les deux ténébreux et discrets:Homme, nul n’a sondé le fond de tes abîmes,O mer, nul ne connaît tes richesses intimes,Tant vous êtes jaloux de garder vos secrets.

Baudelaire

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Erstes Kapitel

Die Generalin von Palikow und Fräulein Malwine Bork,ihre langjährige Gesellschafterin und Freundin, kamen indas Wohnzimmer. Sie wollten sich ein wenig erholen. DieGeneralin setzte sich auf das Sofa, das frisch mit einemblanken, schwarz und roten Kattun bezogen war. Sie warsehr erhitzt und löste die Haubenbänder unterm Kinn.Das lila Sommerkleid knisterte leicht, die weißen Haarku-chen an den Schläfen waren verschoben und sie atmetestark. Sie schwieg eine Weile und schaute mit den ein we-nig hervorstehenden grellblauen Augen kritisch im Zim-mer umher. Das Zimmer war weiß getüncht, wenigschwere Möbel standen an den Wänden umher und überdie Bretter des Fußbodens war Sand gestreut, der in derAbendsonne glitzerte. Es roch hier nach Kalk und See-moos.

»Hart«, sagte die Generalin und legte ihre Hand aufdas Sofa.

Fräulein Bork neigte den Kopf mit dem leicht ergrau-ten Haar auf die linke Schulter, blickte schief durch dieGläser ihres Kneifers auf die Generalin, und das bräunli-che Gesicht, das aussah wie das Gesicht eines klugen älte-ren Herrn, lächelte ein nachdenkliches, verzeihendesLächeln. »Das Sofa«, sagte sie, »natürlich, aber man kannes nicht anders verlangen. Für die Verhältnisse ist esdoch sehr gut.«

»Liebe Malwine«, meinte die Generalin, »Sie habendie Angewohnheit, alles gegen mich zu verteidigen. Ichgreife das Sofa gar nicht an, ich sage nur, es ist hart, daswird man doch noch dürfen.«

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Fräulein Bork erwiderte darauf nichts, sie lächelte ihrverzeihendes Lächeln und schaute schief durch ihren Kn-eifer jetzt zum Fenster hinaus auf den kleinen Garten,der davor lag. Salat und Kohl wuchsen dort recht küm-merlich, Sonnenblumen standen da mit großen schwar-zen Herzen und über alledem lag ein leichter blonderStaubschleier. Dahinter der Strand grell orange in derAbendsonne, endlich das Meer undeutlich von all dem un-ruhigen Glanze, der auf ihm schwamm, von den zwei re-gelmäßigen weißen Strichen der Brandungswellen um-säumt. Und ein Rauschen kam herüber eintönig, wie voneinem schläfrigen Taktstock geleitet.

Die Generalin hatte den Bullenkrug für den Sommergemietet, um hier an der See ihre Familie um sich zu ver-sammeln. Vor drei Tagen war sie mit Fräulein Bork, Frau

Klinke, der Mamsell,1 und Ernestine, dem kleinen Dienst-mädchen, hier angelangt, um alles einzurichten. Es erfor-derte Arbeit und Nachdenken genug, für alle diese Men-schen Platz zu schaffen und nicht nur Platz, »denn«, pf-legte die Generalin zu sagen, »ich kenne meine Kinder,bei allem, was ich gebe, sind sie kritisch wie ein Theater-publikum.« Heute nun war die Tochter der Generalin, dieBaronin von Buttlär, mit den Kindern, den beiden eben er-wachsenen Mädchen Lolo und Nini und dem fünfzehnjäh-rigen Wedig, angelangt. Der Baron Buttlär sollte nach-kommen, sobald die Heuernte beendet war, und LolosBräutigam Hilmar von dem Hamm, Leutnant bei denBraunschweiger Husaren, wurde auch erwartet.

»Werden sie auch heute Abend alle satt werden?« be-gann die Generalin wieder. »Die Reise macht hungrig.« –»Ich denke«, erwiderte Fräulein Bork, »da sind die Fi-sche, die Kartoffeln, die Erdbeeren, und Wedig hat seinBeefsteak.«

»So, so«, meinte die Generalin, »übrigens der Junge

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wird es im Leben nicht leicht haben, wenn er immer seinBeefsteak haben muss.«

Fräulein Bork zuckte mit den Achseln und sagte ent-schuldigend: »Er ist so zart.« Aber das ärgerte die Genera-lin: »Gewiss, ich gönne ihm sein Beefsteak, Sie brauchenihn nicht zu verteidigen. Nur finde ich, liebe Malwine,dass Sie keinen rechten Sinn haben für das, was man all-gemeine Bemerkungen nennt.« Dann schwiegen die bei-den Damen wieder.

Draußen von der Holzveranda tönte Lärm herüber,Tellergeklapper und hohe Stimmen. Ernestine decktedort den Tisch für das Abendessen und stritt dabei mitWedig. Auch Lolo und Nini waren erschienen, sie lehntenan der Holzbrüstung der Veranda schmal und schlank inihren blauen Sommerkleidern. Der Seewind fuhr ihnen indas leichte rote Haar und ließ es hübsch um die Gesich-ter mit den fast krankhaft feinen Zügen flattern. Die Mäd-chen zogen ein wenig die Augenbrauen zusammen undschauten mit den blanken braunroten Augen unverwandtauf das Meer und öffneten die Lippen, als wollten sielächeln, aber das große bewegte Leuchten vor ihnenmachte sie schwindelig. Auch Wedig hatte sich nun zu ih-nen gesellt und schaute auch schweigend hinaus. Daskränkliche Knabengesicht verzog sich, als täte all diesesLicht ihm weh.

»So«, sagte die Generalin drinnen zu Fräulein Bork,»das war ein angenehmer stiller Augenblick. Ich höre,meine Tochter kommt die Treppe herunter, nun kann eswieder losgehen.«

Frau von Buttlär hatte ein wenig geschlafen, trug ih-ren Morgenrock und hüllte sich fröstelnd in ein wollenesTuch. Sie mochte früher das hübsche überzarte Gesichtihrer Töchter gehabt haben, jetzt waren die Wangen ein-gefallen und die Haut leicht vergilbt. Aufgebraucht vonMutterschaft und Hausfrauentum war sie sich ihres Rech-

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tes bewusst, kränklich zu sein und nicht mehr viel auf ihrÄußeres zu geben.

Man setzte sich auf der Veranda zur Abendmahlzeitnieder an den Tisch, über den das rote Abendlicht hinflu-tete und der Seewind an dem Tischtuch und den Serviet-ten zerrte. Das machte die Gesellschaft schweigsam, sodas Meer vor sich, war es, als sei man nicht allein, nichtunter sich.

»Ich habe mir das Meer größer gedacht«, erklärte We-dig endlich.

»Natürlich, mein Sohn«, meinte die Generalin. »Duwillst wohl für dich ein Extra-Meer.«

Frau von Buttlär lächelte gerührt und sagte leise: »Erhat so viel Fantasie.« Fräulein Bork sah Wedig schiefdurch ihren Kneifer an und meinte: »An die Fantasie desKindes reicht selbst das Weltmeer nicht hinan.«

Nun begann Frau von Buttlär mit ihrer Mutter ein Ge-spräch über Repenow, ihr Gut, über Dinge, die sie anzu-ordnen vergessen hatte, von Gemüsen, die eingemachtwerden sollten, und Dienstboten, die unzuverlässig wa-ren, lauter Sachen, die seltsam fremd und unpassend indas Rauschen des Meeres hineinklangen, dachte Lolo.Aber unten am Tisch war ein Streit entstanden zwischenWedig und Ernestine. »Ernestine«, sagte Fräulein Bork st-reng, »wie oft habe ich es dir nicht gesagt, du darfst beim

Servieren nicht sprechen. Oh! Cette enfant!«2 setzte siehinzu und seufzte. Die Generalin lachte. »Ja, unsere Borkhat es mit Ernestines Erziehung schwer, denkt euch,heute Mittag entschließt sich das Mädchen zu baden. Siegeht ins Meer nackt wie ein Finger, am hellen Mittag.« –»Aber Mama!« flüsterte Frau von Buttlär, die Mädchenbeugten sich auf ihre Teller nieder, während Wedig nach-denklich Ernestine nachschaute, die kichernd ver-schwand.

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Das Abendlicht legte sich jetzt plötzlich ganz grellrotund unwahrscheinlich über den Tisch und Fräulein Borkschrie auf: »Seht doch!« Alle fuhren mit den Köpfenherum. An dem blassblauen Himmel standen riesige kup-ferrote Wolken und auf dem dunkelwerdenden Meerschwamm es wie große Stücke rotglänzenden Metalls,während die am Ufer zergehenden Wellen den Sand wiemit rosa Musselintüchern überdeckten. Wedig blinzeltemit den roten Wimpern und verzog wieder sein Gesicht,als schmerzte es ihn. »Das ist allerdings rot«, meinte er.Die Generalin jedoch war unzufrieden: »Sie haben micherschreckt, Malwine, Sie haben eine Art, auf Naturschön-heiten aufmerksam zu machen, dass man jedes Mal zu-sammenfährt und glaubt, eine Wespe sitze einem ir-gendwo im Gesicht.«

Die Mahlzeit war zu Ende, die Mädchen und Wedigstellten sich an die Verandabrüstung, um auf das Meerzu starren. Frau von Buttlär hüllte sich fester in ihr Tuchund sprach mit leiser, besorgter Stimme von ihren häusli-chen Angelegenheiten.

Die gewaltsamen Farben am Himmel erloschen jäh.Die farblose Durchsichtigkeit der Sommerdämmerunglegte sich über das Land und das Meer, jetzt lichtlos,schien plötzlich unendlich groß und fremd. Auch das Rau-schen war nicht mehr so geordnet eintönig und taktmä-ßig; es war, als ließen sich die einzelnen Wellenstimmenunterscheiden, wie sie einander riefen und sich in dasWort fielen. Klein und dunkel hockten die Fischerhäuserauf den fahlen Dünen, hie und da erwachte in ihnen eingelbes Lichtpünktchen, das kurzsichtig in die aufstei-gende Nacht hineinblinzelte. Auf der Veranda war es stillgeworden. Das seltsame Gefühl, ganz winzig inmitten ei-ner Unendlichkeit zu stehen, gab einem jeden für einenAugenblick einen leichten Schwindel und ließ ihn stille-halten, wie Menschen, die zu fallen fürchten.

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»Wer wohnt denn dort?« begann Frau von Buttlär end-lich und wies auf eines der Lichtpünktchen am Strande.

»Das dort«, erwiderte die Generalin, »das ist das Hausdes Strandwächters. Eine verwachsene Exzellenz hatsich bei ihm eingemietet. Du kennst ihn auch, den Ge-heimrat Knospelius, er ist bei der Reichsbank etwas, erunterschreibt, glaube ich, das Papiergeld.«

Ja, Frau von Buttlär erinnerte sich seiner: »So ein Klei-ner mit einem Buckel. Recht unheimlich.«

»Aber so interessant«, meinte Fräulein Bork.»Und die anderen Häuser?« fragte Frau von Buttlär

weiter.»Das sind Fischerhäuser«, erklärte Fräulein Bork, »das

größte dort ist das Anwesen des Fischers Wardein unddort, ja, dort wohnt sie doch.«

»Sie?« fragte Frau von Buttlär, beunruhigt davon, dassFräulein Bork ihre Stimme so geheimnisvoll dämpfte.

»Nun ja«, flüsterte Fräulein Bork, »sie, die Gräfin Dora-lice, Doralice Köhne-Jasky, die wohnt dort mit – nun ja,sagen wir mit ihrem Manne.« Frau von Buttlär verstandnoch nicht ganz.

»Doralice Köhne, die Frau des Gesandten, das istdoch die, die mit dem Maler – die wohnt hier, das ist jaaber schrecklich, man kennt sich doch.«

Doch die Generalin ärgerte sich: »Was ist dabei Sch-reckliches, man hat sich gekannt, man kennt sich nichtmehr. Der Strand ist breit genug, um aneinander vorüber-zugehen, eine fremde Frau Grill, nichts weiter. Ihr Malerheißt jawohl Hans Grill.«

»Sind sie wenigstens verheiratet?« klagte Frau vonButtlär.

»Ja, sie sagen, ich weiß es nicht«, meinte die Genera-lin, »das ist auch gleich. Sie wird das Meer nicht unreinmachen, wenn sie darin badet. Es ist kein Grund, liebeBella, ein Gesicht zu machen, als seiest du und deine Kin-

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der nun verloren.«»Und er ist ein ganz gewöhnlicher Mensch«, jam-

merte Frau von Buttlär weiter.»Ja«, sagte Fräulein Bork, sie sprach noch immer leise,

aber ihre Stimme nahm einen zärtlichen, feierlichenKlang an, als rezitiere sie ein Gedicht: »es ist traurig unddoch wieder in seiner Art schön, wie der alte Graf das Ta-lent des armen Schulmeistersohnes entdeckt, er ihn aus-bilden lässt, wie er ihn auf das Schloss beruft, damit erdie junge Gräfin malt, ja und dort – müssen sie sich ebenlieben, was können sie dafür. Aber sie wollen nicht dieHeimlichkeit und den Betrug. Sie treten zusammen vorden alten Grafen hin und sagen: Wir lieben uns, wir kön-nen nicht anders, gib uns frei, und er, der edle Greis …«

»Der alte Narr«, unterbrach sie die Generalin. »Wersagt Ihnen denn, dass es so gewesen ist, wer ist denn da-bei gewesen? Wahrscheinlich sind nicht die beiden zudem Alten gekommen, sondern der Alte ist zu den beidenhereingekommen, das sieht denn anders aus. Köhne warimmer ein Narr. Wenn man dreißig Jahre älter als seineFrau ist, lässt man seine Frau nicht malen und spielt mannicht den Kunstfreund. Und diese Doralice, ich habe ihreMutter gekannt, eine dumme Gans, die nichts zu tunhatte im Leben, als Migräne zu haben und zu sagen:›Meine Doralice ist so eigentümlich!‹ Ja, eigentümlich istsie geworden, gleichviel, da ist nichts, um die Augen genHimmel zu schlagen und zu sagen: Wie schön! Lassen Siedie Grill Grill sein, liebe Malwine, wenn Sie sie mit IhrenFantasien zur Heldin des Strandes machen, verdrehenSie den Kindern den Kopf. Ernestine läuft ohnehin alleAugenblicke zum Strande hinunter, um die fortgelaufeneGräfin zu sehen, das verbitte ich mir. Seien Sie so gutund halten Sie mit Ihrer Poesie an sich.«

»Schrecklich, schrecklich«, seufzte Frau von Buttlär.Fräulein Bork aber schien das Schelten der Generalin

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nicht zu hören, verträumt schaute sie in die Dämmerunghinein, sah, wie die Dämmerung sich sachte aufhellte,der Mond war aufgegangen, Silber mischte sich in dasDunkel der Wellen und der Strand lag hell beleuchtet da.

»Da sind sie!« schrie Fräulein Bork auf.Erschrocken fuhren alle herum. Am Rande der Düne

zeichneten sich gegen den hellen Himmel deutlich die Fi-guren eines großen Mannes und einer Frau ganz nahebeieinander ab. »Dort stehen sie jeden Abend«, flüsterteFräulein Bork geheimnisvoll.

Frau von Buttlär starrte angstvoll zu dem Paare aufder Düne hinüber, dann rief sie erregt: »Kinder, ihr seidnoch da, warum geht ihr nicht schlafen? Ihr seid müde,nein, nein, geht, gute Nacht«, und beruhigte sich erst, alsdie Kinder fort waren. Da sah sie sich noch einmal dasPaar an da drüben, das jetzt eng aneinander geschmiegtden Strand entlang ging, seufzte tief und sagte kummer-voll:

»Das ist allerdings unerwartet, unerwartet fatal.Wenn ich mich auf etwas freue, kommt immer so etwasdazwischen. Schon der Kinder wegen ist es mir unange-nehm.«

»Ich weiß, ich weiß«, meinte die Generalin. »Dumusst immer etwas haben, das dich quält, sonst ist dirnicht wohl. Schon als kleines Mädchen, wenn alles sichauf einen Spaziergang freute, sagtest du: was hilft es, eswerden doch Steinchen in die Schuhe kommen. UnsereMädchen! Die haben genug Disziplin im Leibe. Sag’ ihnen,da ist eine Frau Grill, die nicht gekannt wird, und ichsehe es, wie Lolo und Nini die Lippen zusammenkneifenund gerade vor sich hinsehen, wenn sie an Madame Grillvorübergehen.«

»Ja und dann«, begann Frau von Buttlär wieder leise,»offen gestanden, es ist auch wegen Rolf. Die Person istsehr hübsch, solche Personen sind immer hübsch und

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Rolf, du weißt …«Die Generalin schlug mit der flachen Hand auf den

Tisch: »Natürlich, das musste kommen, du bist jetztschon auf Madame Grill eifersüchtig. Aber liebe Bella, soist dein Mann denn doch nicht. Na ja, immer die eine alteGeschichte mit der Gouvernante, die könntest du auchvergessen. Ab und zu mal im Frühjahr regt sich in ihmnoch der Kürassieroffizier, das ist eine Art Heuschnup-fen. Aber ihr Frauen bringt durch eure Eifersucht dieMänner erst auf unnütze Gedanken. Nein, liebe Bella,wozu ist man, was man ist, wozu hat man seine gesell-schaftliche Stellung und seinen alten Namen, wenn mansich vor jeder fortgelaufenen kleinen Frau fürchtensollte. Du bist die Freifrau von Buttlär, nicht wahr, undich bin die Generalin von Palikow, nun also, das heißt,wir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nichtzu uns gehören, keinen Zutritt haben; so, nun wollen wirruhig schlafen gehen, als gäbe es keine Madame Grill.Wir dekretieren einfach, es gibt keine Madame Grill.«

Alle erhoben sich, um in das Haus zu gehen. FräuleinBork warf noch einen Blick zum Meer hinab und sagte inihrem mitleidig singenden Ton: »Die Gräfin Doralice wareinst auch einmal solch eine arme kleine Festung.«

Die Generalin wandte sich in der Tür um: »Bitte, Mal-wine, meine Vergleiche nicht mit Ihrer Poesie zu umspin-nen, dazu mache ich sie nicht. Und dann noch eines, ichbitte, ferner Madame Grill nicht zum Gegenstand IhresVerteidigungstalentes zu machen, Madame Grill wirdnicht verteidigt.«

Oben in der Giebelstube, Lolos und Ninis Schlafzim-mer, standen die beiden Mädchen noch am Fenster undschauten hinaus. Das mondbeglänzte Meer, das Rau-schen und Wehen da draußen ließ ihnen keine Ruhe, eserregte sie fast schmerzhaft, und das Paar, das dort un-ten an den blanken Säulen der brechenden Wellen hin-

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schritt, gehörte mit zu dem Erregenden und Geheimnis-vollen da draußen, das den beiden Mädchen ein seltsa-mes Fieber in das Blut legte.

Unten auf der Bank vor der Küche saß Frau Klinkeund kühlte im Seewinde ihre heißen Köchinnenhände.Vor ihr stand Ernestine, wies zum Strande hinunter undsagte: »Nee, Frau Klinke, dass die beiden verheiratetsind, das glaube ich nicht.«

*Hans Grill und Doralice gingen am Meeresufer entlang.Es ging sich gut auf dem feuchten, von den Wellen glatt-gestrichenen Sande. Zuweilen blieben sie stehen undschauten auf den breiten, sich sacht wiegenden Lichtweghinab, den der Mond auf das Wasser warf.

»Nichts, heute nichts«, sagte Hans und machte eineHandbewegung, als wollte er das Meer beiseite schieben.»Es ziert sich heute, es macht sich klein und süß, um zugefallen.«

»So lass es doch«, bat Doralice.»Ja, ja, ich lasse es ja«, erwiderte Hans ungeduldig.Als sie weiter schritten, hing Doralice sich ganz fest in

Hansens Arm. Sie konnte sich ja gehen lassen, dieser Armwar stark und sie dachte flüchtig an einen anderen zerb-rechlichen und zeremoniösen Arm, der ihr feierlich ge-reicht worden war und auf den sich zu stützen sie nie ge-wagt hatte.

»Du bist müde?« fragte Hans.»Ja«, erwiderte sie nachdenklich, »diese langen hellen

Tage, glaube ich, machen müde.«»Viel haben wir an diesen langen hellen Tagen nicht

getan«, bemerkte Hans.»Getan«, fuhr Doralice fort, »nichts. Im Sande gele-

gen und auf das Meer gesehen. Aber gleichviel, ichkonnte doch alles Mögliche tun, Dinge, die ich sonst niegetan, unerhörte Dinge, nichts hindert mich. Auf der

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Reise war das anders, da tut man die Dinge, die im Reise-buch vorgeschrieben sind, aber hier muss das Neue kom-men und das macht vielleicht müde.«

»Gewiss, gewiss«, begann Hans in seiner eifrigen Art,»Möglichkeiten, natürlich Möglichkeiten, das ist es, wasder freie Mensch hat, es ist gleich, ob er etwas tut, abernichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn, nichts bindet ihn,was er tut und nicht tut, tut er auf eigene Verantwor-tung, und das kann müde machen, o ja, das kann müdemachen«, und Hans lachte ein lautes Ha! Ha! auf dasMeer hinaus, »freie Menschen, freie Liebe, denn das ist jagleich, ob ein alter Engländer aus London uns durch dieNase etwas gesagt hat, was wir nicht verstanden haben,das bindet nicht. Also freie Menschen, freie Liebe, freie…« Er hielt plötzlich inne und fragte: »Warum lachst du?«

Doralice hatte ihren Kopf zurückgebogen, um zuHans hinaufzusehen, und sie lachte. Die schmalen, sehrroten Linien der Lippen öffneten sich ein wenig, ließenim Mondschein für einen Augenblick das Weiß der klei-nen Zähne durchschimmern. So hell beschienen war dasGesicht sehr hübsch mit seinem kindlichen Oval, dengraublauen Augen, in die das Mondlicht ein seltsam farbi-ges Schillern legte, und dem hellblonden Haar, an demder Wind zauste. Ja, Doralice musste immer lachen,wenn Hans seine großen Worte hersagte, jene Worte,die klangen, als hätten sie in Zeitungen oder langweiligenBüchern gestanden, aber wenn Hans sie aussprach, beka-men sie etwas Junges, etwas Lebendiges, sie klangen, alsschmeckten sie ihm gut, wenn er sie so zwischen seinengesunden weißen Zähnen hervorzischte.

»O nichts«, sagte Doralice, »sprich nur weiter von dei-nen freien Menschen.« Allein Hans war empfindlich ge-worden: »Meine freien Menschen, da ist doch nichts zulachen«, dann schwieg er.

»Du hast ja ganz recht«, meinte Doralice, um ihn zu