Ernst Der Originalbegriff Im Zeitalter Virtueller Welten

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Wolfgang Ernst DER ORIGINALBEGRIFF IM ZEITALTER VIRTUELLER WELTEN Aura und Original (mit und jenseits von Walter Benjamin) Walter Benjamin zufolge verfügen gerade solche Objekte über eine auratische Ausstrah- lung, die im Gegensatz zur Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit reproduzierbarer Kunst eine Ästhetik der Einzigartigkeit und Dauer vermitteln: als einmalige „Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag". 1 Ist Benjamins Aura also gerade nicht an das technisch repetierbare Video-Bild koppelbar? Vergegenwärtigen wir uns eine Ikone der Videokunst, Nam June Paiks Videoinstallation Buddha (etwa 1989, ZKM/Museum für Neue Kunst, Karlsruhe). Tat- sächlich erinnert uns der Video-Buddha daran, daß kulturästhetisch Aura-Erfahrungen für das Individuum in unüberbietbarer Weise authentisch und unwiderlegbar sein können - „was sie in die Nähe von mystischen Erlebnissen des Christentums oder des Zen- Buddhismus rückt." 2 Von einer Aura, die buchstäblich ex negativo entsteht, spricht auch Jochen Hörisch unter Bezug auf Walter Benjamins Schrift Kleine Geschichte der Photo- graphie, der darin frühe Portraitaufnahmen beschreibt: „Es war eine Aura um sie, ein Me- dium, das ihrem Blick, indem er es durchdringt, die Fülle und die Sicherheit gibt." 3 Hier meint Aura noch die Medialität selbst (im medizinischen und religiösen Sinn). Die antike Medizin sah in der Aura diejenigen Indizien, die einem epileptischen oder hys- terischen Anfall unmittelbar vorausgingen und ihn anzeigen; im 19. Jh. versucht der Psy- chiater Hippolyte Baraduc, die dem bloßen Auge unsichtbare Aura von Personen durch fo- tografische Aufnahmen zu objektivieren - so ungefähr das naturwissenschaftlich-positi- vistische Gegenteil dessen, was Benjamin mit seinem ästhetischen-mystischen Auraver- lust im Medium Fotografie meint und als Chance für die Entwicklung einer antifaschisti- schen Ästhetik des Films propagiert. 4 Benjamins Thesen sind durch die Wirklichkeit der Pop-Art (Andy Warhols serielle Skulpturen) und zumal die Medienkunst selbst widerlegt, in der Technik nicht den Exor- zismus der Aura, sondern ihre zusätzliche Dimension darstellt. Der Kunstkritiker Michael Glasmeier fordert eine neuerliche Auseinandersetzung mit Benjamin, „in der Aura und Re- produktion endlich nur Nebenschauplätze werden" 5 . Tatsächlich entwerten digitale Me- dien die klassische Reproduktion. Die Epoche, in der die technische Reproduzierbarkeit das Fundament kultureller Ökonomie war, geht zu Ende. Eine Ökonomie der Aufmerk- samkeit, die nicht mehr Speichermedien, sondern unmittelbar Wahrnehmung bewertet, wird Kultur insgesamt und damit auch Kunst betreffen - eine Umakzentuierung des abendländischen Kulturbegriffs also von der Speicherung zur Übertragung, vom Spar- konto zum volatilen Aktienfonds. Es gibt Überlegungen, weltweit Schutzgebühren für Ver- öffentlichungen im Internet nicht mehr auf die Tatsache der (tatsächlichen) Publikation oder Sendung (der Fernsehbegriff des Originals), sondern auf die Tatsache der Übertra- gung zu gründen, die nicht unbedingt in ein Rahmenprogramm eingebaut sein muß. 6 Das Internet ist nicht an Archivierung (Speicher- als Kapitalbildung, die kulturelle Bedingung für Copyright-Ansprüche), sondern Distribution interessiert. -51-

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Wolf gang Ernst

DER ORIGINALBEGRIFF IM ZEITALTER VIRTUELLER WELTEN

Aura und Original (mit und jenseits von Walter Benjamin)

Walter Benjamin zufolge verfügen gerade solche Objekte über eine auratische Ausstrah­lung, die im Gegensatz zur Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit reproduzierbarer Kunst eine Ästhetik der Einzigartigkeit und Dauer vermitteln: als einmalige „Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag".1 Ist Benjamins Aura also gerade nicht an das technisch repetierbare Video-Bild koppelbar? Vergegenwärtigen wir uns eine Ikone der Videokunst, Nam June Paiks Videoinstallation Buddha (etwa 1989, ZKM/Museum für Neue Kunst, Karlsruhe). Tat­sächlich erinnert uns der Video-Buddha daran, daß kulturästhetisch Aura-Erfahrungen für das Individuum in unüberbietbarer Weise authentisch und unwiderlegbar sein können -„was sie in die Nähe von mystischen Erlebnissen des Christentums oder des Zen-Buddhismus rückt."2 Von einer Aura, die buchstäblich ex negativo entsteht, spricht auch Jochen Hörisch unter Bezug auf Walter Benjamins Schrift Kleine Geschichte der Photo­graphie, der darin frühe Portraitaufnahmen beschreibt: „Es war eine Aura um sie, ein Me­dium, das ihrem Blick, indem er es durchdringt, die Fülle und die Sicherheit gibt."3

Hier meint Aura noch die Medialität selbst (im medizinischen und religiösen Sinn). Die antike Medizin sah in der Aura diejenigen Indizien, die einem epileptischen oder hys­terischen Anfall unmittelbar vorausgingen und ihn anzeigen; im 19. Jh. versucht der Psy­chiater Hippolyte Baraduc, die dem bloßen Auge unsichtbare Aura von Personen durch fo­tografische Aufnahmen zu objektivieren - so ungefähr das naturwissenschaftlich-positi-vistische Gegenteil dessen, was Benjamin mit seinem ästhetischen-mystischen Auraver­lust im Medium Fotografie meint und als Chance für die Entwicklung einer antifaschisti­schen Ästhetik des Films propagiert.4

Benjamins Thesen sind durch die Wirklichkeit der Pop-Art (Andy Warhols serielle Skulpturen) und zumal die Medienkunst selbst widerlegt, in der Technik nicht den Exor­zismus der Aura, sondern ihre zusätzliche Dimension darstellt. Der Kunstkritiker Michael Glasmeier fordert eine neuerliche Auseinandersetzung mit Benjamin, „in der Aura und Re­produktion endlich nur Nebenschauplätze werden"5. Tatsächlich entwerten digitale Me­dien die klassische Reproduktion. Die Epoche, in der die technische Reproduzierbarkeit das Fundament kultureller Ökonomie war, geht zu Ende. Eine Ökonomie der Aufmerk­samkeit, die nicht mehr Speichermedien, sondern unmittelbar Wahrnehmung bewertet, wird Kultur insgesamt und damit auch Kunst betreffen - eine Umakzentuierung des abendländischen Kulturbegriffs also von der Speicherung zur Übertragung, vom Spar­konto zum volatilen Aktienfonds. Es gibt Überlegungen, weltweit Schutzgebühren für Ver­öffentlichungen im Internet nicht mehr auf die Tatsache der (tatsächlichen) Publikation oder Sendung (der Fernsehbegriff des Originals), sondern auf die Tatsache der Übertra­gung zu gründen, die nicht unbedingt in ein Rahmenprogramm eingebaut sein muß.6 Das Internet ist nicht an Archivierung (Speicher- als Kapitalbildung, die kulturelle Bedingung für Copyright-Ansprüche), sondern Distribution interessiert.

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Paul Valery - auf den Benjamin sich bezieht7 - hat aus dem medialen Wandel der Kriterien Materie, Raum und Zeit die Konsequenzen für „die ganze Technik der Künste" gezogen und damit präzise den TV- und Videobildschirm, das Prinzip von Sendung, Über­tragung und Speicherung technischer Bilder, das Kunstwerk im Zeitalter der Telepräsenz, beschrieben: Ohne Zweifel werden zunächst <...> die Wiedergabe und die Übermittlung der Werke betroffen werden. <...> Die Werke werden zu einer Art von Allgegenwärtigkeit gelangen. Auf unseren Anruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegen­wärtig sein oder sich neu herstellen. Sie werden nicht mehr nur in sich selber da sein -sie alle werden dort sein, wo ein jemand ist8 - „und ein geeignetes Gerät", fügt er hinzu. Zeitgleich mit Benjamin deklarierten die deutschen Dadaisten: „Die Kunst ist tot / Es lebe die neue Maschinenkunst TATLINS"; tatsächlich ist Medienkunst nur noch Kunst von Gna­den der maschinellen Grammatik, im Unterschied zu einem auch buchstäblich (nämlich nicht durch den Bindestrich definierten) autonomen Begriff von Kunst.

Aura und Authentizität

Die Autorisierung des Originals gilt als genitivus subiectivus und als genitivus obiectivus: Es ist der Diskurs, der das Objekt erst zum Original stilisiert (denn auch jede Reproduk­tion ist, diskret betrachtet, ein einzigartiges Objekt). Und dahinter steht nicht eine meta­physische Ästhetik, keine reine Liebe zum Ding, sondern ein Machtdiskurs: der Wille zum Recht, des Rechtsnachweises, so wie Archivalien im Archiv lange Zeit nicht primär der his­torischen Forschung diente (das wäre eher ein Mißbrauch des Archivs), sondern dem Rechtsnachweis für staatliche Ansprüche, in diesem Sinne entspricht der Begriff der Ur­kunde dem des archäologischen Originals (und „Urkunde" ist ja in etwa die buchstäbli­che Übersetzung von „Archäologie"). Doch nicht nur im Sinne des Diskurses besitzt das Original eine ganz eigene Qualität; mit den technischen Medien definieren die Apparate das Original mit, insofern dieser Begriff als Informationswert gelesen wird. „The prolife-ration and prospects of digital media have drawn our attention to the question of how the authority of Information can and cannot be established in a new medium."9

Damit ist es nicht länger schlicht die physische Realität, welche die Darstellung be­glaubigt, indem Altersspuren und Zerstörung Geschichtlichkeit induzieren - jene Verän­derungen des Kunstwerks, die es im Laufe der Zeit erlitten hat. Was autorisiert das Ori­ginal im Gegensatz zur Reproduktion? Für Benjamin ist es die Tradition und der physika­lisch in Form der chemischen Patina oder - analog - durch den archivischen Nachweis der Provenienz beglaubigte Begriff der Echtheit: Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff al­les von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer ge­schichtlichen Zeugenschaft. <...> so gerät in der Reproduktion <...> die historische Zeugen­schaft der Sache ins Wanken. <...> was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Auto­rität der Sache, ihr traditionelles Gewicht.10

Für Benjamin ist Authentizität der Wesenszug einer Sache, und doch läßt sich eine Essenz dessen, was authentisch ist, nicht fixieren. Gleich dem Aurabegriff Benjamins ist die ästhetische Kategorie Authentizität nämlich an subjektiver Erfahrung und dem Wesen des (Kunst-)Werks zugleich ausgerichtet. Verlagern wir die Frage nach Authentizität nach der von Diskursstrategien, die definieren, was als wahr zu gelten hat. Analog gilt: In ei­ner Zeit, in der zunehmend auf die Differenz von Original und Kopie verzichtet werden

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muß, ist es angebracht, den Kognitionsprozeß zu beobachten, der dazu führt, ein Phä­nomen als authentisch zu empfinden. Das wäre der Vollzug des Übergangs von einer (substanzlogischen) Werkauthentizität zu einer (prozeßlogischen) Beobachtungsauthenti­zität.11

Und doch ist Authentizität nicht schlicht eine Beobachtungskategorie, sondern auch eine Funktion technischer Materialitäten.

Das mediale Gesetz des Originals

Der andere Garant des Originalbegriffs ist das Gesetz; der juristische Diskurs interessiert sich dafür, inwieweit Originalität unmittelbar mit vertragsrechtlichen Dingen zusammen­hängt. Eine Antwort des Kunstmarkts darauf, der an der Aufrechterhaltung der Ökonomie des Original-Begriffs interessiert war, ist das Begriffshybrid der Original-Edition; der insti­tutionelle Garant dafür ist u. a. das Museum als Medium der systematischen Verknappung der Werke und ihrer Reproduktionen. Die Aura schreibt sich als Spur in den juristischen Begriff des Originals ein, wenn - wie im Diskurs mittelalterlicher Reliquienkulte - die Tak-tilität die Autorität der Reproduktion ist. Dieses Kriterium ist selbst technischer Natur: Was nach einem Originalgips gefertigt wird, gilt auf dem Kunstmarkt als eine Edition; ein Abguß nicht nach dem Originalgips gilt als Reproduktion.

Wann aber gilt ein digitales Bild als Original und ab wann als Kopie? Ist die Beant­wortung dieser Frage abhängig vom Grad der digitalen Bildpunktauflösung beim Scan­nen, vergleichbar mit der urheberrechtlichen TV-Kategorie des sendefähigen Materials? Kopier- und Faxgeräte und Scanner waren von der Urheberrechtsabgabe befreit, wenn die Geräte weniger als zwei Seiten pro Minute schafften, so daß Computerhersteller die Leis­tung ihrer Geräte künstlich drosselten (Nutzer aber besorgen sich ausländische Treiber). „Vergangene Woche nun wurde diese Bremse des digitalen Fortschritts entfernt."12

Das digitale Sampling - ob im Reich des Akustischen oder des Visuellen - macht die medienarchäologisch radikale Differenz zwischen analog und digital deutlich - in Hin­blick auf das Zitatrecht.

Erinnern wir uns daran, dass erst mit dem Magnetband (Tonband und Video) Radio und Fernsehen, ein originäres Medium der Sendung, der Übertragung, auch Eingang in das kulturelle Gedächtnis finden konnte, weil speicherbar. Und das bis hin zur indivi­duellen künstlerischen Praxis, etwa die Loops des Videokünstlers Klaus vom Bruch: Ich habe mir aus dem Fernsehen Bilder gestohlen, und damit ein persönliches Archiv ge­schaffen, mit dem ich ikonographisch arbeiten kann. Das Archiv ist die Ressource für eine Bildermaschine. Die Kriegsbilder waren zum Beispiel der Griff nach einer Zeit, die vor mir waren. Ich habe ins Archiv gegriffen nach Bildern, die mit Geschichte besetzt waren.13

Damit steht die kognitive Differenz von Original und Fälschung auf dem Spiel. Hans Ulrich Reck beschreibt die TV-Effekte der Videoclip-Ästhetik anhand der Videos der Er­schießung des rumänischen Diktators Ceaucescus Ende 1989, die Echtzeitübertragung suggerierten, tatsächlich aber eine mediale Fälschung darstellten.

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Aber diese Fälschung ist, was die Wirklichkeit solcher Medien ausmacht. Deshalb verliert der Vorwurf des Unauthentischen sein Recht. Wo das Eigentliche fehlt, dort macht die Rede vom Falschen keinen Sinn.14

Im Zeitalter der industriellen Technologieprodukte bedurfte es keines Copyright-Vermerks, da der Konsument mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage war, die Artefakte mit seinen Mitteln nachzubauen (reverse engineering wurde be­stenfalls von Seiten der jeweiligen Spionagegegner betrieben - etwa als Computemach-bau in der UdSSR). Anders im digitalen Raum, wo sich der User - etwa für Musikdateien - nicht nur den Titel, sondern auch einen kompletten Decoder, also die virtuelle Maschine zur Reproduktion herunterladen kann.15

So stellt sich die Frage, was denn im Licht neuer Medien noch vom ursprünglichen Werkbegriff bleibt. Was ist etwa, im digitalen Sound, die kleinste schutzfähige Einheit? Ab welchem Grad fraktaler Kompression ist die vorliegende Formel noch ein Original? Kann das Recht noch Datensicherheit garantieren, oder ist dies vielmehr schon eine Frage für Informatiker? Ist ein link im Internet ein Zitat, ein Verweis, eine Aneignung fremden gei­stigen Eigentums?

Die mit neuer Informationstechnik prinzipiell mögliche beliebige Verknüpfbarkeit und Kombinierbarkeit von Daten aus verschiedenen Beständen <...> in Sekundenschnelle ist ein aliud gegenüber dem Zusammentragen derselben Daten von Hand in einem Wo­chen- und monatelangen Such- und Aufbereitungsprozeß.16

Der Kunstbegriff des Originals und das Recht stehen im digitalen Raum nicht län­ger im Bund. Nicht länger sind es, wenn alle Theorien und Ästhetiken am Ende sind, am ehesten noch die Juristen, die zu definieren vermögen, wie denn etwa ein Bild beschaf­fen sein muß, wenn es sein Verfertiger als Eigentum beanspruchen will; die Technik ist fortan mit am Werk. Für die ersten Photographen bestand die Frage, ob die Fotografie ei­nes Bildes sich dessen Originalität aneignet. Enteignen neue Medien die alteuropäischen Künste? Das Urheberrecht entstammt dem Geniebegriff der Goethezeit in Deutschland, in England im Interesse der Verleger. Der Autor ist eine Figur der Rechenschaft (Foucault). Wird dieses Recht auf Computerprogramme angewandt, auf eine Maschine, die alle an­deren Maschinen imitieren kann, ist es ad absurdum geführt.

Die digitalen Medien ergreifen den Rechtsbegriff des Originals. So ist auch die Ver­waltungsgeschichte des Datenschutzes nicht älter als die Informationstechnik auf der Ba­sis des Mikroprozessors - die Neuordnung unseres Rechtssystems unter den Bedingun­gen der Informationsgesellschaft. Dazu zählt die Verschiebung von Raum und Zeit, also die Kernkriterien für Benjamins Aura-Begriff des originalen Kunstwerks.

Das Dispostiv kultureller Gedächtnisüberlieferung, also Memetik liegt nicht im Ar­chiv der Originale, sondern im Wesen der Reproduktion: Die Erhaltung der platonischen Meme über eine Serie von Kopien ist ein besonders augenfälliges Beispiel. Zwar sind in neuerer Zeit einige Papyrus-Texte gefunden worden, die wohl schon zu Piatos Lebzeiten existiert haben, doch ist das Überleben der Meme selbst davon so gut wie unabhängig. Die heutigen Bibliotheken enthalten Tausende, wenn nicht Millionen physischer Kopien (und Übesetzungen) von Piatos Meno, während ihr eigentlicher Vorfahre - der Urtext -schon vor Jahrhunderten zu Staub wurde.17

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Die Virtualisierung des Originals verweist auf die zwei Körper des Kunstwerks im Zeitalter der Medien. Wer hat das Copyright von Europas Kultur im digitalen Raum? Die Association of Computer Manifacturing (ACM) schlägt vor, für alles Daten im Netz kos­tenfreie Auslesung zu erhalten, für das physische Printout Gebühren zu erheben.

Bill Gates erwirbt die digitalen Bildrechte der europäischen Museumskultur; das re­ale Museum behält das Eigentums-, nicht das Urheberrecht. Der künstlerische Original­begriff beruht in Deutschland auf der Privilegierung des geistigen Eigentums vor allen an­deren Grundrechten und ist damit konservativ. In Kontinentaleuropa bleibt das Urhe­berpersönlichkeitsrecht erhalten, unlöschbar: Fluch des Archivs (denn es verfällt erst nach 50 Jahren, oder es fällt an die Nachkommen). „Autorenschaft ist die Grundlage von Kul­tur", sagt der Komponist Wolfgang Rihm auf dem Berliner 41. CISAC-Weltkongreß18; diese Grundlegung ist noch nicht medienarchäologisch, sondern noch geisteswissenschaftlich gedacht. Im Moment der Veröffentlichung entäußert sich dagegen das autorielle Copyright in den USA; das angelsächsische Copyright (seit 1710; 1790 in die USA eingeführt) ist an den Verwertungsinteressen des (Über-)Trägers von geistigem Eigentum orientiert: I her-bey assign <„.> with füll title guarantee Copyright in the Contribution and in any abstract prepared by me to accompany the Contribution for the füll legal term of Copyright and any renewals, extensions and revivals thereof <...> in all formats and though any media of communication.19

Die World Intellectual Property Organization (WIPO) hat beschlossen, auch auf Soft­ware den Urheberschutz literarischer Werke zu übertragen, wie für mathematische For­meln20 - ein Sieg der alteuropäischen Moral über das Kalkül? Das Urheberrecht macht keine Differenz analog-digital, bleibt dem abendländischen Werkbegriff verhaftet; es fehlt also eine Medienkultur in dieser Hinsicht, ein Bewußtsein für die Differenz, die der Com­puter macht, etwa im Bildbegriff: Die fraktale Bildkomprimierung produziert immer wie­der ein neues Original, oder sagen wir besser: ein Digital? Damit wird Copyright jenseits der juristischen Definition eine Funktion des Gesetzes des Hardware. Bleibt die Frage der Zwischenspeicherung: herrscht hier Copyright in Latenz, oder ein virtuelles Copyright?

Rosalind Krauss hat die Einschreibung, die Aufzeichnung und das Depot als die Grundparameter der Kunst des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Am Ende dieses Jahrhunderts aber geht die Tendenz vom Speichern (zurück?) zum Übertragen; an die Stelle von Lagern und Speichern tritt die (scheinbar) immediate Verfügbarkeit Musik und Text und Bild on demand. Die Standards MP3 für die fraktale Komprimierung von Bildern und MPG für Au­diodaten komprimierten Daten machen nicht mehr die Speicherkapazität zum Problem, sondern die Übertragungsform; was verlorengeht, sind Zwischenfarben und -töne, die unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle liegen, also fortfallen können, aber gerade die Signatur, die Spur des Originals ausmachten.

Wer hat im digitalen Raum die Definitionsmacht des Originals: ästhetische, rechtli­che oder technische Agenturen? Und gilt - wie im Fall der Decca-Schallplatte Music from Mathematics - ein Musikprodukt zufallsgenerierender Programme noch als geistiges Ei­gentum? „Dem mit der Materie nicht vertrauten Kunstfreund erscheint es als etwas Un­mögliches, Dichtung, Musik und Malerei in Zahlen zu erfassen"21; einmal in Zahlen ge-fasst, löst sich das Original jedoch in Algorithmen auf und wird nachrichtentechnisch messbar - wie es Max Benses Ansatz einer kybernetischen „Ästhetik und Progammie-rung" in den IBM-Nachrichten einmal versucht hat.

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Die Währung des Originals

Die Ökonomie von e-commerce gibt es vor: An die Stelle einer realen Edelmetallreserve als Deckung und Autorisierung einer Währung tritt ein virtuelles Äquivalent. Bislang gab es eine originäre Verknüpfung von Original und Archiv: etwa das museale Depot als (Ge-)Währung des Originals, das die diversen Reproduktionen autorisiert. Dies gilt zumal für das klassische Museum als Währung von Ästhetik: eine durch reale Kaufentscheidun­gen und Depotwerte autorisierte Funktion.

Die Griechen kannten <...> zwei Verfahren technischer Reproduktion von Kunstwer­ken: den Guß und die Prägung. Bronzen, Terrakotten und Münzen waren die einzigen Kunstwerke, die von ihnen massenweise hergestellt werden konnten.22

So bleiben die Originale vielleicht unzugänglich, aber gleich Goldreserven einer Na­tionalbank die Stabilisierung der Referenz in der Zirkulation ihres digitalen Zweitkörpers. Die Deutsche Bücherei etwa zielt als Depotbibliothek (als Empfängerin von Pflichtexem­plaren) auf zwei Exemplare, das Archiv- und das Benutzerexemplar; das Archivexemplar wäre das abgeschlossene Monument der Kontinuität gegen die digitale Manipulierbar-keit.23 Solange Redundanzen in den Daten sind, vermag sich das System selbst zu korri­gieren und Verluste in Grenzen auszugleichen, sprich: rechnend wieder zu interpolieren; anders sieht das aus für die „heiligen Texte oder wirklich kulturell relevanten Daten, wo man sich fragt, dass doch sehr viel verloren ginge, wenn man die Objekte jetzt weg-schmeissen würde, nach dem Modell, das Oliver Wendell Holmes <...> empfohlen hat und nur noch die digitalisierten Daten als Erinnerung an die Objekte behielte."24 In dem Mo­ment, wo die fotografische Erfassung von Objekten deren Materialität redundant zu ma­chen schien, läutete Holmes 1859 die Postmoderne ein: Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt. In der Tat ist die Materie in sichtbaren Gegenständen nicht mehr von grossem Nutzen, ausgenommen sie dient als Vorlage, nach der die Form gebildet wird. Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes <...> mehr brauchen wir nicht. Man reisse dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will <...>. Die Folge dieser Entwicklung wird eine so gewaltige Sammlung von Formen sein, dass sie nach Ru­briken geordnet und in großen Bibliotheken aufgestellt werden wird.25

Die Datentechnik elektronischer Bibliotheken etwa löscht ja nicht die Physis der Bücher; vielmehr bedarf jede Information noch der Autorisierung ihrer Referenz im Rea­len. Im Verlangen nach Information vergisst der Leser oder Betrachter leicht die Materia­lität der Text- und Bildträger. Die fotografische Überführung des Objekts in den Raum des Bildarchivs macht das Original scheinbar redundant; die von holländischen Archäologen entdeckte frührömische Inschrift von Satricum bei Rom mag als Beispiel dienen: Once the Position of the block with the inscription had been photographically documented and sketched <...> this and the two others displaying the same characteristics were transpor-ted to the Dutch Institute at Rome for preparation of the publication and to await place-ment in a museum.26

Tatsächlich gibt es seit 1972 eine Konvention der UNESCO Zum Schutz des natür­lichen und kulturellen Erbes der Welt, die allen Mitgliedstaaten auferlegt, besondere Bau­werke in Fotografien festzuhalten. Aus den archivierten Fotografien soll der Bauplan her­ausgelesen, oder präziser: herausgerechnet werden können, für den Fall „einer Zerstö­rung, die von den Schutzmaßnahmen bereits mitgedacht wird".27 Mit dem materiellen Ori-

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ginal aber verliert das Simulakrum - analog oder digital - seine Fundierung im physika­lisch Realen, mithin seine Autorität. Kein Archiv läßt sich auf diese Derealisierung ein.

Gestell und Original (Martin Heidegger)

Der erste Entwurf von Walter Benjamins Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni­schen Reproduzierbarkeit datiert vom Herbst 1935. Die fast buchstäblichen Analogien darin zu Heideggers annähernd zeitgleichem Text Der Ursprung des Kunstwerks sind auf­fällig, wenn Benjamin das Beispiel antiker Skulpturen nennt. Das wesentlich Ferne ist, ganz im Sinne Heideggers, das Unnahbare: Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. <...> Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks nie­mals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst.28

Die englische Übersetzung von Martin Heideggers Schrift Der Ursprung des Kunst­werks als origin zeigt es an: arche, Archiv und Originalbegriff stehen im onomasiologi-schen Verbund. „Alle diese Begriffe - Singularität, Authentizität, Einmaligkeit, Originalität, Original - hängen von dem Moment des Ursprungs ab."29 Demgegenüber erscheint das Raster als Figur der Moderne als ein System von Reproduktionen ohne ein Original. Ist das - mithin museale oder technische - Gestell das Dispositiv des Orginalbegriffs?

In ordinary use, Gestell refers to some kind of framework or apparatus. <...> Accor-ding to Heidegger, Gestell is deeply connected to the modern concept of representation (Vorstellen) <...>. Heidegger eomments that the essence of technology, Enframing, is Ίη a lofty sense ambiguous'. <...> we are always already Ίη the picture'. <...> Thus the issue is not <...> whether what is on view is authentic or a reproduction. Nor is the issue whether the work is actually framed, as is Van Gogh's painting of the peasant shoes, or free-stan-ding, as is the temple at Paestum. Finally the issue is not whether the work of art is or is not on its vown site'. For the temple at Paestum is just as much displaced as the tem­ple of Pergamon.30

Die Bassae-Tempelszenerie, die Heidegger beschreibt, aber sah er nicht in Autopsie (seine Reise nach Griechenland fand erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt). Eine Rheto­rik der Dissimulation ist hier am Werk, denn Heideggers Einsicht in die Natur des antiken griechischen Tempels beruhten auf photographischen Evidenzen, also immer schon me­dial diskreten Einheiten von In-Formation, deren technische Reproduktion sie permanent disloziert.31 Heideggers Bildvorlagen könnten die Fotos antiker Tempel von Walter Hege gewesen sein. Hege insistierte, daß Fotografie von Kunstwerken die „wirkliche Begeg­nung mit dem Original" nicht ersetzen darf, „und das ist gut so, ein Abstand zwischen Original und Reproduktion muss bleiben", als irreduzible differance.32 Andererseits aber bringt die Reproduktion - ganz im Sinne von Derridas Grammatologie - die auratische Aufladung der Vorlage zum Original erst hervor33; in Verbindung mit dem Original gese­hen, generiert das Duplikat geradezu „die reine Einzigartigkeit des Primären"34. Die opti­schen Medien haben schon mit der camera obscura einen Angriff auf das Original gefah­ren; der sogenannte Spiegel Claudes, erinnert J. Baltrusaitis, reflektierte im 18. Jh. die Na­tur so, als hätte sie der Landschaftsmaler Claude Lorrain gemalt. „Das Spiegelbild der Na­tur wurde dem Original bei weitem vorgezogen"35, so wie lange auch die literarische Schilderung dem fotorealistischen Abbild vorgezogen wurde. Exemplarisch dafür ist ein

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Kommentar zu der archäologischen Publikation von Stackeiberg, Der Apollotempel zu Bassae in Arkadien (1826). Hier oszilliert der Begriff der Schilderung zwischen Bild und Li­teratur: Nachdem er mit künstlerischem Sinne und mit so viel Sicherheit die Reize der le­bensvollen Marmorgestalten in seine Mappe zu übertragen wußte, ist er mit gleichem Künstlersinne an die Schilderung des großartigen Eindruckes gegangen, den er von dem geweihten Orte und aus den Hallen des heiligen Raumes mit hinweggenommen hat. Er <...> reproduziert gleichsam das untergegangene Kunstwerk vor unseren Augen aus den wenigen noch erhaltenen Trümmern36 - mithin also ein bildgebendes Verfahren der an Techniken der Zeichnung gekoppelten archäologischen Imagination.

Das Museum als Ort des Originals

Immanuel Kants (und von Derrida aufgenommener) Begriff der Einfassung des Kunst­werks, des parergon, verweist auf den musealen Rahmen und die Bildfläche als Träger des Ereignisses namens Original. „Ob öffentliches Museum, offizieller Salon, Weltausstel­lung oder private Sammlung, was den Raum der Ausstellung zum Teil konstituiert, war stets die kontinuierliche Fläche an der Wand - einer Wand, die mehr und mehr aus­schließlich auf die Präsentation von Kunst ausgerichtet war"37 und die Funktion des Mu­seums ausweist: „alles andere auszuschließen und durch diesen Ausschluss das zu kon­stituieren, was wir mit dem Wort Kunst meinen."38 Genau diese Fläche wird nun auf den Schauplatz des Videomonitors selbst disloziert, der nicht mehr an musealen Wänden er­scheint, sondern selbst einen musealen Raum bildet - differente frames of inscription.39

Tatsächlich setzt der elektronische Monitor fort, was Benjamin für die Photographie dia­gnostiziert hat: dass im Reproduktionsmedium der Ausstellungswert den Kultwert zu­rückdrängt, und das im musealen wie technischen Sinne der Exposition.

Vielleicht liegt die Originalität nicht im Original, sondern seinem musealen Kontext. Generiert das Museum das Original?

Das Thema der Originalität, das die Vorstellungen von Authentizität, Original und Ursprung mit einschließt, ist die gemeinsame diskursive Praxis des Museums, des Histo­rikers und des Kunstproduzenten. Und das ganze 19. Jahrhundert hindurch waren alle diese Institutionen in dem Ziel verbunden, das Kennzeichen, die Gewähr, die Beglaubi­gung des Originals zu finden.40

Das Original hat damit seine museal-mediale Bedingung gerade in der Unantast­barkeit des Artefakts durch die Schrift als Meta- und Steuerdatum. Die längste Zeit waren Bilder prinzipiell nur speicherbar und an distante Orte wie Tempel, Kirche und schließlich Museum gebunden; die Schrift behauptete dagegen bis zur Emergenz moderner Bildme­dien ihr kulturtechnisches Monopol, Speicherung und Übertragung von Information auf einmalige Weise zu kombinieren. Werden mit Video auratische Bilder nun ihrerseits tech­nisch Speicher- und übertragbar, oder nur die Emenationen der memoire volontaire? Mit den Bildmedien tritt zwischen bewusstes und unbewusstes Gedächtnis eine dritte Größe, das apparative Dazwischen buchstäblich als medium.

Das Ideal des modernistischen und funktionalistischen Museums war der ahistori­sche Raum, das neutrale Dispositiv, der weisse Kubus41, ein sublimer Ort der aufgehobe­nen Zeit als Hülle einer Ausstellungsästhetik jenseits des urbanen Kontextes. Ein Museum

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aber ist kein mythischer Ort, kein Raum fortwährender Ewigkeit; die Aura des Museums verhält sich zu sich selbst museal. Nicht länger lässt sich der Rahmen vom Inhalt, der Aus­stellung, trennen: Das Museum kann nicht länger ausstellen, ohne sich selbst(bewusst) mit auszustellen. Mit seiner Ausstellung Les Immateriaux im Pariser Centre Georges Pom-pidou stellte der Ausstellungsgegenstand, nämlich die Verlichtung der gegenwärtigen Künste, die Materialität der Galerie und des Museums selbst in Frage. Das Museum der angebrochenen Zukunft wird nicht mehr das solide Mausoleum der Kunst und der Histo­rie sein, sondern deren räumlicher Abgrund mit elektronischer Bildschirmpunktuation. Si­cher ist es nach wie vor eine sehr materielle Anstrengung, durch die der Effekt einer im­materiellen Metarealität erreicht wird; Les Immateriaux wurde mit erheblichem Materia­laufwand inszeniert, und der technische Materialverschleiß etwa eines Rekorders in Vi­deoinstallationen erinnert daran. Sublim macht hier der Effekt die Technik vergessen; das Museum wird insofern immer ein Betrug der Sinne bleiben. Doch wo einst Objekte stan­den, steht nun die Immaterialität an, die substanzlose Relation. In der radikalen Absti­nenz von der narrativen Inszenierung, dem Rückzug auf den Begriff der Spuren, liegt eine Alternative. Im Münchener Kunstverein hat Gerhard Merz - abgesehen von einem Ge­mälde des Heiligen Sebstian, den Blick-Pfeile töten - flankiert von Spiegeln, die den durch das Spiel des Fensterlichts strukturierten Galerieraum reflektierten, in Form weni­ger Lettern die Infragestellung der musealen (Kunst-)Historie selbst ausgestellt: DOVE STA MEMORIA ? Wo ist der Ort der Erinnerung ? Die isolierten Buchstaben dieser Frage formten uneingedenk einer museal feststellbaren Vergangenheit eine Antwort: die Preis­gabe der Erinnerung an ihre Signifikanten, das Immemorial.

Walter Benjamins Theorie des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst ist dem nicht mehr gewachsen, was heute als elektronischer Datenfluss vonstatten geht. Vermittelte die fotografische Reproduktion von Objekten noch die Illusion des Gegenstandes, so bedeutet deren elektronische Aufzeichnung ihre Verwandlung in Simu-lakren des Realen selbst. Nicht nur verzeichnet die Elektronik die Gegenstände, sondern sie erklärt die Zeit der Gegenständlichkeit selbst zur Historie: Die Zeit der materiellen Pro­duktion neigt sich ihrem totalen Verschwinden zu.42 Zeit-Zeugnisse sind bereits Betrug, in­sofern Hologramme von Objekten in Museen auch die Aura der Originale noch perfekt si­mulieren. Solche Hologramme können jederzeit durch Telefonleitungen übermittelt wer­den; abrufbereit untergraben sie den heiligen Status des Museums als privilegiertem (H)Ort einzigartiger Meisterwerke, wie schon Andre Malraux fotobasiertes Imaginäres Mu­seum nicht mehr wie der klassische Museumsraum das einzelne Kunstwerk exponiert, sondern in der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre den Stil zum Vorschein bringt, ganz im Sinne Wölfflins. Bedingung dafür also ist nicht das singulare museale Werk, son­dern ein Bilderrepertoire, mithin ein Archiv. Und das heisst: weniger Museum, mehr Spei­cher.43 Hai Foster treibt diesen Gedanken weiter und fragt, ob - weil ein bilder- und text­basiertes System im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung alle eingegebenen Daten zu digitalen Einheiten egalisiert - das Malrauxsche Museum ohne Wände <...> durch ein Archiv ohne Museum ersetzt werde <...> ein Bild-Text-System, eine Database digitaler Begriffe44 - in der ästhetische Differenzen nur noch Funktionen von Speichertechnologie sind.

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Der Schauplatz des Monitors

Bildmediale Kunstwerke können - in ihrem Erscheinungsbild ununterscheidbar vom Ori­ginal- in jeden Haushalt übertragen werden. Dieser Zustand bricht als Retroeffekt in zeit­genössische Λ/luseumsentwürfe selbst ein: Der Vorschlag des Stuttgarter Labors für Archi­tektur sah für das geplante Berliner Deutsche Historische Museum ein Haus vor, in dem via Kabel oder Satellit die Echtzeit anderer Museen oder historisch bedeutsamer Stätten ankommt, sichtbar gemacht oder gespeichert wird. Längst hat das Netz von Eurovision, Nachrichtendiensten, Flugzeuglinien, Kabelverbindungen, Tetefon und Telefax eine andere Kartographie des Realen vorgegeben, eine andere Museographie gezeichnet. Daher sieht dieser Museumsentwurf für das DHM auch ein Terminal, eine elektronische Rampe, einen ISDN-Anschluss vor, jenseits der black box des klassischen Ausstellungsteils die DATA BANK der Telekommunikation, und die „Fernübertragung von Holografien"45. Hieß Fern­sehen bislang idealistisch „Imagination", so heisst es nun wörtlich: Television. Das Mu­seum ist nicht mehr der Bestimmungsort, die Paketstelle historischer oder ästhetischer Objekte, sondern wird zum Relais immaterieller Impulse, von denen die Wahrnehmung unserer Gegenwart längst bestimmt wird. Damit tritt der Monitor an die Stelle der muse­alen Exposition.

„Grundlegend neu ist, dass nur noch die Information reist; sie will abgefertigt wer­den. Die Bilder brauchen Orte, an denen sie nach der Sendung ankommen, aufleuchten können, um gesehen und (vielleicht) verstanden zu werden. Es geht also um Netze, über die Information zirkuliert; um den Teil des Hauses, des Bahnhofes, des Museums, des Wa­renhauses etc., an dem der Anschluss an das Intelligente Netz' erfolgt, die ISDN-Buchse."46

An die Stelle des musealen Raums tritt im elektronischen musee imaginaire die Oberfläche des Monitors (unter Verlust der Dreidimensionalität, solange Cyberspace noch nicht wirklich immersiv funktioniert): „Das Interface, die aus Leuchtpunkten auf einer dünnen Haut bestehende ^vermittelnde' Instanz ist das heutige monumentale und viel­leicht auch museale Medium - in einer Zeit, die <...> Bewegung in Geschwindigkeit als übergeordnete Grösse empfindet."47

Geschwindigkeit und Verschwinden: Bislang war es die Funktion des Museums, die Bedeutung historischer Objekte festzustellen, indem es die Gegenstände auf Sockeln platzierte und mit Bedeutung versah. Diese monumentale Sinngebung wird durch die Flüchtigkeit der Bilder, mit der - dem Diktum Walter Benjamins noch einmal gemäß - die Geschichte jetzt ganz real an uns vorbeirauscht, längst unterlaufen: „Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist Vergangenheit festzuhalten."48

Gilles Deleuze und Felix Guattari haben im Anti-Ödipus darauf hingewiesen, wie auch die Stabilität der traditionsverbürgenden Schrift durch ihre Elektronisierung, also Verwandlung in Lichtpunkte auf dem Monitor, sich verflüchtigt. Chronographie wird damit verlichtet. Was sich in dieser - mit Heidegger gesprochen - Lichtung auftut, demonstran­dum est. Selbst da, wo eine Fotografie Realität verbürgt, hat ihr Erfinder Henry Fox Tal­bot ein „word of light" gesehen - Lichterscheinungen, die als Grapheme auf den Bildträ­ger eingehen und nachträglich entwickelt werden. Womit virulent wird, was sich im Streit um die Authentizität der Abgüsse von Auguste Rodins Negativformen für das Höllentor

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manifestierte: multiple Kopien, für die es kein Original gibt. Benjamins Kunstwerk-Aufsatz hat daran erinnert, daß Authentizität in dem Moment zu einem leeren Begriff wird, wo technischen Medien die Vervielfältigung von Natur aus innewohnt; „von der photograph-sichen Platte z.B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich, die Frage nach dem echten Ab­zug hat keinen Sinn."49 Demgegenüber sucht die aktuelle Hochkonjunktur des fotografi­schen Vintage-print ein re-entry des Originalbegriffs durch die Definition eines Abzugs, der nahezu zeitgleich mit dem ästhetischen Augenblick ist - womit Authentizität „eine Funktion der Technikgeschichte" wäre50: die vergangene Zukunft des Originals (auch im digitalen Raum).

Heute reduziert sich die Differenz zwischen Aufzeichnung, latenter Speicherung und Entwicklung auf die Zeit der Lichtgeschwindigkeit, in luziferischer (oder besser: luzi- statt metaphorischer) Echtzeit.

Das stößt uns auf die latente Abbildung der Vorlage auf der Fotoleitertrommel beim Kopiervorgang: Die Belichtungslampe schaltet ein <...> Der Lampen-/Spiegelwagen fährt das Original ab <...> Die Vorlage wird von der Lampe belichtet, und die hellen Stellen der Vorlage reflektieren das Licht über das Spiegel-Optik-System auf die Fotoleitertrommel, wodurch an den bestrahlten Stellen die negative Ladung vom Fotoleiter über Masse ab­geleitet wird. Von den Bildstellen der Vorlage wird je nach Farbwert kein oder wenig Licht auf den Fotoleiter gegeben, so dass an diesen Stellen die Ladung bestehen bleibt und somit eine latente Abbildung der Vorlage auf der Trommel entsteht.51

Damit wird dem als Vorlage definierte Original ein virtueller Zweitkörper gegeben, in Schattenschrift. Auf der anderen Seite dann die elektronischen Lichtpunkte auf dem Bildschirm, radikal zeitbasiert. Die Flüchtigkeit dieser Bilder dereguliert die Stabilität je­der Interpretation, für die das Museum monumental verbürgte; „museums have <...> ca-pitualted in the face of the archival problems connected with these new ephemeral types of art by completely ignoring the Visual possibilities of electronic images"52. Vielmehr spiegelt das museale Depot zunehmend die Schalttechnik seines Nachfolgemediums wi­der. Ebenso wie das Warenlager der Kleidungsfirma Benetton durch Computer geordnet und bedient wird nach dem Prinzip des random access, gleicht sich auch das Museums­depot immer mehr dem random access memory des Computers an.

In dem Maße, in dem an die Stelle immobiler musealer Bilder und Objekte zeitba­sierte Medien treten, rekodiert sich auch die museale Ordnung. War die zeitliche Ordnung im klassischen Museum eine äußerliche, dem Objekt durch Relationen eingeschrieben („the artwork is embedded in a chronologically or thematically structured narrative me-diating a specific Version of art history", schreibt Frohne 1999), dominiert nun der zeit­diskrete Event-Charakter der Medienkunst. Und so hieß eine Konferenz über das museale Sammeln von Video-Kunst im Januar 1999 in der Paula Cooper Gallery, New York, auf Buy-ing Time53; wobei schon Benjamin dem Sammler, der seine Objekte mit Fetischqualitäten auflädt, eine Ersatzfunktion für die ehemals kultische Kraft des Originals zuschreibt.

Indem elektronische, zeitabhängige Kunst technisch auf Feedback-Operationen be­ruht, tritt sozial die Interaktion an die Stelle der one-to-many-Ästhetik des klassischen Ex­ponats. Fernsehen und Videomonitor haben mit der Option von Zapping und Aufzeichnung schon Ansätze dafür bereitgestellt; für Kunst im Internet wird „die Gültigkeit des Anspruchs auf Originalität zugunsten der neuen Ideologie der Interaktion immer hinfälliger"54.

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Indem sich das Dispositiv der Exponate, der Raum der Ausstellung, asymmetrisch zu dem des Ausstellungsraums verhält, entgehen die Exponate der Bekleidung mit mu­sealer Aura. Der museale Rahmen wird damit selbst ausgestellt.55 Es geht nicht mehr -wie im italienischen Futurismus - darum, Museen zu stürmen und zu zerstören, also zu destruieren. Der museale Raum setzt sich vielmehr subtil mit sich selbst auseinander. Nicht die ausgestellten Objekte bilden das Wesen des Museums, sondern das Netz ihrer Bezüge und Relationen (der Gegenstand von Diskursanalysen), ihr Zwischen-Raum. Hie­rin liegt die Immaterialität des Museums: in dem, wovon die objektfixierte Betrachtung normalerweise absieht. Der museale Raum ist ein Dazwischen. Der Künstler Frangois Mo-rellet stellt Neonlinien in Galerieräumen derart auf, dass Raumkanten selbst zu Bestand­teilen seiner Objektstrukturen werden - eine Transformation von musealer Architektur in die des Bildschirms, der Mattscheibe des Monitors; „die frühen Metaphern für Fernsehen als ^Zauberspiegel' und ^Fenster zur Welt" beziehen sich auf die Transparenz der Glas­oberfläche des Empfangsapparats"56. „Eigentlich ist das ganze Gebäude nur Vitrine", heißt es in einer Architekturkritik des glasdominierten Sony-Centers am Berliner Potsda­mer Platz. Markant ist, was sich innerhalb dieses Raums abgespielt hat: Ein Gebäudeteil (der Kaisersaal) des ehemaligen Hotels Esplanade, das einerseits auf dem Konzern­grundstück und andererseits unter Denkmalschutz stand, wurde mit großem Aufwand um rund 70 Meter verschoben, um einer Straße Platz zu geben, und in einen der Neubauflü­gel integriert. Noch Original, ist dieses Artefakt nun doch zum Zitat geronnen, zur Kopie seiner selbst; dementsprechend lautet die Sprachregelung für dieses Hybrid im Raum zwischen Original und Kopie nun auch Architekturmuseum.57

Indizierung des Realen

Optische Medien seit der Photographie erlauben es erstmals, das Reale von Licht selbst aufzuzeichnen. In der analogen Fotografie ist es der Index, also der einzigartige Verweis auf ein Reales, der das Medium autorisiert. „Im Unterschied zu Symbolen stellen Indizes ihre Bedeutung aufgrund einer physischen Beziehung zu ihren Referenten her."58 Insofern ist aber auch das Videomagnetband indexikalisch (wenn nicht ikonisch, da keine visuelle Ähnlichkeit zum Vorbild unterhaltend), als Speicher einer realen Impulsspur oder Markie­rung. Das elektronische Videobild auf dem Monitor wiederum steht - wie das Fernsehbild - in der Tradition der Keplerschen Augenbildtheorie, insofern es kein bildgebendes Ver­fahren darstellt, sondern reale Impulse abtastet: Die allein nach den geometrischen Ge­setzen durch Licht im Auge hervorgerufene pictura <...> steht über den Strahlengang <...> einerseits in eindeutiger Beziehung zum abgebildeten Gegenstand der äußeren Welt, ih­rem Referenzobjekt, erlangt allerdings andererseits zugleich eine von diesem abgelöste eigenständige Existenz.59

Entscheidend auf der Videodisk ist, dass digital kodierte Bild- und Toninformatio­nen vom Laserstrahl auch in Hinsicht auf die Zeit verlustfrei abgetastet werden; „es exis­tiert keine lineare Zeitstruktur mehr"60. So dass auf dieser Ebene - verschoben - gilt, was Roland Barthes unter der unkodierten Botschaft des fotografischen Bildes versteht: „dass die Beziehung von Signifikant und Signifikat gleichsam tautologisch ist; <...> keine Trans­formation (wie es eine Kodierung sein kann); <...> man hat es mit dem Paradox ... einer Botschaft ohne Kode zu tun."61 Drückt sich in der fotochemischen Emulsion noch die phy­sikalische Eigenschaft der natürlichen Welt ab und verleiht der fotografischen Spur ihren

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dokumentarischen, indexikalischen Status, ist diese Einschreibung in technischen Bildern flüchtig. Weil „Fotografien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen" - akzentuiert auch Flussers Fototheorie -, gehören sie zur Zeichenklasse der Indizes, „die Zeichen aufgrund ihrer physischen Ver­bindung sind"62 - und damit nicht identisch mit dem Ikon, dessen Effekt in der Bildähn­lichkeit, nicht notwendig in der materialen Verbindung entsteht. Der Index ist von seinem Gegenstand tatsächlich betroffen, teilt dessen Qualität (mit). Gilt diese Affektion, die auch im nicht-semantischen Raum dennoch einen Bezug zwischen Zeichen (besser: Signal) und Objekt herstellt, auch für einen elektro-medial vermittelten Impuls?

Nun gilt zwar die prinzipielle binäre Codierung auch für die Registratur von Bildern. Was abgetastet werden kann, geht in den neutralisierenden Code des Digitalen ein. Da aber Bilder ohne die Erregungsräume ihrer Präsenz, die Schnittstelle von Repräsentation, Inszenierung und Rezeption mitsamt dem kontingenten Umraum der Wahrnehmung, des­sen besonderes Fließen früher „Aura" genannt wurde, nicht existieren können, ist es mit dem Kriterium der errechneten Pixels offensichtlich nicht weit her. Digitale Bilder dürfen sich, obwohl sie errechenbar sind, nicht so leicht mit Daten der Information verrechnen oder der internen Verzweigungslogik des technischen Archivs einfach zurechnen lassen.63

Materialitäten der Medienkunst

Der auratische Originalbegriff ist ein Dilemma für die museale Konservierung von Me­dienkunstwerken: „Ein Eingriff in die Technik bedeutet häufig auch eine Veränderung des authentischen Charakters einer Arbeit", und es gilt eher medienarchäologisch denn kunst-hermeneutisch offenzulegen, welche Bestandteile, trotz oder gerade wegen ihrer über­holten technischen Struktur (Benjamins Begriff der Patina) „in ihrer ursprünglichen Kon­figuration erhaltenswert erscheinen oder von ihrer medienhistorischen Aura maßgeblich profitieren".64

Liegt die Originalität im Falle von Medienkunst nicht länger im Wesen des Kunst­werks, sondern in der Physik des Apparats? David Morley insistiert im Sinne der cultural studies auf den ,,vphysics' of television, focusing on the largely unexamined significance of the television set itself (rather than the programmes it shows), both as a material and as a symbolic, if not totemic, object"65. Den Untersuchungen zu Fernsehen als Möbelstück gegenüber meint Medienarchäologie mit der Physik des Fernsehens seine technischen Bedingungen. 1878 schlägt der portugiesische Physiker Adriano de Paiva vor, Selen zu benutzen, um die Helligkeitswerte eines Bildobjekts in entsprechende Stromstärkegrade umzuwandeln. Videokünstler wie Nam June Paik und Bill Viola rücken ausdrücklich die Physik ihres Mediums in den Vordergrund: „hearing sound and watching movement and light is a very physical experience".66

An die Materialität des Videos erinnert der Medienkünstler Achim Mohne, indem er für seine Installation MediaRecycling (Videoskulptur, Gesellschaft für aktuelle Kunst, Bre­men 1999) das während der Fernsehaufzeichnung vom Rekorder nicht aufgerollte, son­dern „ausgespuckte" Band als Rohstoff zur Ausstellung bringt, „als Original in einem künstlerischen Prozess, der das Band gleichzeitig als Material, Körper, Zeichenträger und Skulptur versteht"67. Die Entdeckung dieser Materialität aber ist, nach einer Epoche der technischen Moderne, die ihre technischen Bedingungen gerade immer als dissimulatio

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artis zum Verschwinden zu bringen trachtete, damit die audiovisuelle Illusion in der Wahrnehmung der Betrachter überhaupt funktioniert, schon ein Zeichen des Untergangs: Der Videorekorder ist tot, getötet durch tv on demand. Es wird keine Rekorder mehr ge­ben, es wird keine Kassetten mehr geben, keine Regale mit liebevoll gestalteten Hüllen, keine Videotheken, keinen Bandsalat68

Drastisch erinnert das Video-Scratching an die Materialität des Mediums; hier wird im Reich des Visuellen praktiziert, was aus der Welt des Venyl für Disc-Jockeys längst ver­traut ist. Durch Rückkopplung entstehen Bilder, die das Auge verletzen. Der VJ Safy (As-saf Etiel, Israel) zeigt in Berlin regelmäßig Live Scratchworks: mit verschiedenen beschä­digten, stehenbleibenden Laserplayem (Bild und Ton). Das Verhältnis von Signifikant und Signifikat (Videoclips) wird damit ausgehebelt-Arbeit der Entsemantisierung; Bedeutung wird hier selbst zum (medial-archäologischen) Material: Arbeit mit dem Vorgefundenen (also der Datenmanipulation des Speichers).

Archäologie im Cyberspace: Bildgebung statt Reproduktion von Vorgegebenem

An die Stelle der Reproduktion rückt die Generierung von virtuellen Bildern, wie in der elektronischen Rekonstruktion der ältesten neolithischen Stadt Catalhüyük: There is no memory in dem Sinne, dass „Gedächtnis" selbst nur noch eine Metapher für vielmehr synchrone Vorgänge ist, eine Art Rückübersetzung elektronischer Verhältnisse in die Tra­dition unserer Begriffswelt. „Das Vergangene ist per Videostanze wieder da, konkret seh­bar, nicht mehr in Zeit und Raum, eben Geschichte, eingebunden" - der Angriff einer com­putergenerierten Gegenwart auf die übrige Zeit.69

Die Zeit aber schlägt zurück: Die virtuelle Konstruktion der Kathedrale von Cluny verweist in besonderer Weise auf die Probleme der Langzeitverfügbarkeit von digital ge­speicherten Daten. Bereits verlorengegangen konnte sie mit Hilfe konstenaufwendiger Updatingverfahren (vorläufig) vor dem digitalen Gedächtnisverlust bewahrt werden.70

Es kommt zu hybriden Allianzen von realem und virtuellem Ort im Cyberspace. Die Präsentation der virtuellen Rekonstruktion der antik-römischen Militärkolonie Colonia Ul-pia Trajana, die in Zukunft im Archäologischen Park Xanten zu sehen sein wird, konfron­tiert uns mit einem Paradox: am originalen Ort die virtuelle Rekonstruktion zu begehen. Eine Chance liegt hier darin, die Differenz zwischen realer archäologischer Lage und hy­pothetischer Rekonstruktion sichtbar machen zu können. Das geht aber nicht an einem Ort, der selbst schon ein Modell ist.

Hat das Original als archäologisches Artefakt im Zeitalter digitaler Ausstellbarkeit ausgedient? Archäologie war die längste Zeit schon virtuell. Die virtuelle Archäologie tritt nicht erst in der Epoche digitaler Medien an die Stelle der unmittelbaren Anschauung. Ar­chäologie hat selbst einmal mehr im Raum des Virtuellen - nämlich unter dem Primat der antiken Texte - denn im Raum der Originale gearbeitet; in hohem Maße operierte die me­diale, nämlich textvermittelte Antike(n)rezeption als virtuelle Welt, in hohem Maße unab­hängig vom Gegenstand. Erst mit j . j . Winckelmann tritt die Autopsie des Originals vehe­ment an die Stelle des Studiums von Reproduktion. G. E. Lessing konnte sich etwa mit der antiken Skulpturengruppe des Laokoon in seiner gleichnamigen Streitschrift von 1766 noch ausschließlich auf der Grundlage einer Kupferstichreproduktion des Objekts ausein-

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andersetzen. Nicht nur, dass er der Meinung war, hiermit eine distanziertere Betrachtung zur Verfügung zu haben, sondern als er Jahre später persönlich in Rom weilt, erwähnt er in seinem Notizbuch mit keinem Wort einen Besuch des Originals im Vatikan, ist damit das Original (das archäologische Fundobjekt) zum Hilfsmittel der Forschung verkommen, das nur noch für die an den Quellen Interessierten bereitgehalten wird? Wobei gerade das Veto-Recht der Quellen (Reinhart Koselleck) als Original-analoge Autorität nicht durch das Artefakt selbst, sondern seine Einbettung in eine garantierende Infrastruktur - etwa das prüfende Archiv - aufrechterhalten wird.71 Befreien wir die materiellen Objekte vom Dis­kurs des Originals, der ja in dieser Form erst seit 200 Jahren figuriert. Was übrig bleibt, ist ein eher natur- denn geisteswissenschaftlicher Blick auf das, was übrigblieb, das Re­likt, den Überrest (im Sinne Johann Gustav Droysens).

Technik und Original: Von der Reproduktion zum Raster

Begriffe wie Originalität formierten sich erst in der Aufklärung, als sich das moderne Sys­tem der schönen Künste um den Preis der Abspaltung von den mechanischen Künsten herausbildet - eine Spaltung von idealistisch sublimierter Ästhetik und sinnlicher - jetzt signaltechnisch fassbarer - aisthesis, die erst unter dem Stichwort Medienkunst wieder rückgekoppelt wird: „Tendenziell ausdifferenzierte und gegeneinander abgeblendete Wahmehmungssphären von Wort, Bild und Ton bilden neue Formen der Multimedialität"72

- tatsächlich aber in einem Medium, nämlich im rechnenden Raum, konvergierend. So dass der Gegenbegriff zum Original nicht länger die Reproduktion oder Kopie ist, sondern das Aufrastern, das digitale Herunterbrechen der Vorlage in diskrete kleinste binär ko­dierbare Einheiten - ein Verfahren der nicht mehr arbiträren, sondern strikt relationalen Beziehungen zwischen Punkten der Vorlage und des Abbilds, die mit Kopiermaschinen im 19. Jahrhundert vorbereitet wurde. Rodins reproducteurs etwa befasste sich - so sein Briefkopf - mit der Verkleinerung und Vergrößerung von „Kunst- und Industriegegen­ständen" durch ein „mathematisch perfektioniertes Verfahren", mit Hilfe einer „speziellen Maschine", die „Editionen" von diesen „Duplikaten" angefertigt73; Rodin seinerseits er­kannte nur Bronzeabgüsse als authentisch an, die er autorisiert hatte.74

Unsere Originalitäts- und Authentizitätskonzepte treffen auf Reproduktions- und Si­mulationsmedien, die unser begriffliches Geschichtsbewußtsein herausfordern. <...> So stellt sich <...> die Frage, inwieweit die überlieferten Begriffe der gegenwärtigen Problem­lage genügen.75

Denn die technische Reproduktion bricht mit der Kulturtechnik der Überlieferung selbst: Die Reproduktionstechnik <...> löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradi­tion ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle eines einmaligen Vorkommens sein massenweises 76 - womit das pattern / Raster, im Sinne von Rosalind Krauss, an die Stelle der Historizität tritt, was die Künstler nicht zur Originalität, sondern zur Wiederholung treibt. In der Malerei treten das Raster der Leinwand und das auf sie aufgetragene gemalte Raster auseinander: „Das Raster legt also die Fläche nicht frei, deckt sie nicht auf, sondern verbirgt sie vielmehr durch eine Wiederholung"77 - ein an-ar-chäologischer Akt.

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Die (E)lnschrift des Originals

Die Unterlage jeder Aufschrift ist eine Textur, und zwar kein zufälliger, sondern ein binä­rer (die kreuzweise Verflechtung der Papyrusstreifen und aller textilen, von jacquart-Web-stühlen fabrizierten Leinwände). Die Archi(v)textur aller Geschichten, das ist ihre Fabrika­tion, eine Digitalität endloser Variationsmöglichkeiten. Es gab nie einen ersten Text, denn das Vorwort jedes Textes ist sein Träger: „Not even a virgin surface for its inscription, and if the palimpsest requires a bare, material support for an arche-writing, no palimp-sest."78 Und Barbara Johnson ergänzt: „In order for something to function as an act, it must be inscribed somewhere, whether it be on paper, in memory, on a tomb-stone, or on videotape, celluloid, or floppy discs."79

Im Videobild aber fallen Raster als Infrastruktur und als Repräsentation zusammen. Die Bedingung dafür ist im technischen Raum die Speicherbarkeit des zu Reproduzieren­den im Medium. Was aber geschieht, wenn eine Reproduktionstechnik selbst historisch, oder besser: medienarchäologisch diskontinuiert wird? Denn jedes neue Medium hat, ei­nem Diktum Marshall McLuhans zufolge, die Aura des vorherigen zur Botschaft: Die Er­findung der Photographie offenbarte, dass die Malerei so bezaubernd ist, weil die Lein­wand nicht die Wirklichkeit zeigt; die Einführung des Films offenbarte, dass das Photo seine Schönheit der mangelnden Bewegung entlehnt; der Tonfilm offenbarte, dass der Stummfilm erschüttert, weil er kein Geräusch macht. Und die Farbfilmer waren die füh­renden Köpfe der Ästhetik des „Film Noir". Daraufhin machte das Fernsehen klar, dass all jene Filmformen ihre Attraktivität dem Schwarzen zwischen den Bildern entliehen. Und jetzt lehrt High Vision, dass das Video etwas geboten hat, das im Moment verlorengeht: die Ästhetik der Rasterzeile. Im Cyberspace werden wir uns bewusst werden, dass die Kraft der distanzierten Medien unsere Abstinenz auf dem Schirm war. Simstim zeigt uns anschließend, dass Cyberspace so angenehm war, weil es außerhalb unseres Nervensys­tems stattfand.80 So wird auch Cyberspace aus medienarchäologischer Distanz zum Raum des Originals.

Das Verlangen des technischen Bildes nach Reproduktion

Indem jedes technische Bild bereits eine Kodierung darstellt, knüpft es an Roland Bar-thes Definition des Realen an; um es zu erfassen, muss es immer schon „in einen ge­malten (eingerahmten) Gegenstand transformiert werden", um dann wieder entmalt wer­den zu können: Code über Code, sagt der Realismus. Deshalb kann der Realismus nicht „kopierend", sondern eher „nachahmend" genannt werden (durch eine zweite Mimesis kopiert er, was schon Kopie ist).81

Die Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts haben die Landschaft „mit den Augen von Leuten" betrachtet, „die zu zeichnen gewohnt sind"82; Chris Marker sagt es in seinem Filmessay Sans soleil: I remember a January in Tokyo, or rather I remember the images I filmed in January in Tokyo. They have replaced my memories, they are .memories. I won-der how people remember who don't film, who don't photograph, who don't use tape-recorders.83

Kopie (Reproduzierbarkeit) und Archiv stehen also im Bund. An dieser Stelle dia­gnostiziert auch Benjamin eine medienarchäologische Bruchstelle: Die technischen Me-

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dien sind - erstmals mit dem Film (und vormals mit der Phonographie) - solche, deren Reproduzierbarkeit unmittelbar in der Technik ihrer Produktion begründet liegt - Medium und arche. „Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduk­tion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks"84, und im sprachlichen Suffix des Begriffes der Reproduzierbarkeit nistet - einem Gedanken Samuel Webers folgend85

- schon das virtuelle Wesen der technischen Medien. Welchen Wahrheitsgehalt haben technische Reproduktionen gegenüber dem Original?

So wenig wie ein falsche Ergebnisse liefernder Rechner die physikalischen Gesetzte der Maschine falsifiziert, so wenig falsifizieren semantische Fehler in der archäologischen Kopie des Schriftsteines geometrische Aussagen <sc. Strukturgleichheit> über den Ver­gleich von Original und Kopie. <...> analog folgt aus einer geometrisch zutreffenden Be­schreibung von Original und Kopie nicht, daß die Kopie semantisch fehlerfrei ist.86

Benjamin zufolge zeichnet sich das Original durch seine Übersetzbarkeit aus; es be­steht ein relationales Verhältnis (innig) zwischen Original und Übersetzung, als ob das Original von Natur aus nach Übersetzung verlange: „Übersetzbarkeit eignet gewissen Werken wesentlich."87 Wobei mit Relationsbegriff bei Benjamin gerade nicht ein interpre-tatives, sondern relational-formales Verhältnis zwischen Übersetzung und Original ge­meint ist - ein Verhältnis, das damit auch im Sinne des technischen Übertragungsbegriffs formalisierbar wäre (im Sinne der Mathematischen Theorie der Information von Shannon / Weaver88). Wobei Video dieses reale Verhältnis technisch, nicht symbolisch kodiert, und im digitalen Raum die Differenz von Original und (technischer Signal-)Übersetzung / -Übertragung vollends fortfällt. Die Wahrheit ist für Benjamin eine gegebene - im techni­schen Raum heissen diese Gegebenheiten Daten. In jedem Fall zeitbasierte Prozesse: „le-gibility, like translatability, occurs only with time".89 Lässt sich analog formulieren, daß Vi­deo die speicherbasierte Wiedergabe eines auf Aufzeichnung angelegten Bilds ist?

Prinzipielle technische Funktion des Videorekorders ist es, Fernsehsignale zu spei­chern, indem er deren Frequenzen in elektromagnetische Impulse umwandelt, diese ver­mittels eines oder mehrerer Magnetköpfe auf ein Magnetband aufschreibt, sie für die Re­produktion abliest und wiederum in Form von Frequenzen zum Empfangsgerät weiterlei­tet.90

Für Fernsehen als live-Medium galt gerade das lange Zeit nicht, sondern im Wesen seiner Signale liegt die Verausgabung.

Die Rückkehr der Aura (hinter dem Rücken der Technik)

Obgleich Walter Benjamin dem reproduzierbaren Medium Fotografie die Aura des Origi­nals absprach, gelingt es dem Fotokünstler Hiroshi Sugimoto, mit seiner Serie Portraits an das anzuknüpfen, was die Funktion der effigies schon vor dem Hintergrund der von Ernst H. Kantorowicz beschriebenen Rechtsfiktion der zwei Körper des Königs in der en­glischen Renaissance war. In Madame Tussauds Londoner Wachsfigurenkabinett nahm er nämlich die Figuren britischer Königsfamilien dergestalt auf, dass sie eher zu deren post-humer „Realitätsaufladung" denn zu ihrer Erstarrung als Medien der Vergänglichkeit füh­ren.91 Gerade an der Schwelle zum Digitalen erfahren die analogen Künste (Malerei) und Medien (Fotografie) eine Restitution:

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In der Berliner Galerie Wohnmaschine stellte der Videokünstler Yorck der Knöfel im Mai 1999 seine Hommage to Painting aus, sechs halbkreisförmig angeordnete Monitore, die, zeitlich versetzt, immer wieder die Szene von aufgeblasenen und zerplatzenden Luft­ballons zeigen. Womit der Unterschied zur Malerei gerade in der hommage deutlich wird: „Das digital manipulierte Videobild lässt sich kaum noch auf einen unverwechselbaren Urheber zurückführen"92 - oder ist dies vielmehr eine Frage des medienkompetenten, kri­tischen Blicks, auch in den Neuen Medien wieder Autoren zu diskriminieren?

Diese Aufwertung des Analogen als Kriterium künstlerischer Authentizität ist sicher nicht zuletzt der Verschiebung des Stigmas des „Reproduktionsmediums" auf die digitale Bildverarbeitung zu verdanken. Dieser Anerkennungsschub für die Fotografie zeugt auch davon, dass die alten Medien keineswegs im Hegeischen Sinn in den neuen einfach „auf­gehen", sondern dass es gerade die Widerstände, die Anachronismen und die Reflexio­nen der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Medien sind, die zeitgenössische Künstler interessieren.93

Womit die Genealogie von Medien nicht als Geschichte, sondern als wechselnde Konfigurationen zu beschreiben sind, mithin also weisen neue Medien den alten schlicht einen anderen Platz zu (Friedrich Kittler), verschieben ihren Stellenwert, nicht evolutionär.

Gibt es eine spezifische Videozität?

Wird Video schlicht als Transportmittel für elektrotechnisch generierte Bilder genutzt, ist nicht das Video das künstlerische Original. Genau diese Frage bedeutet ein Dilemma der Video(kunst)ästhetik, wie es die Jury des 10. Internationalen Bochumer Videofestivals jüngst im Mai 2000 erfahren hat. Aus der Einleitung der Jury zur Preisverleihung im Wett­bewerb: Bei einer Reihe von Arbeiten haben wir einen offensichtlichen Hang zum Film festgestellt. Das hat uns in die Schwierigkeit gebracht, ob wir Video als Aufzeichnungs-, Produktions- und Projektionsmedium zu beurteilen hatten oder die spezifische Ästhetik und Medialität von Video.

Lässt sich eine ästhetische Abgrenzung von Video gegenüber anderen optischen Medien aufgrund seiner formal-technischen Eigenschaften gründen?94 Gibt es eine spezi­fische videocy95? Ist es die techno-ästhetische Bilduntreue von Video gegenüber der scheinbaren Verizität von Fernseh-Bildem, deren Sendekriterium es immer ist, gerade nicht unscharf sein zu dürfen?96 Die anfängliche Faszination an der Techno-Proprietäten von Video - das „Skandalon des Mediums" (Irmela Schneider) - trat zunehmend zurück hinter (zumeist narrativen) Inhalten; erneut beweist sich das Gesetz, dass Medienarchäo­logie dort endet, wo content - als Ablenkung vom Medium im Sinne Boris Groys' (das Submediale) - beginnt. Wo bleibt da die Videomathesis, das spezifische Wissen und Ge­dächtnis der Video-Bilder, die spezifischen Optionen zur time-axis-manipulation im Vide­oschnitt, Sein und Zeit in zeitbasierten technischen Bildern?

Die analoge Vorlage des Originals und seine Differenzen zum digitalen Raum

Statt Originale zu reproduzieren, werden sie heute originär gesampelt - eine Molekulari-sierung, ja Atomisierung des Originals. Digital haben wir überhaupt kein Original; nicht einmal mehr ein „Bild". Angenommen sei die Differenz digitaler - im Grunde schon photo-

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graphischer (Flussers These) -, also diskreter Bildpunktmengen zum physikalisch analo­gen Bild.

Irgendwo zwischen dem Scannen einer haptisch erfahrbaren Vorlage, ζ. Β. eines Öl­bildes, und der Repräsentation der entstehenden Messdaten auf einem Speichermedium geht scheinbar die ursprüngliche Materialität des Bildes oder (einfacher:) Gegenstandes verloren. Das gilt auch <schon> für analoge, elektronische Aufzeichnungsverfahren.97

Die Kopplung von Original und Archiv ist nämlich eine im Medium Video ursprüng­lich gegebene: im Speichermedium Video, dessen Speicherbilder aber- im Unterschied etwa zum auf Leinwand aufgetragenen Ölbild - loslösbar sind vom konkreten Träger (Magnetband). „Das Fotografische lässt sich einzig aus der Reflexion des Bildträgers und der Produktionsmodalitäten, die diesen generieren, bestimmen"98; für die digitale Video-zität dagegen gilt (und hier liegt die medienarchäologisch entscheidende Differenz von analogem und digitalen Video), dass sie verlustfrei übertragbar in andere Speicher ist, mithin also, im Sinne Derridas (Dem Archiv verschrieben), auf den Raum des Virtuellen hin erweitert wird. Ist die scheinbar identisch mediale Reproduktion eines Originals im analogen Raum nicht tatsächlich eine Dislokation und Deformation desselben?

Zu den Entstellungen der Denkmäler muss man auch / die Reproduktionen <...> zäh­len. <...>. Photographien <...> übertreiben die Verschmolzenheit mit Licht und Luft, verzer­ren in jedem Fall die Harmonie, entstellen den Färb Charakter, verwischen die Größenver­hältnisse, führen optisch-bitdmäßge Elemente ein. <...> ja sogar die Ausdrücke aus anti­ken Formen oder Abzüge nach originalen Holzstöcken oder Metallplatten. Welche Repro­duktion man auch benutzt: keine entbindet von der Pflicht, sich die Art und den Grad der Entstellung vor Augen zu halten.99

Demgegenüber verheisst der digitale Raum die unverzerrte, unverrauschte identi­sche Duplikation der Vorlage. Benjamin hat es anhand der photographischen Platte exemplifiziert; übertragbar ist dieses technische Modell auch auf die Kopien von Video­bändern: Wo eine Vielheit von Abzügen möglich ist, hat die Frage nach dem echten Ab­zug wenig Sinn - es sei denn unter dem Aspekt des Datenverlusts. Die von Benjamin ana­lysierte Epoche der Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit neigt sich dem Ende zu. Benjamin spielt das in Marcel Prousts Roman Α la recherche du temps perdu entwickelte Modell einer memoire involontaire gegen die Medientechnologien aus, die er als ein nicht-auratisches Gedächtnisdispositiv beschreibt.100 Insofern nicht mehr die Kunst das Schöne „aus der Tiefe der Zeit" heraufholt, sondern es schlicht technisch re-produziertioi, treten diskrete Zustände an die Semantik des Originals. An die Stelle von Erinnerung (in Hegels Sinn) tritt ein digitaler Raum, in dem Kunst nicht mehr reproduziert, sondern gesampelt und überhaupt eher generiert (imaging sciences) denn reproduziert wird. Dabei gibt es eine markante Differenz digitaler Bilder zur Photographie, ungleich Flussers These gemeinsamer diskreter Bildpunkte. Was auf dem Computermonitor aus­sieht wie ein Bild, ist eine spezifische Aktualisierung von Daten als Datenvisualisierung (imaging). Der Rechner gibt also Daten zu sehen, und das zeitbasiert. Damit wird aus dem statischen ein dynamischer Bildbegriff - etwas, das erst als Fließgleichgewicht in elektronischen Refresh-Zirkeln zustandekommt.

Diese Variabilität markiert einen grundsätzlichen Wandel der Bildlichkeit. Im Gegen­satz zu klassischen Bildmedien wie Photographie und Film ist beim computererzeugten

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Bild die bildliche Aufzeichnung nicht mehr invariabel in einen Träger, das Negativ, einge­bettet, sondern stets „fließend". Nicht erst in einem zweiten Schritt, ausgehend vom fi­xierten Negativ, sondern zu jedem Zeitpunkt können beim digital gespeicherten „Bild" Veränderungen vorgenommen werden, das insofern die Bestimmung eines „originalen" Zustands nicht ermöglicht. Aufzeichnungszustand und eine nachträgliche Veränderung, die im photographischen Prozess noch unterschieden werden können, fallen beim digital gespeicherten „Bild" zusammen102 - wobei es sich tatsächlich nur noch um permanente Zwischenspeicherung handelt. Der Ausfall eines materiellen Originals ist der Anfang des virtuellen Bildes - insofern virtuell Zustände meint, die nirgendwo, wenn nicht innerhalb des elektronischen Raums existieren; eine Differenz also zum Video- und Fernsehbild, das zwar nicht minder elektronisch flimmert, aber durch seine Referenzialität auf Lichtquellen außerhalb seiner selbst angewiesen ist - außer im Rauschen. Digitale Bilder sind also nicht mehr analog zu photographischen Dokumenten zu lesen, sondern als Verbildli­chung, Visualisierung einer mathematischen Struktur, von Algorithmen nämlich. Deren Ab­bild sind sie in der Tat - Photographien von inneren Maschinenzuständen zweiter Ord­nung sozusagen. Der Verlust des Originals findet schon im Prozess der elektronischen (Trans-)Skription statt, wenn nämlich alles Dazwischen von ο und ι fortfällt (dem suchte Gotthard Günther eine mehrwertige Logik entgegenzustellen); hier kommt der technische Unterschied zwischen Raster- und vektorgraphischem Bildschirm ins Spiel.

Im Digitalen sind <...> die Bestandteile einer Datei diskrete Zustände. Das bedeutet für digitale Bilder: Es gibt nichts zwischen einem Pixel und den angrenzenden Pixeln. Dis­krete Zustände sind für den Menschen aber sinnlich nicht erfahrbar; die Physis seines Wahrnehmungsapparates und auch seines Körpers ist vom Analogen, kontinuierlich in­einander Übergehenden gekennzeichnet. Das Digitale kommt also einher mit einem Ver­schwinden des Körpers darin.103

Gerade am (anderen) Ende dieser Austreibung aber erfolgt das re-entry des Kör­pers: Da seine Absicht ist, der Materialität des Pixels auf den Grund zu gehen, besteht Andreas Menns medienarchäologische Konsequenz darin, zunächst jedes Pixel eigenhän­dig, also mit dem eigenen Körper, zu produzieren. Dem Erscheinen seines Körpers im Bild vor einer digitalen Kamera entspricht „1" , seinem Verschwinden „o". Er wird von der Ka­mera gescannt - mithin also getaktet. Und so heisst die aus den Bildern seines Körpers als Pixelmenge geformte Schrift, mit Abstand betrachtet, als Satz: „Ich möchte nur noch digital arbeiten" (also leben in diskreten Zuständen, ergänze ich) (Abb. 15).

Angesichts des Virtuellen - also des nur im elektronischen Raum Stattfindenden -wird die klassische Unterscheidung von Original und Kopie obsolet. „Virtuell heisst: sicht­bar, aber nicht existent."104 Was heisst das nun für die Archivierung von Videokunst? Für Dan Grahams Video-Installation, deren Hardware verlorengegangen ist, gilt jedenfalls, dass der Computer dieselbe jetzt zu emulieren vermag, die frühen reel-to-reel Video­decks. Das eine ist die Speicherung der Medienkunstwerke, das andere, mit ihnen wieder zu arbeiten. Die musealen Arbeits- und Ausstellungsversionen sind als digitale Emulation denkbar105; das videotechnische Original verbleibt in Reserve, als stillgestellte Autorisie­rung derselben. Was wird mit künstlerisch gestalteten Webpages geschehen, im Zeitalter jenseits des Internet?

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Zeitverzögerung

Dem delay zwischen Aufzeichnung und Sendung entspricht auf Rezipientenseite die Ver­wandlung von Fernsehen in Video als Zeitversetzung der (technischen) Sendung. Der Me­dienkünstler Dan Graham hat diese technische Differenz wahrnehmungsästhetisch zum Einsatz gebracht, in den sieben Variationen seiner Video Delay Rooms von 1974 (zu­nächst in der Ausstellung Projekt 74 in Köln): On Monitor 1 a spectator from audience Α can see himself only after an 8 second delay. While he views audience Β (in the other room) on Monitor 2, this audience sees him live on the Monitor whose image can also be seen by audience A. <...>As 8 seconds have passed, the composition of the continuum which makes up audience B, has shifted as a function of time.106

Was im analogen Videobildraum verlorengeht, führt zur entropischen Auflösung des Originals oder besser: zum zeitverzogenen Original, also zur Auflösung des Originalbe­griffs in der Videozeit, der spezifischen Videozität. Graham zeigte es mit seiner Video-In­stallation Present continuous past 1974: Der Betrachter sieht sich selbst im Video-Moni­tor mit Zeitverzug (closed circuit). In einer Vielzahl von Fluchtpunkten dezentriert der Raum der Repräsentation den Blick und zerstreut ihn in einem mehrdeutigen räumlichen Feld. Die Unterscheidung zwischen Kontemplation und Gebrauch wird ausradiert; eins umfasst komplett das andere (Ulrich Look). Die Oszillation eines solchen Blicks entspricht der Dekonstruktion der Repräsentationsbeziehung durch Autorepräsentation; hier finden wir die Repräsentation der Repräsentation, Darstellung ohne Dargestelltes. Die Monitor­wand läßt sich durch sich hindurch auf sich selbst im Bild sehen. Es ergibt sich eine Folge von ineinandergeschachtelten Darstellungen, die theoretisch sich solange fortsetzt, wie die Videoanalge in Betrieb ist, praktisch aber sich bald in der entropischen Dichte der Bildkörnung verliert. Eine solche Darstellung dekomponiert sich selbst.

Womit wir radikal daran erinnert werden, dass - ganz im Sinne des Instituts für zeitbasierte Medien an der Berliner Hochschule der Künste - technische Bilder den Funk­tion der time axis manipulation ausgeliefert sind.

„Home video is overwhelmingly used as a vtime shiff phenomenon, moving a par-ticular broadcast programme to a point where it is convenient to watch it"107; diese Zeit­verschiebung (differance) steht im Zusammenhang mit der sozialen Organisation von Zeit überhaupt. „Archivkdeotisi>erung und Time-Shifting erhöhen die Disponibilität der Zeit, weil Speichermedien Daten zeitlich disponibel halten"; Beck spricht von Zeitpuffern.108

Prägen wir hier das Stichwort vom „dynamischen Speicher".

Die Ästhetik der live-Übertragung als technische Tatsache und als Ästhetik mar­kierte in der Frühphase des Programmfernsehens „nicht nur die Mediendifferenz zum Film, es stand auch für eine Konvergenz zum alten, nach 1945 rasch als Kunstmedium re­habilitierten Theater".109 Und beiden medialen Formen eignet das Risiko des (technischen) Unfalls oder vielmehr eine Ästhetik der UnVorhersagbarkeit. Wobei gleichzeitig der ganze Unterschied in der archivischen Präskription liegt, sobald TV auf MAZ umschaltet (und der Speicher somit die Differenz macht): Denn im Unterschied zur Unwiederholbarkeit einer Bühnenaufführung ist eine aufgezeichnete Theaterübertragung im Fernsehen reproduzier­bar: Jeder Moment der Livesendung wird auf Magnetband (und heute auf Festplatte digi­tal) fixiert. Das scheinbar Unwiederholbare der reinen theatralischen Präsenz ist also, im technischen Raum, schon der Iteration präskribiert; es gibt damit weder das Original

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noch den Ursprung, ganz im Sinne von Jacques Derridas Grammatologie, aber auch von Freud und Marx. So schreibt Rosalind Krauss von Multiples without Originals für ein Prin­zip, das auf einer als Wiederholung konzipierten Originalität, auf der originären Repro­duktion beruht.110

Die Direktübertragung der Krönung der britischen Königin Elisabeths II. am 2. Juni 1953 mit Hilfe der Tele-(also Zwischen-)filmübertragung war eine relativische Verschrän­kung von Zeitzonen- und technischer Zwischenspeicher-differance. Wobei die Autorisation der Qualität live für den Betrachter nicht im technischen Artefakt liegt: „Allein aus den Bildern kann er es spätestens mit der Einführung der Magnetaufzeichnung ab 1958/59 nicht entnehmen, ob es sich nicht doch um eine Aufzeichnung handelt"111; diese Informa­tion wird außerhalb des Bildes gegeben, parergonal - eine verzeitlichte (zeitlich verzerrte) Variante zum Begriff des Originals.

Aus dem transitorischen Charakter des Fernsehprogramms ergab sich die „Aura" der künstlerischen und publizistischen Produkte dieses Mediums, das, auf die „techni­sche Reproduktion" von Originalereignissen gegründet, nach der Theorie von Walter Ben­jamin jegliche Aura entbehren müsste. Die Flüchtigkeit der Sendung als Live-Ereignis schien geeignet, die Aura des Einmaligen und Nichtwiederholbaren für das Fernsehpro­gramm und vor allem dessen künstlerische Formen zu retten. Diese „Aura" ist mit der „Filmisierung" des Programms und mit der Umstellung auf die elektronische Aufzeich­nung als Grundlage eines Programmstocks verlorengegangen.112

Photographische Reproduktionen von Kunstwerken akzentuieren ihren ubiquitären Ausstellungswert; ihnen ist Benjamin zufolge die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Reproduziert in Zeitschriften, bedürfen sie der Wegweiser, der Indizie­rung also: In ihnen ist die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden. Und es ist klar, dass sie einen ganz anderen Charakter hat als der Titel eines Gemäldes. Die Direktiven <...> werden bald darauf noch präziser und gebieterischer im Film, wo die Auffassung von jedem einzelnen Bild durch die Folge aller vorangegangenen vorgeschrieben erscheint.113

Hier herrscht das archivische Regime der Registrierung, die aber nicht auf eine lo­gistische Operation reduzibel ist, wie es Benjamin in Konvolut Ν seines Passagen-Werks ausführt. Der „historischer Index" eines Bildes meint nicht schlicht sein Datum, sondern impliziert, dass es erst in einem spezifischen Moment zur Lesbarkeit gelangt - dem Jetzt seiner Erkennbarkeit.114

Benjamin beschreibt hier kulturwissenschaftlich, aber technisch unspezifisch, was apparativ präzise die doppelte Zeitoperation des Videorecorders ist: einerseits Zeitpro­zesse aufzeichnen zu können, die andererseits selbst zeitbasierte technische Prozesse darstellen. Im digitalen Raum wird diese Sachlage radikalisiert, denn diskrete Größen sind problemlos zwischenzuspeichem und damit schon der Zeitachsenmaniplation zu­gänglich."5

An die Stelle der Zeitlichkeit (als Essenz) des Originals tritt - zumal in der Epoche der digitalen Text-, Ton- und Bildspeicher- die Synchronizität des medienarchivischen Zu­griffs. Benjamin beschreibt diese „Dialektik im Stillstand" in elektronischen Begriffen, die nicht metaphorisch zu nehmen, sondern als Hinweis auf ihre technischen Dispositive zu lesen sind; analog dazu ist ein Videobild das, worin „das Gewesene" und „das Jetzt" in

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einer Konstellation blitzhaft zusammenkommen. Dieser Blitz heisst Strom, und in ihm ver­flüssigt sich das einstige Original.

Originale, die auf Zeit basieren

Was bedeutet die Allianz von Fotografie und Originalbegriff im Unterschied zum zeitba­sierten technischen Bild? Das Archiv ist das Dispositiv der Fotografie, im Unterschied zum technischen (Fernseh-)Bild, das nicht auf Speicherung, sondern auf Übertragung, auf Sen­dung hin angelegt ist. Fotografie oszilliert zwischen juridisch-historischem Dokument und medienarchäologischem Monument: Aufgrund ihrer optiko-chemischen Genese kann die Fotografie die „Dagewesenheit" eines abgebildeten Gegenstandes bezeugen, aber auch das aktuellste Foto erreicht niemals die Gegenwart: Die Zeit der Fotografie ist die immer bereits vergangene Zeit der Belichtung, die zudem nur einen ganz bestimmten Moment (so kurz oder lang er sein mag) isoliert und fixiert - und ihn dadurch unweigerlich zum entscheidenden, bedeutungsvollen erhebt.116

An die Stelle des auratischen hie et nunc im Sinne Benjamins tritt bei der Fotogra­fie die neue Kategorie der Raum-Zeitlichkeit: örtlich unmittelbar und zeitlich vorherge­hend, das So war es also. „Damit besitzen wir <...> eine Realität, vor der wir geschützt sind" - wie durch den Monitor.117 Demgegenüber heisst die live-Übertragung im Fernse­hen die zeitliche Unmittelbarkeit und räumliche Andersheit (ein alibi). Dabei wird, genau und damit den live-Effekt jenseits der Ebene menschlicher, also träger, inerter Wahrneh­mung betrachtend, das „Vorbild" des Fernsehbildes sukzessive abgetastet, beruht also nicht auf einem instantanen Moment (Standbild in Foto und Film), sondern auf einem zeitbasierten, transitorischen Prozess. Es ist damit nicht feststellbar und befindet sich in ständigem Entzug wie die Gegenwart selbst118 - ein aus Filmwahrnehmung (24 Bilder/Sek.) und im Grunde schon vom Lesen her - diskrete Lettern, die in der Lesung zu Worten sich formen - vertrautes Wahrnehmungsphänomen.

Dies ist die Kehrseite einer Münze, die mit dem Genre von Kunst-Performances ins Spiel kam: daß diese zwar durch Videoaufzeichnung dokumentiert werden können, aber immer nur als die singulare Version im Unterschied zu späteren Varianten.

Wenn in technischen Medien das Gespeicherte auch übertragbar ist, wird der Origi­nalbegriff radikal verzeitlicht, diskretisiert - Originale auf Zeit. Das gilt für die Zeitma­schine Videorecorder gerade auf der medienarchäologisch untersten Ebene, denn er spei­chert den Bewegungsfluss von Fernsehsignalen und damit discrete moments in time, ein­zigartige, punktförmige Zeit-Momente: Reproduktion (in) der Zeit. In der techisch indu­zierten kulturellen Akzentverschiebung von der Speicherung zur Übertragung geht Kom­munikation, einmal geäußert, damit immer schon in der Sendung auch verloren: Wo noch Schriftlichkeit herrscht, erfolgt sie kaum noch auf ununterbrochenem direkten Wege, son­dern das Original wird umgewandelt, überwindet den Raum als elektronisches Signal und wird erst beim Empfänger wieder restitutiert. Es entsteht gewissermaßen eine Fernkopie, der wesentliche Qualitäten der ursprünglichen Vorlage fehlen.119

Wie nun kann das Aufzeichnungs- und Wiedergabemedium Video an den Diskurs des Originals gekoppelt werden, wenn sein Wesen - im Unterschied zum (scheinbar) rei­nen Sendemedium Fernsehen - gerade darin besteht, Bilder zwischenzuspeichem,

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vorzu(ent)halten? Vielmehr bricht das Speicher-, also Unterbrechungsmedium Videorecor­der ja genau jenen Programmfluss (flow), der Raymond Williams zufolge gerade die Aura des traditionellen Fernsehens ausmacht. Oder ist diese zweite Aura-Komponente des Fernsehens, nämlich die live-Ausstrahlung, gerade ein ästhetischer Retro-Effekt gegenü­ber der Video-Aufzeichenbarkeit?

Auch und gerade wieder im Zeitalter der filmischen und elektromagnetischen Fern­sehkonserven haben solche Live-Sendungen einen bedeutenden Stellenwert für die Aura des Mediums als gemeinschaftsstiftendem kommunikativen Organisator. Die zeitliche ver­setzte Repetition eines als Direktsendung ausgestrahlten Programmes hebt sowohl die temporale Synchronität von Ereignis und seiner Fernsehvermittlung auf.120

Mit dieser radikalen Individualisierung von Zeit kehrt auch der diskrete Zeitmoment zurück, dessen Verlust Benjamin in seinen Ausführungen über die Aura des Kunstwerks noch beklagt hatte: „Es gibt kein individuelles "Jetzt' mehr, das eindeutig auf ein "Vor­her' und "Nachher' verwiesen ist. Das Subjekt ortet sich nicht mehr an einer Zeitstelle, sondern empfindet nur noch Dauer."121 Nur dass die Art und Weise der Sinneswahrneh­mung menschlicher Kollektiva nicht so sehr eine Funktion des historischen Wandels ge­sellschaftlicher Bedingungen ist, sondern vielmehr der medialen - weshalb auch keine historische, sondern medienarchäologische Analyse vonnöten ist.

Die Originalität von Video liegt - mit dem Speichermedium Film - darin, dass es Zeit, also Prozesse abzubilden vermag (anders als die Malerei, die solche Prozesse immer nur symbolisch oder allegorisch verdichten kann).

Nam June Paiks Videokunstinstallationen lassen sich u. a. auf Lessings Laokoon-Thesen zurückführen: „Die Videokunst macht die Natur nach, nicht ihr Aussehen oder ih­ren Stoff, sondern ihren inneren Zeitaufbau (...) nämlich den Prozess des Altwerdens (eine bestimmte Art der Irreversibilität).122 Sie teilt damit eine von Benjamin registrierte Eigen­schaft mit der Musik im Unterschied zur Malerei. Benjamin zitiert Leonardo: Die Malerei ist der Musik deswegen überlegen, weil sie nicht sterben muss, sobald sie ins Leben ge­rufen ist, wie das der Fall der Unglücken Musik ist ... Die Musik, die sich verflüchtigt, so­bald sie entstanden ist, steht der Malerei nach, die mit dem Gebrauch des Firnis ewig ge­worden ist.123

Das Videowerk verfügt über eine Einmaligkeit, die - anders als in Benjamins Krite­rium für die auratische Einmaligkeit des originalen Kunstwerks - nicht im Hier und Jetzt, sondern gerade in der zeitlichen Erstreckung liegt.

Die „Zeit-Strukturierung" ist dabei nicht nur notwendiger „Ausgangspunkt" wie bei der Organisation jeder filmischen Bewegung. Sie kann durchaus als nach außen ge­brachte Essens videokünstlerischen Arbeitens gewertet werden.124

Soweit das analoge Video. Im digitalen, virtuellen Raum aber gilt jedes einzelne Pi­xel als zeitlich diskretes Ereignis, und damit als Original. So dass ich die Frage nach dem Originalbegriff im Zeitalter virtueller Medien modizifiert beantworten möchte: Im Raum der virtuellen Medien gilt nur noch die diskrete Bitkonfiguration als Original auf Zeit -ganz im Sinne Walter Benjamins als einmalige Erscheinung, aber nicht mehr in der Ferne, sondern in der Zeit. Das Original geht in den televisonären, zeitbasierten Medien in der Übertragung auf; das Original wäre also, analog zu Benjamin, von der Übersetzung her

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zu begreifen: „Translatability, after all, comes about only in time and for a time, and translation is not a mere transcription"125.

ι Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Zweite Fassung], in: Ge­sammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 21978-89, Bd. 1.2 (Abhandlungen) 1978, 431-508 (479)

2 Peter M. Spangenberg, Lemma Aura, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe . Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart / Weimar (Metzler) 2000, 400-416 (402)

3 Zitiert nach: Jochen Hörisch, Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1999,185t

4 Spangenberg 2000: 403ff

5 In seiner Rezension zu Susan Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, übers, v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2000, in: zitty <Berlin> 15/2000, 58

6 Stefan Krempl, Kommt die GEMA-Gebühr für den Computer? (im Gepräch mit Peter Bartodziej), http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/on/247i/i.html <27. September 1998)

7 Kunstwerk 2. Fassung: 475

8 Paul Valery, Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit, in: ders., Über Kunst. Essays [La conquete de l'ubiquite, in: Pieces sur l'art, Paris 0. J.], Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1959, 46-51 (47)

9 Roger Blumberg, Diskussionsbeitrag zum Kolloquium Excavating the archive: new technologies of memory, Parsons School of Design, 3. Juni 2000, New York

10 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1. Fassung (entst. 1935), in: Benjamin, GS, Bd. 1/2 (1978): 438f

11 Spangenberg 2000: 406

12 Meldung von Detlef Borchers in der Rubrik Online in: Die Zeit Nr. 30 v. 20. Juli 2000, 26

13 Tilman Baumgärtel, Besseres Fernsehen, schöne Momente. Ein Gespräch zwischen Klaus vom Bruch und Da­niel Pflumm, in: Kunstforum International Bd. 148, Dezember 1999-Januar 2000, 98-105 (101)

14 Hans Ulrich Reck, Erinnern und Macht, Wien (WUV) 1997, 151

15 Dazu Marc Poster, Des Kapitalismus' linguistische Wende. Die Ware im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzier­barkeit, in: Utz Riese (Hg.), Kontaktzone Amerika. Literarische Verkehrsformen kultureller Übersetzung, Hei­delberg (Winter) 2000, 317-333 (324 u. 329)

16 Jürgen Ostermann, Datenschutz, in: Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, 6 Bde, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) i983ff, Bd. 5 (1987), Kapitel XXI „Daten­schutz", 1114

17 Daniel C. Dennett, Philosophie des menschlichen Bewußtseins, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1994, 271

18 Dazu Jörg Morgenau, Verwerter und Hervorbringer, in: die tageszeitung v. 9. September 1998, 19

19 Publishing agreement mit Routledge, (Zeitschrift Rethinking History), Version 1998

20 Dazu Uwe Mattheiss, Krieg der Kopierer. Das Urheberrecht in Zeiten weltumspannender Informationsnetze, in: Süddeutsche Zeitung v. 28. September 1998

21 Philipp Möhring (Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlshruhe), Können technische, insbesondere Com-puter-ERzeugnisse Werke der Literatur, Musik und Malerei sein?, in: UFITA 50 (1967), 835-843 (837)

22 Benjamin, Kunstwerk 2. Fassung 1936: 474

23 Siehe Stefana Sabin (Rez.), über: Marc Baratin / Christian Jacob (Hg.), „Le pouvoir des bibliotheques". La me­moire des livres en Occident, Paris (Albin Michel) 1966, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9. Oktober 1996

24 Dazu Friedrich Kittler, Zeitsprünge. Ein Gespräch mit Birgit Richard, in: Kunstforum International Bd. 151 (Juli-September 2000), 100-105 (102)

25 Zitiert nach Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie I. 1839-1912, München 1980, 121

26 C. M. Stibbe, The Archaeological Evidence, in: ders. u. a., Lapis Satricanus. Archaeological, Epigraphical, Lin-guistic and Historical Aspects of the New Inscription from Satricum, 's-Gravenhagei98o, 21-40 (27)

27 Harun Farocki, Die Wirklichkeit hätte zu beginnen, im Ausstellungskatalog: Fotovision. Projekt Fotografie nach 150 Jahren, Hannover (Sprengel Museum) 1988, 122

28 Benjamin 1978: 480

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29 Rosalind E. Krause, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. v. Herta Wolf, Am­sterdam / Dresden (Verlag der Kunst) 2000, 210

30 Kathleen Wright, The place of the work of art in the age of technology, in: Martin Heidegger. Critical Reas-sessments, hg. v. Christopher Macann, Bd. IV: Reverberation, London / New York (Routledge) 1992, 247-266 (255-7). Siehe auch Joseph Kockelmans, Heidegger on Art and Art Works, Dordrecht (Nijhoff) 1985

31 „Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks führt zu seiner Ummontierung": Walter Benjamin, GS Bd. I 1978: 1039 (präliminarische Notizen zu Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit)

32 Zitiert nach: Angelika Beckmann, Ein „Wegweiser zum Sehen". Walter Heges Photographien von Kunstwerken - Intentionen und Gestaltungsweise, in: dies. / Bodo von Dewitz (Hg.), Dom - Tempel - Skulptur. Architek-turphotographien von Walter Hege, Kataloghandbuch Agfa Foto-Historama Köln (Wiegand) 1993, 14-22 (20)

33 Jacques Derrida, Grammatologie [*Paris 1967], Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973

34 Rosalind E. Krauss, Die fotografischen Bedingungen des Surrealismus, in: dies. 2000: 129-162 (154)

35 Klaus Bartels, Vom Erhabenen zur Simulation. Eine Technikgeschichte der Seele: Optische Medien bis 1900 (Guckkasten, Camera Obscura, Panorama, Fotografie) und der menschliche Innenraum, in: Jochen Hörisch / Michael Wetzel (Hg.), Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920, München (Fink) 1990, 17-42 (18), unter Bezug auf: J. Baltrusaitis, Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft, Köln 1984, 131

36 Böttiger, in: Artistisches Kunstblatt Nr. 22 (1826); hier zitiert nach: Otto Magnus von Stackeiberg, Schilderung seines Lebens und seiner Reisen in Italien und Griechenland, nach Tagebüchern und Briefen dargestellt von N. von Stackeiberg, Heidelberg 1882, 402t

37 Rosalind E. Krauss, Die diskursiven Räume der Fotografie, in: dies. 2000: 175-195 (177)

38 Jean-Claude Lebensztejn, L'espace de l'art, in: ders., Zigzag, Paris (Flammarion) 1981, 41

39 Wolfgang Kemp: „The image must first be framed before it can be linked with another", zitiert nach: Gerald Mast, On Framing, in: Critical Inquiry 11 (September 1984), 82-109 (82)

40 Krauss 2000: 211

41 Siehe Brian O'Doherty, Die weisse Zelle und ihre Vorgänger, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985

42 Vgl. Martin Groß, Ein neuer Buchtyp: das bibliographische Bulletin, in: Ästhetik und Kommunikation Heft 67/68, Jg. 18 (1987), 5

43 Dazu Wolfgang Ernst, Mehr Speicher, weniger Museum. Cyberspace als Datendepot und musealem Reprä­sentationsraum, in: Rosmarie Beier (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne. Vom Präsentieren des Vergangenen, Frankfurt/M. / New York (Campus) 2000, 279-297

44 Hai Foster, The Archivde without Museums, in: October 77 (1996), 97-119, paraphrasiert von: Wolf 2000: 22

45 Memoire zum Entwurf für ein Deutsches Historisches Museum in Berlin, 7. September 1987 (Typoskript)

46 LAB F AC, im Dezember 1987 (Typoskript)

47 LAB F AC, Wettbewerb Deutsches Historisches Museum in Berlin, Text 748707 (Typoskript)

48 Dazu Helene Maimann, Das wahre Bild der Vergangenheit, in: dies. (Hg.), Die ersten 100 Jahre. Österreichi­sche Sozialdemokratie 1888-1988, Ausstellungskatalog (Gasometer Wien 1989), 13

49 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1974, 482

50 Krauss 2000: 203t

51 Aus der Bedienungsanleitung des Kopierers MINOLTA EP 450/450 Ζ

52 Ursula Frohne, Old Art and New Media. The Contemporary Museum, in: Afterimage. The Journal of Media Arts and Cultural Critiscism, Bd. 27, Nr. 2, September/ Oktober 1999

53 Dazu Ursula Frohne, Ars oblivionis: Die Kunst des Sammeins im digitalen Zeitalter, in: Gerda Breuer (Hg.), summa summarum: Sammeln heute, Frankfurt a. M. / Basel (Stroemfeld) 1999, 109-128 (125)

54 Ebd., 117

55 Vgl. Ulrich Look, Dekonstruktionen des Kunstwerks. Zu Arbeiten von Daniel Buren, Michael Asher und Dan Graham, Diss. (Ruhr-Universität Bochum), i24f, zu Michael Ashers Ausstellung im Mies van der Rohe-Bau Mu­seum Haus Lange, Krefeld

56 Joan Kristin Bleicher, Symbolwelten des Fernsehens. Anmerkungen zur spezifischen Raumstruktur der Narra-tionen, in: Sabine Flach / Michael Grisko (Hg.), Fernsehperspektiven. Aspekte zeitgenössischer Medienkultur, München (KoPäd) 2000, 114-132 (129), unter Bezug auf: John Fiske, Television Culture, London / New York 1987, 21

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57 Hanno Rautenberg, Der Kampf um die Lufthoheit [über Helmut Jahns Berliner Sony-Center], in: Die Zeit Nr. 26 v. 21. Juni 2000, 45

58 Krauss 2000: Anmerkungen zum Index: Teil 1, 249-264 (251)

59 Ulrike Hick, Die optische Apparatur als Wirklichkeitsgarant. Beitrag zur Geschichte der medialen Wahrneh­mung, in: montage/av 3/1/1994, 83-96 (88), unter Bezug auf: Johannes Kepler, Johannes Keplers Gesammelte Werke (KGW) 2, hg. v. Max Caspar, München (Beck) 1938

60 Maren Plentz, Medienkunst - eine Chronologie, in: Flach / Grisko (Hg.) 2000: 254-266 (263)

61 Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, übers, v. Die­ter Hornig, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1990, 31t

62 Charles Sanders Peirce, Die Kunst des Räsonierens, in: ders., Semiotische Schriften. Bd. 1, hg. u. übers v. Christian Kloesel / Helmut Pape, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1986, 193

63 Hans Ulrich Reck, Auszug der Bilder? Zum problematischen Verhältnis von Erinnern, Techno-Imagination und digitalem Bild, in: Norbert Bolz / Cordula Meier / Birgit Richard u. Susanne Holschbach (Hg.), Riskante Bilder. Kunst, Literatur, Medien, München (Fink) 1996, 103-116 (109t)

64 Frohne 1999b: 124

65 David Morley, Television: Not so much a Visual Medium, more a Visible Object, in: Chris Jenks (Hg.), Visual Culture, London / New York (Routledge), 170-189 (170)

66 Zitiert nach: C. Darke, Feelings along the body, in: Sight and Sound (Dezember 1993), 26

67 Sven Drühl, Achim Mohne - Zeitverschiebungen und Beobachtungen zweiter Ordnung, in: Kunstforum Inter­national Bd. 151, Juli-September 2000, 146-151 (151)

68 Achim Mohne im Interview mit Sven Drühl am 30. Oktober 1999 im Kölner Atelier, zitiert ebd.

69 Martin Emele, Der Computer rekonstruiert uns die Zitadelle des Königs Priamos, in: Kurt Denzer (Hg.), Cinar-chea. Sichtweisen zu Archäologie-Film-Kunst, Kiel (Ludwig) 2000, 26-29 (26)

70 Christiane Deußen, Vorwort, in: dies. u. Dt. UNESCO-Kommission (Hg.), Geschichte und Erinnerung - Ge­dächtnis und Wahrnehmung, Bonn 2000, 3-5 (4)

71 In diesem Sinne ein Diskussionsbeitrag von Ottfried Dascher (Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, Düsseldorf), in: „Ein kulturelles Erbe bewahren und nutzen ...": Vorträge und Diskussionsbeiträge, Sympo­sium zur Film- und Videoarchivierung in NRW, Red. Wolf-Rüdiger Schieidgen, Düsseldorf (Nordrhein-Westfäli­sches Hauptstaatsarchiv) 1996, 85

72 Karlheinz Barck u. a. 2000, Vorwort der Herausgeber, ix

73 Siehe Albert E. Elsen (Hg.), Rodin Rediscovered, Ausstellungskatalog the National Gallery of Art Washington, 1981, 256

74 Albert Elsen, Organisator der Ausstellung Rodin Rediscovered in der National Gallery of Art in Washington, zi­tiert in: Krauss 2000: 221

75 Karlheinz Barck u. a. 2000, Vorwort der Herausgeber, ix

76 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1. Fassung (entst. 1935), in: Benjamin Bd. 1/2 (1974): 438 f

77 Krauss 2000: 209

78 Jacques Derrida, Scribble: Writing Power, in: Yale French Studies 58 (1977), i46f

79 Barbara Johnson, Erasing Panama: Mallarme and the Text of History, in: Α world of difference, Baltimore/Lon­don 1989, 67

80 Agentur Bilwet, Medien-Archiv (1992), übers, v. G. Boer (Bensheim / Düsseldorf 1993), 27; dazu Spangenberg 2000: 410

81 Roland Barthes, S/Z [1970], übers, v. Jürgen Hoch, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1976, 59

82 Jane Austen, Northanger Abbey [1818], dt.: Die Abtei von Northanger, übers, v. Christiane Agricola, Zürich (Dio­genes) 1996, 124ΙΪ

83 Zitiert nach: Anton Kaes, History and Film, in: History & Memory 2, Heft 1 (Herbst 1990), 121

84 Benjamin, Kunstwerk, 2. Fassung: 481; meine Hervorhebung

85 Samuel Weber, Virtualität der Medien, in: Sigrid Schade / Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München (Fink) 1999, 35-49

86 Peter Janich, Die Naturalisierung der Information.Stuttgart (Steiner) 1999, 44f

87 Walter Benjamin, GS, 4. Band, 1. Teil: Die Aufgabe des Übersetzers, Vorwort zu: Charles Baudelaire. Tableaux parisiens, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1972, 9-21 (10)

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88 Claude E. Shannon / Warren Weaver, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München (Olden-bourg) 1976 1*1949]

89 Christopher Fynsk, The Claims of History, in: diacritics 22 (Herbst/Winter 1992), 115-126 (120)

90 Siegfried Zielinski, Audiovisuelle Zeitmaschine. Thesen zur Kulturtechnik des Videorekorders, in: ders. (Hg.), Video -Apparat / Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader, Frankfurt a. M. u. a. (Lang) 1992, 91-114 (91)

91 Jutta Schenk-Sorge, Sugimoto: Portraits, Deutsche Guggenheim Berlin, März-Mai 2000, in: Kunstforum Inter­national Bd. 151 (Juli-September 2000), 314t (315)

92 Krystian Woznicki, Wenn Videokunst der Malerei huldigt, in: Berliner Zeitung v. 19. Mai 1999

93 Sigrid Schade, Zur verdrängten Medialität der Kunst, in: dies. / Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwi­schen Kunst und Medien, München (Fink) 1999, 269-291 (279)

94 Verneinend dazu: Slavko Kacunko, Feed Back und Feed Forth, in: Katalog Videofestival Bochum 2000, 46t

95 Nach einem Begriff von Meredith Mendelsohn, Vidiocy Prevails, in: ArtNet Magazine 1999

96 In diesem Sinne Irmela Schneider auf der Podiumsdiskussion „Video in der Medienkunst" im Rahmen des Zehnten Internationalen Bochumer Videofestivals, 24.-27. Mai 2000

97 Andreas Menn, Textbeilage (Köln, Juli 2000) zu seinem Digitalvideo Workout (1999), vorgestellt im Rahmen des Seminars Ikonologie der Energie, Kunsthochschule für Medien, Köln, Wintersemester 1998/99

98 Herta Wolf, in: Krauss 2000: 15

99 „Begriff und Methode der Archäologie", in: Handbuch der Archäologie im Rahmen des Handbuchs der Alter­tumswissenschaft, hg. v. W. Otto, Bd. I, Einleitung: München (Beck) 1939, 184-198 (191t)

100 Siehe Spangenberg 2000: 407

101 Benjamin, Charles Baudelaire, in: Benjamin Bd. 1/2 (1974): 646t

102 Claudia Reiche, Pixel. Erfahrungen mit den Bildelementen, in: Frauen in der Literaturwissenschaft. Rundbrief 48 (August 1996), Themenheft Science & Fiction, 59-64 (59)

103 Andreas Menn, Textbeilage (Köln, Juli 2000) zu seinem Digitalvideo Workout (1999), vorgestellt im Rahmen des Seminars Ikonologie der Energie, Kunsthochschule für Medien, Köln, Wintersemester 1998/99

104 Klaus Kreimeier, Fingierter Dokumentarfilm und Strategien des Authentischen, in: Kay Hoffmann (Hg.), Trau-Schau-Wem. Digitalisierung und dokumentarische Form, Konstanz (UVK Medien) 1997, 29-46 (44)

105 „Ein Emulator ist ein Programm, das es möglich macht, Software auf einem Computer laufen zu lassen, die eigentlihc für einen ganz anderen Computer gedacht ist. <...> Auch können neue Prozessoren komplett als Software emuliert und so in ihren Funktionen getestet werden. <...> Etwa dass sie alte, längst vergessene Be­triebssysteme nachbilden, damit steinalte Software auf modernen Rechnern überhaupt noch laufen kann." Detlef Borchers, Der simulierte Computer, in: Die Zeit v. 18. Februar 1999, 35

106 Dan Graham, Video - Architecture - Television, hg. v. Benjamin Buchloh, Halifax u.New York 1979, 11; dazu Sabine Flach, „TV as a fire-place". Dan Grahams Medienarbeiten als gesellschaftliche Analyse, in: dies. / Grisko (Hg.) 2000: 230-253 (234ff)

107 John Ellis, Visible Fictions. Cinema - Television - Video, revised ed., London / New York (Routtedge) 1992,112

108 Klaus Beck, Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewußtsein, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1994, 306

109 Peter Seibert / Sandra Nuy, Live is Live is Live. Vom Theater und seiner Inszenierung im Fernsehen, in: Flach / Grisko (Hg.) 2000: 200-212 (200)

110 Siehe Wolf 2000: 21, unter Bezug auf: Rosalind E. Krauss, Your Irreplacable You, in: Retaining the Original. Multiple Originals, Copies and Reproductions, Center for Advanced Study in the Visual Arts Symposium Pa-pers VII, National Gallery of Washington, Hanover, New England / London (UP of New England) 1989, 141-159 (154)

111 Knut Hickethier, Fernsehen, Modernisierung und kultureller Wandel, in: Flach / Grisko (Hg.) 2000: 18- 36 (32)

112 Peter Hoff, Schwierigkeiten, Fernsehgeschichte zu schreiben, in: Flach / Grisko (Hg.) 2000: 37-57 (41)

113 Benjamin 1978: 485

114 Walter Benjamin, GS, Bd. 5 (Das Passagen-Werk), 1. Teil: Ν 2a, 6 (Aufzeichnungen und Materialien), Frank­furt/M. (Suhrkamp) 1982, 577

115 Siehe Friedrich Kittler, Fiktion und Simulation, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer an­deren Ästhetik. Essais, hgg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris u. Stefan Richter, Leipzig (Reclam) 1990, 196-213 (204O

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n 6 Susanne Holschbach, TV-Stillgestellt: Fotografische Analysen gegenwärtiger Fernsehkultur, in: Flach / Grisko (Hg.) 2000: 213-229 (215)

117 Barthes 1990: 39

118 Holschbach a.a.O.

119 Volker Kahl, Interrelation und Disparität. Probleme eines Archivs der Künste, in: Archivistica docet: Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds, hg. v. Friedrich Beck, Potsdam (Verl. f. Berlin-Brandenburg) 1999, 245-258 (254)

120 Zur Geschichte des Videorecorders, Berlin (Wissenschaftsverlag Spiess) 1986, 326t

121 Heinrich Popitz u. a., Technik und Industriearbeit, zitiert hier nach Siegfried Zielinski ebd., 329

122 Zitiert in Zielinski 1992: 91-114 (96)

123 Leonardo da Vinci, Frammenti letterarii e filosofici, zit. nach Fernand Baldensperger, Le raffermissement des techniques dans la titterature occidental de 1840, in: Revue de Litterature Comparee, XVII, Paris 1935, 79 (Anm. 1), hier zitiert nach: Benjamin 1978: 498

124 Zielinski 1992: 96, unter Bezug auf: Wulf Herzogenrath, Videokunst. Ein neues Medium - aber kein neuer Stil, in: ders. (Hg.), Videokunst in Deutschland 1963-1982. Eine Dokumentation des Kulturkreises im Bundesver­band der Deutschen Industrie, Stuttgart 0. J. [1982], 15

125 Fynsk 1992: 123fr

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Diskussion: Der »Originalbegriff Im Zeitalter virtueller Welten

Axel Wirths: Ich möchte Michael Wenzke dafür danken, dass er einen Bericht aus der Pra­xis gegeben hat. Ich fand den Vortrag sehr aufschlussreich, es ist einmal ganz schön, dass es jemanden gibt, der so klar und deutlich über so ein komplexes Thema reden kann, weil er es einfach auch so behandelt. Auch den Vortrag von Wolfgang Ernst fand ich sehr interessant, wie er versucht hat den Originalbegriff erst zu zertrümmern und dann wieder aufzubauen.

Ich bin Kurator für Medienkunst und Leiter von 235 Media, Vertrieb und Agentur für Medienkunst. Seit 1982 haben wir eine aktive Vertriebsstruktur von 800 Bändern und ein Archiv von ca. 3000 Arbeiten aufgebaut. Darüber hinaus vertreten wir eine ganze Anzahl von Künstlern mit Installationen und sind aktiv daran beteiligt neue Produktionen zu re­alisieren.

Siegfried Zielinski: Bis vor einigen Tagen war ich Rektor der Kunsthochschule für Medien in Köln, jetzt bin ich wieder unterwegs in Sachen An-Archäologie der Medien, mei­nem eigentlichen Arbeitsgebiet. Der erste Videorecorder, mit dem ich praktisch arbeiten konnte, war ein „Philips-recorder" von 1963. Unter dem Oszilloskop konnte man die Fein­struktur der Signale sehen, von denen Wolfgang Ernst gesprochen hat.

Miklos Peternäk: Ich lehre in Budapest an der Medienabteilung der Kunsthoch­schule und ich bin der Leiter von C3, Centrum für Cultur und Communication in Budapest.

Axel Wirths: Ich werde zunächst die Standpunkte zusammenfassen. Wir kommen nicht darum herum, alle drei Themenbereiche, die heute diskutiert wurden, letztendlich zusammen zu basteln. Es ist heute deutlich geworden, dass sich in der zunehmenden strukturellen Erweiterung der Medienkunst, d.h. von Videokunst in Medienkunst, der Ori­ginalbegriff zunehmend auflöst und die Kunst prozesshafter wird. Die Kunst wird immer immaterieller und zugleich prozesshafter. Ich sehe das auch in Kombination mit der Rolle des Künstlers, der Funktion des Künstlers, d.h., der Künstler ist immer weniger dieser al­les könnende Genius, sondern bietet eher ein System von Werkzeugen und Interfaces an, die durch Algorithmen oder von Software-Programmen gesteuert werden. Arbeiten, die diese prozesshafte Struktur aufweisen, sind die Kommunikations-Kunstarbeiten von Bill Seaman oder auch der große Bereich von Arbeiten im Internet. D.h., der Originalbegriff muss in der Funktion auch mit der Rolle des Künstlers gesehen werden und dement­sprechend ändert sich überhaupt der Werkbegriff. Wir kratzen da an wirklichen Manifes­ten der Kunstgeschichte. Wenn sich der Werkbegriff zurückzieht auf eine vom Künstler zu­sammengestellte und gestaltete, und in Teilen neu erfundene database mit einem spezi­fischen interface, dann ist tatsächlich die Frage nach Werkbegriff und Originalität even­tuell sogar obsolet. Ich möchte Siegfried Zielinski in diesem Zusammenhang fragen, ob er nicht auch der Meinung ist, dass der Originalbegriff in der Zeit digitaler Reproduzier­barkeit obsolet ist. Ist er nicht einfach veraltet und gehört einem Kunstbegriff an, der mit den elektronischen Medien kaum noch etwas gemein hat.

Siegfried Zielinski: Nein, ich glaube, dass es umgekehrt ist. Da es offensichtlich so schwer ist, sich von dem Original zu verabschieden, lasst uns das einfach umdrehen und lasst uns sagen, wir haben unendlich viele Originale, das ist doch viel schöner. Darum

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geht es glaube ich. Alles was diskutiert worden ist auf den unterschiedlichen Ebenen, Wolfgang Ernst hat es am Schluss mit dem Begriff „Originalität auf Zeit" auf den Punkt gebracht, läuft darauf hinaus, dass diese neuen Prozesse und Werke nur in einem sehr kurzen Moment Original sein können. Sie werden sozusagen durch eine bestimmte Per­formance oder, um den Begriff von Jochen Gerz noch einmal mit aufzugreifen, durch eine bestimmte interpretierende Reproduktion originell. Wir müssen alles daransetzen, diese Art von Originalität produktiv ins Spiel zu bringen und uns vergegenwärtigen, was das heißt. Ich möchte einen wirklich wichtigen Punkt weltanschaulicher, philosophischer Art in die Diskussion bringen. Das Problem mit der Originalität haben die bildenden Künste im weitesten Sinne viel zu spät entdeckt. Die Physiker, die wohl am härtesten mit der ma­teriellen Realität zu tun haben, haben sich längst von der einen Realität verabschiedet. Spätestens seit den 50er Jahren - Everetts berühmtester Text über die „many worlds", über die vielen Welten die existieren, hat es deutlich gemacht. Für die Physiker gibt es nicht eine einzige originale Welt. Nur die bildenden Künstler glauben aus Gründen, die wesentlich mit dem Markt, mit der Geschichte und mit konservativen Kunsthistorikern und Kritikern zu tun haben, noch immer an diese eine Welt, die mit objektiven Maßstä­ben zu messen ist. Das scheint mir die Crux der ganzen Geschichte zu sein. Man muss sich auch vergegenwärtigen, dass diejenigen Künstler und Künstlerinnen, die mit Medien arbeiten, am wenigsten aus der Tradition der bildenden und der skulpturalen Künste kommen, sondern viel stärker aus der Performance , aus den performanten Künsten und aus der Musik. Von daher haben sie mit zeitbasierten Prozessen und Künsten viel mehr zu tun. Das halte ich für einen enorm wichtigen Punkt, ich finde diejenigen Künstler und Künstlerinnen am originellsten, die in diesem Bereich der Kunst mit und durch Medien arbeiten. Das sind die Künstler, die diesen Hintergrund haben und nicht diejenigen, die sozusagen ,expanded-painting' oder .expanded sculpturing' gemacht haben. Das sind für mich die Langweiligsten, aber die sind natürlich auch im Museum am besten aufgehoben.

Axel Wirths: Danke, Siegfried Zielinski, das war ein ganz interessanter Schlenker zur Performance, die schließlich Hand in Hand geht mit dem Originalitätsbegriff des Augen­blicks. Das ist schon eine sehr poetische Definition des Originalbegriffs, weshalb ich eher darauf verzichten würde. Man kann auch sagen, gut es gibt hunderttausend parallele Uni­versen, die alle Original sind. Das ist vielleicht die richtige Art und Weise, zumal wir heute auch in Erfahrung gebracht haben, dass es sehr stark davon abhängig ist, welche Hard­ware benutzt wird, welche Raumsituation vorhanden ist und wie das technische und das Bedienungspersonal geschult sind.

Wolfgang Ernst: Zwischen den analogen Bildmedien und dem digitalen Raum be­steht ein ganz fundamentaler Unterschied. Jeder Bildpunkt im analogen Raum hat noch den Charakter eines Index im Sinne, da er im Grunde noch verwandt ist mit der Fotogra­fie. Er verweist auf einen Lichtpunkt im Außenraum, dessen Übersetzung er ist. Jedes elektronische Bild hat quasi noch einen Berührungskontakt mit Lichtquellen außerhalb des Mediums, während im digitalen Raum oder im virtuellen Raum Dinge existieren, die nirgendwo existieren als im elektronischen Raum selbst. Das unterscheidet ja den Begriff des virtuellen auch von anderen Begriffen, so dass ein Bildpunkt auf einem Radarbild etwa noch mit der Außenwelt taktile Berührung hat, während im digitalen Raum ein Pixel nur noch aus purer Rechnung besteht. In dem Moment, in dem Dinge nur noch aus pu­rer Rechnung entstehen, haben sie diesen Charakter verloren und damit auch den Kon-

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takt mit der physikalischen Welt. Da würde ich die Trennlinie zwischen dem, was Original sein kann und dem, was nicht mehr Original ist, ziehen.

George Legrady: Ich möchte einige Anekdoten zur Frage des Originals aus der Per­spektive des Künstlers oder des Produzenten beitragen. Zuerst möchte ich betonen, dass bei der Produktion von digitalen Mediakunstwerken die Arbeit des Programmierens der kreative Akt ist. Diese Produktionskomponente, die wir normalerweise als sehr technisch sehen, also die Arbeit des Programmierens, formt und leitet auch das Endprodukt in eine bestimmte Richtung. Die Urheberschaft wird verteilt an Künstler und Techniker, die an der Produktion und am Entwurf mitarbeiten. Wenn ich ein Kunstwerk herstelle, dann gibt es bestimmte Variationen und manchmal ist die Version 26 diejenige, die ich verkaufe, manchmal ist es die Version 27. Schließlich ist das Original das Kunstwerk, das ich der Öffentlichkeit vorstelle, und die anderen sind die Versionen, die ich selber behalte. Viele der Arbeiten entstehen auch durch die Begrenzungen des Mediums, die Entwicklungszei­ten der Medien ändern sich sehr schnell, und ich habe schon erlebt, dass die Arbeiten, die ich vor sieben Jahren hergestellt habe, mit den neuen Geräten nicht genauso funk­tionieren. Die Konventionen, die Produktionsbedingungen haben sich geändert. Wenn ich in 15 Jahren etwas vorstellen möchte, was ich aber vor sieben Jahren hergestellt habe, dann muß ich wahrscheinlich das ganze Projekt neu aufrollen.

Reinhold Mißelbeck.· Als wir beschlossen haben den Originalbegriff hier zur Diskus­sion zu stellen, hat uns vor allem auch interessiert, was ein Museum, das ein Werk er­wirbt, seiner Sammlung integriert. Kaufen wir etwas Physisches oder etwas Ideelles, ist es vielleicht nur ein künstlerisches Konzept, das angesichts der technisch schnellen Ent­wicklung, die George Legrady gerade genannt hat, immer wieder in einer neuen techni­schen Form, in ein technisches Korsett gezwängt werden muss, um aufzuscheinen, um sichtbar zu werden. Oder erwerben wir tatsächlich ein Objekt im herkömmlichen Sinne, so wie wir eine Skulptur oder ein Gemälde kaufen, bei denen das Original eng mit der Materialität verbunden ist? Wenn ich Wolfgang Ernst richtig verstanden habe und an sei­ner Definition festhalte, dass auch im digitalen Film der eine Lichtpunkt existiert oder die Vielzahl des Aufblitzens von Lichtpunkten das Original definieren, dann muss ich daraus schließen, dass das Original dieser Definition entsprechend noch am Objekt hängt. Ein Lichtpunkt existiert da, wo es etwas gibt, was diesen Lichtpunkt erzeugt, also ist es ab­hängig von der Elektrik, von der Technik und einer Maschine. Diese Definition von Origi­nalität ist doch noch mit der Materialität verknüpft, und wenn ich Michael Wenzke richtig verstanden habe, dann kann die Versicherung nicht existierende Materialität nicht mehr decken. Das reine, im Internet floatende Konzept ist auch nicht mehr zu versichern. Ich muss die Idee des Konzepts, das das Museum erwirbt und das offen für die analoge und digitale Präsentation, für verschiedene Formen und Arten von Kopien ist, verabschieden. Stattdessen müßte ich die Idee verfolgen, dass der Originalbegriff auch in der Videokunst sehr stark mit dem Film, mit den materiellen Dingen verknüpft ist. D.h., im Extremfall wäre doch das erste Band, das ich einmal gekauft habe, auch wenn ich es nie mehr wie­der spielen kann, das Original. Ist es so?

Axel Wirths: Wir müssen da vorsichtig sein mit der Begrifflichkeit. Wir reden einer­seits über die Videokunst, über das Sammeln und das Archivieren von Videobändern. Da ist die Definition von Wolfgang Ernst interessant, also der Wechsel vom analogen Medium zum digitalen. Wohingegen die Installation einen ganz interessanten Aspekt liefert, ich

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verweise noch einmal auf das Beispiel Bruce Nauman. Für die Installation gibt es tat­sächlich nur einen Bauplan in Form einer Zeichnung. Der Einsatz der Kamera und des Mo­nitors ist dem Künstler gleichgültig. Es gibt sehr wohl Künstler, die das technische Gerät als ästhetischen Bestandteil der Installation oder der Skulptur sehen.

Siegfried Zielinski: Ganz kurz zu Reinhold Mißelbeck: Diese Zeitgeschichte hilft schon ein wenig bei der Definition. Λ/lan kauft ein Werk oder einen Prozess in einem be­stimmten Zustand und dazu muss man stehen. Was wir hier von Jochen Gerz gesehen ha­ben, hat fast nichts mehr mit dem zu tun, wie er es 1972 gezeigt hat. Man kauft etwas in einem bestimmten Zustand, und nun - das ist die qualitative Frage - hängt es sehr von dem Prozess oder dem Objekt ab, wie man die Fragen der Restauration handhabt. Habe ich es mit einer skulpturalen Arbeit zu tun, z.B. einer Arbeit von Fabrizio Plessi oder auch einer späteren Arbeit von Nam June Paik, die er aus Fernsehschrottkisten zusammenge­baut hat, dann kommt es nicht darauf an, dass da noch irgendwo etwas flimmert. Es ist eine Skulptur, die vom Künstler signiert ist. Völlig anders verhält es sich mit einer Arbeit von David Larcher, die sich im Moment in der achten Version befindet. Wir zeigen in Ber­lin die vierte Version seit 1983, also über einen Zeitraum von 17 Jahren. Das ist ein be­stimmter Zustand am Tage X. Wir müssen eine vertragliche Verabredung mit dem Künst­ler treffen, die besagt, was wir zeigen wollen und dass wir für eine adäquate Präsenta­tion sorgen. Hier kommt der zeitlichen Dimension eine wichtige Bedeutung zu, die wir of­fensiv angehen müssen. Oder nehmen Sie noch ein komplizierteres Beispiel, damit wir auch wissen wovon wir reden, Yohero Kabaguchis Arbeit .Morpho Genesis' werden wir in Bonn zeigen. Diese Arbeit verändert sich seit 1983 ständig. Sie ist maschinell und hat kei­nen Zustand, außer wenn wir sie an einem bestimmten Punkt stoppen. Der Tag X inter­essiert uns und ist das, was wir ausstellen wollen. Die Arbeit geht weiter, sie wird sich Jahre und Jahre weiterentwickeln.

Reinhold Mißelbeck: Bei den Videoskulpturen sehe ich kein Problem, die Videofilm-Kunstwerke sind problematisch. Das U-Matic-Band, das zu Betacam wird, dann in digita­lisierter Form vorliegt, wirft für mich die Frage nach dem Original auf. Ist die letzte Beta­cam-Kopie noch ein Original, oder war es das erste? Es sind doch alles andere Kopien, selbst wenn sie qualitativ besser sind. Das ist der Punkt, der diskussionswürdig ist, bei dem die Problematik der Definition auftaucht.

Axel Wirths: Die auf die Videobänder bezogene Diskussion wird ja nicht zum ersten Mal geführt. Soweit ich mich erinnern kann, kamen wir schon diverse Male zu dem Schluss, dass auch das Mastertape kein Original ist. Wenn man überhaupt von einem Ori­ginal in diesem Zusammenhang sprechen kann, dann ist es das Rohmaterial, welches dazu gedient hat, das Masterband zu produzieren. Aber schon das Masterband ist eine zweite Generation. Ich weigere mich überhaupt, in diesem Zusammenhang von einem Ori­ginal zu sprechen, weshalb ich vorschlage, dass wir uns bemühen sollten, Strategien zu entwickeln, wie wir dieser Ursprungsform nahe kommen können. Ich finde es legitim, ganz radikal vorzugehen und zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, diese Arbeiten zu restaurieren und zu konservieren? Vielleicht sollte man sie einfach sich auflösen lassen.

Miklos Peternäk: Es geht hier um die Schwierigkeit der Terminologie, Original, Ori­ginalität. Ich sehe zwei Aspekte, nämlich, dass das Gegenteil von Original nicht die Kopie ist, sondern die Fälschung, das Nicht-Originale. Zweitens geht es um Qualität, den Wert und die Identität. In diesem Kontext heißt Qualität, so wie sie vom Künstler akzeptiert

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oder beabsichtigt war. Identität bedeutet eine bestimmte Identität und nicht eine andere, also eine Art Identifizierung. Übrigens haben wir heute hierzu zwei sehr interessante Be­griffe gehört: Duplikat und Originalkopie. Ich glaube, das ist das Gleiche. Drittens: Der Wert des Kunstwerks hat wiederum mit dem Markt zu tun. Beim Video und beim time-ba-sierten Medium sind wir uns bewußt, dass es sich um Übergangsmedien handelt. Video war von Anfang an ein solches transitorisches Medium von schwarz/weiß, open real. Heute ist es digital, das bedeutet, dass die Arbeiten mindestens alle sieben oder zehn Jahre auf ein anderes Medium übertragen werden müssen. Jetzt befinden wir uns in die­ser Art Übergangsphase der Übertragung gespeicherter Daten auf Server und Computer. Standards gibt es noch nicht, deutlich ist allerdings, dass das Analogzeitalter des Video­bandes nicht mehr bestehen wird. Das ist ganz normal, wir können Strategien analysie­ren und entwickeln, nämlich wie wir diese zehn, fünfzehn Jahre überleben, sobald neue Standards in der digitalen Welt gesetzt sein werden. Stellen sie sich einmal vor, wie das beim Film passiert ist, erinnern sie sich an schwarz/weiß Filme der 20er und 30er Jahre oder Filme von 1910. Diese Arbeiten sind vollkommen verschwunden, weil das Filmmate­rial verschwunden ist. Die Geschwindigkeit hat sich geändert, wir sind nicht mehr in der Lage, diese Filme so anzuschauen, wie sie damals gezeigt wurden. Wir können heute nur noch eine Abbildung dieser Filme vorfinden. Damit können wir uns beschäftigen, wir kön­nen versuchen, Strategien zu entwickeln, aber diese Tatsache müssen wir hinnehmen.

Wolfgang Ernst: Ich möchte noch einmal versuchen, den Unterschied zwischen Ori­ginalen, die durch ihren zeitlichen Alterungsprozess definiert sind, also durch einen zeit­lichen Prozess und dem spurhaften Originalbegriff, wo etwas nur für einen Bruchteil von Zeit überhaupt existiert, zu erläutern. Es gibt einerseits eine fürchterliche Hardware-Ver­gessenheit, so etwas wie ein altes Tape von Jochen Gerz. Wenn wir es heute abspielen, und wir sehen diese fürchterlich geschwächten Bilder, dann trägt dieses Tape eine Alte­rungsstruktur in sich, die nur diesem Tape eigen ist. Kein anderes Tape, kein digitales Computerprogramm könnte den Alterungsprozess, den Verfallprozess, den Zerfallprozess dieser Bilder jemals so simulieren. Das erfüllt alle Kriterien des klassischen Benjamin'schen Originalbegriffs. Die Definition von Alois Riegl, der um 1900 den Alters­wert von Kunstobjekten beschreibt, ist auch auf das analoge Videotape anwendbar. So­lange etwas zur Ruine werden kann, arbeitet daran Zeit, das ist der unverwechselbare und durch nichts zu verdoppelnde oder zu imitierende Prozess, der einem Werk einge­schrieben ist. Solange haben wir es tatsächlich mit einem materialgebundenen, physika­lischen Originalbegriff zu tun. In dem Moment aber, wo ein Bild als Programm geschrie­ben wird, in dem Moment unterliegt es nicht mehr diesem zeitlichen Ruinen- und Alte­rungsprozess. Wenn in der antiken Welt ein griechischer Geometer oder Mathematiker sagt: ,2+2=4', dann ist das sozusagen eine Formel, die auch heute noch ohne Alterungs­prozess, ohne eine Spur einer zeitlichen Veränderung im Raum existiert. Und die Bilder, die im digitalen Raum generiert werden, die existieren ja nur, weil sie programmiert wor­den sind, die existieren in einem Zahlenraum, in einem mathematischen kybernetischen Zahlenraum, der selbst intern keinem Alterungsprozess mehr unterliegt, aber nur, und das ist die Verschiebung, zum Erscheinen kommen kann, wenn wir ihn in Hardware einpflan­zen. Das Original liegt virtuell oder latent vor, kann aber erst zum Erscheinen kommen, wenn es an die Hardware gekoppelt ist, die sich wiederum mit der Zeit ändert. Da sehe ich die Differenz zum klassischen Original. Jede griechische Statue existiert im Raum,

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während die latenten Originale im digitalen Raum, die immer erst durch Aktualisierung für einen Moment zum Erscheinen kommen, auch wieder verschwinden.

Axel Wirths: Das hieße ja, um noch mal auf Reinhold Mißelbeck zurückzukommen, dass sich den Museen und Sammlungen ein tatsächliches Problem stellt. Wir sind ja auch deshalb hier zusammen gekommen, um an dieser Problemlösung zu arbeiten. Ich möchte noch einmal dafür plädieren, eine weitere Zusammenkunft dieser Art zu organisieren und Fragen der Restaurierung und adäquate Formen der Abspeicherung zu diskutieren. Dabei würde ich wiederum den von Wolfgang Ernst erwähnten Schritt vom Analogen zum Digi­talen mit einbeziehen wollen, da in dem Moment, in dem wir ein Werk restaurieren - so wie Jochen Gerz ja restauriert worden ist - der Zeitpunkt der Restaurierung als Beendi­gung des veralteten Originalbegriffs gesehen werden muss und ein Status Quo des Ori­ginalbegriffs der 90er Jahre oder des Jahres 2000, der sich in zehn Jahren wieder geän­dert haben wird, definiert werden muss.

Michael Wenzke hat einige pragmatisch-praktische Positionen vorgestellt. Er be­zieht sich eher auf die Installationen und Skulpturen, aber ich finde seine Definition ganz interessant. Er sprach von Originalität und Rarität hinsichtlich der Versicherung von Skulptur und Medieninstallation. In der Praxis, so wie ich sie kenne, verfügt der Künstler über drei Exemplare plus ein artist-proof, d.h., wenn alle drei Werke verkauft sind, darf er noch eines zeigen, darf es aber nicht verkaufen. Dadurch ist die Rarität der Arbeit gege­ben. In diesem Zusammenhang sprach er auch von Restaurierung und mich hat erstaunt, dass die Versicherung die Restaurierung einer Installation, d.h. den Austausch von ein­zelnen Komponenten der Installation als einen Wertverlust definiert.

Michael Wenzke: Die Problematik ist natürlich, den Wertverlust zu ermitteln. Wir müssen ermessen oder ermitteln, in welchem Maße in die Originalität der künstlerischen Substanz eingegriffen worden ist. Das Grundverständnis ist materiell, das habe ich ge­sagt, und das liegt einfach dem Versicherungsgedanken zugrunde. Das ist möglicher­weise sehr banal, aber es ist Versicherungsrealität und Tagesgeschäft. Wir ziehen dabei Kuratoren, Restauratoren und eventuell Gutachter zu Rate.

Axel Wirths: Gibt es Bestrebungen in der Zusammenarbeit mit Museen und Samm­lern, Medieninstallationen grundsätzlich auf eine Auflage von drei bis fünf Arbeiten zu be­schränken?

Michael Wenzke: Nein, das definiert der Künstler. Allerdings ist uns allen bewußt, dass durch die Rarität der Arbeit natürlich der Marktpreis steigt.

Marcel Schwierin: Ich möchte noch einmal auf den Originalbegriff und seine Defini­tion zu sprechen kommen. Es wurde gesagt, wir haben den Algorithmus, der ein Bild im digitalen Feld erzeugt. Was heißt es, wenn ein Bild entsteht? Es entsteht ja nicht nicht-in-tentional, sondern intentional. D.h., wir haben eine ganz bestimmte Zuweisung dieses Bildes an eine Intention zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ich möchte jetzt nicht zur Re­konstruktion des Autors kommen, aber das alles passiert und damit habe ich auch einen bestimmten Output, der wieder im musealisierten oder im Ausstellungskonzext auftaucht. Damit habe ich doch wieder einen Rahmen von Originalität, der weit über diese Frage­stellung hinausgeht. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob dieser Bildpunkt das ei­gentliche Original ist, weil er sich letztlich nicht entkoppeln läßt von Intentionalität.

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Wolfgang Ernst: Das wird z.Zt. diskutiert und in Amerika ist es schon passiert, dass Algorithmen und mathematische Formeln selbst unter Copyright gestellt werden. In dem Moment wäre dieser klassische Autorbegriff auch für Programme, die Bilder generieren, wieder hergestellt. Wenn wir das Modell, dass auch mathematische Formeln, die Bilder generieren und unter Copyright stehen, akzeptieren, dann würde das öffentliche Wissen, das wir produzieren, etwa in Universitäten, in Gefahr geraten. Die Diskussion, die wir hier führen, die darf jeder zitieren. Zum Glück steht noch nicht jedes Wort, das wir hier spre­chen, unter Copyright. Auch dass unsere Beiträge hier aufgezeichnet werden, ist für uns im Moment noch nicht problematisch. Wir müssen vorsichtig sein mit dem, was wir dem Copyright unterwerfen. Zur Struktur möchte ich ganz hypothetisch bemerken, der Licht­punkt im Bild ist das eigentliche Original. Aber de facto kann ich nur das erkennen, was ich auch bezeichnen kann, ansonsten existiert das alles nicht. Ich kann auch die Restre­lation nicht wieder herstellen.

Axel Wirths: Aber die Frage nach dem Originalbegriff in diesem Zusammenhang ist schon aktuell. Ich möchte auf den Beitrag von Siegfried Zielinski verweisen, dass der Mo­ment der Ausstrahlung im zeitlichen Kontinuum das Original darstellt. Ich möchte in die­sem Zusammenhang noch einmal einen anderen Aspekt ansprechen, nämlich die inter­aktiven Installationen. Z.B. die Arbeit „The World Generator" von Bill Seaman. Darin bie­tet er eine unendliche Vielzahl von Werkzeugen an, ebenso die Arbeit von George Le-grady, die wir heute morgen gesehen haben. D.h., der Künstlers nimmt sich als Autor des Originals immer mehr zurück und bietet im Prinzip nur noch eine Arbeitsplattform, auf der die Besucher wiederum ihr eigenes Original schaffen können. Ich finde es einen ganz interessanten Aspekt, dass der Künstler sich in einigen Bereichen, das ist kein Einzelfall, mehr und mehr aus der Autorenschaft zurückzieht und damit dem Publikum ermöglicht, in das Werk einzusteigen, es zu verändern und im jeweiligen zeitlichen Kontinuum auch das eigene Original zu entwerfen. Ich möchte diesen Aspekt im Kontext der Entwicklung der Medienkunst zur Diskussion stellen.

Siegfried Zielinski: Ich gebe darauf zwei Antworten. Erstens sind das oft schlechte Künstler, die so vorgehen. Darüber traut man sich nur nicht zu sprechen, die delegieren einfach das, was sie nicht können, an das Publikum und verlassen sich auf ein Delirium von Kreativität. Zweitens: Bei den Arbeiten, bei welchen das wirklich ernsthaft und mit hohem künstlerischem Anspruch betrieben wird, handelt es sich in der Tat um eine Ent­wicklung hin zu einer sehr temporalen, performanten Kunst, die durch die Mitspieler stän­dig neu erzeugt wird. Also Prozesse, die wir aus dem improvisierten Jazz, aus dem Free-Jazz sehr gut kennen. Es gibt eine Anzahl von Mitspielern, die ständig etwas anderes per­formieren, und es gibt eine bestimmte Grundstruktur, auf die man sich einigt. Alles an­dere ist frei performierbar. Ich denke, in diese Richtung werden sich die Kunstwerke ent­wickeln, und das bedeutet, Originalität immer wieder neu bestimmen. Ich sage bewußt nicht ,das Original', sondern ,die Originalität' wird jeweils neu bestimmt.

Axel Wirths: Wir haben ein Thema noch gar nicht genau unter die Lupe genommen, das ist der Bereich der Kunst im Internet. Ich möchte Bärbel Otterbeck fragen, wie das Wolfsburger Museum damit umgeht, und auch Christine van Assche danach fragen. Ist das noch eine Kunstform, die man überhaupt in einem Museum zeigen sollte? Ist es auch eine Kunstform, die - und das ist ja die Aufgabe des Museums - in irgendeiner Weise, die fragwürdig sein kann, dort auch konserviert werden soll.

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Bärbel Otterbeck: Ich finde, das Museum hat die Verpflichtung dem Künstler gegenüber, der sich mit Netzkunst beschäftigt. Wir müssen die Netzkunst in irgendeiner Form, losgelöst von jedem materiellen Interesse, integrieren. Ich versuche mich in meiner Arbeit immer weiter zu distanzieren von materiellen Gesichtspunkten. In welcher Form weiß ich im Moment noch nicht, sie haben vor fünf Jahren schon den input gegeben, hier kommt was auf uns zu, wir müssen uns damit beschäftigen. Ich selber habe noch keine genaue Vorstellung davon, wie ich mich mit dieser Kunstform auseinandersetzen werde. Ich bin allerdings sicher, dass ich es tun werde, und ich finde es wichtig, dass Netzkunst im Museum aufgenommen wird.

Ich möchte Michael Wenzke noch einmal fragen, wie die Wertminderung, die sehr stark an das Material gekoppelt ist, funktioniert,. Wenn ich eine Kopie von einem Video­band auf ein digitales Medium anfertige, eine prinzipiell restauratorische Maßnahme zur Erhaltung dieser Arbeit, liegt dann eine Wertminderung vor?

Rudolf Frieling: Darf ich noch einen Zusatz machen. Michael Wenzke hat vorhin so schön Nam June Paik zitiert, der ja sagt, es gibt sozusagen zwei Gegenstände: ein Origi­nal und eine ,better quality copy'. Nach dieser Definition ist aber die ,better quality copy' von geringerem Wert.

Michael Wenzke: Laut Definition des Marktes ist es so. Natürlich ist zu fragen, was ,better' in diesem Zusammenhang heißt. Nach Vorstellungen des Marktes ist in der Tat die Kopie das Geringwertige oder der geringwertigere Gegenstand. Zur Frage der Wertminde­rung möchte ich bemerken, dass wir relativ wenig Schadenerfahrung haben, d.h., es gibt für solche Fälle einfach keine Faustregeln.

Reinhold Mißelbeck: Meine Bemerkung bezieht sich auf die Editionen und die Frage nach Auflage und Original. Diese Unterscheidung kennen wir durchaus von anderen Me­dien, z.B. aus der Photographie, da sind Editionen in weitaus höheren Auflagen als in der Videokunst gängige Praxis. In der Photographie gibt es Auflagen bis zu 20 Stück und es werden trotzdem hohe Preise gehalten, und dennoch spricht man von solchen Auflagen auch von Original. Es ist unüblich, nur das Konzept des Künstlers, also das, woraus er das Werk entwickelt als Original und alles andere als Kopien zu bezeichnen. Ich denke, für die Videokunst sollte kein Sonderweg beschritten werden, dass es also im Handel nur Kopien und kein Original gibt, und der Künstler das Original bei sich bewahrt. Wenn der Künstler Auflagen produziert und der Käufer dafür 40-50.000,- $ bezahlt, z.B. für eine Ar­beit von Bill Viola oder von William Kentridge, dann hat er ein Original gekauft, auch wenn dieses drei mal vorhanden ist.

Axel Wirths: Dem kann ich zustimmen. Das ist die gängige Praxis, und der Käufer geht davon aus, dass er ein Original erworben hat. Theoretisch kann dies allerdings auch anders gesehen werden, ich denke, das ist durch den Vortrag von Wolfgang Ernst deut­lich geworden.

Lysiane Lechot-Hirt: Ich möchte noch etwas zu Internet-Projekten sagen. Unsere Er­fahrung hat gezeigt, dass die URL, die Internet-Adresse, das Original ist. Es gibt Künstler, die die URL als grundlegende Künstlergeste besitzen und behalten wollen.

Wolfgang Ernst: Die URL ist ja kein Objekt, wir könnten also fragen, ob das Museum der richtige Ort ist, Netzkunst zu sammeln. Ich habe kein Problem mit den Sammlungen

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von Videokunst, die sind gut im Museum aufgehoben. Aber wenn es um die Internet-Kunst geht, dann brauchen wir eine andere Art von Einrichtung. Ich denke da an eine to-pologische Struktur und keine räumliche Struktur.

Axel Wirths: Ist denn überhaupt das Museum in der jetzigen Form, wie wir es ken­nen, ein adäquater Ort Netzkunst, prozesshafte Kunst zu präsentieren und zu sammeln. Ich verweise auf die Diskussionen, die wir in den letzten Jahren hatten und die komi­scherweise verstummt sind. Es gab eine Reihe von Symposien und Kongressen zu dem Thema „Museum des 21. Jahrhunderts". Wir sind alle in der Krise, die Architektur funk­tioniert nicht und alle diese Stimmen sind verstummt. Wir brauchen wirklich einen Prä­sentationsort neuen Typs, wir brauchen neue Strategien, die bei Architektur beginnen. Rudolf Frieling kann aus dem Nähkästchen erzählen, wie schwierig es ist, in dem umge­bauten Gebäude des ZKM zu arbeiten. Wenn ich die neuen Museen, das Guggenheim Mu­seum in Bilbao oder die Hamburger Kunsthalle betrachte, dann sehe ich den klassischen Museumsbunker des 19. Jahrhunderts. Diese Häuser wurden gebaut, um Bilder an die Wand zu hängen. Ich habe Zweifel, ob das Museum der richtige Ort ist, um Internet-Kunst zu zeigen, die selber noch große Probleme hat, überhaupt aus diesem Kasten des Moni­tors herauszukommen.

Wolfgang Ernst: Für die Internet-Kunst brauchen wir kein Museum, jeder Monitor reicht doch aus, um Internet-Kunst zu präsentieren.

Marcel Schwierin: Ich glaube, das ist eine Frage von Zeit. Im Augenblick brauchen wir dafür kein Museum. Aber HTML, in dem heute die Internetkunst geschrieben ist, wird wahrscheinlich in wenigen Jahren obsolet sein. Dann wird man gar nicht mehr wissen, wie das überhaupt ging, und die Internetkunst wird wieder objekthaft gemacht werden müs­sen. Dann wird auch der Originalbegriff neu diskutiert werden, weil die Künstler ihre Ar­beiten wieder limitieren werden. Es wird nur drei Computer geben, die ihre Internetkunst in HTLM 4, dem dann aktuellen Format repräsentiert, und alle anderen dürfen sich keine Kopie ziehen. Dieser Computer ist dann nicht mehr an ein Netz angeschlossen, weil das Netz bereits mit völlig anderen Standards arbeitet. Egal wie dann die Institution heißt, die diese Internetkunst bewahrt, es wird letztlich eine Art von Museum sein.

Reinhold Mißelbeck: Es ist in der Tat so, dass die in den 70er Jahren eingeforder­ten Museumsreformen die Erwartungen nicht erfüllt haben, d.h., es wurde nicht das um­gesetzt, was man theoretisch gefordert hat. Das erste Haus, das diese Art von Reformen umgesetzt hat, ist das benachbarte Römisch-Germanische Museum, wo man sozusagen das Lustwandeln durch das Museum nach dem Abbau der Tempel entwickelt hat. Das letzte ist wohl das Museum Ludwig, danach hat man wieder Museen klassischen Stils ge­baut. Dafür gibt es Gründe: die Museumsleute haben erlebt, dass der Besucher weitge­hend den Respekt vor der Kunst verloren hat, die Beschädigungen haben in einem im­mensen Maße zugenommen. Danach schuf man wieder Räume, die eine Atmosphäre des Respekts vor der Kunst einfordern, da die rein konservatorische Arbeit und die Bewa­chung nicht mehr zu leisten waren. Das sind nur zwei Gründe, die zu der Renaissance des klassischen Museums alten Stils geführt haben.

Axel Wirths: Das würde allerdings der Suche nach einer ernsthaften und seriösen Kunstform der neuen Vermittlungsstruktur und der neuen Präsentationsform nicht wider­sprechen. Das können wir aber nicht in den bestehenden Gebäuden realisieren, von der

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Bewachung bis zum fehlenden technischen know-how. Ich weiß wovon ich spreche, in der Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn habe ich das sechs Jahre probiert, auch realisiert.

Reinhold Mißelbeck: Ich danke allen, die hierher gekommen sind und vorgetragen und sich an der Diskussion beteiligt haben. Wichtige Probleme sind zur Sprache gekom­men, wir konnten sie sicherlich nicht lösen, aber vielleicht sind wir der Lösung einen Schritt näher gekommen, ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf das Gemein­schaftsprojekt der Video-Enzyklopädie hinweisen, die wir mit dem Centre Georges Pom-pidou und mit dem Centre pour l'lmage Contemporaine St. Gervais Geneve erstellen. Diese Kooperation dient nicht nur dem Zweck, eine Video-Enzyklopädie zu erarbeiten, sondern auch eine Plattform für regelmäßige Treffen und Diskussionen zu schaffen. Wir treffen uns zweimal im Jahr zum Austausch und ich möchte dafür werben, dass weitere Institutionen diesem Kreis beitreten. Je breiter der Dialog wird, um so eher kommen wir zu Vereinbarungen und Übereinkünften, die Geltung haben werden. Gemeinsam können wir Standards entwickeln, die gültig und die für viele verbindlich sind.

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