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Essay JÖRN SCHÜTRUMPF Denken »ohne Geländer«. Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit? 771 Gesellschaft – Analyse & Alternativen WERNER SEPPMANN Dynamik der Ausgrenzung. Über die soziostrukturellen Konsequenzen der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse 781 MICHAEL WOLF »Aktivierende Hilfe«. Zu Ideologie und Realität eines sozialpolitischen Stereotyps 796 Monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 179 . September 2005 aus dem Inhalt

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EssayJÖRN SCHÜTRUMPFDenken »ohne Geländer«.Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit? 771

Gesellschaft – Analyse & AlternativenWERNER SEPPMANNDynamik der Ausgrenzung.Über die soziostrukturellen Konsequenzender gesellschaftlichen Spaltungsprozesse 781

MICHAEL WOLF»Aktivierende Hilfe«.Zu Ideologie und Realität eines sozialpolitischen Stereotyps 796

Monatliche Publikation,herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung179 . September 2005

aus dem Inhalt

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Fast 90 Jahre lang bewegte sich in Deutschland die sozialistisch-internationalistische Linke eingekeilt zwischen der russischen Revo-lution einerseits und der SPD andererseits. Nun scheint sich auch fürsie das 20. Jahrhundert dem Ende zuzuneigen.

Allerdings: In einer Situation, in der viele Linke nur noch »nachvorn« schauen, wird manches Mal vergessen, daß es von Gewinnsein kann, wenn man nicht verdrängt, auf welchem Erbe man – frei-willig oder auch unfreiwillig – steht. Sonst läuft man möglicher-weise Gefahr, die Zukunft in der falschen Richtung zu vermuten –und verirrt sich plötzlich in die eigene Vergangenheit.

Das Jahr 1907Das eher zufällige Entstehen einer politischen Kraft links von derSPD jährt sich bald zum 100. Mal; es datiert aus dem Reichstags-wahljahr 1907. Damals waren den bürgerlichen und monarchisti-schen Parteien mit einem ultranationalistischen Wahlkampf gegendie »vaterlandslosen Gesellen« der SPD schmerzhafte Einbrüche insproletarische Milieu gelungen. Die große deutsche Arbeiterparteihatte völlig unerwartet erstmals nicht nur keine weiteren Stimmenhinzugewonnen, sondern sogar Mandate verloren.

Nirgends sonst auf der Welt war zu diesem Zeitpunkt die Arbeiter-schaft so gut als eigene Klasse organisiert wie in Deutschland: miteigenen Gewerkschaften (die nachhaltige Lohnerhöhungen und Ar-beitszeitverkürzungen durchgesetzt hatten), mit Unterstützungskas-sen, Bildungsvereinen, Konsumvereinen, Sparkassen und Bauspar-kasse, mit antiklerikaler Freidenker-Organisation, Abstinenzler-Bund,Jugendweihe, Volkshäusern und einer seit 1875 vereinigten und sehrerfolgreichen parlamentarischen Partei, die seit der zwölfjährigenVerfolgung unter dem Sozialistengesetz zudem von einer romanti-schen Aura umweht wurde.

Und damit nicht genug: Nirgends sonst hatte sich die Bewegungder Arbeiterschaft mit der Idee des Sozialismus so stark verbundenwie in Deutschland. Alle Organisationsbemühungen, jeder Erfolgsollte – so der Parteigründer Ferdinand Lassalle – ausschließlicheinem Ziel dienen: die politische Mehrheit in der Gesellschaft zu er-ringen, um Wohlfahrt für alle und Solidarität als den Grundzug ge-sellschaftlicher Beziehungen durchzusetzen.

Binnen dreißig Jahren war so ausgerechnet im militaristischenPreußendeutschland eine proletarische Gegengesellschaft entstan-den, vielfältig gegliedert – und mit einer eigenen sozialistischen

Jörn Schütrumpf – Jg. 1956,Dr. phil., Historiker, Redak-teur von UTOPIE kreativ.Der nebenstehende Text ist ein Arbeitspapier, mitdem der Verfasser hofft,eine Debatte anzustoßen.

Auch wenn es ungerecht ist,blende ich der Übersicht-lichkeit halber an dieserStelle den sympathischen,politisch aber wenig erfolgreichen deutschen Anarchismus eines RudolfRocker, Gustav Landauerund Erich Mühsam aus.

UTOPIE kreativ, H. 179 (September 2005), S. 771-780 771

JÖRN SCHÜTRUMPF

Denken »ohne Geländer«.Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?

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Weltanschauung ausgestattet. Diese Art, die Welt zu betrachten, schiengeeignet, die proletarische Gegengesellschaft zusammenzuhalten. ImZentrum dieser Weltanschauung stand ein uralter Menschheitstraum:die Abschaffung von Unterdrückung und Ausbeutung.

Dieser Traum war zwar in den zwei Jahrtausenden zuvor schonvon vielen Menschen geträumt worden, für seine Verwirklichunghatten sich aber immer nur Minderheiten, oft genug nur einzelne ein-gesetzt – zumeist Menschen, die in ihrer Bildung das geistige Ni-veau ihrer Zeit überragten; lebten sie heute, würde man sie »Linke«nennen. Der unterdessen weitgehend vergessene Max Beer hat inseiner Allgemeinen Geschichte des Sozialismus ihnen allen die ge-bührenden Denkmäler gesetzt.

Die erstmals von Chartisten formulierte, oft aber Karl Marx zuge-schriebene These, daß das Proletariat nicht nur leidend, sondern aucheine sich emanzipierende Klasse sei, die sich unweigerlich die Ideendes Sozialismus auf ihre Fahnen schreiben werde, hatte der – in so-zialer Hinsicht stets heimatlosen – Linken erstmals den Weg zu einemsozialen Subjekt der Befreiung gewiesen. In der Bebel-Liebknecht-schen Sozialdemokratie schien diese These ihre Verwirklichung zufinden. Die sozialistische Weltanschauung und ihre Verknüpfung mitdem »Träger« Arbeiterschaft wurde nicht nur von der Linken undbesonders ihrer Wortführerin Rosa Luxemburg auf das heftigste ver-teidigt, sondern bis 1907 auch von der politischen Führung – demVorstand der SPD – gefördert.

Opponenten zu diesem Kurs waren traditionell die gewerkschaft-lichen Führer; sie hatten sich nie ernsthaft für die sozialistischenIdeen erwärmen können, gefährdeten sie doch in ihren Augen – wienicht zuletzt das Sozialistengesetz gezeigt hatte – gerade in Krisen-situationen den Bestand der mühselig aufgebauten Organisationen,und damit deren eigene Macht. Bis zur Reichstagswahl von 1907hatte die SPD-Führung aber stets sorgsam auf ein Patt zwischen denOrganisationshütern und den Ideologiewächtern geachtet. Nach derWahl und vielen vorausgegangenen Auseinandersetzungen glaubtesie nun, die Prioritäten verschieben zu müssen. In einer Gesellschaft,die sich zunehmend dem nationalistischen Wahn ergab, hatte sichdas sozialistische Fernziel nicht einmal so weit als attraktiv erwie-sen, um die bisherige Klientel zusammenzuhalten.

Gleich in mehreren Punkten änderten die Machtpolitiker in derSPD-Führung ihre Sicht auf die Dinge:

Erstens: Marx’ Diktum, daß der Sozialismus von einer Bewegungder Arbeiterschaft erkämpft werde, die auf Grund sozialer Ursachenquasi sozial-genetisch dafür vorherbestimmt sei, verlor für die Poli-tikformulierung der SPD-Führung seine konstituierende Bedeutung.Sozialismus war von nun an für die Bewegung der Arbeiterschaft be-stenfalls eine, keinesfalls aber die ausschließliche, ja selbst nicht diewahrscheinlichste Option (auch wenn natürlich die Arbeiterschaft dieam ehestens für einen Sozialismus ansprechbare soziale Gruppeblieb). Karl Kautsky, dem das schon viele Jahre zuvor zu Bewußt-sein gelangt war, hatte deshalb versucht, diesen »Defekt« der Arbei-terschaft durch ein Hineintragen des sozialistischen Gedankengutszu »reparieren«. Doch der SPD-Führung war ein solches Unterfan-gen nun zu riskant. Sie glaubte, begriffen zu haben, wen sie führt.

Max Beer: Allgemeine Geschichte des Sozialismusund der sozialen Kämpfe,Berlin 1919.

Die Parteiführer hatten ihreKarriere in totaler Oppositionzur Gesellschaft gemacht;ihre Anhänger hatten sich inder SPD einen Ersatz für dieGesellschaft geschaffen, diesie ausgestoßen hatte. Lich-ter waren in der Dunkelheitentzündet worden. Undnach 1890 hatten die Führerdie Früchte ihrer Mühen ge-erntet. Um die Jahrhundert-wende war die SPD einStaat im Staate, und ihre legitimen Lenker hatten einwohlerworbenes Interessean der Aufrechterhaltungdieses Status quo. Der Anspruch auf eine Sonder-stellung ging weit über dasbloß Politische und auchdas Ideologische hinaus biszu tiefer moralischer Diffe-renzierung; die Sozialdemo-kraten betrachteten sich beinahe als eine besondereSpezies – eine Ansicht, diein unfreundlichem Sinne vonder übrigen Gesellschaft ge-teilt wurde. Diese Annahmegrundlegender Verschieden-heit, ja fast eines Gattungs-unterschieds, war inDeutschland so verbreitet,daß es einen großen sozio-logischen Durchbruch be-deutete, als festgestelltwurde, auch die Sozialde-mokraten hätten viele »nor-male« Züge, auch sie sagtenoft das eine und täten das

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Zweitens: Der Sozialismus, für die SPD-Führung schon seit Jahrenmehr Gefolgschaftsideologie als Politikziel, wurde zwar nicht aufge-geben, aber stillschweigend in eine identitätstiftende Legitimations-ideologie umgewandelt, der vorrangig eine instrumentelle Funktionzuerkannt wurde. Das ermöglichte es, in einer nationalistisch aufge-heizten Atmosphäre dem sich in der Arbeiterschaft ausbreitendenWunsch zu entsprechen, den Ruch des »vaterlandslosen Gesellen«abzustreifen: Anstelle eines internationalistischen »vaterlandslosen«Sozialismus wie bis dahin wurde nun ein immer verschwommenererSozialismus propagiert, der bei Bedarf mit einigen Prisen Nationa-lismus verschnitten werden konnte.

Drittens: Die SPD-Führung begriff außerdem, daß das auf Lassallezurückgehende Konzept einer proletarischen Gegengesellschaft sichstrategisch in dem Maße erschöpfte, wie es erfolgreich umgesetztwurde, weil sich die bürgerliche Gesellschaft gezwungen sah, gegen-über dem verachteten »vierten Stand« sich wenigstens einen Spaltbreit zu öffnen. Da die Teilnahme an der proletarischen Gegenge-sellschaft ohnehin nicht freiwillig, sondern zumeist mangels Alter-nativen erfolgt war, nutzten viele proletarische Familien, denen diebürgerliche Gesellschaft das individuelle Verlassen dieser Gegen-gesellschaft durch »sozialen Aufstieg« nicht vollständig verwehrte,oftmals in der nächsten Generation diese Chance. Solche Ausstiegedurch Aufstieg galten im eigenen Milieu keineswegs als anstößig,sondern eher als ehrfurchtgebietend.

Viertens: Die SPD-Führung hatte 1907 zwischen zwei Szenarienzu wählen: 1. mit einer kleiner werdenden sozialismuswilligen Klien-tel einen offensiven Kampf für den Sozialismus zu führen, wie ihnRosa Luxemburg in der Massenstreikdebatte einforderte, und damitGefahr zu laufen, nicht nur den Einfluß auf den sich dem Nationa-lismus zuwendenden Teil der eigenen Klientel zu verlieren, sondernauch – durch den zu erwartenden Einflußverlust geschwächt – eineZerschlagung der aufgebauten Organisationsmacht zu riskieren; oder2. solange man noch stark war, die eigene Gegengesellschaft in diebürgerliche Gesellschaft hineinzuführen und eine Machtteilhabe an-zustreben, mit der der Kapitalismus zwar nicht mehr überwunden,aber dauerhaft gezügelt werden sollte. Die Entscheidung für dieIntegration fiel eindeutig aus und führte die SPD über die StationenZustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 und Regie-rungsbeteiligung am 3. Oktober 1918 zum 2. Mai 1933, der Zer-schlagung der Arbeiterbewegung.

Rosa Luxemburg und Wladimir I. LeninDie sozialistisch-internationalistische Linke in der SPD hatte 1907ihre Funktion als Garantin einer alle zusammenschweißenden Welt-anschauung verwirkt. Viele Linke kamen mit der nun – schleichend– einsetzenden Isolierung nicht zurecht, schworen deshalb ihren so-zialistischen Überzeugungen ab und mutierten zu »Parteisoldaten«,die sich bald für fast nichts zu schade waren. Erstmals zeigte sich da-mit massenhaft ein Phänomen, das bis heute immer wieder beklagtwird: daß die meisten Linken nicht ihr gesamtes Leben lang soziali-stische, also eine auf die Überwindung des Kapitalismus gerichtetePolitik machen, sondern ab einem gewissen Punkt oft nur noch be-

andere. Kein Geringerer alsMax Weber mußte kommen,um das auszusprechen, undnoch heute dient Webers»Entdeckung«, daß die Sozialdemokraten auchMenschen waren, Soziolo-gen als Beweis dafür, daßeine in Klassen oder Kastengeteilte Gesellschaft eben-soviel Gemeinsames wieTrennendes hat. Wollte dieSozialdemokratie die Ge-sellschaft unmittelbar undschon in der Gegenwart beeinflussen, so mußte siein die Gesellschaft eintreten,eine politische Partei wiealle anderen in Deutschlandwerden, das heißt einebloße Interessengruppeohne Anspruch, früher oderspäter die Macht zu erlan-gen. In dem Maße, wie reformistische Ziele erreichtwurden, mußte die Autoritätder Parteihierarchie schwinden, denn sie warnicht nur die Autorität einer politischen Führung,sondern eines Gebildes, das die normale Struktur der Gesellschaft ersetzte. Erfolgreiche Reformen halfen, die Partei zu liquidieren.Peter Nettl: Rosa Luxem-burg, Köln-Berlin 1967, S. 243 f.

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haupten, dies zu tun. Nach 1907 schrumpfte die Linke in der SPDauf einen kapitulationsunwilligen Rest zusammen. Um Franz Meh-ring und Rosa Luxemburg bildete sich ein »Fähnlein der Aufrechten«,zu dem nach Kriegsbeginn auch Karl Liebknecht stieß, während pro-minente Linke wie der Begründer der Parteischule Heinrich Schulzsich endgültig dem Nationalismus ergaben.

International wurden für die weitere Entwicklung der Linken zweiRichtungen relevant: die deutsche Linke, soweit sie zum Kreis umRosa Luxemburg gehörte, und die russischen Bolschewiki um Lenin.Beide Richtungen interpretierten die Vorgänge in der deutschen So-zialdemokratie – die damals vielen proletarischen Bewegungen inanderen Ländern als Vorbild galt – als »Abweichung« und »Verrat«der politischen Führer; in den folgenden Jahrzehnten wurde dieseArgumentation, zeitweise geradezu hysterisch, immer erneut aufge-sagt. Den Gedanken, daß die Arbeiterschaft nicht »als Klasse« zumSozialismus strebe, sondern lediglich zahlenmäßig die meisten Men-schen hervorbringt, die für sozialistische Ideale ansprechbar sind,ließen Vertreter beider Richtungen bestenfalls in Erschöpfungs- undDepressionsperioden zu.

Statt dessen wurde – unausgesprochen – die Zeit, als die Linke nen-nenswerten Einfluß auf die Politik der deutschen Sozialdemokratiegehabt hatte, zu einer Art goldenen Zeitalters verklärt und zum Be-zugspunkt allen Handelns – zu dem es zurückzukehren galt. Dabeiwurde letzten Endes der einstige Einfluß auf die Politik mit einemEinfluß auf die Arbeiterschaft verwechselt; daß gerade die Ausbrei-tung nationalistisch-nichtsozialistischer Haltungen in der Arbeiter-schaft die SPD-Führung bestärkt hatte, die Weltanschauung der Or-ganisation unterzuordnen, wurde nicht gelten gelassen.

Die Arbeiterschaft hatte sich jedoch im Punkt Weltveränderungnicht anders entwickelt als hundert Jahre zuvor die aufstrebendenbürgerlichen Schichten. Im Frankreich der Revolution hatte dieBourgeoisie gezeigt, wie weit nach links das Pendel ausgeschlagenwerden konnte – bis sie sich selbst dem Terror ausgeliefert hatte. Mitder Guillotine verlor nicht nur die französische, sondern die gesamteeuropäische Bourgeoisie Unschuld und Naivität. Trotzdem war dieerste große Revolution keinesweg sinnlos gewesen. Sie hatte denKräften des Absolutismus verständlich gemacht, wohin zu großeHalsstarrigkeit führen kann. Die Große Revolution der Franzosenläutete ein europäisches Jahrhundert der nationalen Klassenkompro-misse zwischen aufsteigender Bourgeoisie und ausgezehrten Feudal-eliten – und nicht etwa ein Säculum konvulsiver Revolutionen ein.Dabei galt zumeist: Je später der Weg in die bürgerliche Gesellschaftangetreten wurde, desto reaktionärere Gestalt nahmen die politi-schen Regimes an, und: Der nationale Gedanke verlor schnell seineursprünglich antifeudal-emanzipatorische Qualität und wurde zu ei-ner geistigen Stütze von Reaktion und Kriegstreiberei.

Auch die europäische Arbeiterschaft probierte sich politisch zuerstauf französischem Boden aus: 1848 in der Juniinsurrektion und 1871in der Pariser Kommune. Anders als die französische Bourgeoisiebrachte sie aber keine weiteren Klassenkräfte auf ihre Seite. Alleingeblieben gegen den »Rest der Gesellschaft« verbluteten die revolu-tionär gestimmten Pariser Arbeiter 1871 unter Bismarcks Kartätschen

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und den Bajonetten von Thiers’ uniformierten Mörderbanden. Seit-dem spitzt sich in Frankreich zwar immer mal wieder der Klassen-kampf zu – eine »Entscheidung« suchte der als Klasse organisierteTeil der französischen Arbeiterschaft jedoch nie wieder. (Mit Aus-nahme der Jahre 1944/45, aber da wurde sie auf Stalins »Bitte« hinnicht gesucht.)

Die Arbeiterschaft in Deutschland hatte die französische Lektionsehr wohl verstanden. Zu einem Stellungskrieg, wenn sie angegriffenwurde wie unter dem Sozialistengesetz (1878-1890), war sie bereit;zu einem Angriffskrieg jedoch nicht. (An Gramscis Bewegungskriegwar noch nicht zu denken.) Der erfolgreiche Widerstand gegen dasSozialistengesetz und das Einlenken des Regimes hatten dem alsKlasse organisierten Teil der deutschen Arbeiterschaft die Möglich-keit und den Vorteil von Kompromissen vor Augen geführt. Der Siegvon 1890 ließ die revolutionäre Lava, so sie je gebrodelt hatte, lau-warm werden.

Weitgehend unberührt von alldem blieb Osteuropa, wo die Arbei-terschaft noch Züge von Leibeigenen trug; Rußlands Arbeiterschaftformierte sich deutlich später und ging – unangefochten von denfranzösischen Erfahrungen – 1905 und 1917 den französischen Weg– der 1921 im Thermidor von Kronstadt endete.

Zurück zum Kreis um Rosa Luxemburg und zu den russischenBolschewiki um Lenin: Beide Richtungen verharrten in einem Poli-tikverständnis, nach dem die sozialistisch-internationalistische Linkeden politisch klarsten Teil des Proletariats und damit seinen politi-schen Arm bildete. Beide Richtungen sahen in der Eroberung vonentscheidendem Einfluß auf die Arbeiterschaft die Bedingung füreine Besserung der Welt. Sozialismus blieb für sie eine Aufgabe derArbeiterschaft.

Die Vorstellung, die Bewegung zum Sozialismus nicht als eine Be-wegung der Arbeiterschaft zu denken, war beiden Richtungen nichtmöglich; diese zeitgebundene Erkenntnisschranke zu bespötteln, wäreunbillig. Das Verdienst beider Richtungen ist es, den sozialistischenGedanken im politischen Raum gehalten zu haben – anders als dieSPD, die ihn allenfalls als Wert weitergelten lassen wollte (und ihngerade wieder neu entdeckt).

Doch beide Richtungen unterschieden sich in einem Punkte grund-legend: Während Lenin im Anschluß an Kautsky meinte, daß dasProletariat sich des Umstandes, Träger des Sozialismus zu sein, nichtselbständig bewußt werden könne und dieses Bewußtsein deshalb»von außen« hineingetragen werden müsse, war für Rosa Luxem-burg Sozialismus keine Theorie, die man sich aneignet, um dann nachihr zu handeln wie nach den 10 Geboten.

Aufklärung durch einen Vormund war ihr nicht nur zutiefst zuwi-der, sondern konterkarierte für sie letztlich den Befreiungsanspruchdes Sozialismus. In ihrem Verständnis sollte sich das Proletariat sei-ner Aufgaben durch gelebte Praxis – durch die Erfahrung eigener Er-folge und mehr noch eigener Niederlagen – bewußt werden und sichso von der Alternative »Sozialismus oder Barbarei« überzeugen. FürRosa Luxemburg begann die Emanzipation nicht erst nach einer wieauch immer (ob per Parlament oder per Revolution) realisiertenMachteroberung.

Wir haben gesagt, daß dieArbeiter ein sozialdemo-kratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten.Dieses konnte ihnen nur vonaußen gebracht werden. Die Geschichte aller Länderzeugt davon, daß die Arbei-terklasse ausschließlich auseigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtseinhervorzubringen vermag,d.h. die Überzeugung vonder Notwendigkeit, sich inVerbänden zusammenzu-schließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zuführen, der Regierung dieseoder jene für die Arbeiternotwendigen Gesetze abzu-trotzen u.a.m. Die Lehre desSozialismus ist hingegenaus den philosophischen,historischen und ökonomi-schen Theorien hervorge-gangen, die von den gebil-deten Vertretern derbesitzenden Klassen, derIntelligenz, ausgearbeitetwurden. Auch die Begrün-der des modernen wissen-schaftlichen Sozialismus,Marx und Engels, gehörtenihrer sozialen Stellung nachder bürgerlichen Intelligenzan. Ebenso entstand auchin Rußland die theoretischeLehre der Sozialdemokratieganz unabhängig von demspontanen Anwachsen derArbeiterbewegung, entstandals natürliches und unver-meidliches Ergebnis derideologischen Entwicklungder revolutionären sozialisti-schen Intelligenz. Zu derZeit, von der wir sprechen,d.h. um die Mitte der neunziger Jahre, war dieseLehre nicht nur das bereitsvöllig ausgereifte Programmder Gruppe »Befreiung derArbeit«, sondern sie hatteauch die Mehrheit der revolutionären Jugend inRußland für sich gewonnen.W. I. Lenin: Was tun? In:ders.: Werke, Bd. 5, Berlin19767, S. 385 f.

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Deshalb maß sie der Partei auch eine andere Funktion zu, als es diealte deutsche Sozialdemokratie einerseits und die russischen Bolsche-wiki andererseits taten. War für die einen die Partei immer mehr zumWahlverein mutiert, der möglichst viele Parlamentssitze erobern sollteund nach der Wahlschlappe von 1907 zu immer mehr Zugeständnis-sen an Chauvinismus und Militarismus in Deutschland bereit war,war für die anderen die Partei eine Maschinerie, mit der in einer Re-volution die Macht zur Tilgung aller Übel der bisherigen Geschichteerobert werden sollte. Letztlich hatten beide zu der Klasse, für diesie agierten – je mehr sie Erfolg hatten – ein um so instrumentelle-res und vormundschaftliches Verhältnis.

Für Rosa Luxemburg waren beide Varianten ein Graus. In der Fragedes Parlaments blieb sie Engels verbunden, für den das Parlamenteine Tribüne für die revolutionäre Propaganda bot. Mehr nicht. DieGesellschaft konnte sich für sie nur dann emanzipieren, wenn sich dasProletariat emanzipierte. Emanzipation durch Praxis, durch schritt-weise Veränderung der Kräfteverhältnisse war für sie der einzigesinnvolle Weg der Emanzipation. Im Mittelpunkt von Rosa Luxem-burgs Wollen stand nicht der permanente zahlenmäßige Zuwachs anMitgliedern der proletarischen Organisationen und an Wählern, son-dern ein Zuwachs an Selbstbewußtsein und an der Fähigkeit zupolitischem Handeln. Die als Partei organisierte Linke sollte der Ar-beiterschaft Vorschläge machen und ihr die Entscheidung überlassen– selbst auf die Gefahr einer Ablehnung hin, die es in jedem Falle zuakzeptieren galt. Damit stand Rosa Luxemburg an der Wiege einesHegemoniekonzeptes, das Gramsci später ausformulierte und das bisheute »uneingelöst« ist.

Revolution und »neue Klasse«In ihrem Revolutionsverständnis blieb Rosa Luxemburg hinter ihremsonstigen theoretischen Niveau deutlich zurück. Rosa Luxemburgbettete die Revolution nicht als ein Moment der Auseinandersetzun-gen in ihren demokratischen Emanzipationsansatz ein, sondern konntesich in diesem Punkt nicht von der (auf den jungen Marx zurückge-henden) Erwartung an die Revolution freimachen, sie würde das Torzur Freiheit aufstoßen. Den Ausweg aus dem Kapitalismus sah RosaLuxemburg nicht in ihrem eigenen demokratischen Emanzipations-ansatz – hier wurde sie sich aus zweifellos ehrenhaften Motiven selbstuntreu –, sondern in einer Revolution der Mehrheit gegen die Min-derheit; ein Irrtum, den sie und weitere Führer der am Jahreswech-sel 1918/19 gegründeten KPD mit dem Leben bezahlten.

Rosa Luxemburg, eine radikale Demokratin, verkannte die Bewe-gungsgesetze der aus Zusammenbrüchen hervorgehenden Revolu-tionen. Revolutionen können den Weg zu demokratischen Entwick-lungen freisprengen, sind selbst aber nicht als Ereignisse gestaltbar,die nach demokratischen Mehrheitsentscheidungen ablaufen. (Wo-mit nichts gegen Revolutionen gesagt ist – die werden immer wiederaufflammen –, sondern lediglich gegen Heilserwartungen an Revo-lutionen.)

Die ursprünglich zahlenmäßig ebenfalls schwachen Bolschewiki,die die »proletarische Revolution«, trotz aller Dementis, als blanqui-stischen Akt verstanden und auch so betrieben, beeinflußten – im

Die herrschende Partei hatdas Monopol der Macht inHänden. Die Arbeiterklassehat nicht die Möglichkeit,sich zu organisieren, indemsie andere Parteien bildet,und somit andere Pro-gramme zu formulieren undzu verbreiten, für die Ver-wirklichung einer anderenVerteilung des Nationalein-kommens oder für dieDurchsetzung einer politi-schen Auffassung zu kämp-fen, die von dem Programmund der Auffassung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei abweicht. […]Die Mitglieder der Partei,mehr als eine Million, sindeinfache Bürger wie andere;nur einige hunderttausenddavon sind Arbeiter. Wel-ches sind nun deren Mög-lichkeiten, die Entscheidun-gen der Parteibehörden und damit die Staatsgewaltzu beeinflussen? Die Parteiist nicht allein nach außen monopolistisch, auch ihreinnere Organisation gründet

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Gegensatz zur deutschen Linken um Rosa Luxemburg – maßgeblichden Gang des 20. Jahrhunderts. Anders als in der Theorie postuliert,stützten sie sich nach dem Sturz der Kerenski-Regierung (und nachzuvor verlorenen Parlamentswahlen) nicht nur auf die Arbeiterschaftund deren Bewegung, sondern mehr noch auf eine revolutionäre Sol-datenbewegung. Dank Trotzkis Initiative, eine neue, den Bolsche-wiki ergebene Militärmacht zu schaffen, verliehen die Bolschewikidieser Soldatenbewegung mit der Roten Armee einen dauerhaftenexistentiellen Rahmen. Diese Armee blieb selbst über die Ausrottungihres gesamten Führungskorps im Jahre 1938 hinweg neben demStalinschen Parteiapparat und der Politischen Polizei bis 1991 so-wohl die entscheidende soziale als auch machtpolitische Grundlageder Herrschaft der Bolschewiki.

Die SPD-Führung entschied sich im November 1918 genau entge-gengesetzt. Mit ihrem Eintritt in die Regierung am 3. Oktober 1918– erkauft mit dem Tod von Millionen Arbeitern, deren Hinschlach-tung sie vier Jahre lang unterstützt hatte – hatte sie geglaubt, ihr Zieleiner Machtteilung zwischen alter Gesellschaft und proletarischerGegengesellschaft erreicht zu haben; doch hatte sie dann mit diesemSieg nichts anzufangen gewußt. Als im November 1918 eine revolu-tionäre Soldatenbewegung diese Machtteilung wegfegte, ging dieSPD-Führung ein Bündnis mit der entmachteten Reichswehrführungein und rettete so den deutschen Militarismus.

So schnell wie sie entstanden war, zerfiel nun die Soldatenbewegungwieder – in heimkehrende Ehemänner und Söhne. Die Linke umKarl Liebknecht und Rosa Luxemburg – fixiert auf eine ermüdeteArbeiterschaft, von der sie kurzzeitig glaubte, sie sei revolutioniert –begriff erst zu spät, daß die Arbeiterschaft in ihrer Mehrheit nicht nurkeine Revolution wollte, sondern selbst mit der Republik, die ihr dieSoldatenbewegung hinterlassen hatte, nicht ernsthaft etwas anfangenkonnte; diese Republik war kein Kind der Arbeiterbewegung.

In Rußland trennten sich die Bolschewiki mit Hilfe der RotenArmee im Februar 1921 von der Arbeiterschaft, deren die proleta-rischen Interessen verfolgenden Teil sie in Kronstadt niederkar-tätschte. Im Zuge einer »Neuen Ökonomischen Politik« versuchtensie anschließend mit einer bonapartistischen Politik »über den Klas-sen« und vor allem mit Zugeständnissen an die Bauernschaft, an dasUnternehmertum sowie an das ausländische Kapital, ihre Macht zuerhalten. Armee, Parteiapparat und Politische Polizei formierten sichin dieser Zeit zur eigentlichen sozialen Basis der Bolschewiki; spä-ter die »neue Klasse« genannt. Mit ihr gelang es ab 1928, die Ge-sellschaft zu unterwerfen und so die riskante bonapartistische Phasezu beenden. Im Namen der »Arbeiter- und Bauernmacht« etabliertesich ein totalitäres Regime, das eine zu jeglichem Widerstand un-fähige »klassenlose« Gesellschaft herbeizumorden suchte und da-bei selbst die »neue Klasse« keineswegs schonte, sondern bevor-zugt verheerte.

In Deutschland existierte nach der Ermordung von Rosa Luxem-burg und dem Ausschluß von Paul Levi und Genossen die KPD demNamen nach weiter; mit der Abdrängung der letzten Luxemburgia-ner in die KPO 1928 verlor die zweite wichtige Richtung der inter-nationalen Linken für Jahrzehnte endgültig ihre politische Relevanz.

auf diesem Prinzip. JedeFraktion, jede Gruppe mitbesonderer Plattform, jedeorganisierte politische Strömung ist untersagt. […]So sehr die einfachen Mit-glieder der Partei desorga-nisiert sind, was eventuelleVersuche der Einflußnahmeauf die Entscheidungen derBürokratie betrifft, so starksind sie im Rahmen derParteidisziplin organisiertzum Zwecke der Erfüllungder Aufgaben, die ihnen vondieser zugewiesen werden.Wer sich dagegen auflehnt,wird ausgeschlossen undhat nun außerhalb der Partei nicht das Recht, sichzu organisieren, und kannfolglich auch nicht handeln.So wird die Partei, die ander Spitze ihrer Hierarchienichts anderes als organi-sierte Bürokratie ist, am un-teren Ende der Stufenleiterzu einem Werkzeug derDesorganisation eines jedenVersuchs zum Widerstandund eines jeden Versuchsder Arbeiterklasse, auf dieMacht Einfluß zu nehmen.[…] Die Arbeiterklassewurde ihrer Organisation, ihres Programms und ihrerMittel zur Selbstverteidi-gung beraubt.Jacek Kuron, Karol Modzelewski: Offener Briefan die Polnische Arbeiter-partei (1965), in: Kursbuch,9, 1967, S. 35 f.

Milovan Djilas: Die neueKlasse. Eine Analyse deskommunistischen Systems,München 1957.

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Die Bolschewiki, die schon 1918 begonnen hatten, über die russi-sche Botschaft in Berlin Gelder in die revolutionäre deutsche Bewe-gung zu transferieren (die Erinnerungen der Vertrauten von RosaLuxemburg, Mathilde Jacob, geben dafür das früheste Zeugnis),fanden ab 1925 eine zunehmend willige Parteiführung, um dieherum der längst etablierte Partei- und Geheimdienstapparat die ei-gentliche Macht ausübte.

Diese Partei, unter Paul Levi 1920 durch die Vereinigung mit derMehrheit der USPD kurzzeitig auf dem Weg in die Arbeiterschaft,war in ihrem Wesen ein Instrument der sowjetischen Außenpolitik –so sehr sich auch viele ihrer Mitglieder ehrlichen Herzens mit allerKraft aufrieben und ihr Leben gaben. 1933, kurz zuvor durch dieOpfer der Weltwirtschaftskrise zu einer Massenpartei angewachsen,stürzte sie binnen Tagen fast lautlos in sich zusammen. War die SAPD1878 eine Partei gewesen, von deren Unterdrückung die Arbeiter-schaft wußte, daß sie etwas Existentielles verlieren würde, hatte dieKPD 1933 der deutschen Arbeiterschaft nichts zu bieten, das dieserein hinreichendes Motiv hätte sein können, diese Partei zu verteidi-gen. Auch die einstige Arbeiterpartei SPD verschwand aus der Politik– ebenso wie das schwächliche deutsche (Bildungs-)Bürgertum. DieGeschichte der deutschen Arbeiterschaft als Gegengesellschaft unddamit die Geschichte der klassischen deutschen Arbeiterbewegunghatten sich vollendet. Im Exil begann die Linke, über eine neue so-zialistische Bewegung nachzudenken – eine Gruppe nannte sich völ-lig zu Recht »Neubeginnen«.

Nationalsozialismus, Kalter Krieg, EndeDas Ansinnen der Nationalsozialisten, die christlich-jüdisch-abend-ländische Zivilisation zu liquidieren und Europa nach rassistischenGesichtspunkten zurechtzumorden und zurechtzuzüchten, konntenur durch die Anspannung aller Kräfte abgewehrt werden. Auschwitzund Lebensborn waren zwei Seiten einer Medaille – hier Ausrottung,dort Züchtung. In den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten undin den Adolf-Hitler-Schulen fand die »Euthanasie« – also die Hin-mordung »lebensunwerten Lebens« mit Hilfe deutscher und öster-reichischer Spitzenmediziner – letzten Endes nur ihre »Ergänzung«.

Der 8. Mai 1945 markierte nichts weniger als die Rückkehr Euro-pas auf den Pfad der Zivilisation, aus dem dieser Kontinent dank derUnfähigkeit der deutschen Gesellschaft, mit dem 20. Jahrhundert zu-rechtzukommen, dauerhaft hinausgeschleudert werden sollte. Ohnedie Soldaten der Roten Armee und ohne das Standhalten der Völkerder Sowjetunion, über die Deutsche unermeßliches Leid gebrachthatten, wäre für lange Zeit kein westalliierter Soldat in der Lage ge-wesen, seinen Fuß dauerhaft auf das europäische Festland zu setzen.Und: Ohne die Siege und ohne die Opfer der Soldaten der Roten Ar-mee, unabhängig davon, was sie dachten und was sie den Deutschenantaten, und auch unabhängig davon, was ihre im eigenen Lande mas-senmordende Führung alles verbrach, wären viele der heute leben-den Europäer nie geboren worden. Weil ihren Eltern und Großelterndas Recht auf Leben abgesprochen war.

Mit dem Sieg über den Nationalsozialismus ging die Befreiung vomNationalsozialismus einher; die politische Selbstbestimmung für die

Im März 1918, etwa 6 Mo-nate nach der Machtergrei-fung der Bolschewiki inRußland, kamen die Volks-beauftragten der Russi-schen Föderativen Sowjet-republiken als diplomatischeVertreter nach Berlin undsuchten hier mit den deutschen oppositionellenSozialdemokraten sogleichFühlung. […] – Die in dieBerliner Russische Bot-schaft entsandten Volks-beauftragten waren keine geistigen Größen, doch be-seelte sie Opferfreudigkeitund Hingabe an die Revolu-tion. Ich ging gelegentlichzu ihnen, um über Rosa Lu-xemburg und Leo Jogicheszu berichten. Sie sprachenmit leuchtenden Augen von diesen beiden Revolu-tionären und erboten sich,pekuniäre Opfer für sie zubringen. Ich lehnte sie ab,weil weder Rosa Luxemburgnoch Leo Jogiches sie angenommen hätten. –Eine fieberhafte Zusammen-arbeit der russischen unddeutschen Genossen setzteein. Zu dem alten Stammrevolutionärer Sozialdemo-kraten gesellten sich solche,die teils von den hohenGehältern, die die Russenzahlten, teils durch ihreMachtpositionen angelocktwurden. Ich erinnere michan Parteigenossen, innigeFreunde der Menschewiki,die plötzlich Stellungen aufder russischen Botschafteinnahmen. Sie hatten sichdavon »überzeugt«, daß siedie Bolschewiki falsch beur-teilt hatten und waren jetztBahnbrecher des Bolsche-wismus in Deutschland.Mathilde Jacob: Von RosaLuxemburg und ihrenFreunden in Krieg und Revolution 1914-1919, in:Internationale Korrespon-denz zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1988,Heft 4, S. 486.

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Deutschen bedeutete er freilich nicht, vor allem nicht für die Linke.Jegliche Ansätze für eine neue Linke wurden von den Besatzungs-mächten im Keim erstickt. Die sowjetische Besatzungsmacht unter-drückte die parteiübergreifenden Antifa-Ausschüsse – die zumindestdie Potenz für eine völlig andersgeartete Linke in Deutschland insich trugen –, ebenso taten es die westlichen Besatzungsmächte inihren Zonen. Statt dessen wurde den 1933 verschwundenen ParteienSPD und KPD die Lizenz und der Arbeiterschaft für ihr Verhalten imNationalsozialismus quasi eine Art Kollektiventschuldung erteilt.

Die künftigen Gegner im heraufziehenden Kalten Krieg mühtensich auf beiden Seiten, den deutschen Arbeiter einzubinden. Im Ostenvereinigten sich KPD und SPD zur SED, wobei anfangs nicht we-nige Linke glaubten, hierbei käme eine neue linke Partei zustande.Der Hauptzweck des sowjetischen Manövers war aber nicht eineVereinigung, sondern eine Totalvereinigung, also das Verschwindenjeder auch nur potentiell eigenständigen deutschen Linken; ab 1948war die SED auch offiziell die Fortführung der KPD mit denselbensowie – ergänzend – mit geheimpolizeilichen Mitteln.

Spiegelverkehrt im Westen wurde die SPD gefördert und die KPDunterdrückt. Beide Parteien – SED und SPD – führten in den altenKostümen, aber durch die Demarkationslinie getrennt, unter den Be-dingungen des Kalten Krieges, die Konstellation von 1918/19 pro-longierend, die alten Stücke auf und gaben dabei jeweils die »Arbei-terpartei«. Der 17. Juni 1953 und das Godesberger Programm 1959brachten die Dementis. Natürlich steckten beziehungsweise ver-steckten sich in beiden Parteien Linke; wobei die Linken in der SPDnicht Gefahr liefen, in einen GULag und in ein deutsches Zuchthausverbracht zu werden. Die Linke in der DDR, ob inner- oder außer-halb der SED, lebte in einer inneren Emigration, die für viele Pro-minente (Leo Kofler, Alfred Kantorowicz, Gerhard Zwerenz, ErnstBloch, Hans Mayer etc.) bald zu einer äußeren wurde – während dieArbeiterschaft am 17. Juni 1953 die Stalinisierung der DDR-Gesell-schaft stoppte und die SED-Führung mit ihrer bei der KPdSU ge-borgten Macht zum historischen Kompromiß zwang: Euch die Macht,uns die gleiche Wohlfahrt wie denen im Westen.

Dieser Kompromiß hielt bis tief in die 80er Jahre hinein, auch wenner immer wieder verletzt wurde. Der Mauerbau 1961, der vor allemdie Abwanderung von Fachkräften verhindern sollte – mehr als dieHälfte der in den Westen Abwandernden waren zwischen 1957 und1961 Facharbeiter unter 25 Jahre gewesen – wurde in den 60er Jah-ren nicht zuletzt auch unter Arbeitern als eine Erscheinung auf Zeitverstanden. Doch der Versuch eines Teils der SED-Führung, die ge-botene Atempause zu nutzen, scheiterte am Widerstand der sowjeti-schen Vormacht und der alles beherrschenden Bürokratien. Ab Mitteder 80er Jahre wurde die »innerliche Kündigung« zu einer Massen-erscheinung. Daneben begann Unmut in Widerstand umzuschlagen.Es waren nicht zuletzt Linke, die sich unter dem Dach der Kirchen,aber auch außerhalb dieses Schutzraumes formierten. Als 1989 vorallem die leistungsfähigen Teile der Arbeiterschaft sich zur Emigrationvia Ungarn entschieden, brach das Kartenhaus zusammen.

Auch im Westen blieb die Linke, ob innerhalb oder außerhalb derSPD, wirkungslos. Der Ausreißer von 1967/68, die Studentenbewe-

Ich wurde nach dem Gefängnis, wie wir das etwas zynisch sagten, in dieangeblich herrschendeKlasse hinabgestoßen,mußte mich in der Produk-tion bewähren, einen Beruflernen. Die Begegnung mitder deutschen Arbeiter-klasse war dann für michdie entscheidende Erfah-rung, die mich am Sozialis-mus hat zweifeln lassen.Der Sozialismus in der DDRjedenfalls war nicht dasProjekt des Proletariats, wie ich feststellen mußte –von einer historischen Mission der Arbeiterklassekonnte keine Rede sein,Klassenbewußtsein gab es nur in der Form, daßdiese Leute meinten, sowieso immer die ange-schissenen zu sein.Florian Havemann: Vorstellungsrede in Grimma am 5. Mai 2002, in: http://portal.pds-sach-sen.de/druckvorschau.asp?tpl=aktuell.asp&tid=1&mid=182&iid=607

Jörn Schütrumpf: Die Juni-Insurrektion 1953.Schwierigkeiten mit derKlasse. Thesen, in: UTOPIE kreativ, Heft 152(Juni 2003), S. 485 ff.

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gung, konnte schon nach kurzer Zeit kulturell und sozial integriertund politisch später in das »rot-grüne Projekt« kanalisiert werden.Dessen Scheitern hat erneut einen Berg an enttäuschten Hoffnungenund Frustrationen produziert.

Und nun?Die Sowjetunion ist verschwunden; die PDS hat sich langsam vonihrem SED-Bezug emanzipiert. Und die Linke ist in die Freiheit ent-lassen. Ob sie, soweit sie noch in der SPD heimisch ist, künftig eineandere Rolle spielen kann als in den vergangenen sechzig Jahren –nämlich links von dieser Partei alles niederzuhalten –, wird sich zeigen. Die Automatisierung und die Unfähigkeit der Gewerkschaften, aufdiese im Interesse der Arbeiterschaft wirkungsvoll zu reagieren, ha-ben den wichtigsten Erfolg der Arbeiterbewegung – die Vollbe-schäftigung – rückgängig gemacht. Doch es herrscht nicht einfachnur Massenarbeitslosigkeit wie in der Vergangenheit immer wiedereinmal, sondern die traditionelle Arbeiterschaft ist in Europa imSchwinden. Ihre neue Heimat liegt in Nordmexiko, im Westen derTürkei, in China und in Indien. Das »revolutionäre Subjekt« Arbei-terklasse, das es sozialgenetisch bedingt so nie gegeben hat, ist derdeutschen Linken abhandengekommen. Jetzt ließe sich zwar nochfabelhaft von der »Arbeiterklasse im Dienstleistungsbereich« odervom unaufhörlich wachsenden »Weltproletariat« träumen, die es zubeglücken gilt. Aber es wäre auch der Fall denkbar, daß sich jenerTeil der deutschen Linken, dem das fehlende revolutionäre Subjektimmer noch Kummer bereitet, diesen Mangel endlich als Phantom-schmerz erkennt.

Die deutsche Linke außerhalb der SPD hat so lange auf Knien ge-lebt, daß ihr der Gedanke, plötzlich auf den Beinen zu stehen undnicht mehr auf den Knien zu rutschen, sondern den aufrechten Gangzu üben (Bloch), noch fremd anmutet. Es tobt seit spätestens 1989ein »Klassenkampf von oben« nicht nur gegen die Arbeiterschaft,sondern gegen eine sozialstrukturell aufgefaserte und bisher wider-standsarme Gesellschaft. Neben die »traditionelle« Ausbeutung durchMehrwertproduktion ist eine feudal strukturierte Ausplünderung derexistentiellen Grundlagen der Menschheit getreten: bei Wasser, Bil-dung, letztlich durch Privatisierung aller »öffentlichen Güter«.

In der Arbeiterschaft rumort es; in den Gewerkschaften gewinntdie Linke sichtbar an Einfluß. Aber viele neue Gegner des immer pa-rasitärer werdenden Systems sind im klassischen Sinne keinewegs»proletarisch«. Sie leben in unterschiedlichen Kulturen mit unter-schiedlichen Kommunikationsweisen und unterschiedlichen »Signal-systemen«. Ansprechpartner hat die Linke genügend; aber kann siediesen Ansprechpartnern auch genügen?

Daß eine große Umschichtung im Politischen in der Luft liegt, ah-nen viele; daß ein Hegemoniekonzept erarbeitet werden muß, dasnicht auf eine »auserwählte Klasse« zielt, sondern jenen Menschenein Angebot zum Handeln macht, die nicht länger gewillt sind, sichunter den Schlägen eines dogmatischen Liberalismus zu ducken, ah-nen ebenfalls viele; daß dafür ein Denken »ohne Geländer« (HannahArendt) vonnöten sein wird, ahnen die meisten – fürchten sich abermöglicherweise davor.

»Europäisch links« wärealso eine Trippelstrategie:erstens kraftvolle Initiativenfür eine neue internationaleFinanz- und Handelsord-nung, die es den Staatenwieder ermöglicht, Steuerneinzunehmen – ein lang-fristiges Unternehmen, daswohl nur im Gefolgeschwerster Wirtschafts-krisen angegangen werdenwird. Zweitens: die nur mitwesteuropäischem »Wohl-standsverzicht« zu erkau-fende sozialpolitische Kom-plettierung Europas durchtransnationale Sozial- undVersicherungssysteme,ohne welche die freie Mobi-lität von Arbeit und Kapitaldie Gesellschaften immerweiter spalten wird; dazuGroßprojekte, die Arbeits-plätze und nachhaltigeZukunftssicherung schaffen(etwa ein Crash-Programmfür erneuerbare Energienoder Verkehrsnetze …). Beides setzte den Mut zuindustriepolitischen Initiati-ven und eine Rücknahmeder überzogenen Deregulie-rung voraus. Hier läge diegroße Aufgabe für eine wie-dergeborene europäischeSozialdemokratie. Siekönnte auch als einzige derNeuen Mitte die Opfer inter-pretieren, die dazu von ihrgebracht werden müssen:ein Tausch von Konsum-erweiterung gegen Zu-kunftssicherung, eine dynamisch-konservativeBewahrung des »EuropeanWay of Life« und die Entfal-tung wissenschaftlich-tech-nischer Kreativität. Technik,mit der sechs MilliardenMenschen leben können,und Zeitwohlstand für diefrühindustrialisierten Gesell-schaften – das wäre die europäische Vision. Siekönnte sogar skeptischeJugendliche beleben.Mathias Greffrath: Washeißt links?, in: DIE ZEIT,14. Juli 2005, Nr. 29.

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»Während objektiv das Verhältnis der Eigentümer und derProduzenten zum Produktionsapparat starrer stets sich verfestigt,

fluktuiert um so mehr die subjektive Klassenzugehörigkeit.«(Theodor W. Adorno, Minima Moralia)

ErstensNach der Phase eines sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, der –zumindest in den westeuropäischen Kernländern – die drängendstensozialen Probleme gelöst zu haben schien, brechen gesellschaftlicheWiderspruchsformen auf, die schon als überwunden galten. Die Ar-beitslosigkeit verfestigt sich und die Zahl der Menschen, die für denkapitalistischen Produktionsprozeß benötig werden, schwindet. DieÜberzähligen werden an den Rand, in eine Zone der Unsicherheitgedrängt. Nicht nur die Schere zwischen den gesellschaftlichen Ex-trempolen Reichtum und Armut hat sich eklatant vergrößert, zuge-nommen haben auch die sozialen Differenzen innerhalb der gesell-schaftlichen Basis- und Unterschichten. Durch diese Entwicklungdrängen sich eine Reihe von Fragen auf, die für die klassentheoreti-sche Sichtweise eine interpretatorische Herausforderung darstellen,denn die gesellschaftlichen Spaltungs- und Ausgrenzungsprozessesind durch die traditionellen Interpretationsraster nicht mehr in allenFällen hinlänglich zu erfassen.

Die sozialen Verwerfungen haben einen Umfang angenommen,der alles in der jüngeren Vergangenheit bekannte in den Schattenstellt. »Die Bestandsaufnahme und Analyse der Entwicklung inDeutschland bis 1998 macht in fast allen Lebensbereichen deutlich,dass soziale Ausgrenzung zugenommen und die Verteilungsgerech-tigkeit abgenommen hat.«2 In den westlichen Bundesländern hat sichdie Zahl der Sozialhilfeempfänger seit 1973 vervierfacht, im Ostenseit 1993 verdoppelt; jedes 5. Kind wächst in Armut auf. Durch dievierte Stufe der »Hartz-Reform« rutschen 2005 weitere 500 000 Kin-der in die Sozialhilfe.

Viele Ausgrenzungs- und Verarmungsprozesse spielen sich auf dersichtbaren »Oberfläche« ab (Bettler und Obdachlose in den städti-schen Zentren), vieles ist aber auch in eine gesellschaftliche Grau-zone und in Bereiche des schamhaften Verschweigens abgedrängt.Galten nach der amtlichen Statistik schon 1995 in Westdeutschland11,5 Prozent der Bevölkerung als arm (weil sie über weniger als50 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügten), so lebten wei-tere 10,1 Prozent in einer Zone »relativer Armut« (definiert durch

Werner Seppmann –Jg. 1950; Dr. phil., Sozial-wissenschaftler; nachBerufstätigkeit Studium derSoziologie und Philosophie,langjährige Zusammenarbeitmit Leo Kofler, Mitheraus-geber der MarxistischenBlätter, zahlreiche Veröffent-lichungen zur Marxismus-forschung, historisch-mate-rialistischen Methodologie,Sozialstrukturanalyse,Ideologiekritik, Sozialphilo-sophie und Kultursoziologie;zuletzt in UTOPIE kreativ:Die »neue Weltordnung«des Kapitals, Heft 129/130(Juli/August 2001),S. 581-594.

1 Dieser Text ist imRahmen des ProjektsKlassenanalyse@BRDentstanden. Das For-schungsvorhaben derMarx-Engels-Stiftung inWuppertal untersuchtsystematisch die Realitätder bundesrepublikanischen

UTOPIE kreativ, H. 179 (September 2005), S. 781-795 781

WERNER SEPPMANN

Dynamik der AusgrenzungÜber die soziostrukturellen Konsequenzender gesellschaftlichen Spaltungsprozesse1

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60 Prozent des Durchschnittseinkommens). Diesen Maßstab bei denArbeitslosen angelegt, steigt die Quote der Armen unter den Ar-beitslosen auf fast 50 Prozent.3

Trotz der Offensichtlichkeit der Spaltungs- und Verarmungsten-denzen ist Bedürftigkeit immer noch weitgehend »unsichtbar«: DieAusgegrenzten leben voneinander isoliert, ihre zunehmende Verar-mung hat trotz der strukturellen Gemeinsamkeiten verschiedeneAusprägungen. Die Kollektivität des »Schicksals« wird von diffe-renzierten Erscheinungsformen und individualisierten Verarbeitungs-mustern überlagert. Der Obdachlose gehört ebenso dazu wie derillegale Arbeitsmigrant, der aus Krankheitsgründen gegen seinensozialen Abstieg kämpfende kleine »Selbständige« ebenso wie dieFamilien, die durch ein zweites oder drittes Kind in die Zone derBedürftigkeit abzusinken drohen. Ausgrenzung und Randständigkeitgehen unter den Bedingungen eines »modernen« Kapitalismus mitsozialer Zersplitterung einher; die »Armen sind ... in eine Unzahl ge-trennter Gruppen aufgesplittert, die miteinander meist nicht in Ver-bindung stehen und deshalb nicht in der Lage sind, gemeinsamesBewußtsein, Organisation und Handlungsweise zu entfalten. Sie le-ben in verschiedenen ›Sparten‹ der Gesellschaft und erleiden einesoziale Disqualifizierung durch den Verlust eines Gruppenzusam-menhalts und das Fehlen eines organisatorischen Gerüstes.«4

Die Bereiche faktischer Bedürftigkeit sind von Zonen der Un-sicherheit und der Unwägbarkeit umgeben. Wie breit sie sind und wieverbreitet das Leben in der Nähe des Existenzminimums und dieVerarmungserfahrung sind, wird durch die Tatsache deutlich, daßmomentan jeder dritte Haushalt in der Bundesrepublik innerhalb ei-ner achtjährigen Phase zeitweilig unter die Armutsgrenze rutscht. DieMenschen, die in den »Armutszonen« oder in ihrem »Umkreis« le-ben, werden von der Angst vor dem Scheitern und einem Abstieg indie Randständigkeit beherrscht. Nicht »stationäre« Armut (die alleineaber schon einen skandalösen Umfang besitzt) ist das vordringlicheProblem5, sondern das zunehmende Risiko für breite Bevölkerungs-gruppen, in die Bedürftigkeit abzusinken. »Die Fluktuation nimmtzu, Armut scheint sich zum Kopfbahnhof der Wohlstandsgesellschaftzu entwickeln: Viele kommen erstmalig oder auch wiederholt an, ei-nige schaffen es aber auch, einen Zug zu erwischen, der sie wiederhinaus bringt.«6 Damit rückt der Prozeß der Verarmung mit der dro-henden Perspektive des Ausschlusses und der Randständigkeit in denMittelpunkt des sozialtheoretischen Interesses.7

Zweifellos bedeutet in den meisten mitteleuropäischen LändernArmut in ihrer materiellen Dimension etwas anderes, als wenn insüdamerikanischen Staaten ein Drittel oder gar die Hälfte der Be-völkerung im Elend lebt. Bedürftigkeit und Ausgrenzung sind(noch?) nicht mit Hunger und offensichtlicher Verelendung gleich-zusetzen. Dennoch bedeutet sie für einen Teil der Bedürftigen auchphysische Entbehrung, nicht nur bei den Kindern aus den »sozialenBrennpunkten«, die ohne Frühstück und Pausenbrot in die Schulekommen. In der Hauptsache ist sie jedoch eine »relative« Armut –und gerade deshalb ein Skandal: Denn sie existiert und dehnt sichaus, obwohl der gesellschaftliche Reichtum, absolut betrachtet, wei-ter wächst. Der Lebensstandard der Krisenopfer fällt »im Vergleich

Klassengesellschaft, dieVeränderungen ihrer Struk-turen und Entwicklungs-formen. Im Herbst 2004 istim Neue Impulse VerlagEssen ein Sammelband mitersten Arbeitsergebnissenerschienen: Projekt Klassen-analyse@BRD: »Zweifel amProletariat – Wiederkehrder Proletarität«.

2 Bundesministerium fürArbeit und Sozialordnung(Hg.): Lebenslagen inDeutschland, Berlin 2001,S. XV.

3 Ebenda., S. 156.

4 J. H. Herz: Stagnations-faktoren der modernenGesellschaft, in: HeinzMaus (Hg.): Gesellschaft,Recht und Politik. WolfgangAbendroth zum 60. Ge-burtstag, Neuwied undBerlin 1968, S. 152.

5 Den demagogischenUnterstellungen zum Trotzsind die meisten Bedürfti-gen bemüht, ihren Lebens-unterhalt wieder selbstbestreiten zu können: »DieHälfte aller Sozialhilfe-Emp-fänger muß bereits nacheinem Jahr keine Sozial-unterstützung mehr inAnspruch nehmen, nachdrei Jahren sind nur noch22 Prozent weiter in Sozial-hilfe.« Arne Heise: DreisteElite. Zur politischen Öko-nomie der Modernisierung,Hamburg 2003, S. 27.

6 Berthold Dietz: Soziolo-gie der Armut, Frankfurt undNew York 1997, S. 18.

7 Vgl. Werner Hübinger:Prekärer Wohlstand. NeueBefunde zu Armut und so-zialer Ungleichheit, Freiburg1996.

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mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft überhaupt.«8 Geradedeshalb sind die demoralisierenden und die Persönlichkeitsstrukturbedrohenden Wirkungen in den Zentren nicht geringer als in denRegionen am Rande des kapitalistischen Weltsystems: Hier wie dortbedeutet Armut Ausgrenzung aus zentralen gesellschaftlichen Funk-tions- und Partizipationsbereichen; sie bedeutet, nicht mehr den ver-innerlichten Ansprüchen und Normen der Gesellschaft genügen zukönnen; sie impliziert deshalb, was sie historisch immer bedeutethat: Erniedrigung und Demütigung. In der entwickelten bürgerlichenGesellschaft hat sich der Leidensdruck durch veränderte psycho-soziale Regulationsformen gegenüber früheren Epochen verändertund wohl auch verstärkt.9 Verarmung und soziale Randständigkeitwirken als Angriff auf die personale Stabilität der Betroffenen: IhrSelbstbewußtsein wird beschädigt und bewährte Orientierungshori-zonte in Frage gestellt. Wird das Selbstbewußtsein unterminiert,fehlt häufig auch die Basis zur Bereitschaft, das eigene Schicksalselbst in die Hand zu nehmen. »Angst, Ohmacht, Hunger, Verkür-zung der geistigen und psychischen Perspektive auf das unmittelbareund notfalls kriminelle Überleben, politische Ausgrenzung, Einsam-keit, das schamhafte Sich-Verstecken und Sich-Verstellen, die prin-zipienlose Übernahme asozialer Werte, also mannigfache Formender Entwürdigung: Sie gehören zur Armut.«10

Durch die Intensität der Verarmung und die Zunahme von Rand-ständigkeit, aber auch durch die Zuspitzung der sozialen Ungleich-heit drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß die Epoche eines sozi-alstaatlich regulierten Kapitalismus endgültig in ihr Endstadiumeingetreten ist. Besonders die scheinbar unaufhaltsame Vermehrungder arbeitenden Armen, also jener Arbeitskraftverkäufer, die durchihre Beschäftigungen kaum ihren Lebensunterhalt verdienen kön-nen, sind Indizien dafür, daß auch in den kapitalistischen Kernlän-dern die Unterprivilegierung der arbeitenden Menschen durch eineevolutionäre Entwicklung wohl doch nicht »nachhaltig« überwun-den werden kann: »Die kapitalistische Produktionsweise, in derenEntwicklung es Jahrzehnte gab, in denen sich die Lohnabhängigenin harten Kämpfen eine Verbesserung ihrer Lebenslage erstreitenkonnten, hat diese Perspektive nicht mehr.«11

ZweitensZwar existierten auch in der »wohlfahrtsstaatlichen« Vergangenheitgroße Unterschiede bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reich-tums; es gab Erwerbslosigkeit, Bedürftigkeit und Randständigkeit,doch waren sie hinter der Fassade der gesellschaftlichen Prosperitäts-entwicklung verborgen. Doch auch durch ihren Umfang und Struk-tur hatten sie einen anderen Stellenwert als heute: Bis Ende der 70erJahre dominierte bei den Betroffenen das Gefühl, daß die meistenSchwierigkeiten überwunden werden könnten. Mit den einschnei-denden sozio-ökonomischen Veränderungen haben sich auch dieseEinstellungsmuster verändert. Erodiert ist die Hoffnung auf ein bes-seres Morgen, eine auf die Planbarkeit der Lebensverhältnisse grün-dende Zuversicht.

Die Bedingungen eines sozialstaatlichen Klassenkompromisseskönnen in wesentlichen Teilen als nicht mehr gegeben angesehen

8 Friedrich Engels: Ein-leitung zu Karl Marx »Lohn-arbeit und Kapital«, MEW,Bd. 6, S. 412.

9 Vgl. Werner Seppmann:Dialektik der Entzivilisie-rung. Krise, Irrationalismusund Gewalt, Köln 1995.

10 Werner Rügemer: Armund reich, Bibliothek dialek-tischer Grundbegriffe, Bd. 3,Bielefeld 2002, S. 12.

11 Hansgeorg Conert:Neoliberalismus und Welt-markt, Supplement derZeitschrift Sozialismus,Nr. 10/2003, S. 25.

SEPPMANN Ausgrenzung 783

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werden: Seit den 80er Jahren haben sich die Verwertungsbedingun-gen für des Kapital, jedoch auch die gesellschaftlichen Macht-verhältnisse verändert. Das Ende einer historisch beispiellosenWachstumsphase führte zur Gewinneinbrüchen, aber auch zu einemverstärkten Druck auf die Arbeiterklasse: Produktivitätsfortschrittewurden zunehmend zur Arbeitsplatzvernichtung eingesetzt. Weil derdaraus resultierende Anstieg der Arbeitslosigkeit auf die Beschäftig-ten verunsichernd und disziplinierend wirkte, konnten tiefgreifendebetriebliche Veränderungen vorgenommen werden.

Gelegt wurden durch einen Rationalisierungsschub in den 80erJahren die Grundlagen für eine gespaltene Arbeitswelt mit diszipli-nierenden Effekten auf die Arbeitenden. Während sich für einen Teilder Beschäftigen das Qualifizierungsprofil erhöhte, wurde ein ande-rer Teil beruflich zurück gestuft. Gleichzeitig ging absolut die An-zahl der Beschäftigten in den Industriesektoren zurück. Ziel der Um-gestaltungen war es nicht nur, die Produktivität zu erhöhen, sondernauch die Widerstandsfähigkeit der Belegschaften zu schwächen. Soführten die ergriffenen Rationalisierungsmaßnahmen zur Ausdün-nung der Stammbelegschaften, die (zumindest in den großen Betrie-ben) die Träger einer wirksamen Interessenvertretung waren. BeiNeuanstellungen wurden die traditionellen Belegschaftskerne durchAngelernte, zunehmend auch durch Zeitarbeiter ersetzt, die sehr ofteigene Interessen (hauptsächlich nach Festeinstellung) haben undsich deshalb nicht selten beflissen und angepaßt verhalten: »Wenndie einen einzigen Tag streiken würden«, so die Einschätzung einesvon Pierre Bourdieu und seinen Mitarbeitern befragten älteren»Stammarbeiters«, »dann wären der Leiharbeitsladen und das Un-ternehmen schnell dabei, sie unverzüglich vor die Tür zu setzen.«12

Diese Veränderungen innerhalb der Belegschaften hatten einen we-sentlichen Anteil bei der »Entstrukturierung des ehemaligen Sy-stems der sozialen Beziehungen, welches lange in den Werkhallengeherrscht hatte«.13 Durch betriebliche Auslagerungen wurde die Po-sition der Beschäftigten zusätzlich geschwächt: Verschiedene Be-triebsteile und Zuliefersegmente konnten dadurch gegeneinanderausgespielt werden.

Die Unsicherheit des Arbeitsplatzes wurde für die Beschäftigtenzur prägenden Erfahrung. Nach einiger Zeit reichte es schon aus, mitder bloßen Möglichkeit der Auslagerung zu drohen, um weitrei-chende Zugeständnisse zu erpressen. Allmählich gelang es dem Ka-pital, die Lohnquote zu senken und die Profitrate zu erhöhen. DieErnte konnte in der zweiten Hälfte der 90er Jahren eingefahren wer-den: Die Gewinne explodierten und wurden nun wiederum zurverstärkten »Rationalisierung« eingesetzt – bekanntlich mit regel-mäßigem Arbeitsplatzabbau und einem weiteren Anstieg der »indu-striellen Reservearmee«. Denn mit den steigenden Gewinnen wuchsdas Kapitalvolumen, das in weitere arbeitsplatzvernichtende Umge-staltungen investiert werden konnte. Ökonomische Progressionwurde zur Ausgrenzungsmaschine: Die Armuts- und Ausgrenzungs-entwicklung verlief parallel zu einer gesamtgesellschaftlichenReichtumsvermehrung. Der Marxsche Satz über das Verhältnis vonArmut und Reichtum in der bürgerlichen Gesellschaft bekam all-tagspraktische Plausibilität: »Die Selbstverwertung des Kapitals durch

12 Pierre Bourdieu et al.:Das Elend der Welt. Zeug-nisse und Diagnosenalltäglichen Leidens an derGesellschaft, Konstanz1997, S. 310.

13 Ebenda., S. 326.

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die Maschine steht im direkten Verhältnis zur Arbeiterzahl, derenExistenzbedingungen sie vernichtet. … Sobald die Führung des Werk-zeugs der Maschine anheimfällt, erlischt mit dem Gebrauchswert derTauschwert der Arbeitskraft. Der Arbeiter wird unverkäuflich, wieaußer Kurs gesetztes Papiergeld. Der Teil der Arbeiterklasse, den dieMaschinerie so in überflüssige, d. h. nicht länger zur Selbstverwer-tung des Kapitals unmittelbar notwendige Bevölkerung verwandelt,geht einerseits unter in dem ungleichen Kampf des alten hand-werksmäßigen und manufakturmäßigen Betriebs wider den maschi-nenmäßigen, überflutet andrerseits alle leichter zugänglichen Indu-striezweige, überfüllt den Arbeitsmarkt und senkt daher den Preisder Arbeitskraft unter ihren Wert.«14

Umverteilungen im beträchtlichen Umfang hat es zwar auch schonvor der neoliberalistischen »Wende« gegeben. Schon bald »nachdem Einbruch der siebziger Jahre stieg der Kapitalprofit seit denachtziger Jahren wieder an«15: Von 1982 bis 1990 erhöhte sich in derBundesrepublik der Anteil der Unternehmer und Vermögensbesitzeram Netto-Volkseinkommen von 33,6 auf 43,7 Prozent. Entsprechendsank der Anteil der »Arbeitnehmer«-Einkommen von 66,3 auf 56,2 Pro-zent.16 Diese Umverteilung fand jedoch noch auf der Basis wachsenderZuwachsraten und wachsender Einkommen statt. Bevor das ökono-mische Wachstum von den Einkommen der abhängig Beschäftigtenabgekoppelt wurde, konnte die relative Umverteilung aus der Per-spektive der Lohn- und Gehaltsempfänger noch als (wenn auch be-scheidene) Verbesserung ihrer finanziellen Situation erlebt werden.

Dies hat sich mittlerweile entscheidend geändert. Wirtschafts-wachstum und technologische Progression haben sich von der ge-samtgesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt. ImJahre 2000 lag das preisbereinigte Bruttosozialprodukt in der Bun-desrepublik doppelt so hoch wie 1973. Damals gab es im Jahres-durchschnitt weniger als 300 000 Arbeitslose. Ein gutes Vierteljahr-hundert später 4,5 Millionen. Diese paradoxe Situation ist dieKonsequenz eines elementaren kapitalistischen Entwicklungsgeset-zes, der Tatsache, daß unter den Bedingungen des Verwertungs-zwanges und der Konkurrenz ein immer größerer Teil des Mehrpro-duktes in die erweiterte Reproduktion investiert werden muß. Seltennur noch können Konzerne ihre Investitionen nach den »klassi-schen« Regeln der Buchführung abschreiben. Immer schneller lösentechnologische und vermarktungsstrategische »Entwicklungsschübe«die nächsten ab. Nicht nur die Produktentwicklungen, sondern vorallem die neuen Generationen von Produktionsanlagen verschlingenimmer größere Investitionen. Auch große Gewinnvolumina reichenin der Regel nicht mehr aus, die nötigen Investitionen tätigen zukönnen: Technologische Neuerungen in Kombination mit dem Kon-kurrenzdruck verlangen die ständige Erweiterung des Anlagevolu-mens. Die Unternehmen sind deshalb im steigenden Maße zurKreditaufnahme bzw. zur Verbreiterung ihrer Beteiligungsbasisgenötigt. Sie sind somit auf die internationalen Kapitalmärkte ange-wiesen und gezwungen, sich ihren Regeln zu unterwerfen. In derKonkurrenzfiguration sind sie Jäger und Gejagte gleichermaßen.Dieser Druck wird unmittelbar auf die Betriebe und Belegschaftenübertragen, der sich als Zwang zur Rentabilität, d. h. in der Regel

14 Karl Marx: Das Kapital.Erster Band, MEW, Bd. 23,S. 454.

15 Joachim Hirsch: DieGlobalisierung der Gewalt,in: Sozialismus, H. 10/2002,S. 24.

16 Der Spiegel,Nr. 4/1991, S. 84.

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durch Lohnabbau und Leistungsdruck, Auslagerungen der Produk-tion oder technologisch »vermittelten« Arbeitsplatzabbau ausdrückt:Auf der neuesten Entwicklungsstufe werden beispielsweise in derAutomobilindustrie Fertigungslinien mit ehemals 250 bis 300 Pro-duktionsarbeitern mit nur noch 10 bis 15 Beschäftigten betrieben.

DrittensDie als »Globalisierung« bezeichnete Neugestaltung des Systemsder internationalen Arbeitsteilung und dem Rückgriff auf eine welt-weite Reservearmee von Arbeitskraftanbietern steht dem Kapital einweiteres Druckmittel zur Verfügung, durch das die Ausbeutung auchder Beschäftigten in den kapitalistischen Zentren intensiviert und dieMehrwertrate erhöht werden kann. Nicht nur an den neuen, sondernauch an den traditionellen Standorten kann das Kapital »selektiver«und »kostenorientierter« mit den Beschäftigten umgehen: Arbeitsor-ganisatorische Verbesserungen können wieder zurück genommenund nach einer Phase ihrer punktuellen Überwindung standardisierteund reglementierte Arbeitsformen wieder verstärkt installiert wer-den. Gleichzeitig werden den Lebensbedürfnissen der Arbeitendenentsprechende Arbeitszeitformen, erkämpfte Pausenregelungen undzugestandene Kompetenzerweiterungen zur Disposition gestellt.

Strukturell äußerte sich die »differenzierte« Verfügungsstrategieüber die Arbeitskraft in einer sozial-destruktiven Aufsplitterung derArbeitswelt. Entstanden einerseits viele »prekäre« Beschäftigungs-verhältnisse mit variablen Einsatzzeiten, geringer Entlohnung undunzureichender Absicherung, so zeichneten sich andererseits die (ten-denziell abnehmenden) Vollerwerbsverhältnisse durch überlange Ar-beitszeiten und einem auf die Spitze getriebenen Arbeitsdruck aus.

Es ist wohl kaum nötig, besonders zu betonen, daß »ungeschützte«Arbeit überproportional von Frauen (und an den »Rändern« des ka-pitalistischen Weltsystems auch von Kindern) geleistet wird, denn»junge, unerfahrene Frauen sind die billigsten der billigen Arbeits-kräfte, sie sind die optimale Arbeitskraft für den modernen Kapita-lismus.«17 Vor dem Hintergrund einer historischen Typologie derArbeitsformen muß von einer Regressionstendenz gesprochen wer-den: Schon überwunden geglaubte (und auch als ökonomisch dys-funktional erachtete) Arbeits- und Ausbeutungsformen erhalteninnerhalb des globalisierten Systems der Arbeitsteilung eine neueBedeutung. Trotz ihrer »ungleichzeitigen« Form sind sie Funktions-elemente einer entwickelten kapitalistischen Ökonomie, die in ihremungehemmten Verwertungsstreben nicht nur bereit ist, auch auf vor-bürgerliche Ausbeutungsformen zurück zu greifen, sondern dieseaufgrund der hochtechnologischen Vermittlungssysteme auch profit-steigernd organisieren kann.

Der »Weltmarktpreis« für die Arbeitskraft ist zu einer Bedrohungnicht nur für die Beschäftigten mit geringer Qualifizierung, sondernauch für die Belegschaften in ehemals krisenresistenten Bereichender Arbeitswelt geworden. Um diesen gewünschten, weil diszi-plinierenden Effekt zu erreichen, mußten sozialstaatliche Errun-genschaften demontiert und Mitbestimmungsrechte beschränkt wer-den: »Im Namen von Deregulierung und Flexibilisierung werdenInstitutionen, die Ungewissheit begrenzen sollen, abgebaut. Dies hat

17 Maria Mies: Mythendes globalisierten Kapitalis-mus, in: Peter Kemper,Ulrich Sonnenschein (Hg.):Glück und Globalisierung.Alltag in Zeiten der Welt-gesellschaft, Frankfurt/M.2003, S. 35.

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zur Folge, daß die Ungewissheit in Bezug auf das Resultat vonHandlungen und die Dauer ihrer Auswirkungen sowohl in der indi-viduellen wie in der kollektiven Perspektive größer wird.«18 Ein zu-nehmender Druck auf die Lohnhöhe und die sozialen Sicherungssy-steme, vor allen Dingen aber die Unsicherheit des Arbeitsplatzessind zu prägenden Erfahrungen geworden: Die strukturelle Gewaltder Arbeitslosigkeit »flößt jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, daßer keinesfalls unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewis-sermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und be-drohtes Privileg«19 Die Verunsicherung der Arbeitenden ist das wich-tigste Element einer Drohkulisse, die geeignet ist, auch noch ihreletzten Leistungsreserven zu mobilisieren.

ViertensDie gegenwärtige Krise hat nur wenig mit dem gewöhnlichen kon-junkturellen Auf und Ab einer kapitalistischen Ökonomie zu tun.Denn auch durch wirtschaftliche Aufschwungtendenzen wird dieBeschäftigungsmisere nicht überwunden. Auf dieser Grundlageerleben wir eine Neustrukturierung der Klassengesellschaft: DieÜberzähligen werden an den Rand, in eine Zone der Unsicherheitgedrängt. Armut und Ausgrenzung etablieren sich als feste Größender gesellschaftlichen Entwicklung. Für die Entwicklung des Kapi-talismus ist dieses soziale Organisationsmodell günstig, er brauchtden »doppelt freien Lohnarbeiter« (Marx) und ein Reservoir vonArbeitskräften, auf das er bei Bedarf zurückgreifen kann. SozialeSpaltungen und Ausgrenzungen haben ihn seit seinen Tagen derFrühmanufaktur begleitet und zur Disziplinierung der arbeitendenMenschen beigetragen.20

Aber nicht nur den Überzähligen in den Beschäftigungsbereichen,die eine geringere Qualifizierung erfordern, ist eine unsichere Exi-stenz beschieden. Im schnellen Tempo werden auch die Fähigkeitenund Zertifikate von Mittelschichtangehörigen entwertet: Rationali-sierungsschübe und technologische Umgestaltungen treffen nichtmehr nur die Industriearbeiter, sondern auch die Beschäftigten aufden technischen und administrativen Führungsebenen. Fast alleSozial- und Statuspositionen, die nicht durch Geldvermögen abgesi-chert, sondern durch berufliche Leistungen begründet sind, könnendurch die technologischen und ökonomischen Umwälzungen inFrage gestellt werden. Arbeitslosigkeit trifft nicht mehr nur die ge-ring Qualifizierten: Die Akademikerarbeitslosigkeit (auch in techni-schen Berufen) ist in den letzten Jahren in den meisten Industrielän-dern sprunghaft angestiegen. Deklassierungseffekte auch in den»gehobenen« Bereichen der Arbeitswelt entstehen durch die immerniedriger gesetzten Altersgrenzen: 50, ja 45 Jahre gelten gemeinhinals Brauchbarkeitsbarriere. In der Mehrheit der bundesdeutschenBetriebe arbeitet niemand mehr, der älter als 50 Jahre ist.

Durch das radikalisierte Ausbeutungsstreben des Kapitals ziehtVerunsicherung und Prekarisierung auch in manche ehemals stabileBeschäftigungszone ein. Robert Castel spricht von der »Wiederkunftder massenhaften Verwundbarkeit«21, die als Relikt vergangener Ar-mutsphasen schon als überwunden galt und von »einer grundlegen-den Umwälzung der Lage der abhängig Beschäftigten«.22

18 Elmar Altvater, BirgitMahnkopf: Globalisierungder Unsicherheit, Münster2002, S. 26.

19 Pierre Bourdieu:Gegenfeuer, Konstanz 1998,S. 97.

20 Vgl. Leo Kofler: ZurGeschichte der bürgerlichenGesellschaft, Neuwied undBerlin 1966, S. 299 ff.

21 Robert Castel: DieMetamorphosen der sozia-len Frage. Eine Chronik derLohnarbeit, Konstanz 2000,S. 357.

22 Ebenda., S. 350.

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FünftensDas Besondere der gegenwärtigen sozial-destruktiven Prozesse be-steht jedoch nicht nur in einer schärferen Polarisierung des Verhält-nisses von Kapital und Arbeit. Eklatant ist vor allem die Tatsache,daß Spaltungstendenzen existieren, die mitten durch die Schichtender Arbeitskraftverkäufer selbst verlaufen: Da gibt es diejenigen, dieArbeit haben und es gibt die Arbeitslosen, deren Lage keinesfalls alseinheitlich mißverstanden werden sollte. Denn im Verlauf der Er-werbslosigkeit finden mit dem Wechsel von Arbeitslosengeld zurArbeitslosenhilfe einschneidende Statusveränderungen statt. Späte-stens in diesem Stadium (das nach den neuen Regelungen in derBundesrepublik weitgehend mit der Sozialhilfe gleichgestellt wird)erleben sich viele Betroffene als Bittsteller und Gescheiterte.

Aus der Gruppe der Arbeitslosen kristallisiert sich ein Kern vonMenschen heraus, die keine realistische Chance mehr besitzen, je-mals wieder beschäftig zu werden: »Auf dem Grunde des Meers anArbeitslosen lagern sich diejenigen ab, die abgesunken sind, dieje-nigen die zu krank sind, zu alt oder zu behindert sind. Es lagern sichdiejenigen ab, die mit ihrer Qualifikation untergegangen sind, dieSüchtigen, psychisch Gestörten, die Resignierten und Verzweifelten.Sie sammeln sich unter den Arbeitslosen, weil sie ausgemustert sindund weil das Interesse des Kapitals an einer weiteren Verwertung ih-rer Arbeitskraft gegen Null geht.«23

Aber es gibt auch noch die schon angedeutete Spaltung innerhalbder Arbeitswelt, ja innerhalb des einzelnen Betriebes: Um die Kern-belegschaften entwickelt sich eine immer breitere Zone mit extrembelastenden, niedrig entlohnten und sozial unsicheren Arbeitsver-hältnissen. Karl-Heinz Roth hat die gespaltene Realität der Lohnar-beit plastisch beschrieben: »Die bisherigen flächendeckenden Hoch-lohngebiete werden auf die terroristisch-sozialpolitisch integrierten›Betriebsgemeinschaften‹ der Entwicklungs- und Fertigungszentrender 600 transnationalen Konzerne begrenzt, die höchstens 15 bis20 Prozent der lohnabhängig Beschäftigten« ausmachen24. DiesenKernbelegschaften ist eine privilegierte Stellung zugedacht, weil sieeinen Stabilisierungsfaktor darstellen25: Auf der Basis neuer kor-porativistischer Strukturen (bestehend aus sozialer »Privilegierung«und gruppenzentrierten Organisationsstrukturen der Arbeitsprozesse)sollen in den qualifizierten Produktionsbereichen alle Kreativitäts-potentiale ausgeschöpft werden. Nur in diesen Segmenten der Ar-beitswelt ist das industrielle Paradigma des Fordismus in Frage ge-stellt, werden Maschinisierung und Fließbandfertigung tendenzielldurch neue Produktionskonzepte abgelöst. Dies geschieht zwar imInteresse einer effektiveren Ausbeutung der Arbeitskraft, jedoch istdas Management gezwungen, wenn es dieses Ziel erreichen will, Zu-geständnisse an die Arbeitenden zu machen und ihnen Mitgestal-tungsmöglichkeiten einzuräumen.

Solche »postfordistischen« Bereiche sind jedoch Inseln in einerArbeitswelt, die in ihrem Kern immer noch nach tradierten industriel-len Prinzipien organisiert ist. Denn den sozial verträglich gestaltetenKonglomeraten sind hierarchisch gegliederte Zuliefer-Segmente mitgeringerem Status zugeordnet. Während auch in konjunkturellenSchwächeperioden die Konzerne bemüht sind, die Stammbeleg-

23 Rainer Roth: Neben-sache Mensch. Arbeits-losigkeit in Deutschland,Frankfurt/M. 2003, S. 53.

24 Karl-Heinz Roth: DieWiederkehr der Proletaritätund die Angst der Linken,in: Ders. (Hg.): Die Wieder-kehr der Proletarität.Dokumentation der Debatte,Köln 1994, S. 19.

25 Es stellte einstrukturelles Defizit derindustriesoziologischenForschung dar, sich zulange hauptsächlich mitdiesen »Kernen« beschäftigtund sie als repräsentativfür die Arbeitswelt stilisiertzu haben.

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schaften (die nicht zuletzt infolge der Automatisierung ein hohesQualifikationsniveau besitzen) zu halten, sind die Beschäftigten inden »ungeschützten« Arbeitsverhältnissen unmittelbar den Markt-schwankungen ausgesetzt: Sie werden geheuert und gefeuert, wie esgerade der Auftragslage entspricht. Das Leben dieser Gruppe ist so-zial unsicher, beständig vom Absturz in die Bedürftigkeit bedroht:»Ein neues Proletariat ist im Entstehen, dem die kollektiv geregeltenNormalarbeitsverhältnisse und die sozialstaatlichen Vermögenssur-rogate für die Wechselfälle des Daseins zunehmend fremd werden.Es wird über den aktuellen Krisenzyklus hinaus langfristig durch dieErfahrung von Erwerbslosigkeit, von prekären Beschäftigungsver-hältnissen, von ›zweiten‹ und ›dritten‹ Arbeitsmärkten und von ab-rupt eintretenden Armutsphasen geprägt sein.«26

Als vor weniger als einem Jahrzehnt Karl-Heinz Roth eine»Wiederkehr der Proletarität« prognostizierte, wurden Zweifel ange-meldet, ob solche zweifellos vorhandenen Trends eine solch weitge-hende Generalisierung erlauben würden. Durch die reale Entwick-lung ist der Meinungsstreit entschieden worden: Die beschriebenenEntwicklungen sind zur Tendenz und zur Grundlage einer Neuge-staltung der Klassensegmentierung geworden.

Nicht die Ausbeutung ist neu, aber es sind die Formen, in denensie organisiert wird. Die Klassenlandschaft erhält zusätzliche Polari-sierungsmomente innerhalb ihrer Basisbereiche: Die Arbeitskräftewerden unterschiedlichen Segmenten der Arbeitswelt mit unter-schiedlichen Rechts- und Entlohnungsformen, unterschiedlichenStandards der sozialen Absicherung und Perspektiven der Beschäfti-gungskontinuität zugeordnet. Wichtiges Element dieser verändertenAusbeutungsstrategie ist der rapide Bedeutungsverlust des unbefri-steten Arbeitsvertrages.27 Dadurch erhalten die unterdurchschnittlichbezahlten und ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse eine im-mer größere Bedeutung. Ihr Anteil beträgt in vielen Industrieländern35 Prozent – mit stark steigender Tendenz. Das »Normalarbeitsver-hältnis« wird durch befristete Verträge, Leiharbeit, Arbeit aufAbruf und der Scheinselbständigkeit zurück gedrängt. Vor allem dergrößte Teil der Neueinstellungen vollzieht sich in diesen »endtradi-tionalisierten« Formen. In den meisten Industrieländern sind mehrals 60 Prozent der neu geschaffenen Arbeitsplätze befristet und prekär.

SechstensIm Industriesystem auch der entwickelten Länder reproduziert sicheine Spaltung, die für die »globalisierte« Ökonomie in ihrer Ge-samtheit charakteristisch ist: Eine überschaubare Zahl entwickelterWirtschaftsinseln existiert in einem Meer der Unterentwicklung undVerelendung; dadurch werden auch schon etablierte Zivilisierungs-und »Modernisierungs«-Standards bedroht. Obwohl selbst wie-derum stark zergliedert, weiten sich die Zonen ohne Rechtssicher-heit und eines zivilisatorischen Nihilismus aus. Ihr peripherer Statusverschleiert, daß sie elementare Bestandteile des Industriesystemssind, also massenhafte tayloristische Arbeitsbedingungen in den vonMühsal geprägten Ebenen der Arbeitswelt die Voraussetzungen einerAbmilderung strikter Arbeitsteilung und von Kompetenzgewinnender Beschäftigten in den Kernbetrieben bilden. Das ebenso vielge-

26 Karl-Heinz Roth: DieAufsprengung des Sozial-staats, in: Ders. (Hg.): DieWiederkehr der Proletarität,a. a. O., S. 41.

27 Es ist in diesen Zusam-menhang von einer »Krisedes Normalarbeitsverhält-nisses« die Rede: Wie beivielen anderen Begriffen,die aus der etabliertensozialwissenschaftlichenDiskussion stammen, ist ernicht unbedingt falsch, legtaber doch eine Fährte, dievon den klassengesell-schaftlichen Ursachen dereskalierenden Problemeablenkt.

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staltige wie widersprüchliche Bild des Industriesystems erlaubt esnicht, von einem »grundlegenden Wandel der Arbeitsgestaltung«28

zu sprechen. »Innovative Managementkonzepte« und selbstbe-stimmte Gruppenarbeit sind – behält man die Arbeitswelt in ihrerGesamtheit im Blick – kaum mehr als Randerscheinungen, die zu-dem zunehmend auch wieder in Frage gestellt werden. Und genau sowenig läßt sich für die Arbeitswelt in ihrer Gesamtheit sagen, daßdie Ansprüche an die Ausbildung der Arbeitenden explosionsartig29

zugenommen hätten.Lassen wir es dahin gestellt, wie groß beim »Toyota-System« (das

immer als Paradebeispiel für die Gestaltung einer »neuen Arbeitswelt«angeführt wird) die Eigenverantwortung tatsächlich gewachsen istund wie konsequent traditionelle Teilarbeit überwunden wird. Selbstwenn wir den optimistischen Einschätzungen folgen, kann nicht igno-riert werden, daß diese erweiterten Handlungsspielräume nur für die10 bis 15 Prozent der Beschäftigten in der Endmontage gelten. Sie bil-den aber nur »die Spitze einer Pyramide ..., die auf einer Basis von ins-gesamt 45 000 Zulieferern beruht. Je weiter sich diese von der Spitzeentfernen, um so stärker arbeiten sie nach dem tayloristischen Modell:171 Zulieferer sogenannten ›ersten Ranges‹ stellen vollständige Teil-stücke bereit, die in Zusammenarbeit mit der Mutterfirma entwickeltwurden; 5 000 Zulieferer zweiten Ranges ver-sorgen die Zulieferer er-sten Ranges mit Komponenten; und 40 000 Zulieferer dritten Rangesliefern die Teile für letztere. Je weiter man sich von der Spitze der Py-ramide entfernt, desto geringer werden das technische Niveau der Un-ternehmen, die Ausbildung des Personals und die Löhne. Bei dencomputergesteuerten und robotisierten Zulieferbetrieben ersten Ran-ges, die zwischen 100 und 500 Personen beschäftigen, liegen dieLöhne 25 Prozent unter denen der Mutterfirmen. Bei den Zulieferernmit weniger als 100 Arbeitnehmern liegen sie 45 Prozent niedrigerund für prekäre, unregelmäßige und in Stücklohn bezahlte Arbeit nochniedriger.«30 Es läßt sich leicht ausmalen, welche Konsequenzen es aufdie Arbeitsbedingungen und das Einkommensniveau der nachgelager-ten Stufen hat, wenn die Konzerne an der Spitze, ihre Machtstellungausnutzend, den Zulieferern pauschal Preisreduktionen von 7 (Daim-ler-Chrysler) bis 20 Prozent (Opel) abzupressen versuchen, wie es2003 geschehen ist.

Der Druck auf die nachgeordneten Segmente ist jedoch keine Ein-bahnstraße. Die dort durchgesetzten Standards wirken negativ aufdie Arbeits- und Leistungsbedingungen bis in die Zentralbereichedes Industriesystems zurück: »Prekarisierung und Flexibilisierungsind zwei Seiten der gleichen Medaille«31: ArbeitsorganisatorischeErrungenschaften werden wieder zurück genommen, nach einerPhase ihrer partiellen Überwindung standardisierte und reglemen-tierte Arbeitsformen wieder installiert, soziale Sicherungsleistungenund die erkämpfte Lohnhöhe einem zunehmenden Druck ausgesetzt.

SiebentensDieser Problemaufriß läßt zumindest erahnen, daß die in der sozial-wissenschaftlichen Diskussion kolportierten Thesen, daß die neuenAusgrenzungsformen eine Konfliktdimension jenseits des antagoni-stischen Interessengegensatzes von Kapital und Arbeit wären, wenig

28 Michael Schumann:Metamorphosen von Indu-striearbeit und Arbeiter-bewusstsein, Hamburg2003, S. 61.

29 Paul Bocarra: Heraus-forderungen der Klassen-identität. Über Trennungenund Annäherungen unterArbeitenden und in derArbeiterklasse, in: JoachimBischoff, Paul Boccara,Robert Castel u. a.: Klassenund soziale Bewegungen.Strukturen im modernenKapitalismus, Hamburg2003, S. 64.

30 André Gorz: Arbeitzwischen Misere undUtopie, Frankfurt/M. 2000,S. 69.

31 Mario Candeias:Arbeit, Hochtechnologieund Hegemonie im Neo-liberalismus, in: MarioCandeias, Frank Deppe(Hg.): Ein neuer Kapitalis-mus?, Hamburg 2001,S. 172.

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Realitätsgehalt besitzen: Wir erlebten jetzt, so wird behauptet, »denÜbergang von einer vertikalen Gesellschaft, die wir gewohnheits-mäßig Klassengesellschaft nannten, mit oben und unten befindlichenLeuten, zu einer horizontalen Gesellschaft, wo es darauf ankommtzu wissen, ob man im Zentrum oder an der Peripherie ist.«32

Ob durch die Ersetzung einer Metapher durch eine andere diePlausibilität der Klassenspaltung in Frage gestellt ist, kann begrün-det bezweifelt werden. Zu beobachten sind zwar neue Formen derDifferenzierung innerhalb sozio-strukturell vergleichbarer Unter-schichtsegmente; dennoch gibt es keine theoretische Rechtfertigungfür die stillschweigende Annahme, daß damit die tradierten sozialenDifferenzierungsursachen hinfällig geworden wären. Denn faktischbeobachten wir »einen neuen gesellschaftlichen Spaltungsprozeß …,der die herkömmlichen Klassenunterschiede zusätzlich vertieft«.33

Die (in ihrer Intensität tatsächlich »neuen«) Spaltungstendenzensind nichts anderes als der vermittelte Ausdruck und die unmittel-bare Konsequenz jenes nach Touraine angeblich nicht mehr existie-renden »Zentralkonflikts« zwischen Kapital und Arbeit. Die »neuen«Formen von Spaltung, Unterprivilegierung und Verarmung sind vonden »alten«, sozio-strukturell bedingten Ungleichheitsbedingungennicht zu trennen. Präziser: Sie sind gleichermaßen Voraussetzungenund Konsequenzen der Transformation der sozio-ökonomischenStrukturen im Interesse der Kapitalbesitzer.

Die Strategien zur Deregulierung und Privatisierung, die Umstruk-turierung der Arbeitswelt und die Infragestellung des Sozialstaateskonzentrieren sich auf vier Hauptziele: »Vertiefung der kapitalisti-schen Logik der Profitproduktion in den Beziehungen zwischen Ar-beit und Kapital; Steigerung der Produktivität zwischen Arbeit undKapital; Globalisierung von Produktion, Zirkulation und Märkten,um überall die Chancen der vorteilhaftesten Bedingungen zur Pro-fitmaximierung zu nutzen; und Erzwingung staatlicher Unterstüt-zung für die Produktivitätsgewinne und die Wettbewerbsfähigkeitder Volkswirtschaften, häufig auf Kosten von Regulierungen zur so-zialen Sicherung und zur Wahrung öffentlicher Interessen. Techno-logische Innovation und organisatorische Veränderungen, vor allemim Sinne höherer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, waren dabeiunverzichtbar, um Geschwindigkeit und Wirksamkeit der Neustruk-turierung zu gewährleisten.«34 Denn nur mit Hilfe der Computer-technologie und des informationstechnologischen Netzes können dieKapitalströme weltweit gesteuert, die globalen Produktionsprozessekoordiniert und trotz dezentralisierender Tendenzen die Kontrolledes Kapitals gewährleistet werden. Jedoch ist die gängige Ableitungder Radikalisierung der Kapitalverwertungsstrategien aus der »mi-kroelektronischen Revolution« fragwürdig. Vielmehr hat sich derNeoliberalismus vorhandener technologischer Möglichkeiten be-dient und deren Anpassung auf ihre Bedürfnisse vorangetrieben.

Wird die Ebene bloßer Metaphorik und Deskription verlassen undder sozio-ökonomische Zusammenhang thematisiert, ist kaum zuübersehen, daß die sozial-destruktiven Entwicklungen den Erforder-nissen der Kapitalverwertung, dem aus objektiven Entwicklungenresultierenden Bedürfnis nach einer Reduzierung der »Lohnquote«und der Intensivierung der Ausbeutung entsprechen. Dazu benötigt

32 Alain Touraine, zit.nach: Catherine Bidou-Zachariasen: Der Erfolg der»Mitte« der Gesellschaft, in:Joachim Bischoff, PaulBoccara, Robert Castelu. a., a. a. O., S. 39. Adap-tiert wurde dieses Schemabeispielsweise von ReinhardKreckel: Politische Sozio-logie der sozialen Ungleich-heit, Frankfurt und NewYork 1992.

33 Heleno Saña: DieZivilisation frisst ihre Kinder,Hamburg 1997, S. 70.

34 Manuel Castells: DasInformationszeitalter, Teil I:Der Aufstieg der Netzwerk-gesellschaft, Opladen 2004,S. 19 f.

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das Kapital beide Segmente der gespaltenen Arbeitswelt: die Hoch-qualifizierten, aber auch jene, die nicht mit dem Computer umgehenkönnen. Jedoch muß der Preis der »unqualifizierten« Arbeitskraft»stimmen«, und damit er »stimmt«, eine Spirale von sozialer Ein-schüchterung und administrativem Zwang (durch veränderte Zumut-barkeitskriterien bei Arbeitslosigkeit etwa35) geschaffen werden.Deshalb stellt auch die Ausgrenzung aus den Kreisläufen der Pro-duktion und die Verweigerung von sozialer Anerkennung – andersdie Vertreter des Exklusionstheorems unterstellen36 – eine »Inter-dependenz-Beziehung« dar.

Die Ausgegrenzten sind der Reproduktionsdynamik des Kapital-verhältnisses unmittelbar zugeordnet37 und den jeweils besonderenAusprägungen des Akkumulationsregimes, dem Wechselspiel vonKrise und Ausbeutung ausgeliefert: »Die kapitalistische Akkumula-tion produziert ... und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihremUnfang, beständig eine relative, d. h. für die mittleren Verwertungs-bedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oderZuschuß-Arbeiterbevölkerung.«38 Die Randständigen, sei es als Ar-beitslose oder auch Marginalisierte, bleiben dabei Angehörige jenerKlasse, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig sind. Zumal esnicht festgeschrieben ist, daß die Ausgeschlossenen unbedingt im-mer ausgeschlossen bleiben müssen. Auch sie bilden eine Reserve-armee, ein Reservoir von Arbeitskraft-Verkäufern und -Verkäufe-rinnen, das den Flexibilisierungsstrategien des Kapitals dienlich ist,weil es entsprechend den Marktschwankungen aktiviert und wiederdeaktiviert werden kann. Wenn die Frauen und Männer aus diesenSegmenten wieder eingestellt werden, dann in der Regel zu »kon-kurrenzfähigen« Niedriglöhnen. Sie wechseln dann aus dem Statusbedürftiger Arbeitsloser in die Gruppe der arbeitenden Armen, dieselbst oft mit mehreren Jobs der Zone der Bedürftigkeit nicht ent-kommen können.

Folgerichtig verzichten die neuen bundesrepublikanischen »Ar-beitsmarktkonzepte« weitgehend darauf, durch Qualifikationsange-bote den (Langzeit-)Arbeitslosen neue Beschäftigungschancen zuverschaffen. Sie waren auch in der Vergangenheit nicht besonderserfolgreich, aber ihre Existenz und die Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen waren zumindest ein Indiz dafür, daß das politischeManagement die von der Massenarbeitslosigkeit ausgehenden De-legitimationseffekte als problematisch ansah. Diese Einstellung hatsich geändert: Ihre Maßnahmen sind von der Überzeugung geprägt,daß die systemstabilisierenden Wirkungen des Sozialstaates nichtmehr benötigt werden, weil aufgrund der individualistischen Ver-arbeitung ihrer Degradierung und aufgrund ihrer sozialen Hetero-genität die Krisenopfer nur eingeschränkt handlungsfähig sind unddeshalb als politisches Bedrohungspotential ignoriert werden können.

Der herrschende Block hat registriert, daß die Abspaltung der öko-nomisch weitgehend funktionslos gewordenen Bevölkerungsteilenicht nur keine destabilisierenden Konsequenzen hat, sondern sie imGegenteil noch als Bedrohungskulisse nützlich sein können: IhreExistenz ermahnt die noch Arbeitenden, daß es ihnen auch schlech-ter gehen könnte, zumal es charakteristisch für die neue Klassen-landschaft ist, daß die Zonen der Integration und der Ausgrenzung eng

35 Mit der Suspendierungder Koalitionsfreiheit (als»Leiharbeiter« eingesetzteArbeitslose dürfen, nachden bundesrepublikani-schen »Arbeitsmarktrefor-men«, nicht streiken) unddem impliziten Arbeits-zwang werden zentraleVerfassungsprinzipien außerKraft gesetzt. Die bürgerli-che Gesellschaft stellt damitihr programmatischesSelbstverständnis in Frage;ihre normativen Grundsätzewerden zur tagespolitischenDispositionsmasse. Vgl.Werner Seppmann: Aus-grenzung und Herrschaft,in: Marxistische Blätter,H. 2/2003.

36 Vgl. Robert Castel:Nicht Exklusion, sondernDesaffiliation, in: DasArgument, Nr. 217, 1996,S. 776 f.

37 Auffassungen wie dievon Gorz, daß »im Unter-schied zum MarxschenProletarier ... der Neoprole-tarier nicht mehr durch›seine‹ Arbeit ... und ...auch nicht durch seine Po-sition im gesellschaftlichenProduktionsprozeß definiertwerden« kann, sind rea-litätsferne Konstrukte.André Gorz: Abschied vomProletariat. Jenseits desSozialismus, Frankfurt/M.1980, S. 62.

38 Karl Marx, a. a. O.S. 658.

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beieinander liegen. Nicht selten gibt es einen Wechsel zwischen denheterogenen Positionen; Gewinner und Verlierer wohnen häufig Türan Tür und immer häufiger sind Aufstieg und Abstieg biographischePhasen innerhalb eines Lebenslaufes. Schon deshalb repräsentierendie Ausgegrenzten kein eigenständiges Klassensegment. Aber prinzi-pieller noch deshalb, weil sie Formen sozialer Verwundbarkeit ausge-setzt sind, denen nur Arbeitskraftverkäufer unterliegen können. DieserTatsache entsprechend ist das Schicksal der Ausgrenzung und Mar-ginalisierung ein kollektives, auch wenn durch eine selbstunter-drückende Verarbeitungsform dieses Orientierungswissen den Krisen-opfern nicht unmittelbar zur Verfügung steht. Aber die geistigeParalysierung durch stagnative oder regressive Formen der Wider-spruchsverarbeitung39 sind regelmäßige Begleiterscheinungen vonVergesellschaftungskrisen. Während Apathie und Resignation, Rück-zugs- und irrationale Protestbedürfnisse (die sich u. a. in der Wahlrechter Parteien ausdrücken) in den Prosperitätsphasen der bundesre-publikanischen Gesellschaftsentwicklung von marginaler Bedeutungwaren, werden sie in der Krise zu einer auffälligen Erscheinung.

AchtensDer Armutsentwicklung und Ausgrenzungsdynamik liegen politi-sche Entscheidungen zugrunde: Nicht Armut und Arbeitslosigkeitwerden bekämpft, sondern die Krisenopfer. Systematisch wird das»soziale Netz« ausgedünnt und der administrative Druck erhöht. Ne-ben den diversen Kürzungen von Unterstützungsleistungen werdenauch bestehende Regelungen restriktiver angewandt. Immer häufigerwerden mit konstruierten Begründungen gesetzlich garantierte Hil-feleistungen verweigert und Arbeitslosengeldzahlungen nach An-tragstellung wochenlang künstlich hinaus gezögert, so daß vieleBetroffenen in ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten. Zusätz-lich werden den Arbeitslosen absurde Rituale der Selbstdemütigungabverlangt: Auch ohne die geringste Einstellungschance zu besitzen,müssen Bewerbungsversuche unternommen werden. 50jährige wer-den zur Suche nach Positionen gedrängt, die selbst 40jährige aus»Altersgründen« kaum noch erhalten und schwangere Frauen aufden langen Marsch einer (alleine schon wegen ihres »Zustandes«)vergeblichen Arbeitsuche geschickt. Der Zweck des Drucks auf dieArbeitslosen ist erfüllt, wenn noch mehr von ihnen resignieren undin das Lager der »Entmutigten überwechseln, die dem Arbeitsmarktfernbleiben oder sich von ihm zurückgezogen haben, ohne noch inder offiziellen Statistik in Erscheinung zu treten«.40

Obwohl sich durch die veränderte Akkumulationsdynamik und diepolitischen Strategien der sozialen Spaltung die gesellschaftlichenRandzonen vergrößert haben, spricht vieles dafür, den Charakter dersubproletarischen Gruppen in den kapitalistischen Kernländern Euro-pas anders als in den Vereinigten Staaten zu bestimmen. Nur in der so-zialstatistischen Fixierung besitzen sie einen stationären Charakter. Esetabliert sich zwar eine »stabile« Zone, die von Dauer-Arbeitslosen,Immigranten und Behinderten bevölkert wird. Neben diesem »Boden-satz« wird sie von einer nicht geringen Zahl von Menschen bevölkert,für die eine solche »Unterklasse« nur ein Durchgangsstadium bildet:Nur ein Teil bleibt für immer aus der Arbeitswelt ausgeschlossen.

39 Vgl. Hartmut Krauss:Das umkämpfte Subjekt.Widerspruchsverarbeitungim »modernen« Kapitalis-mus, Berlin 1996, S. 126 ff.

40 Martin Kronauer:Exklusion. Die Gefährdungdes Sozialen im hochentwickelten Kapitalismus,Frankfurt/M. 2002, S. 98.

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Die Überwindung der Randständigkeit markiert jedoch immer häu-figer den endgültigen Verlust des ehemaligen sozialen Status und dieAusgrenzung aus der Welt eines relativen Wohlstands.

NeuntensDaß eine verantwortungslose Elite ihre eigenen Interessen zunehmendohne Rücksicht auf die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen durch-setzt und bereit ist, die »Überflüssigen« sozial »abzukoppeln«, hat ei-nen handfesten Hintergrund: Die Zahl der für die Mehrwerterzeugungnach kapitalistischen Akkumulationsgesetzen benötigten Arbeitkraft-Verkäuferinnen und -Verkäufer hat rapide abgenommen und wird wei-ter abnehmen. Es gibt glaubwürdige Schätzungen, daß in einem über-schaubaren Zeitraum nur noch für 20 Prozent der erwerbsfähigenBevölkerung Arbeitsplätze vorhanden sein werden.

Daß mit der Umsetzung der bundesrepublikanischen »Arbeitsmarkt-reformen« und mit dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit Unter-nehmensberaterkonzerne beauftragt wurden, die als Experten fürsoziale Verantwortungslosigkeit ausgewiesen sind, macht vor diesemHintergrund durchaus »Sinn«: Wie im privatwirtschaftlichen Bereichbesteht ihre Dienstleistung darin, Umorganisationen als »objektiveSachzwänge« darzustellen. Formal im Auftrag einer kopflosen Politikhandelnd, vertreten sie jedoch objektiv die Interessen einer gesell-schaftlichen Elite, deren Anteil am Steueraufkommen, also an der Fi-nanzierung von Gemeinschaftsaufgaben einen historischen Tiefstandereicht hat und deren ökonomische Reproduktionsbedürfnisse von denFormen sozialer Destruktion nicht zu trennen sind.

Die sozialen Spaltungs- und Polarisierungstendenzen bedeutenmehr als nur eine Verschärfung der Existenzunsicherheit und die Zu-nahme der schon seit längerem wirkenden sozio-strukturellen Di-versifizierungstrends. Die Intensität der Entwicklung berechtigt, voneiner Neugestaltung des klassengesellschaftlichen Gefüges zu spre-chen. Eine Wiedergeburt erleben soziale Widerspruchsformen ausder Früh- und Aufstiegsphase des Kapitalismus – die jedoch etwasanderes als in der Vergangenheit bedeuten: Sie werden realitätsprä-gend zu einem Zeitpunkt, an dem aufgrund des Produktivkraft-niveaus eine »andere Welt«, soziale Zustände ohne Ausbeutung,Verunsicherung und Ausgrenzung möglich wären.

Ob durch die Spaltungsprozesse auch innerhalb der subalternenSchichten langfristig die »Übersichtlichkeit« traditioneller Klassen-grenzen verloren geht, ist eine Frage, die nicht so vorschnell beant-wortet werden sollte, wie es manchmal geschieht. Wenn der Umbauder Klassengesellschaft im gegenwärtigen Tempo voranschreitet,werden neue Grenzlinien entstehen und die Differenzen zwischenden gesellschaftlichen Hauptgruppen markanter ausfallen, als es inder Vergangenheit der Fall gewesen ist. Eine strukturelle Konstanzin den Grundlinien dürfte gemeinsam mit relationalen Verschiebun-gen innerhalb der Klassenblöcke auftreten. Momentan scheint es so,daß Vorstellungen von einer Drittelung der Gesellschaft in einenherrschenden Block, ein mehrfach gegliedertes Mittelfeld mit aus-kömmlichen Lebensbedingungen und einer sozialen und ökonomi-schen Dispositionsmasse, die aus dem letzten Bevölkerungsdrittelbesteht, noch von einem ungerechtfertigten Optimismus geprägt ist.

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Denn schon 1998 verfügten in der Bundesrepublik 40 Prozent derErwerbstätigen nur über ein monatliches Nettoeinkommen von (teil-weise deutlich weniger als) 1100 Euro. Und der Endpunkt diesesSogs nach unten ist noch lange nicht erreicht. Die Zielprojektion ih-rer Umgestaltungskonzepte haben die neoliberalistischen Strategenjedenfalls niemals verschwiegen: Im Extrem soll »einfache Arbeit inDeutschland nicht höher entlohnt werden als in Tschechien, aufDauer auch nicht höher als auf dem indischen Subkontinent«.41

Zwar sind die Entwicklungen noch nicht abgeschlossen, die Grund-züge des Gesellschaftsumbaus jedoch schon zu erkennen: Das neueKlassengefüge fundiert in einer Neuformierung des herrschendenBlocks, in dem nur noch beschränkt Platz für die traditionellen Mittel-schichten ist. Exakt zu dem Zeitpunkt, als eine angeblich »neue Mitte«zur politischen Universalkategorie avancierte, begann die allmählicheErosion ihres Status, begannen Unsicherheit und soziale Orientierungs-losigkeit ein ehemaliges Gefühl der Selbstsicherheit zu überdecken.42

Die Rationalisierungswellen sind momentan in den »Weiße-Kragen«-Abteilungen angekommen. Ganze Managementebenen wer-den »abgebaut«, Dienstleistungstätigkeiten im Bankgewerbe auto-matisiert und der öffentliche Dienst für Berufsanfänger weitgehendgeschlossen. Selbst Positionen des »gehobenen Dienstes« werdenimmer häufiger nur noch auf der Basis von Zeitverträgen besetzt.

Nicht auszuschließen ist, daß die Mittel- und Oberschichtseg-mente zukünftig gemeinsam nur noch einen Umfang von kaum mehrals 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen werden. Aufkaum ein Drittel der Bevölkerung dürfte sich – bei Fortexistenz derbestehenden Trends – der Umfang einer »neuen« Zwischenschichtbelaufen. Sie kann – im Vergleich zur übrigen Bevölkerung – als re-lativ privilegiert eingestuft werden, wird aber nur noch phasenweiseden Gewißheits- und Einkommensstatus der traditionellen Mittel-klassen besitzen. Auch ihre Existenz wird von Unsicherheit, vomZwang zur »Flexibilität« in jeglicher Hinsicht geprägt sein. Pha-senweise können sie sich als »Gewinner« der Umgestaltungenfühlen, ohne sich aber des Erreichten je sicher zu sein. Langfristigdürften besonders die neuen Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslosedie Biographiemuster der Mitglieder der »neuen Mittelschicht«nachhaltig prägen. Durch den Zwang, jede Arbeit zu jedem Lohnanzunehmen, wird die soziale Rückstufung institutionalisiert, dietemporäre Unsicherheit einer Arbeitslosigkeitsphase durch die realeGefahr eines lebensgeschichtlichen Bruchs überlagert.

Nur wenig bleibt im Mahlstrom der kapitalistischen Neuformie-rung von den soziologischen Trugbildern einer, die traditionellenKlassengrenzen nivellierenden »Mittelstandsgesellschaft« übrig. DieUnsicherheit wird universal: Auch temporär Privilegierte könnensich in der Gruppe der »Verlierer« der Umwälzungen wiederfinden,jener Hälfte der Bevölkerung, die zur ökonomischen Dispositions-masse degradiert, nur noch einen unsicheren Platz innerhalb und im-mer häufiger auch am Rande des Erwerbssystems erwarten kann.Der schon mehrfach prognostizierte »Abschied von der Klassen-gesellschaft« scheint erneut aufgeschoben.

41 Herbert Giersch, in:Arbeit der Zukunft, Zukunftder Arbeit, Stuttgart 1994,S. 158.

42 Vgl. Barbara Ehren-reich: Die Angst vor demAbsturz. Das Dilemma derMittelklasse, München1992.

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»Die Zeit kommt, in der Schweigen Verrat ist. Wir sind gefordert,für die Schwachen zu sprechen, die keine Stimme haben:

für die Opfer unserer Nation, die sie ›Feinde‹ nennt.«](Martin Luther King)

»Wer inmitten einer um sich greifenden sozialen Aphasienicht mehr in der Lage ist, für sich zu sprechen, weil ihmim entscheidenden Augenblick nur noch das intermedial

vermarktete Schlagwort einfällt, der ist zur politischen (...)Willensbildung nicht mehr fähig und stellt als indifferenter,

manipulierbarer Wechselwähler oder Konsument eine Gefahrfür die Demokratie dar.«

(Peter V. Zima)

Wer heute zu einer Wortmeldung zum Thema »aktivierende Hilfe«sich aufgrund der darob geführten Diskussion aufgefordert sieht, hatzu vergegenwärtigen, daß diese Diskussion eingespannt ist in jenengrößeren Diskurs, der in Politik und Wissenschaft unter dem Begriff»aktivierender Sozialstaat«1 stattfindet und der auf die allseits be-kannten Finanzierungs- und Steuerungsprobleme des Sozialstaatesmit der Formulierung geeigneter Lösungen zu antworten versucht2.Geleitet wird dieser Diskurs von dem sozialpolitischen Stereotyp,daß die durch den Sozialstaat beziehungsweise Soziale Arbeit gelei-stete Hilfe unwirksam sei und den Status scheinbarer wie auch rea-ler Hilfebedürftigkeit der Betroffenen verfestige, weil die den Be-troffenen erwiesene Hilfe nicht nur deren Eigenmotivation undEigeninitiative nicht fördere, sondern diese sogar hemme. Auf derGrundlage dieser Vorstellung wird vorgeschlagen, die durch denStaat gewährte Fremdhilfe so weit zurückzunehmen, bis bei den Be-troffenen die Einsicht zur Notwendigkeit von Eigen- oder besserSelbsthilfe greift.3 Pointiert formuliert, könnte man also sagen: Diebeste Hilfe, die man jemandem angedeihen lassen kann, ist die, sieihm ganz zu entziehen, weil auf diese Weise Eigenverantwortung ef-fektiv gestärkt werden kann.

Gegen diese von den Protagonisten der »aktivierenden Hilfe« ver-tretene Auffassung sollen im folgenden einige Argumente vorgetragenwerden. Hierbei wird in einem ersten Schritt (I) auf die ausgesprochengeringe empirische wie theoretisch-analytische Fundiertheit des Ste-reotyps eingegangen. Mit Bezug auf die Ebenen von Interaktion undOrganisation gilt es in einem zweiten Schritt (II), sich Klarheit zuverschaffen über die institutionellen Rahmenbedingungen, unter de-

Michael Wolf – Prof. Dr. rer.pol., Sozialwissenschaftler,Professor für Sozialpolitikund Sozialplanung amFachbereich Sozialwesender Fachhochschule Ko-blenz; zuletzt in UTOPIEkreativ: Von der »konzertier-ten Aktion« zum »Bündnisfür Arbeit«, Heft 117 (Juli2000), S. 669-680.

Der Artikel basiert auf vor-bereitenden Arbeiten zueinem Streitgespräch zumThema »Aktivierende Hilfenzwischen Eigenverantwor-tung und Sozialdarwinis-mus«, das an der Fachhoch-schule Koblenz, Fachbe-reich Sozialwesen, geführtwurde. Für die Anregung zudem Streitgespräch ist denStudierenden ebenso zudanken wie Karl-Heinz Lin-demann, dem Kontrahen-ten, für seine Bereitschaftzur Teilnahme an selbigem.

1 Vgl. zum Konzept des»aktivierenden Staates«allgemein Lamping et al.(2002), zu dessen Bedeu-tung als Ansatz zur Umge-staltung des Sozialstaats imbesonderen die Beiträge inDahme et al. (2003) sowieMezger/West (2000).

2 Die Semantik von derSozialstaatskrise ist zwarfalsch, warum sie als herr-schende sich durchgesetzthat, aber dennoch begründ-bar: Die Veränderung derpolitischen Großwetterlage

796 UTOPIE kreativ, H. 179 (September 2005), S. 796-808

MICHAEL WOLF

»Aktivierende Hilfe«Zu Ideologie und Realitäteines sozialpolitischen Stereotyps

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nen personenbezogene soziale Hilfeleistungen durch den Sozialstaatbeziehungsweise die Soziale Arbeit erbracht werden. Daran an-schließend wird in einem dritten Schritt (III) ein Ebenenwechselvorgenommen, indem die bis dahin angestellten Überlegungen zumPhänomen »Hilfe« beziehungsweise »Helfen« durch Rückbezug aufdie aktuelle Diskussion über »aktivierende Hilfe« gesellschaftstheo-retisch verortet werden. Auf dieser Grundlage kann dann in einemvierten und letzten Schritt (IV) am Beispiel der aktivierenden Bera-tung à la Hartz IV gezeigt werden, daß diese mitnichten die Selb-ständigkeit der (arbeitslosen) Bürger zu fördern trachtet, sondern,ganz im Gegenteil, diese einer (Selbst-)Kolonialisierung unterwirft,an deren »(idealem) Ende selbstbestimmtes Verhalten in rollenge-rechtem restlos« (Fach 2000: 121) aufgeht.

Um nicht von vornherein einem Mißverständnis aufzusitzen, sindzuallererst jedoch zwei klärende begriffliche Anmerkungen vonnö-ten. Zum ersten: Wenn im folgenden von »Hilfe« oder von »Helfen«die Rede ist, so ist damit nicht jegliches soziale Handeln gemeint,mit dem jemand einen Beitrag zur Befriedigung eines Bedürfnisseseines anderen leistet, wobei dieser Beitrag, negativ formuliert, auchin der Reduzierung oder Beseitigung einer Notlage bestehen kann.Wenn hier von »Hilfe« oder »Helfen« die Rede ist, so geht es um dasorganisierte verberuflichte Bemühen zur Überwindung einer Män-gellage durch Bereitstellung der dazu erforderlichen Ressourcen. ImZentrum der Überlegungen stehen also nicht alltagsweltliche Hilfe-leistungen wie etwa die materiellen Zuwendungen im Rahmen einerKollekte oder der emotionale Beistand nach einem schweren Schick-salsschlag oder das Geben einer informativen Anregung zur Lösungeines Problems. Die nachstehenden Überlegungen beziehen sichvielmehr auf die im Rahmen von Organisationen institutionalisiertenund verberuflichten Formen der alltagsweltlichen Hilfeleistungen,wie sie durch den Sozialstaat, und hier namentlich die SozialeArbeit, erbracht werden. Zum zweiten: Mit der Verwendung desEpithetons »aktivierend« soll zum Ausdruck gebracht werden, daß»aktivierende Hilfe« dem Prinzip »Eigenaktivitäten auslösen« folgt,womit unterstellt wird, daß Aktivieren ein Vorgang ist, der jeman-den, der noch nicht oder nicht mehr aktiv ist, aber aktiv sein könnte,durch einen Impuls von außen, eben Hilfe, aktiv macht, zu Aktivitätbefähigt. Das heißt, bei »aktivierender Hilfe« handelt es sich um dieMobilisierung eines immer schon vorausgesetzten Handlungspoten-tials, weswegen auch nur dasjenige aus jemandem herausgeholt wer-den kann, was diesem seiner Möglichkeit nach bereits innewohnt.4

IDie von den Apologeten der »aktivierenden Hilfe« vorgenommeneProblemdiagnose und Problemtherapie stützt sich ersichtlich nichtauf verallgemeinerbares empirisches Wissen, sondern auf bestenfallshegemonial gewordene Deutungskonventionen5 und bloße Kausali-tätsvermutungen. So zeigen beispielsweise sowohl ältere internationalvergleichende wie auch neuere nationalstaatlich fokussierte empiri-sche Untersuchungen zur Problematik des Mißbrauchs von Sozial-leistungen, daß, hoch gegriffen, nur fünf von 100 Transferleistungs-empfängern diese unrechtmäßig bezogen (vgl. Henkel/Pawelka

durch den Durchbruch despolitischen Projektes desNeoliberalismus einerseitsund den Zerfall der ehemali-gen staatssozialistischenGesellschaften Mittel- undOsteuropas andererseits hatzu einer Renaissance desUniversalitätsanspruchesmarktwirtschaftlicher Verge-sellschaftung in Theorie undPraxis geführt und die Ideeeiner von Ausbeutung, Un-terdrückung und Ungerech-tigkeit befreiten gesellschaft-lichen Zukunft einstweilenals eine Schimäre diskredi-tiert. Die Kritik am Sozial-staat gab es allerdingsschon immer, so etwa durchHayek (2003), den nochheute viele Liberale idolisie-ren wegen seiner erstmalsvor über sechs Dezennienerschienenen Kampfschrift»Der Weg zur Knecht-schaft«, mit der er dem So-zial- bzw. Wohlfahrtsstaateine radikale Absage erteilt.

3 Vgl. statt anderer aus-drücklich Feist (2000). – Ob-wohl, begriffsgeschichtlichbetrachtet, der Begriff derEigenhilfe, anders als derder Selbsthilfe, auf »(Rest-)Bestände einer zu bewah-renden oder neu zu ent-wickelnden Eigenständigkeitlebensweltlicher Nahberei-che« (Nokielski/Pankoke1982: 279) verweist, ist demBegriff der Selbsthilfe hierder Vorzug zu geben, da erstrukturell stets auf ein Han-deln anderer und damit aufFremdhilfe bezogen ist, wasin der sozialpolitischenPhrase von der »Hilfe zurSelbsthilfe« lapidar zumAusdruck kommt.

4 Zum Begriff der Aktivie-rung mit Bezug auf die ari-stotelische Akt-Potenz-Lehre vgl. Kocyba (2004).

5 Das Stereotyp ist im All-tagsdenken auch wegenseiner medialen Vermittelt-

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1981; Trube 2003: 195) und daß Sozialhilfeempfänger, entgegendem Stereotyp, sich auch durch Annahme gering entlohnter Tätig-keiten darum bemühen, ihre materielle Situation zu verbessern undunabhängig von staatlichen Zuwendungen zu werden (vgl. Gebaueret al. 2002: passim).6 Mit Vorsicht zu genießen ist auch die zum Bei-spiel seitens der Stadt Köln, dem »Wisconsin am Rhein«,7 zum be-sten gegebene Zahl, fast jeder dritte Jugendliche sei aus dem Lei-stungsbezug ausgeschieden, nachdem ernst gemacht worden sei mitder »aktivierenden Hilfe« in Form der Zuweisung in Arbeit, da nichtfeststeht, womit die Jugendlichen nunmehr ihren Lebensunterhaltbestreiten (vgl. Scholz 2004: 398)8. Aber es gibt ja bekanntlich eineReihe von zwar alternativen, aber nicht unbedingt legalen oder zu-mindest sozial geachteten Reproduktionsmöglichkeiten wie Bettel,Diebstahl, Raub oder Prostitution. Deswegen kann auch begründetdavon ausgegangen werden, daß mit der Ausgrenzung derer, die auf-grund der Versagung oder des Entzugs von staatlichen Unterstüt-zungsleistungen sehen müssen, wie sie ihr Leben mehr schlecht alsrecht fristen, nur scheinbar im Interesse des Gemeinwohls gehandeltwird. Würde nämlich in Rechnung gestellt, was man gemeinhin »so-ziale Kosten« nennt, so würde deutlich, daß man »den Gewalterhal-tungssatz nicht beschummeln (kann): Gewalt geht nie verloren, diestrukturale Gewalt, die von den Finanzmärkten ausgeübt wird, derZwang zu Entlassungen und die tiefgreifende Verunsicherung derLebensverhältnisse, schlägt auf lange Sicht als Selbstmord, Straffäl-ligkeit, Drogenmißbrauch, Alkoholismus zurück, in all den kleinenoder großen Gewalttätigkeiten des Alltags.« (Bourdieu 2004: 60)

Das Stereotyp unterstellt aufgrund seines Mittelschichtbias9 einer-seits und der Interessegeleitetheit seiner Vertreter andererseits denBetroffenen prinzipiell Handlungsvermögen und schreibt diesen Ei-genverantwortung für ihr Handeln und damit Schuld für Verfehlun-gen zu. Hierzu ist folgendes anzumerken. Gesetzt den Fall, jemandentscheidet sich, eigenverantwortlich zu handeln, dann heißt dies,daß diese Person Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu über-nehmen beabsichtigt. Sie macht sich damit zum Subjekt von gesell-schaftlichen Zurechnungsregeln und -praktiken, womit sie zumAdressaten von Handlungs- und Unterlassungspflichten wird, derenVerletzung wie auch Erfüllung ihr entweder als Schuld oder als Er-folg zugerechnet wird. Verantwortlich ist jemand jedoch nur für das,wofür er etwas kann, was die Frage nach der Bedeutung und denVoraussetzungen des Dafür-Könnens aufwirft. Als Minimalbedin-gung gehört hierzu die Handlungsfähigkeit, das heißt das Vermögeneiner Person, kausal und intentional Ereignisse herbeiführen, Zu-stände verändern, Prozesse auslösen, also etwas in der Welt bewir-ken zu können. Einer Person zurechenbar sind allerdings nur solcheHandlungsfolgen, die sie normalerweise voraussehen und aufgrunddieser Voraussicht auch kontrollieren und, bei unerwünschten Fol-gen, auch vermeiden hätte können. Die Frage, ob eine Person etwasfür die Folgen ihres Handelns kann, läßt sich letztlich nur dann be-antworten, wenn man Aussagen über die internen und externenHandlungsbedingungen machen kann, unter denen konkret gehan-delt wird, wozu kognitive Fähigkeiten, Kenntnisse, Fertigkeiten,Willensstärke und psychische Dispositionen wie Selbstkontrolle und

heit eingängig und kannseine Interessegeleitetheitnicht leugnen, soll heißen,daß jene, die auf sozial-staatliche Hilfeleistungennicht angewiesen sind,diese aber mit ihren Steuernund Sozialversicherungs-beiträgen finanzieren, diesogenannten Leistungsträgerder Gesellschaft, wenig ge-neigt sind, für das materielleAuskommen von Transfer-leistungsempfängern, ins-besondere von Arbeits-losen, aufzukommen. Esentbehrt nicht einer gewis-sen Anstößigkeit, daß etlicheder »Leistungsträger« desÖffentlichen Dienstes oderauch der Gewerkschaftenes über viele Jahre politi-scher Auseinandersetzungzuwege gebracht haben,nach einem bestimmtenBestand des Arbeitsverhält-nisses faktisch unkündbarzu sein, weswegen ihnendenn auch die Beiträge zurArbeitslosenversicherungals entgangenes Einkom-men erscheinen.

6 Erwähnenswert ist indiesem Zusammenhangüberdies zum einen, daßtrotz der Tatsache der fastausschließlich einnahmesei-tig bedingten Finanzierungs-probleme des Sozialstaatsdessen Ausgabeseite imVordergrund der Kritik steht(vgl. Butterwegge 1999:442), und zum anderen, daßder drastischen Klage überden Anteil der Sozialhilfe-aufwendungen der Kommu-nen realiter die empirischeGrundlage fehlt, ist diesermit etwa 5 Prozent dochungleich niedriger als diekommunalen Aufwendun-gen für Kindererziehungoder Beschäftigungsförde-rung (vgl. Spindler 2003a:226).

7 So die Frankfurter Rund-schau in ihrer Ausgabe vom06.09.2001, die sich auf das

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-steuerung ebenso gehören wie die materiellen, zeitlichen, kulturel-len und sozialen externen Faktoren, die aus dem Handelnden diePerson gemacht haben, die sie ist.

Wenn nun die Protagonisten der »aktivierenden Hilfe« die Adres-saten ihrer Hilfsmaßnahmen anzuhalten trachten, eigenverantwort-lich zu handeln, so ist in der realen Welt – anders als in den Köpfender Aktivierungsvertreter – zunächst einmal völlig offen, ob es sichbei den Voraussetzungen und Bedingungen eigenverantwortlichenHandelns um ein tatsächlich vorhandenes und nur wieder zu akti-vierendes internes persönliches Vermögen handelt und ob der Mobi-lisierung des Handlungsvermögens externe Hemmnisse entgegen-stehen, was beispielsweise dann gegeben ist, wenn äußere Zwängeoder prekäre Lebenslagen andere Entscheidungen verlangen, als siebei einem freien Gebrauch der eigenen Fähigkeiten getroffen wür-den. Dann können selbst die vorhandenen persönlichen Vermögennicht viel ausrichten. Und für den Fall, daß die Hilfeadressaten über-haupt nicht im Besitz des ihnen zugeschriebenen Handlungsvermö-gens sind, kann »aktivierende Hilfe« kontraideell ohnehin nicht dasbewirken, was sie bezweckt.10 Daraus folgt, daß sowohl im Falleeines unzureichenden Handlungsvermögens wie auch im Falle derExistenz externer Restriktionen zur Mobilisierung desselben demAdressaten der »aktivierenden Hilfe« eine Aufforderung zur eigenenInitiative als grotesk erscheinen muß und von ihm als eine – unterUmständen sogar repressiv aufgenötigte – Form der Fremdbestim-mung und Disziplinierung erlebt wird, was selbstredend auch dannzutrifft, wenn der Adressat der Aufforderungen sich selbst und seineFähigkeiten anders deutet und versteht, als ihm seine Aktivierer zu-muten.11

IIFür die Auslösung der in Organisationen institutionalisierten undverberuflichten Hilfeaktivitäten ist nun allerdings charakteristisch,daß sie weder auf der Grundlage von reziproken Erwartungsstruktu-ren (wie in segmentär differenzierten Gesellschaften) noch auf dervon religiös-moralischen Motiven (wie in stratifikatorisch differen-zierten Gesellschaften) erfolgt, sondern daß sie hier und heute (dasheißt in funktional differenzierten Gesellschaften) in Entscheidungs-programmen begründet ist, in denen definiert wird, wem wann wiegeholfen werden kann, soll oder muß.12 Damit ist zugleich die Her-ausbildung einer asymmetrischen Beziehung zwischen dem hilfe-bedürftigen beziehungsweise hilfesuchenden Klienten und dem po-tentiell hilfeleistenden Helfer verbunden, und zwar weitgehendunabhängig davon, ob die Entscheidungsprogramme als ein an ei-nem Wenn-dann-Prinzip orientierten Konditionalprogramm oder alsein an einem Zweck-Mittel-Prinzip orientierten Finalprogrammrechtlich institutionalisiert sind.

Bei den konditionalprogrammierten Hilfeleistungen, die vornehm-lich bei den aufgrund von Beitragszahlungen erworbenen Versiche-rungsleistungen anzutreffen sind, zeigt sich die Asymmetrie zwischenHelfer und Klient insbesondere in der administrativen Kalibrierungder als Hilfeersuchen öffentlich zutage tretenden Not- oder Mängel-lage. Bekanntlich erweist sich die institutionelle Logik der Sozial-

»Wisconsin Works« oderauch »W-2« genannte US-amerikanische Workfare-Programm Milwaukeesbezieht, dem wegen seinerobligatorischen Arbeitsver-pflichtung für alle Sozial-hilfeempfänger in Wissen-schaft und Politik eine hoheAufmerksamkeit entgegen-gebracht wurde und dasHessens Ministerpräsiden-ten Roland Koch Anlaß war,mit der Einbringung desOFFENSIV-Gesetzes (Opti-mal Fördern und Fordern –ENgagierter Service In Ver-mittlungsagenturen) in denBundesrat ein entsprechen-des Programm zur Reformder Sozialhilfe zu initiieren.

8 Überhaupt muß festge-halten werden, daß infolgeder Kurzatmigkeit derarbeitsmarktpolitischen In-strumentarien (das SGB IIIist von 1997 bis 2002 nichtweniger als 38mal novelliertworden) seriöse Untersu-chungen hinsichtlich derProgrammeffekte fehlen,weswegen zu Recht voneinem »Politikmodus derEntwertung vergangenerKonzepte« (Blanke 2003: 4)zu sprechen ist.

9 Das Kölner Sozialamtverteidigt den Zwang zurArbeit mit dem Argument,das Prinzip der Freiwilligkeitvon Hilfemaßnahmen seirein mittelschichtorientiertund bei der Sozialhilfe-klientel inopportun, weildiese wegen mangelnderEinsichtsfähigkeit die Güteder angebotenen Hilfe nichtbeurteilen könne (vgl. Brühl2004: 107).

10 »Wer über zu wenigoder gar keine materielleRessourcen verfügt, um dieLebens- und Arbeitsbedin-gungen selbst zu gestalten,wer weder Zeit noch Geldhat, sich ausreichende In-formationen über seine oder

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bürokratie für die Hilfesuchenden tendenziell als ein Prokrustesbett,weil das, was nicht in den Raster der vorgesehenen Probleme undder dafür bestimmten Lösungen und hierfür bereitgestellten Hand-lungsressourcen Recht und Geld paßt, nicht be- und verarbeitet wird,so daß die Hilfesuchenden gehalten sind, ihr individuelles Problementsprechend der institutionell verankerten selektiven Problemper-zeption der Sozialbürokratie zu kommunizieren. Achinger bringtdiese Gegebenheit zutreffend auf den Punkt: »Die gesetzlich be-gründeten Institute geben den Dingen ihren Namen. Sie definierenund benennen soziale Tatbestände solange, bis auch die Notleiden-den selbst ihren Zustand nur unter diesen Titeln begreifen.« (Achin-ger, H.; zit. nach: Tennstedt 1976: 147)

Das heißt, die Gewährung und Ausgestaltung der Hilfe wird nursehr indirekt über das subjektive Leiden und die Bedürfnisse des Hil-fesuchenden bestimmt, sondern von den strukturellen Rahmenbedin-gungen der Institution Sozialbürokratie und der ihr unterworfenenMitarbeiter, den Helfern, gesteuert, was je nach politischer (und öko-nomischer) Konjunktur in durchaus verschiedene Richtungen gehenkann, doch für gewöhnlich die spezifische Lage des hilfesuchendenKlienten verfehlt.

Die Asymmetrie zwischen Helfer und Klient läßt sich bei den miteiner Vielzahl von »unbestimmten Rechtsbegriffen« und »General-klauseln« arbeitenden Finalprogrammen, wie sie für die auf demFürsorgeprinzip basierenden Hilfeleistungen typisch sind, an denKonsequenzen der in der Regel weitgehend offen formuliertenRechtsansprüche auf Hilfeleistungen ablesen, aus denen weder ein-deutige Forderungen an die beruflichen Helfer noch praktikable Kri-terien für die Angemessenheit der jeweiligen Hilfeleistungen sichableiten lassen. Dies führt dazu, daß der Hilfesuchende beziehungs-weise Hilfeempfänger sich den Regeln des Hilfespiels unterwerfenmuß, wenn er Hilfe erhalten will, während es, zumindest zum Teil,im Ermessen des Helfers liegt, ob er sich überhaupt auf das Hilfespieleinlassen will beziehungsweise wie er es im einzelnen gestalten will.Eng damit verbunden ist der Sachverhalt, daß sich die Helfer-Klient-Beziehung als eine Experten-Laien-Interaktion charakterisieren läßt,bei der der Helfer die Rolle eines mit Deutungs-, Definitions- undEntscheidungsmacht ausgestatteten Experten einnimmt, weil dessenWissen als ein dem Laienwissen überlegenes gilt, das als solchesvom Klienten angenommen oder auch abgelehnt werden kann. Al-lerdings wird eine Ablehnung als Infragestellung des Expertenstatusgewertet. Damit entscheiden die Helfer über die Zumutbarkeit pri-vater Leidbewältigung, über angemessene Behandlungszeiten und-formen, über Risiken, die von den Hilfesuchenden beziehungsweise-empfängern einzugehen sind, und vor allem über das, was profes-sionell »richtiges« Helfen ist. Und all dies, obwohl die Frage, obHilfebedürftigkeit besteht, nicht allein von dem Helfer festzustellenist, sondern nur das Ergebnis einer gemeinsamen Erörterung seinkann, wie auch die Mittel, mit denen, und die Ziele, auf die hin zuhelfen ist, keineswegs von Anfang an festliegen, sondern ebenso alsErgebnis eines diskursiven Prozesses legitimierbar sein müssen,wenn an der vernunftmäßig begründbaren Einsicht und dem daraufaufbauenden Postulat festgehalten wird, daß es ein Recht des Hilfe-

ihre Entscheidungsgrundla-gen zu verschaffen, wer we-gen mangelnder Bildungs-voraussetzungen nurgeringe Kenntnisse über dieWelt und nur wenige Fertig-keiten erworben hat, weraufgrund seiner Herkunftoder infolge nachteiliger Fa-milienverhältnisse die psy-chischen Dispositionen derSelbstkontrolle und Selbst-steuerung nur unzureichendauszubilden vermochte, werinfolge sozialer Marginalisie-rung oder sozialisationsbe-dingter Nachteile keinenoder nur wenig Zugang zukulturellen Ressourcen fürdie Entwicklung eigener Le-bensentwürfe und Hand-lungspläne hat, wer sich in-folge von Anerkennungs-defiziten schnell kommuni-kativ entmutigen lässt undwer nicht zuletzt durchKrankheit, Alter, Armut daringehindert ist, selbst überseine oder ihre Lebensver-hältnisse zu entscheiden,dem wird auch die Auffor-derung, eigene Initiative zuergreifen und vom eigenenKönnen Gebrauch zu ma-chen, unverständlich blei-ben.« (Günther 2002: 127 f.)

11 Es ist bezeichnend fürdie Verlogenheit der »Stie-feltretpolitik« (Grottian et al.2003: 2) der Aktivierungsa-pologeten, daß in ihremSprachgebrauch die Mög-lichkeit der kollektiven stattnur individuellen Wahrneh-mung von Eigenverantwor-tung begrifflich ausge-schlossen wird. Dies zeugteinerseits von einem be-trächtlichen Demokratiede-fizit, ist doch die von denBürgern gemeinsam wahr-genommene Eigenverant-wortung gerade das norma-tive Ideal von Demokratie,verwundert andererseitsaber nicht. Denn was ande-res kann man erwarten vonjemandem, der den Staatbetrachtet als »Unterneh-

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bedürftigen auf ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Lebengibt, dem die sittlich begründete Pflicht, diesem die hierzu erforder-liche Unterstützung angedeihen zu lassen, korrespondiert. Zu igno-rieren, daß nur der Hilfebedürftige selbst authentisch über seineHilfebedürftigkeit befinden kann, hieße, dessen Würde zu verletzenund dessen Vorstellung von der Führung eines gelingenden Lebenszu mißachten. Denn wie kann es angehen, des Menschen Würde fürunantastbar zu halten und schützen zu wollen, wie es zum Beispieldas Grundgesetz in seiner Zentralnorm Art. 1 GG vorsieht, ohne daßdiejenigen, die da Würde besitzen sollen, mitbestimmen, was dennihre Würde wirklich sei?

Auch wenn das in Organisationen institutionalisierte verberuflichteHelfen als ein sozialer Interaktionsprozeß beschrieben werden kann,in dem Helfer und Klient gemeinsam mit der Definition dessen be-schäftigt sind, was dem Klienten fehlt und wie Abhilfe geschaffenwerden kann, drückt sich in den sachlich-inhaltlichen, zeitlich-räumlichen und sozial-interaktiven Rahmenbedingungen eines sol-chen Klärungsprozesses die Asymmetrie zwischen Helfer und Klientals ein strukturelles Gewaltverhältnis aus, das gegenüber dem Klien-ten jedoch abgeschirmt beziehungsweise positiv uminterpretiert wird,zum Beispiel durch spezifische Hilfeideologien wie etwa die pater-nalistisch verbrämte der »aktivierenden Hilfe«, deren Vertreter vor-geben, die betreffenden Hilfemaßnahmen würden nur vollzogen zumWohlergehen des Hilfeadressaten, wenn auch unter Umständen ohnederen Einwilligung und im Extremfall sogar gegen deren Willen.Damit wird der Hilfeempfänger als Beurteiler der Frage, ob und wiedie Hilfemaßnahme ihm geholfen hat, tendenziell ausgeschaltet.Nicht die Frage, wie es dem Klienten geht und was er von der ihmerwiesenen Hilfe hält, sondern ob professionell ›richtig‹, das heißtentsprechend der institutionell vorgegebenen Standards geholfenwurde, wird zum Erfolgskriterium.13 Deshalb ist der Satz »Operationgelungen, Patient tot« die zu Ende gedachte Logik verberuflichterHilfe.

IIIIndem die bisherige Argumentation »Hilfe« beziehungsweise »Hel-fen« weitgehend als einen zwischen Helfer und Klienten sich ab-spielenden sozialen Interaktionsprozeß beschrieb, wurde fürs erstedavon abgesehen, die vorgetragenen Überlegungen auf die aktuelleDiskussion über »aktivierende Hilfe« rückzubeziehen. Will man nichtIdeologien und Mythen aufsitzen und diese ohne Sinn und Verstandreproduzieren, ist ein solcher Rückbezug aber angezeigt, denn Hel-fen findet ja nicht im gesellschaftlich luftleeren Raum statt. Dasheißt, eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Effektivitätund Effizienz sozialpolitischer Hilfeleistungen hat darauf zu reflek-tieren, daß der Diskurs über »aktivierende Hilfe« vom Virus desNeoliberalismus, der »den Fortschritt, die Vernunft und die Wissen-schaft (...) für sich in Anspruch (nimmt), um eine Restauration zurechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken und Han-deln als archaisch erscheinen läßt« (Bourdieu 2004: 55), infiziert istund der als Ideologie wie selbstverständlich in die allgemein herr-schenden Verhältnisse abgesunken ist.14 Dies ist auch der Grund,

men« (Stichwort: »Deutsch-land-AG«) und die Bürgerals das dem »Unternehmen«angehörige »Personal«, dases für den Wettbewerbunter den Nationalstaaten(Stichwort: »StandortDeutschland«) durch eine»Personalentwicklungs-politik« (Stichwort: »lebens-langes Lernen«) fit for thejob zu machen und auch zuerhalten gilt.

12 Als grundlegend für dieFrage, wie sich die Formenvon Hilfe mit der Verände-rung der primären gesell-schaftlichen Differenzierungs-form von den segmentärüber die stratifikatorisch zuden funktional differenzier-ten Gesellschaften hinwandeln, darf immer nochLuhmann (1975) gelten; vgl.hierzu ferner Bommes,Scherr (2000: 88 ff.), Sahle(1987: 4 ff.), Weber, Hille-brandt (1999: 56 ff.).

13 Es sollte vielleichtnochmals in Erinnerung ge-rufen werden, daß die Fragedanach, was denn profes-sio-nell »richtiges« Handelnauszeichnet, nicht losgelöstvon den fiskal(polit)ischenRahmenbedingungen dersozialstaatlichen Leistungs-erbringung beantwortetwerden kann, die den zu er-bringenden sozialen Dienst-leistungen eine spezifischeRationalität verleihen, sollheißen, sie den ökonomi-schen Imperativen einerStandortpolitik unterwerfen.Die seit einigen Jahrenunter Schlagworten wie»Qualitätssicherung«, »Out-put-Orientierung«, »Control-ling« stattfindende »Verbe-triebswirtschaftlichung« derSozialen Arbeit gibt hiervonberedtes Zeugnis (vgl. hierzustatt anderer die Beiträge inLindenberg 2000).

14 »Es gibt eine Art ›graueWolke‹, die die gegenwär-

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warum dem im common sense meist positiv konnotierten Begriff der»aktivierenden Hilfe« fraglos eine hohe Plausibilität über politischeFraktionierungen, soziale Milieus und disziplinäre Grenzen hinwegzukommt.

Um das Rationalitätsmuster sichtbar zu machen, dem die Verfech-ter der »aktivierenden Hilfe« folgen, sei es bewußt oder unbewußt,genügt es hier, darauf hinzuweisen, daß mit dem Neoliberalismussich eine Neudefinition sowohl des Verhältnisses von Staat und Öko-nomie als auch eine des Sozialen vollzieht. Das heißt einerseits, daßim Unterschied zur klassisch-liberalen Rationalität der Staat dieFreiheit des Marktes nicht länger definiert und überwacht, sonderneine Entwicklung fördert und exekutiert, mit der der Markt selbstzum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates wird undbei der die Regierung zu einer Art Unternehmensleitung mutiert, de-ren Aufgabe in der Universalisierung des Wettbewerbs und derGeneralisierung des Ökonomischen besteht. Mit anderen Worten: Inder neoliberalen Konzeption von Gesellschaft ist das Ökonomischenicht mehr wie im Frühliberalismus ein fest umrissener und einge-grenzter gesellschaftlicher Bereich mit spezifischer Rationalität, Ge-setzen und Instrumenten, sondern das Ökonomische umfaßt nun-mehr prinzipiell alle Formen menschlichen Handelns. (vgl. Lemke etal. 2000: 14 ff.) Folgerichtig avanciert von daher auch der Bürgervom Arbeitskraftbesitzer zum Unternehmer seiner selbst bezie-hungsweise zum »Arbeitskraftunternehmer« (Voß/Pongratz 1998),der nicht bloß seine Arbeitskraft, sondern seine ganze Persönlichkeitals Ware auf dem Markt gewinnbringend feilbieten soll, was erfor-dert, sich selbst als Unternehmen zu begreifen und entsprechend zuführen, das heißt, den gesamten eigenen Lebenszusammenhang ak-tiv an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmeri-schen Kalkülen auszurichten.15 Eng damit verbunden ist andererseitsdie völlige Neudefinition des Sozialen, nach der erstens als sozialnur noch das gilt, was Arbeit schafft,16 nach der zweitens jede Arbeitbesser ist als keine und nach der drittens der Staat berechtigt ist, ge-gen all jenes vorzugehen, das es einem Arbeitskraftbesitzer erlaubenwürde, nicht zu arbeiten, ohne dies sich leisten zu können, da er überkeine Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts ohne Arbeitverfügt. Im Umkehrschluß wird daher davon ausgegangen, daß ge-meinwohlschädigendes, weil auf staatliche Transferleistungen an-gewiesenes, unsoziales Verhalten sich nur durch Verpflichtung zurArbeit bekämpfen lasse, wobei die Verpflichtung zur Arbeit in derMarktanpassung und diese wiederum in dem bedingungslosen Ak-zeptieren der Kauf- und Anwendungsbedingungen von Arbeitskraftbestehe.

Da es sich bei der neoliberalen Konzeption von Staat und Gesell-schaft also nicht nur um eine marktradikale handelt, sondern über-dies um eine, die vorsieht, daß der Staat seine Bürger legitimerweisezu marktkonformem Verhalten zwingen könne, hat jenes Deutungs-muster hegemonialen Rang erlangt, das von der Vorstellung geleitetwird, nur durch einen Abbau von ungerechtfertigten Leistungen undebensolchen Ansprüchen an den Sozialstaat und durch eine Um-orientierung von amoralischen Verhaltensweisen auf Eigenverant-wortung und Gemeinschaftlichkeit könne die Verwirklichung des

tige Geschichte einhüllt unddie verschiedene Generatio-nen unterschiedlich trifft –ein ›gräuliche Wolke‹, die inWahrheit die fatalistischeIdeologie ist, undurchsich-tig, angelegt im Diskurs desNeoliberalismus. Es ist dieIdeologie, die die Ideologietötet, die den Tod der Ge-schichte, das Verschwindender Utopie, die Vernichtungdes Traums verordnet«(Freire 1997: 9).

15 Das von der Hartz-Kommission inaugurierteund an das »Wörterbuchdes Unmenschen« (Stern-berger et al. 1986) erin-nernde, zum Unwort desJahres 2002 erklärte Wort»Ich-AG« (vgl. hierzu na-mentlich Lessenich 2003)bringt expressis verbis diehinter ihm stehende Ideolo-gie zum Ausdruck: DasAkronym »AG« steht für dasIch als Aktiengesellschaft,für das ökonomische Indivi-duum, für den arbeitskraft-besitzenden Menschen alsUnternehmer seiner selbst,bei dem gewissermaßenUnternehmer- und Mana-gerfunktion zusammenfal-len, so daß er zugleich als»Eigentümer und Betriebs-leiter seiner selbst« (Bröck-ling 2000: 154) erscheint.

16 Einer solchen Sicht-weise läßt sich entgegen-halten, es sei in Anbetrachtder nationalsozialistischenVergangenheit »Zurückhal-tung geboten bei dem Slo-gan: ›Sozial ist, was Arbeitschafft.‹« (Spindler 2003 b:12). Dem ist uneinge-schränkt zuzustimmen.Gleichwohl sollte das Dik-tum Horkheimers »Wer abervom Kapitalismus nicht re-den will, sollte auch vomFaschismus schweigen«(Horkheimer 1988: 308 f.)nicht vergessen werden,das in historisch-kritischerAbsicht nicht die differentia

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Neoliberalismus als politisches Projekt herbeigeführt werden, daszum Ziel hat, »eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich alsbereits existierend voraussetzt« (Lemke et al. 2000: 9). Dies erklärtauch die strategische Schlüsselstellung, die der Sozialpolitik in die-sem Zusammenhang zukommt. Umgestaltet wird sie auf der Ebeneder marktlichen Makrosteuerung nämlich so, daß sie als Standort-politik einen Beitrag zur Steigerung der nationalen Wettbewerbs-fähigkeit leistet, während sie auf der Mikroebene der marktbezoge-nen Selbststeuerung der Individuen einen paradigmatischen Wechselvollzieht vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanage-ment und von der sozialen Sicherheit zur persönlichen Selbstsorge.Damit nimmt Sozialpolitik Abstand von der Idee, daß die Gesell-schaft für die Gefährdung der Existenz ihrer Mitglieder verantwort-lich und demgemäß auch verpflichtet ist, die Sicherung der Existenzzu gewährleisten, und erhebt subjektive Unsicherheit und Verunsi-cherung zur Grundlage der durch »aktivierende Hilfe« gefordertenEigenverantwortung, denn die letzte Grundlage der Kapitalismus ge-nannten Wirtschaftsordnung, »die sich auf die Freiheit des Einzelnenberuft, ist die strukturale Gewalt der Arbeitslosigkeit, der Verunsi-cherung, der Angst vor Entlassung« (Bourdieu 2004: 124).17

IVExemplarisches Beispiel für den genannten paradigmatischen Wech-sel ist die von der derzeitigen neoliberal gewendeten rot-grünenBundesregierung unter dem Motto des »Fördern und Fordern« inGestalt der sogenannten »Hartz I-IV«-Gesetze18 betriebene »aktivie-rende Arbeitsmarktpolitik«, deren Hauptelemente bestehen a) indem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernenDienstleistungsunternehmen, b) in der Verschärfung der Bedingun-gen des Bezugs von Transferleistungen, c) in der Optimierung derÜbergänge von Arbeitslosigkeit in Arbeit und d) in der Neudefinitionder Zielsetzung der Arbeitsmarktpolitik in Richtung »Arbeit umjeden Preis«, sei diese nun regulär oder prekär, bezahlt oder unbe-zahlt19. Betrachtet man die mit den Hartz-Gesetzen auf den Weg ge-brachte Arbeitsmarktreform etwas genauer, so fällt auf, daß dasSchwergewicht der Instrumente zum Abbau der Arbeitslosigkeit aufeiner Erhöhung der Effizienz der Arbeitsvermittlung liegt, wohintersich die absurde Annahme verbirgt, das in der BundesrepublikDeutschland seit über einem Vierteljahrhundert bestehende Problemder Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit sei im wesentlichen einMismatch-Problem, also eines der fehlenden Übereinstimmung zwi-schen den Arbeitskraftverkäufern und -käufern hinsichtlich Qualifi-kation, Entlohnung und Bedingungen des Arbeitskräfteeinsatzes.20

Eng verbunden mit dieser vorurteilsbehafteten Sicht wird überdiesden Arbeitslosen unterstellt, sie unternähmen keine ernsthaften An-strengungen zur Überwindung ihrer Lage, da sie sich hierzu wegender »zu generösen« staatlichen Transferleistungen nicht hinreichendmotiviert sähen. Vor dem Hintergrund einer solchen Problemdia-gnose verwundert es selbstredend nicht, daß in der Therapie zur Ver-ringerung der Arbeitslosigkeit vornehmlich an den vermeintlichenDefiziten der Arbeitslosen (wie fehlender oder inadäquater Qualifi-kation, unzureichender Flexibilität und Mobilität und überhöhten

specifica hervorhebt, son-dern auf das genus proxi-mum abstellt.

17 Es steht zu vermuten,daß dieser Formwandel derSozialpolitik die Frage ihrertheoretischen Fundierungnicht unberührt lassen wird.Denn es hat den Anschein,als ginge es neuerdings beider Sozialpolitik nicht mehrum die »staatliche Bearbei-tung des Problems der dau-erhaften Transformation vonNicht-Lohnarbeitern inLohnarbeiter« (Lenhardt,Offe 1977: 101), sondernum die von »verberuflichtenArbeitnehmern in unterneh-merische Subjekte bzw. inArbeitskraftunternehmer«(Brütt 2002: 3).

18 »Erstes« und »ZweitesGesetz für moderne Dienst-leistungen am Arbeitsmarkt«(»Hartz I u. II«) sind am1. Januar 2003 in Kraftgetreten, »Hartz III« am1. Januar 2004 und »HartzIV« in Form des neu ge-schaffenen SGB II (Grund-sicherung für Arbeitsu-chende) am 1. Januar 2005.Zu Inhalt und Umsetzungder Hartz-Gesetze vgl. denimmer noch informativenAufsatz von Brütt (2003);die von den beiden an derHartz-Kommission beteilig-ten wissenschaftlichen Mit-gliedern gezogene »ersteZwischenbilanz« (Jann,Schmid 2004: 8) der Hartz-Reformen darf hingegen alsParadebeispiel für eine»aktive Komplizenschaft«(Bourdieu 2004: 107) vonIntellektuellen mit den Herr-schenden gelten. Mit wel-cher Selbstverständlichkeitder Wechsel zwischenAkteur- und Beobachterrollehier vollzogen wird, indemman als Beobachter dieUmsetzung eines Poli-tikkonzeptes wissenschaft-lich bewertet, an dessen

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Einkommensvorstellungen) angesetzt wird, und zwar entweder aufindirektem Wege, indem den Arbeitslosen mit der Reduzierung odergar dem vollständigen Entzug der Unterstützungsleistungen und da-mit der Existenzgrundlage gedroht wird, oder auf direktem Wege, soetwa mit den Instrumenten der Beratung, der Eingliederungsverein-barung und des – nomen est omen – aus der Lehre von der Verbre-chensbekämpfung stammenden Profilings (eine Methode, mit derversucht wird, Gesetzesbrecher vermittels der Analyse von Verhal-tensmustern greifbar zu machen und der Gerichtsbarkeit zuzu-führen), so als hätten sich die Arbeitslosen des Vergehens schuldiggemacht, arbeitslos geworden zu sein, weil sie sich zu sehr an deneigenen Ansprüchen an Arbeit orientiert haben und nicht danach,was auf dem Markt nachgefragt wird.

Wenn oben davon die Rede war, daß institutionalisierte verberuf-lichte Hilfe aufgrund der Asymmetrie zwischen Helfer und Klientals ein strukturelles Gewaltverhältnis begriffen werden kann, so giltdies prinzipiell auch für den Akt der Beratung, der ja eine Form vonpersonenbezogener Hilfe darstellt, nämlich insofern, als Klientenvon um Rat aufgesuchten Experten bei der Wahl einer Entscheidungmit dem Geben von Informationen, dem Strukturieren der Selbstre-flektion und dem Offerieren von Deutungsvorschlägen unterstütztwerden. Für die »aktivierende Beratung«, wie sie die Hartz-Gesetzevorsehen, gilt dies allerdings in besonderer Weise. Dies zeigt sichunter anderem darin, daß die Beratungs»angebote« des Hartz IV ge-nannten SGB II verpflichtende verbindliche »Angebote« sind, wes-wegen sie auch das für eine gelingende Beratung zentrale Kriteriumder Freiwilligkeit nicht erfüllen. Denn ihrem Anspruch nach hat Be-ratung Anregung und Unterstützung für selbstbestimmte Entschei-dungen und eigenverantwortliche Problembewältigung durch dieRatsuchenden zu sein, was auf seiten des Beratenden voraussetzt,sich als Haltung die Achtung vor der Autonomie der Klienten zueigen zu machen. Die Wirklichkeit von institutionalisierter Beratungist jedoch eine andere wegen des Gegensatzes von Kompetenzund Nichtkompetenz, den jede Verberuflichung beziehungsweiseProfessionalisierung von Hilfeaktivitäten und damit auch des Bera-tens strukturell erzeugt, was eine Form der Herrschaftsausübung derberufsmäßigen Helfer über andere ist, weil diese ihre Eingriffe in dieSituation der hilfesuchenden Klienten durch ihre fachliche Kompe-tenz legitimiert sehen.

Die »aktivierende Beratung« des SGB II intendiert auch nicht, unddas heißt in Widerspruch stehend zu den §§ 14 ff. SGB I (Allgemei-ner Teil), den arbeitslosen Hilfesuchenden Auskunft darüber zu ge-ben, welche Leistungen sie von Rechts wegen beanspruchen kön-nen,21 sondern sie sucht Möglichkeiten aufzuzeigen, damit dieHilfesuchenden die ihnen zustehenden Transferleistungen nicht odernur kurz in Anspruch nehmen, und verbindet aus diesem Grund dieangebotene Hilfe mit Sanktionsdrohungen. Ablesen läßt sich dieszum Beispiel an der Eingliederungsvereinbarung, die der als »Kunde«bezeichnete Hilfesuchende nach § 2 I SGB II verpflichtet ist, mitdem Helfer – in managerialem Verdummungsdeutsch nunmehr»Case-Manager« genannt 22 – abzuschließen, wenn er, so § 31 I 1 aSGB II, den Anspruch auf Eingliederungs- und Unterstützungslei-

Formulierung man als Ak-teur selbst aktiv mitwirk-te,ist zwar aufschlußreich,aber nicht unbedingt etwasAußergewöhnliches, wie dievon infas durchgeführteEvaluation der bundeswei-ten Modellprojekte zur Zu-sammenarbeit von Arbeits-ämtern und Trägern derSozialhilfe (MoZArT) zeigt,zeichnet infas doch auch fürdie Implementation der Mo-ZArT-Projekte verantwortlich(vgl. Scholz 2004: 396). Zurwissenschaftlichen Seriosi-tät der seitens der Hartz-Kommission (vgl. Hartz etal. 2002) unterbreitetenVorschläge zum Abbau derArbeitslosigkeit und Umbauder Bundesanstalt für Arbeitvgl. Trube, Wohlfahrt (2002).

19 Die »aktivierendeArbeitsmarktpolitik« folgtdamit den Einflüsterungender von der Bundesregie-rung handverlesenen Exper-ten aus der dem »Bündnisfür Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsfähigkeit« zurSeite gestellten Benchmar-king-Gruppe, Streeck undHeinze, die die Devise ver-treten: »(Fast) jeder Arbeits-platz ist besser als keiner«(Streeck, Heinze 1999: 159).So heißt es denn auch indem Vorschlag von Schröderund Blair zur Modernisie-rung der Sozialdemokratiefast wortgleich: »Teilzeitar-beit und geringfügige Arbeitsind besser als gar keineArbeit« (Schröder, Blair1999: 9), weswegen sieauch »erwarten (...), daßjeder die ihm geboteneChance annimmt« (ebd.).

20 Zur wissenschaftlichenFragwürdigkeit der Thesevom Mismatch als Ursacheder Massenarbeitslosigkeitvgl. statt vieler Trube (2004:64 ff.), zu den ökonomie-theoretischen Grundlagender Vorschläge der Hartz-Kommission allgemein ins-

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stungen nicht verlieren will. Damit wird gegenüber der früheren So-zialhilfe (BSHG) der Interventionspunkt der Sanktion zeitlich vor-verlagert, da nicht erst die Verweigerung »zumutbarer Arbeit«, wieimmer diese auch definiert sein mag, sondern bereits die fehlendeMitwirkung bei der Eingliederungsvereinbarung – und was als einesolche zu werten ist, wird vom Case-Manager als dem »Herren desVerfahrens« autoritativ festgelegt – zum Verlust von Ansprüchenführt. Festgehalten wird in der ihren Namen zu Unrecht23 tragendenEingliederungs»vereinbarung« (§ 15 SGB II), welche Bemühungender hilfesuchende Arbeitslose zur Beseitigung seiner Arbeitslosigkeitin welcher Häufigkeit unternehmen muß und wie er seine Bemühun-gen nachzuweisen hat, wobei eine Verletzung der »vereinbarten«Mitwirkungspflichten die Arbeitsämter berechtigt, die Unterstützungs-leistungen für zunächst einmal drei Monate zu mindern oder voll-ständig zu entziehen, wobei während dieser Zeit kein Anspruch aufergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, der heutigenSozialhilfe, besteht und auch eine umgehende Verhaltensänderungseitens der Betroffenen nicht zu einer Aufhebung der Sanktionführt24. Außerdem kann – ganz nach dem Motto »Und bist du nichtwillig, so brauch ich Gewalt« – bei Verweigerung des Abschlussesder Eingliederungsvereinbarung diese hoheitlich qua Verwaltungsakterfolgen, was zu Recht als fachlich verfehlt kritisiert wird, allerdingsnicht nur, weil dies eine Vermischung von hoheitlichem Eingriff undErbringung einer sozialen Dienstleistung (vgl. Spindler 2003 a: 233 f.)darstellt, sondern weil damit auch ignoriert wird, daß eine einseitiggesetzte und/oder gegen den Willen des Hilfesuchenden durch-gesetzte Verhaltensanforderungen auf dessen Widerstand stoßen undnur selten das erwünschte Verhalten nach sich ziehen wird. Denn be-kanntlich bewegt sich (Sozial-)Politik bei auf Personenänderung zie-lenden Maßnahmen an der Grenze dessen, was mittels Herstellungkollektiv bindender Entscheidungen noch gesteuert werden kann.Nicht ohne Grund sieht Luhmann sich zu dem warnenden Hinweisveranlaßt, »Personenänderung ist [...] das gefährlichste Ziel, das einePolitik sich setzen kann« (Luhmann 1981: 97).

Man darf jedoch begründet annehmen, daß ein Mißlingen der be-absichtigten Personenänderung bewußt in Kauf genommen, wennnicht sogar provoziert wird, weil es zum einen die Möglichkeit eröff-net, die betroffenen arbeitslosen Hilfesuchenden als beratungsresi-stent und damit als arbeitsunwillig zu diskriminieren, und es damitzum anderen als Legitimation zur Ausgrenzung aus dem Leistungs-bezug herangezogen werden kann,25 zumal der hiergegen einlegbareWiderspruch keine aufschiebende Wirkung hat.

Es braucht im Grunde keiner weiteren, vertiefenden Ausführun-gen, um zu erkennen, daß die »aktivierende Beratung« à la Hartz IVihr Ziel des Abbaus von Arbeitslosigkeit durch Stärkung der Eigen-verantwortung der Betroffenen systematisch verfehlen muß. Dennerstens läßt Eigenverantwortung sich nicht erzwingen, kann dochein Subjekt bekanntlich nur dann zu einem eigenverantwortlichenSubjekt werden, wenn es sich selbst als ein solches frei wählen kann.Und wird dennoch Eigenverantwortung per order de mufti autorita-tiv vermittels entsprechender rechtlicher Regelungen verordnet, wiees paternalistischen Interventionen, mit denen unter Hinweis auf das

besondere die trefflicheKritik von Herr (2002).

21 »So ist Aufklärung undBeratung über zustehendeSozialleistungen für vieleTräger nicht Praxis, wirdsogar, wenn sie von dritterSeite erbracht wird, alsAngriff auf die Gemeinde-kasse empfunden«, wiez. B. Spindler (2003a: 226)mit Bezug auf die Sozialhil-feträger feststellt. § 1 II SGBII sieht denn auch prioritärnicht die Existenzsicherung,sondern qua Herstellungvon Arbeitsbereitschaft und-fähigkeit und Schaffungvon Arbeitsgelegenheitendie Eingliederung in Arbeitvor, allerdings nicht in eineexistenzsichernde, waseigentlich konsequent wäre.Mit dem SGB II ist nämlichAbstand genommen wordenvon der Vorstellung, einArbeitsplatz müsse ein, umdie Formulierung der kolla-borierenden Regierungs-berater Streeck und Heinzeaufzugreifen, »Arbeitsver-hältnis de luxe« (Streeck,Heinze 1999: 153) sein, alsoein auf eine gewisse Dauerangelegtes, existenz-sichernd bezahltes undsozial- und tarifrechtlichabgesichert geregeltesArbeitsverhältnis. Denn un-ter Arbeit wird gemäß § 8SGB II nunmehr jede be-zahlte Tätigkeit verstandenwird, die mindestens dreiStunden am Tag anfällt, alsojeder Tagelöhnerjob.

22 Der Bericht der Hartz-Kommission (vgl. Hartz et al.2002: 66ff.) führt drastischdas Ausmaß der organisier-ten Volksverdummung vorAugen: So betritt heutenicht mehr ein Arbeitsloserdas Arbeitsamt, sondernder »Kunde« ein »JobCen-ter« und meldet sich dortzwecks »Eingangsprofiling«(früher: erstes Informations-gespräch) im »Front-Office«

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Wohl einer Person in deren Autonomie eingegriffen wird, eigen ist,dann tritt sie den Betroffenen gegenüber als disziplinierende Fremd-bestimmung auf und spricht diesen gerade in bezug auf deren bis-heriges Verhalten Eigenverantwortung ab. Das heißt, verordnete Ei-genverantwortung mutet den Betroffenen zu, sich selbst als einePerson zu verstehen, die sie entweder nicht sind oder nicht werdenwollen oder unter Umständen auch nicht werden können. Und zwei-tens verfügen die Case-Manager nicht über hinreichend Beschäfti-gungsmöglichkeiten für alle arbeitslosen Hilfesuchenden und schongar nicht über die Möglichkeit, neue, vor allem existenzsicherndeArbeitsplätze zu schaffen. Denn es gibt, wie jeder weiß (der es auchwissen will), ein Mißverhältnis, und zwar ein statistisch erhärtetes,zwischen Arbeitskraftnachfrage (offene Stellen) und Arbeitskraft-angebot (Stellensuchende) zuungunsten des letzteren, das jeglichem,das heißt einem selbst wirklich ernst gemeinten Aktivierungs-bemühen sehr enge Erfolgsgrenzen setzt. Wenn dem so ist und »ak-tivierende Beratung« gleichwohl bei den hilfesuchenden Betroffe-nen hauptsächlich auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen unddas Einüben der Bereitschaft zur stetigen Aktivität zum Zwecke derDemonstration von Arbeitswilligkeit zielt, dann muß das Motiv fürHartz IV ein anderes als das öffentlich bekundete sein: Läßt man dieTat-Sachen selbst (und nicht deren Verursacher oder Verfechter) zuWort kommen, zeigt sich, daß es bei Hartz IV tatsächlich nicht umdie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern um die der Arbeitslo-sen geht. Indem nämlich bei der »aktivierenden Beratung« Beratungganz im neoliberalen Sinne transformiert wird von einem »Mecha-nismus der Unsicherheitsabsorption« (Fuchs/Mahler 2000: 4) in ei-nen Mechanismus der Unsicherheitsproduktion, unterwirft sie diearbeitslosen Hilfesuchenden beziehungsweise -empfänger unter dieHerrschaft des Marktes und ersetzt derart die imaginierte oder realepolitische Fremdbestimmung lediglich durch marktliche Fremdbe-stimmung, nicht jedoch, wie behauptet, durch Eigenverantwortung.

Allerdings sind den Vertretern ›aktivierender Beratung‹ die Ar-beitslosen nur Mittel zum Zweck, und dies in zweierlei Hinsicht:Zum einen soll in der Bundesrepublik Deutschland ein Niedriglohn-sektor durch die politisch vermittelte Herstellung einer Schicht vonworking poor, also von Menschen, die nicht aufgrund fehlender, son-dern trotz vorhandener Beschäftigung arm sind, gesellschaftsfähiggemacht werden, wird doch deren physisches Überleben – und nichtviel mehr wird durch die Transferleistungen nach dem SGB II gesi-chert26 – nur unter der Voraussetzung garantiert, daß sie bereit sind,jedwede Arbeit ›zu jedem Preis‹ anzunehmen. Ökonomisch undsozial weitaus bedeutsamer ist zum anderen der Sachverhalt, daßObjekt des staatlichen (Um-)Erziehungsprogramms27 nicht die »Ver-sager« am Arbeitsmarkt, sprich: die Arbeitslosen, allein sind, son-dern die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, die am ArbeitsmarktErfolgreichen, die Noch-Erwerbstätigen, denen mit Hilfe der ent-würdigenden und sozial diskriminierenden Behandlung28 der »Markt-versager« drastisch vor Augen geführt werden soll, was sie zuerwarten haben, wenn sie sich der herrschenden Reproduktionsnor-malität entziehen, das heißt dem gesellschaftlich verallgemeinertenund als Pflicht normierten Zwang zur marktförmigen Verausgabung

(früher: Empfangsraum) ander »Clearingstelle« (früher:Information), von wo er beiweitergehendem Beratungs-oder Betreuungsbedarf jenach Fall als »Beratungs-kunde« oder »Betreuungs-kunde« dem im »Back-Of-fice« (früher: Dienstraum)residierenden »Case-Mana-ger« (früher: Sachbearbeiter)zugeführt wird, der ein»Tiefenprofiling« (früher:Eignungsfeststellung) veran-laßt, auf dessen Basis danneine verbindliche Eingliede-rungsvereinbarung abge-schlossen wird, in der fest-zuhalten ist, mit welchenMaßnahmen das »Matching«(früher: Abstimmung) vonArbeitsangebot und -nach-frage optimiert werden soll.So einen die TV-vermitteltenImpressionen von der admi-nistrativen Umsetzung derHartz-Gesetze nicht täu-schen, steht zu hoffen, daßdie (potentiellen) Hartz-Betroffenen mehr Urteils-fähigkeit aufzubringen ver-mögen als jene sich kritischwähnenden intellektuellenHofschranzen der neolibe-ralen Modernisierer, dieanscheinend nur noch alsgedankenlose Repetitorenvorgegebener Worthülsenzu fungieren vermögen.

23 Zu Unrecht deswegen,weil der hilfesuchendeArbeitslose mangels Wahl-möglichkeiten einem sank-tionsbewehrten Kontrahie-rungszwang unterliegt, sodaß von einer »›Vereinbarung‹im Schatten der Macht«(Berlit 2003: 205) gesprochenwerden muß, die gegen dasGrundgesetz verstößt, dasie »unverhältnismäßig indie durch Art. 2 Abs. 1 GGgeschützte Vertragsfreiheit«(ebenda) eingreift.

24 Indem gemäß § 15 IISGB II i. V. m. § 38 SGB IIin der Eingliederungsverein-barung auch festgelegt wer-

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von Arbeitskraft, ohne daß ihnen (wie etwa Kindern, Schülern,Hausfrauen oder Rentnern) hierfür hoheitlich Dispens erteilt wordenist. Verlierern wie Gewinnern am Arbeitsmarkt soll also beigebrachtwerden, daß sie sich hinsichtlich ihrer Bedürfnisse, Fähigkeiten undLebensstile den sich stetig wandelnden Erfordernissen des Marktesanzupassen haben und daß ihnen, solange dieses ihnen nicht durch-schlagend gelingt, soziale Rechte nur unter hohen Auflagen zuge-standen werden. Läßt es jemand an der entsprechenden Anpassungs-fähigkeit fehlen, so zeigt dieser gemäß der Aktivierungsideologieobjektiv seine Unfähigkeit beziehungsweise den fehlenden nötigenWillen, ein freies und rational handelndes Individuum zu sein. Unterdem Diktat der von den Aktivierungsvertretern geforderten Eigen-verantwortung interessiert mithin nur, daß Verlierer wie Gewinnervon der ihnen zugestandenen Freiheit zum Handeln einen spezifi-schen Gebrauch machen, der darin besteht, aus freien Stücken das zuwollen, was ihnen politisch und ökonomisch aufgeherrscht wird: dieAusrichtung des eigenen Lebens an einer Ethik des selbstbestimm-ten Subjekts mit der Figur des Unternehmers als einem zentralenLeitbild des Neoliberalismus.

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den kann, welche Leistun-gen die mit dem arbeits-losen Hilfesuchenden in ei-ner »Bedarfsgemeinschaft«lebenden Personen erhal-ten, wird diesen gegenübereine »Vollmachtsvermutung«(Berlit 2003: 199) unterstelltmit der Folge, selbst in ei-nen entrechteten Zustandgeraten zu können. Mit an-deren Worten: Das SGB IIgeht, operationalisiert imBegriff der »Bedarfsgemein-schaft«, von Sippenhaft aus,denn es verlangt von dergesamten Bedarfsgemein-schaft nicht nur den Einsatzdes Vermögens, sondernauch den der Arbeitskraft,so daß auch im Falle einereheähnlichen Gemeinschaftseitens des Arbeitsamtesvon dem Partner des ar-beitslosen Hilfesuchendenverlangt werden kann, seineArbeitskraft selbst zu unter-tariflichen Bedingungen ein-zusetzen, um den anderenmitunterhalten zu können.

25 Mitarbeiter des Landes-arbeitsamtes Nordrhein-Westfalen sprechen in die-sem Zusammenhangsinnfällig von »Verfolgungs-betreuung«. »Konkret be-deutet das, jede möglicheund unmögliche Gelegen-heit zur Verhängung einerSperrzeit wird genutzt. DerDruck auf die Arbeitslosenmacht auch vor den Kolle-ginnen und Kollegen in denÄmtern nicht halt. Es wer-den Hitlisten eingerichtet,mit dem Ziel, zu schauen,wer in welcher Zeit wie vieleSperrzeiten verhängt hat«(Küster et al. 2003: 2).

26 Bezüglich der Regellei-stungen liegt das Niveaudes für erwerbsfähige Hilfe-bedürftige vorgesehenenArbeitslosengeldes II nach§§ 19ff. SGB II unter demder früheren BSHG-Sozial-hilfe, die selbst bereits alsnicht armutsfest im Sinne

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von bedarfsdeckend kriti-siert worden ist, allerdingsdurch Hilfen für laufendeMehrbedarfe und einmaligeBedarfe aufgestockt werdenkonnte. Beim Arbeitslosen-geld II ist dies nunmehr we-gen der Pauschalisierungdieser Hilfen nicht mehr ge-geben. (vgl. Berlit 2003: 201ff.; Brühl 2004: 107 f.)

27 Verfassungsrechtlichließe sich die Frage stellen,ob der Staat überhaupt einMandat zur (Um-)Erziehungseiner Bürger hat, verstoßendoch staatliche Maßnahmenzum Aufbau und Erhalt vonSozial- und Arbeitsmoralzumindest gegen das Allge-meine Persönlichkeitsrecht,wie es sich durch die höch-strichterliche Rechtspre-chung zu Art. 2 I GG i. V. m.Art. 1 I GG entwickelt hat.Zur Problematik, jedoch mitBezug auf die staatlicheFörderung von Abfallmoral,vgl. Lüdemann (2002).

28 Der mit der Umben-nung des Arbeitsamtes in»Arbeitsagentur« bzw. »Job-Center« vorgenommene Etikettenschwindel vermagnicht darüber hinwegtäu-schen, daß mit der funktio-nalen Ausdifferenzierungdes Arbeitsamtes sich einegesonderte sozialstaatlicheOrganisation etabliert hat,die allein für »Arbeitsmarkt-versager« zuständig ist. Inausgeprägter Weise zeigtsich die darin zum Aus-druck kommende sozialeDiskriminierung der arbeits-losen Hilfeempfänger, wennder Öffentlichkeit deren»Markt- und Leistungsver-sagen« durch die Gewäh-rung von Sach- statt Geld-leistungen (§ 23 II SGB II)zur Kenntnis gebracht wirdund damit den Betroffenenselbst ihre »Unwürdigkeit«zur allgemeinen Marktteil-nahme attestiert wird.

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