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Käufern. Die Redaktion schafft maßgeblich Reichweite, Quote, aber nicht Auflage! Kern der neuen Redaktionsmodelle ist ein gar nicht mal so neues Prinzip. Dieses folgt nur einem einzigen Grundsatz. Er besteht in nichts weiter als der systematischen Trennung von Blatt- oder Objektmachen und Schreiben beziehungsweise Sprechen. Verbunden wird das zugehörige Redaktionsmodell in der Zeitungs- branche mit dem Titel Newsdesk. Woraus es besteht, zeigt das einfache Schaubild (Abb. 3). Hieran ist vor allem eines wichtig: Neben der recht geschlossenen Einheit namens »News- desk«, also dem Kreis der Blattmacher, die res- sortübergreifend tatsächlich an einem oder aber gemeinsam an mehreren Tischen sitzen, ist die Schnittstellendefinition von Bedeutung. Es gibt nur eine Input-Schnittstelle und eine Out- put-Schnittstelle. Input heißt hier: Durch diese Schnittstelle kommen die Inhalte, eben: »Con- tent«, hinein. Durch die Outputschnittstelle geht das Gesamtprodukt aus der Redaktion – im Falle von Tageszeitungen eben die Seiten. Was ist daran so revolutionär? Die Antwort ist simpel: Die redaktionelle Arbeit wird zu einem getakteten Fließprozess, Redaktion ist nichts anderes als die Balance zwischen Textab- gabe und Andruck. Und der Andrucktermin gibt nun in die Gruppe den kompletten Pla- nungsdruck, der entsprechend auf die »Input«- Lieferanten (Freie wie Feste) weitergeleitet wird. Was sind die Effekte gegenüber der früheren Ressortaufteilung, mitsamt Redak- tionskonferenzen etc.? Es ist schlicht derselbe Effekt, der mit Lean Production erreicht wur- de, und man kann den Newsdesk insofern als klassisch industrielles Relais begreifen. Im Gesamtkontext der Produktion gliedert diese Organisationsform die Redaktion komplett ein in den Gesamtablauf dessen, was als Workflow – sozusagen »getaktet« durch den Endtermin – hindurchgeht. Dieses Modell hat eine Konstante und im Wei- teren viele Variablen mitsamt vielfältigen Effek- ten für Kosten und Produktivität. Die Kon- stante ist die dauerhafte Selbstorganisierung des Newsdesk. Die weiteren Effekte sind varia- bel – sie können darin bestehen, je nach Orga- nisationsaufwand und Kosten Feste und Freie und im Weiteren auch ganze Dienstleistungs- unternehmen – nach dem Agenturmodell – via Input-Schnittstelle einzubeziehen. Was man bereits weiß, ist, dass unter Um- ständen starke Produktivitätseffekte entstehen. So haben erste Versuche seinerzeit dazu ge- führt, dass die »festen« Schreiber, vom Blattma- chen entbunden, erheblich produktiver arbeite- ten – zu Lasten der Aufträge für Freie. Eben- falls kann diese Redaktionsorganisation zu fortlaufender Qualitätssicherung beitragen, auch als »permanente Redaktionskonferenz«. Doch haben sich solche Potenziale in vielen Fällen nach kurzzeitigen Effekten in den Kon- junktiv verflüchtigt. Mehr und mehr erweist sich dieses Modell, das ja durchaus gute Mög- lichkeiten enthält, als höchst effektives Steue- rungsinstrument im Sinne industrieller Tak- tung. Mit dem bemerkenswerten Effekt, dass in einem Seminar mit Betriebsratsmitgliedern aus Druckbereichen und Redaktionen erstmals Redakteurinnen und Drucker eine gemeinsame Forderungslogik für die Produktion entdeck- ten: Beiden ging es nicht mehr so sehr um die individuelle Arbeitszeit – sondern um: Beset- zungsregelungen! des Textes beschäftigt, es kommt noch das Lek- torat hinzu. Aber – und das verweist schon auf die neuen Redaktionsmodelle, auf die ich im Weiteren noch genauer eingehen wird – auch die Lektorin ist in den meisten Publikumsver- lagen nicht einfach eine Art Schlussredakteurin oder Textbearbeiterin. In großer Zahl ist die eigentliche Textarbeit des Lektorats schon längst an freie LektorInnen ausgelagert, während das Verlagslektorat gleichzeitig Pro- jektmanagement – bezogen auf den einzelnen Titel – und Teil der Programmredaktion – bezogen auf das Verlagsprogramm – ist. Hier verändert sich auch die Optik von Freien und Festen grundlegend. Wenn nun- mehr systematisch und systemisch unterschie- den wird zwischen »Schaffen« und »Machen«, etwa zwischen Schreibenden und Blattma- chern, dann geht es nicht mehr darum, Arbeit auch in andere Vertragsformen auszulagern, sondern dann ist eine wesentliche Funktion – als Arbeit – komplett »draußen«. Von der »Tafelrunde« an den Newsdesk Mit der Redaktion verhält es sich unter Ge- sichtspunkten einer neuen Arbeitsteilung und Neuzusammensetzung journalistischer Arbeit nach funktionalen Gesichtspunkten nicht anders als mit anderen Betriebsbereichen. Auch hier ist die Kernfrage immer die: Wie sichere ich im eigenen Betrieb, im eigenen Bereich alle Kernkompetenzen über die Abläufe, die hier – sozusagen als Knoten eines Netzwerkes – zusammenlaufen? Dies ist das A und O einer an Produktionssicherheit und Qualitätssiche- rung ausgerichteten Arbeits- und Betriebsorga- nisation. Und man weiß, wie viele Fehler man hier machen kann. Vormals so genannte Kern- prozesse – so sie eben zur Produktion des End- produktes gehören – können nur ausgegliedert werden, wenn das Wissen über diese Prozesse (fachliches, technisches, ökonomisches Wissen) »im Hause« bleibt. Ich nenne hier wieder das Beispiel des Büchermachens, weil es in »kreativer« Hinsicht das avancierteste Beispiel überhaupt ist: Es gibt – Konzernsynergien nutzende – Qualitätsverla- ge mit hoch anspruchsvollem literarischen Portfolio, die über nicht viel mehr als 30 Mit- arbeiterInnen verfügen. Was aber müssen diese können, müssen sie wissen? Sie müssen Her- steller sein, auch wenn es im Hause keine Her- steller mehr gibt, sie müssen Spezialkenntnisse im Buchdruck, sowohl technisch als auch öko- nomisch, besitzen. Sie müssen natürlich her- vorragende LektorInnen in ihrem Fach sein, auch wenn die Lektoratsarbeit am Text nicht mehr im Hause stattfindet. Es müssen also alle Kernkompetenzen in Sachen Herstellung und Vertrieb etc. gesichert sein, um Qualitätssiche- rung zu gewährleisten. Diese Logik, auf eine Zeitschrift übertragen, heißt letztlich: Ein Verlag, der eine Zeitschrift herausbringt, braucht in dieser Logik gar keine Redaktion, er braucht lediglich redaktionelle Kernkompetenzen. Ich erinnere hier an das, was ich über die Ökonomie des Journalismus gesagt habe: In redaktioneller Hinsicht ist – so ja die Philosophie marktzentrierter Betriebe – der Verlag Kunde der Redaktion. Wobei die Redak- tion neben dem Blatt – Zeitung, Zeitschrift oder auch Sendung – einen materiell erhebli- chen Wert mitliefert: Publikum. Die Redaktion hat es mit Lesern oder Hörern zu tun, nicht mit express 2-3/2008 11 Millionen für die Erweiterung heraus- zurücken. Auch Doppelkupplungsgetriebe nach Rumänien? Es ist davon auszugehen, dass die neue A-/B-Klasse mit einem Doppelkupp- lungsgetriebe ausgestattet wird. Inter- essanterweise betreibt Daimler im rumänischen Cugir in Kooperation bereits ein Werk, das zur Zeit Getrie- beteile fertigt. Soll in diesem Werk womöglich auch das Doppelkupp- lungsgetriebe produziert werden, wenn die neue A-/B-Klasse in der Nähe gebaut wird? Dann stünde durch die rumänische Fabrik neben dem Werk Rastatt auch unser Werkteil Zuffenhausen zur Disposition. Kein neuer Markt in Sicht Etwas anders wäre es, wenn das rumä- nische Werk für einen neuen osteu- ropäischen Markt produzieren würde. Wir sind nun beileibe nicht der Ansicht, dass wir die ganze Welt von Deutschland aus mit unseren Fahrzeu- gen versorgen müssen. Auch die Men- schen in Rumänien und anderswo haben ein Recht darauf, das, was bei ihnen verkauft wird, zu produzieren und sich damit ein Stück Wohlstand zu erarbeiten. Ein solcher Markt ist für die A-/B-Klasse aber nicht in Sicht. Angesichts der dortigen Kaufkraft müsste ein solches Fahrzeug deutlich unter 10 000 Euro kosten, was auch bei rumänischen Produktionskosten nicht möglich sein dürfte. Zwar gibt es auch in diesen Ländern eine ganze Menge Systemgewinnler. Die fahren aber nicht A-Klasse, sondern – wenn schon Mercedes –, dann E- oder S- Klasse. Das heißt, die einen sind zu arm für ein solches Auto, für die ande- ren ist es zu popelig. Eine vergleichba- re Situation hatten wir vor ein paar Jahren in Brasilien. Auch in Juiz de Fora sollte die A-Klasse für den brasi- lianischen Markt produziert werden. Was aus genau den gleichen Gründen schief ging. Die Produktion der A- Klasse wurde wieder eingestellt. Statt- dessen wird dort jetzt das C-Klasse- Coupé gebaut. Verhindern wir dieses Werk! Es wird also wohl nur darum gehen, Fahrzeuge in Rumänien billig zu pro- duzieren, um sie bei uns teuer zu ver- kaufen. Und Rastatt Schritt für Schritt sterben zu lassen. Deshalb ist dieses Werk unbedingt zu verhindern. Am grünen Tisch wird uns das nicht gelin- gen, schon gar nicht mit Interessenver- tretern, die es nicht für nötig halten, ihre Belegschaft von dem drohenden Ungemach frühzeitig zu informieren. Dazu wird es wohl notwendig sein, mal wieder die Bänder abzustellen und gemeinsame Ausflüge auf gut asphal- tierten Wegen zu unternehmen. (Aus: Alternative. Für die Kolleginnen und Kollegen im Daimler-Werk Untertürkheim, Nr. 47, März 2008) Durchschnittliche Kostenstruktur Abo-Tageszeitungen Westdeutschland 2000 2001 2002 2003 2004 Herstellung* 36,6 32,8 29,6 28,7 28,2 Vertrieb 20,6 20,5 22,0 22,2 22,9 Anzeigen 14,0 15,1 15,7 15,8 15,7 Verwaltung 7,3 8,1 8,3 8,2 8,1 Redaktion 21,6 23,5 24,4 25,1 25,1 * inkl. Papierpreise Herstellung Redaktion Vertrieb Anzeigen Verwaltung 28,6 24,6 22,8 16,4 7,7 Anzeigen Kosten Erlöse Vertrieb Fremdbeilagen 45,6 44,7 9,7 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Planung Schnittstellen Output Input Seiten Newsdesk »Blattmacher« Text / Bild »Kreative« Variabel: »Feste«, »Freie«, »Agenturen«, Unternehmen Abb. 2 Abb. 1 Abb. 3 sche Rationalisierungspotenziale vorhanden sind, ist dies bei Redaktionen nicht der Fall. Genau hier schlägt dann zu Buche, dass Redaktionen eben »nicht nur« Produktionsein- heiten sind wie andere auch. Sie sind im Übri- gen auch nicht »nur« kreativ wie andere kreati- ve Bereiche. Aber worauf bezieht sich eigent- lich die Kreativität der Redaktion? Und dies ist nun die Schlüsselfrage, weil es zum Knack- punkt von allem wird, was im Kontext von sowohl klassischen als auch neuen Medien den Journalismus grundlegend verändert bezie- hungsweise mit grundlegend veränderten Bedingungen konfrontiert. Nehmen wir wieder das Beispiel der Journa- listin im Printbereich, so hat ihre Kreativität mit zwei unterschiedlichen Produkten zu tun. Als Journalistin produziert sie einen Artikel, und wenn sie eine Freie ist, ist dies das Werk, das sie dem Werkvertrag nach dem Verlag schuldet. Als Redakteurin aber produziert sie – mit anderen zusammen – eine Zeitung oder eine Zeitschrift, das Blatt. In einem mindestens so anspruchsvollen Genre sind dies mehrfach unterschiedene Berufe und Berufsbilder. Ich meine die Herstellung von Büchern. Hier ist die Autorin einzig kreativ mit der Herstellung Diese Tabelle ist einerseits vielsagend, ande- rerseits birgt sie auch ein wohl gehütetes Geheimnis. Um es in der Sprache der Philoso- phie zu sagen: Sie verdeckt, indem sie aufdeckt. Zunächst einmal deckt sie auf, wie enorm hoch noch immer der Anteil technischer Rationali- sierung in diesem spezifischen Wirtschafts- zweig ist. Dieser wird, rein technologisch bedingt, durch die derzeit laufenden Investi- tionswellen eher noch wachsen. Gleichzeitig deckt die Tabelle auf, dass die Kostenanteile der Redaktion wachsen. Aber was verdeckt sie? Natürlich verdeckt sie das Gesamtvolumen der Einsparungen, in absoluten Zahlen. Wachstum von Kostenantei- len heißt ja nicht, dass diese Kosten gewachsen sind, nur deren Anteile am Gesamtkostenvolu- men. Immerhin, einem Unternehmer reicht schon die relationale Rechnung. Und genau deshalb sind die Redaktionen in den Fokus der Rationalisierungslogik geraten. Stellenabbau und Honorarkürzungen allein reichen nicht aus, das wäre Produktivitätssteigerung nur mit negativen Zahlen. Eine Rationalisierung im vollen Sinne ist dies nicht. Während sowohl im technischen als auch im kaufmännischen und Verwaltungsbereich noch immer hohe techni-

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Käufern. Die Redaktion schafft maßgeblichReichweite, Quote, aber nicht Auflage!

Kern der neuen Redaktionsmodelle ist eingar nicht mal so neues Prinzip. Dieses folgt nureinem einzigen Grundsatz. Er besteht in nichtsweiter als der systematischen Trennung vonBlatt- oder Objektmachen und Schreibenbeziehungsweise Sprechen. Verbunden wird daszugehörige Redaktionsmodell in der Zeitungs-branche mit dem Titel Newsdesk. Woraus esbesteht, zeigt das einfache Schaubild (Abb. 3).

Hieran ist vor allem eines wichtig: Neben derrecht geschlossenen Einheit namens »News-desk«, also dem Kreis der Blattmacher, die res-sortübergreifend tatsächlich an einem oder abergemeinsam an mehreren Tischen sitzen, ist dieSchnittstellendefinition von Bedeutung. Esgibt nur eine Input-Schnittstelle und eine Out-put-Schnittstelle. Input heißt hier: Durch dieseSchnittstelle kommen die Inhalte, eben: »Con-tent«, hinein. Durch die Outputschnittstellegeht das Gesamtprodukt aus der Redaktion –im Falle von Tageszeitungen eben die Seiten.

Was ist daran so revolutionär? Die Antwortist simpel: Die redaktionelle Arbeit wird zueinem getakteten Fließprozess, Redaktion istnichts anderes als die Balance zwischen Textab-gabe und Andruck. Und der Andrucktermingibt nun in die Gruppe den kompletten Pla-nungsdruck, der entsprechend auf die »Input«-Lieferanten (Freie wie Feste) weitergeleitetwird. Was sind die Effekte gegenüber derfrüheren Ressortaufteilung, mitsamt Redak-tionskonferenzen etc.? Es ist schlicht derselbeEffekt, der mit Lean Production erreicht wur-de, und man kann den Newsdesk insofern alsklassisch industrielles Relais begreifen. ImGesamtkontext der Produktion gliedert dieseOrganisationsform die Redaktion komplett einin den Gesamtablauf dessen, was als Workflow– sozusagen »getaktet« durch den Endtermin –hindurchgeht.

Dieses Modell hat eine Konstante und im Wei-teren viele Variablen mitsamt vielfältigen Effek-ten für Kosten und Produktivität. Die Kon-stante ist die dauerhafte Selbstorganisierungdes Newsdesk. Die weiteren Effekte sind varia-bel – sie können darin bestehen, je nach Orga-nisationsaufwand und Kosten Feste und Freieund im Weiteren auch ganze Dienstleistungs-unternehmen – nach dem Agenturmodell – viaInput-Schnittstelle einzubeziehen.

Was man bereits weiß, ist, dass unter Um-ständen starke Produktivitätseffekte entstehen.So haben erste Versuche seinerzeit dazu ge-führt, dass die »festen« Schreiber, vom Blattma-chen entbunden, erheblich produktiver arbeite-ten – zu Lasten der Aufträge für Freie. Eben-falls kann diese Redaktionsorganisation zufortlaufender Qualitätssicherung beitragen,auch als »permanente Redaktionskonferenz«.Doch haben sich solche Potenziale in vielenFällen nach kurzzeitigen Effekten in den Kon-junktiv verflüchtigt. Mehr und mehr erweistsich dieses Modell, das ja durchaus gute Mög-lichkeiten enthält, als höchst effektives Steue-rungsinstrument im Sinne industrieller Tak-tung. Mit dem bemerkenswerten Effekt, dassin einem Seminar mit Betriebsratsmitgliedernaus Druckbereichen und Redaktionen erstmalsRedakteurinnen und Drucker eine gemeinsameForderungslogik für die Produktion entdeck-ten: Beiden ging es nicht mehr so sehr um dieindividuelle Arbeitszeit – sondern um: Beset-zungsregelungen!

des Textes beschäftigt, es kommt noch das Lek-torat hinzu. Aber – und das verweist schon aufdie neuen Redaktionsmodelle, auf die ich imWeiteren noch genauer eingehen wird – auchdie Lektorin ist in den meisten Publikumsver-lagen nicht einfach eine Art Schlussredakteurinoder Textbearbeiterin. In großer Zahl ist dieeigentliche Textarbeit des Lektorats schonlängst an freie LektorInnen ausgelagert,während das Verlagslektorat gleichzeitig Pro-jektmanagement – bezogen auf den einzelnenTitel – und Teil der Programmredaktion –bezogen auf das Verlagsprogramm – ist.

Hier verändert sich auch die Optik vonFreien und Festen grundlegend. Wenn nun-mehr systematisch und systemisch unterschie-den wird zwischen »Schaffen« und »Machen«,etwa zwischen Schreibenden und Blattma-chern, dann geht es nicht mehr darum, Arbeitauch in andere Vertragsformen auszulagern,sondern dann ist eine wesentliche Funktion –als Arbeit – komplett »draußen«.

Von der »Tafelrunde« an den Newsdesk

Mit der Redaktion verhält es sich unter Ge-sichtspunkten einer neuen Arbeitsteilung undNeuzusammensetzung journalistischer Arbeitnach funktionalen Gesichtspunkten nichtanders als mit anderen Betriebsbereichen. Auchhier ist die Kernfrage immer die: Wie sichereich im eigenen Betrieb, im eigenen Bereich alleKernkompetenzen über die Abläufe, die hier –sozusagen als Knoten eines Netzwerkes –zusammenlaufen? Dies ist das A und O eineran Produktionssicherheit und Qualitätssiche-rung ausgerichteten Arbeits- und Betriebsorga-nisation. Und man weiß, wie viele Fehler manhier machen kann. Vormals so genannte Kern-prozesse – so sie eben zur Produktion des End-produktes gehören – können nur ausgegliedertwerden, wenn das Wissen über diese Prozesse(fachliches, technisches, ökonomisches Wissen)»im Hause« bleibt.

Ich nenne hier wieder das Beispiel desBüchermachens, weil es in »kreativer« Hinsichtdas avancierteste Beispiel überhaupt ist: Es gibt– Konzernsynergien nutzende – Qualitätsverla-ge mit hoch anspruchsvollem literarischenPortfolio, die über nicht viel mehr als 30 Mit-arbeiterInnen verfügen. Was aber müssen diesekönnen, müssen sie wissen? Sie müssen Her-steller sein, auch wenn es im Hause keine Her-steller mehr gibt, sie müssen Spezialkenntnisseim Buchdruck, sowohl technisch als auch öko-nomisch, besitzen. Sie müssen natürlich her-vorragende LektorInnen in ihrem Fach sein,auch wenn die Lektoratsarbeit am Text nichtmehr im Hause stattfindet. Es müssen also alleKernkompetenzen in Sachen Herstellung undVertrieb etc. gesichert sein, um Qualitätssiche-rung zu gewährleisten.

Diese Logik, auf eine Zeitschrift übertragen,heißt letztlich: Ein Verlag, der eine Zeitschriftherausbringt, braucht in dieser Logik gar keineRedaktion, er braucht lediglich redaktionelleKernkompetenzen. Ich erinnere hier an das, wasich über die Ökonomie des Journalismus gesagthabe: In redaktioneller Hinsicht ist – so ja diePhilosophie marktzentrierter Betriebe – derVerlag Kunde der Redaktion. Wobei die Redak-tion neben dem Blatt – Zeitung, Zeitschriftoder auch Sendung – einen materiell erhebli-chen Wert mitliefert: Publikum. Die Redaktionhat es mit Lesern oder Hörern zu tun, nicht mit

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Millionen für die Erweiterung heraus-zurücken.

Auch Doppelkupplungsgetriebe nachRumänien?Es ist davon auszugehen, dass die neueA-/B-Klasse mit einem Doppelkupp-lungsgetriebe ausgestattet wird. Inter-essanterweise betreibt Daimler imrumänischen Cugir in Kooperationbereits ein Werk, das zur Zeit Getrie-beteile fertigt. Soll in diesem Werkwomöglich auch das Doppelkupp-lungsgetriebe produziert werden,wenn die neue A-/B-Klasse in derNähe gebaut wird? Dann stünde durch

die rumänische Fabrik neben demWerk Rastatt auch unser WerkteilZuffenhausen zur Disposition.

Kein neuer Markt in Sicht Etwas anders wäre es, wenn das rumä-nische Werk für einen neuen osteu-ropäischen Markt produzieren würde.Wir sind nun beileibe nicht derAnsicht, dass wir die ganze Welt vonDeutschland aus mit unseren Fahrzeu-gen versorgen müssen. Auch die Men-schen in Rumänien und anderswohaben ein Recht darauf, das, was beiihnen verkauft wird, zu produzierenund sich damit ein Stück Wohlstand

zu erarbeiten. Ein solcher Markt ist fürdie A-/B-Klasse aber nicht in Sicht.Angesichts der dortigen Kaufkraftmüsste ein solches Fahrzeug deutlichunter 10 000 Euro kosten, was auchbei rumänischen Produktionskostennicht möglich sein dürfte. Zwar gibt esauch in diesen Ländern eine ganzeMenge Systemgewinnler. Die fahrenaber nicht A-Klasse, sondern – wennschon Mercedes –, dann E- oder S-Klasse. Das heißt, die einen sind zuarm für ein solches Auto, für die ande-ren ist es zu popelig. Eine vergleichba-re Situation hatten wir vor ein paarJahren in Brasilien. Auch in Juiz de

Fora sollte die A-Klasse für den brasi-lianischen Markt produziert werden.Was aus genau den gleichen Gründenschief ging. Die Produktion der A-Klasse wurde wieder eingestellt. Statt-dessen wird dort jetzt das C-Klasse-Coupé gebaut.

Verhindern wir dieses Werk!Es wird also wohl nur darum gehen,Fahrzeuge in Rumänien billig zu pro-duzieren, um sie bei uns teuer zu ver-kaufen. Und Rastatt Schritt für Schrittsterben zu lassen. Deshalb ist diesesWerk unbedingt zu verhindern. Amgrünen Tisch wird uns das nicht gelin-

gen, schon gar nicht mit Interessenver-tretern, die es nicht für nötig halten,ihre Belegschaft von dem drohendenUngemach frühzeitig zu informieren.Dazu wird es wohl notwendig sein,mal wieder die Bänder abzustellen undgemeinsame Ausflüge auf gut asphal-tierten Wegen zu unternehmen.

(Aus: Alternative. Für die Kolleginnen undKollegen im Daimler-Werk Untertürkheim,

Nr. 47, März 2008)

Durchschnittliche KostenstrukturAbo-Tageszeitungen Westdeutschland

2000 2001 2002 2003 2004

Herstellung* 36,6 32,8 29,6 28,7 28,2

Vertrieb 20,6 20,5 22,0 22,2 22,9

Anzeigen 14,0 15,1 15,7 15,8 15,7

Verwaltung 7,3 8,1 8,3 8,2 8,1

Redaktion 21,6 23,5 24,4 25,1 25,1

* inkl. Papierpreise

Herstellung

Redaktion

Vertrieb

Anzeigen

Verwaltung

28,6

24,6

22,8

16,4

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Kosten

Erlöse

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45,6

44,7

9,7

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

Planung

Schnittstellen

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»Blattmacher«

Text / Bild

»Kreative«

Variabel:»Feste«, »Freie«,

»Agenturen«,Unternehmen

Abb. 2

Abb. 1

Abb. 3

sche Rationalisierungspotenziale vorhandensind, ist dies bei Redaktionen nicht der Fall.

Genau hier schlägt dann zu Buche, dassRedaktionen eben »nicht nur« Produktionsein-heiten sind wie andere auch. Sie sind im Übri-gen auch nicht »nur« kreativ wie andere kreati-ve Bereiche. Aber worauf bezieht sich eigent-lich die Kreativität der Redaktion? Und dies istnun die Schlüsselfrage, weil es zum Knack-punkt von allem wird, was im Kontext vonsowohl klassischen als auch neuen Medien denJournalismus grundlegend verändert bezie-hungsweise mit grundlegend verändertenBedingungen konfrontiert.

Nehmen wir wieder das Beispiel der Journa-listin im Printbereich, so hat ihre Kreativitätmit zwei unterschiedlichen Produkten zu tun.Als Journalistin produziert sie einen Artikel,und wenn sie eine Freie ist, ist dies das Werk,das sie dem Werkvertrag nach dem Verlagschuldet. Als Redakteurin aber produziert sie –mit anderen zusammen – eine Zeitung odereine Zeitschrift, das Blatt. In einem mindestensso anspruchsvollen Genre sind dies mehrfachunterschiedene Berufe und Berufsbilder. Ichmeine die Herstellung von Büchern. Hier istdie Autorin einzig kreativ mit der Herstellung

Diese Tabelle ist einerseits vielsagend, ande-rerseits birgt sie auch ein wohl gehütetesGeheimnis. Um es in der Sprache der Philoso-phie zu sagen: Sie verdeckt, indem sie aufdeckt.Zunächst einmal deckt sie auf, wie enorm hochnoch immer der Anteil technischer Rationali-sierung in diesem spezifischen Wirtschafts-zweig ist. Dieser wird, rein technologischbedingt, durch die derzeit laufenden Investi-tionswellen eher noch wachsen. Gleichzeitigdeckt die Tabelle auf, dass die Kostenanteileder Redaktion wachsen.

Aber was verdeckt sie? Natürlich verdeckt siedas Gesamtvolumen der Einsparungen, inabsoluten Zahlen. Wachstum von Kostenantei-len heißt ja nicht, dass diese Kosten gewachsensind, nur deren Anteile am Gesamtkostenvolu-men. Immerhin, einem Unternehmer reichtschon die relationale Rechnung. Und genaudeshalb sind die Redaktionen in den Fokus derRationalisierungslogik geraten. Stellenabbauund Honorarkürzungen allein reichen nichtaus, das wäre Produktivitätssteigerung nur mitnegativen Zahlen. Eine Rationalisierung imvollen Sinne ist dies nicht. Während sowohl imtechnischen als auch im kaufmännischen undVerwaltungsbereich noch immer hohe techni-

Inhalte benannt. Die andere Tendenz greiftüber auf das Feld der Qualifikation – und letzt-lich die Qualität.

In karikaturhafter, aber leider durchausgelebter Verwirklichung kennen wir diesesGefährdungspotenzial aus dem Beispiel desfotografierenden Textjournalisten, dem nun derTextjournalist mit Videokamera folgt. Und, dasist keine Karikatur, das ist ein wirklicher Fall:Auf die Frage, wie denn die Fotos für die Print-ausgabe zustande kommen würden, gab es dieAntwort: »Dafür nehmen wir Standbilder vomFilm.«

Worin bestehen nun die grundlegenden Ver-änderungen in publizistischer Hinsicht? DerProjekttitel aus dem Hause Axel Springer –»medienkonvergente Redaktionsinhalte« –greift ja viel weiter als das eigentliche Projekt.Hier kommt, aber gänzlich anders, als diesnoch vor wenigen Jahren der Fall war, das Webund Internet als Plattform ins Spiel. Wenn ichwieder anknüpfe an dem, was ich zu Anfanggesagt habe, dem Wesentlichen des Internetsund Webs – dass es eher eine Plattform oderein Verbreitungsweg von Medieninhalten ist,dann ergibt sich eine ganz eigene Logik für diepublizistischen Inhalte: Diese werden von derWeblogik aus gesteuert. Das Web selber istletztlich dann eine Metaebene, von der aus alleMedieninhalte und ihr Vertrieb gedacht wer-den.

Alle PraktikerInnen aus größeren Medien-unternehmen können dies leicht anhand derEntwicklung der jüngsten Zeit nachvollziehen– wie nämlich Online-Redaktionen aus bloßenAnhängseln zu publizistischen Steuerungszen-tren werden. Nicht ob etwas auch online ge-stellt wird, wird dann in Zukunft die Fragesein, sondern ob das, was von vornehereinmultimedial aufgegriffen wird, auch für Printoder Fernsehen oder Podcasts geeignet ist. Dies

ist, in der bekannten Ambivalenz solcher Fort-schritte, eine nachgerade revolutionäre Erfah-rung mit unglaublichen Möglichkeiten fürpublizistische Inhalte. Und es ist – eben in der-selben Ambivalenz – das Einfallstor für dieKommerzialisierung erst der Informationszu-gänge und schließlich der Information selber.Eine der größten Gefahren für die journalisti-sche Publizistik liegt hier vor allem in der man-gelnden Trennschärfe, denn ein Link ist einLink ist ein Link ist ein Link...

Und diese Trennschärfe ist nur dann zugewährleisten, wenn – worum hart gekämpftwerden muss – das radikale Durcheinander imWeb nicht rückwirkt auf die klassischen Me-dien als immer noch entscheidendenden Con-tent-Produktionsstätten. Wenn über denNewsdesks weitere Newsdesks und über diesennicht nur ein Newsroom, sondern über diesemein weiterer liegt – wer will am Ende verhin-dern, dass auf der obersten Metaebene nurnoch Zielgruppen angesteuert werden, denenman auf dem Weg des so genannten Werbe-Targeting (genaue Zielgruppenansprache) folgtund entsprechende journalistische Inhalte»postet« – übrigens dann auch in den klassi-schen Medien, sozusagen »programmbeglei-tend«? Dies wäre die negative Utopie einerMultimedialandschaft mit »medienkonvergen-ten Redaktionsinhalten«.

Dass Redaktionen in ökonomischer HinsichtReichweite produzieren und damit Publikaschaffen, die für andere Verwertung geldwertsind – das ist keineswegs neu, es war und istschon lange auf dem Markt der Periodika fürSpezialinteressen ein Selbstgänger. Nunmehraber, in der Koppelung aller Medienverbrei-tungswege und vor allem durch die höchst dy-namischen »Kundenbeziehungen« via Web,bricht hier die Quotenlogik massiv in Bereiche,die davon bislang eher noch verschont waren, ein.

12 express 2-3/2008

Was wird aus Beruf und Berufung

Damit bin ich beim Letzten und sicherlichWichtigsten meiner Ausführungen angelangt,und das ist: der Beruf und die Berufung derJournalistInnen. Die Schlussfolgerungen fallenunterschiedlich aus, sofern man zwischen denpublizistischen Potenzialen einerseits und denQualitätsgefährdungen andererseits unter-scheidet. Um mit den Letzteren anzufangen –hier hat sich grundsätzlich am Berufsbildüberhaupt nichts zu ändern! Oder anders: Die fatalen Änderungen des Berufsbild dervergangenen Zeit haben sich zu ändern – unddies durchaus und durchweg in höchst konser-vativer Manier: zurück zu den Grundsätzenpublizistischer Sorgfalt, zurück zu denGrundsätzen von Meinungsvielfalt und Mei-nungsfreiheit.

Dies gilt gleichermaßen gegenüber deninhaltlichen Verwischungen zwischen Enter-tainment und journalistischer Information wiegegenüber teils schleichender, teils schon offe-ner Verbindung von Journalismus, PR undWerbung. Diese Grundsätze, im Übrigen jaauch die Forderungen nach Selbstkontrolleund Selbstregulierung, waren noch nie auftechnische oder Gattungsgrenzen begrenzt. Siesind aber, und das macht das Szenario einerverselbständigten Ökonomie des Journalismusaus, insbesondere dort gefährdet, wo Freie undSelbstständige gleichermaßen wie ganze Redak-tionen oder Redaktionseinheiten einem Selbst-ökonomisierungsdruck ausgesetzt werden.Denn natürlich ist eine Redaktion, die integra-ler Bestandteil des Unternehmens bleibt, beialler Abhängigkeit allein in Arbeitnehmerper-spektive durchsetzungsfähiger als eine auf demMarkt frei operierende Redaktionsgesellschaft.Aber dieser Plan versank dann mit anderenguten Ansätzen im »NewMedia«-Crash 2000/2001.

Nun hat man dies alles Gottlob hinter sichgelassen, und doch nahen sich die wankendenGestalten wieder. Und je näher sie kommen,desto deutlicher erkennt man sie wieder: die»eierlegende Wollmilchsau«. Einer soll alleskönnen, Totalkünstler fürs Gesamtkunstwerksein. Ich bin der festen Überzeugung, dass wirneben der Frage publizistischer Qualitäts-grundsätze in Zukunft die Scharlatane im Jour-nalismus auch daran identifizieren können:dass sie behaupten, alle könnten alles und daszur selben Zeit. Richtig aber ist, dass nebenunterschiedlich ausgeprägten angeborenen bzw.früh entwickelten Fähigkeiten der Erwerb vonFachlichkeit über die Berufsausbildung einehohe Bedeutung hat, zugleich aber einenwesentlich integrierenderen Rahmen brauchtWenn man also publizistische Grundsätze frühund nachhaltig auch in ein gutes handwerkli-ches Verständnis aller Mediengattungen ein-bringt, dann wird es ein gutes Verständnis fürgute Arbeit auf allen Plattformen und in allenGattungen geben. Insoweit können wir nur

Ginge es also nur um Qualitätssicherung,um bessere Kommunikation quer durch dieRessorts, also auch um den gemeinsamen Blickaufs ganze Produkt; und ginge es darum, Krea-tivität nach Neigung zur Wirkung kommen zulassen – dann würden all diese guten Potenzialewahrgenommen und ausgeschöpft, und eskönnte sich vieles Interessante aus solchenAnsätzen entwickeln lassen. Dass es aber sonicht immer – und vor allem immer weniger –ist, zeigen die praktischen Erfahrungen.

Auf der Kommandobrücke –»multimediale Redaktionsinhalte«

Nun komme ich zu einem noch anderenModell, das vom Ausgangspunkt her scheinbargenau entgegengesetzt zum Newsdesk angelegtist, aber zu ähnlichen und sogar weiter reichen-den Effekten führt. Streng genommen istdamit auch gar keine Alternative gesetzt, son-dern bloß ein weiterer Zusammenhang aufge-macht. Und der greift nun wirklich über in dieneue Multimedialandschaft. Gemeint ist derAnsatz, wie er in Berlin bei Axel Springer ent-wickelt wurde

Dabei ist eines von Bedeutung: Axel Sprin-ger hat bekanntlich den Weg genommen, zweiin ihrer Anlage und Ausrichtung gänzlichunterschiedliche Redaktionen – Welt und Berli-ner Morgenpost zusammenzulegen. Währendbei einem einzelnen Medienprodukt das News-desk-Modell zu einer Aufhebung der Ressort-grenzen führt, basiert das Berliner Modell vonAxel Springer genau umgekehrt auf der Aufhe-bung der Redaktionsgrenzen bei Beibehaltungder Ressorts.

Nun hat man, unter dem Titel »multime-diale Redaktionsinhalte«, einen weiterenSchritt gemacht, dem weitere folgen werden –nicht nur bei Axel Springer. Hier geht es mirjedoch zunächst nur um die Einordnung indas bislang Gesagte. Der bei Axel Springer sogenannte »Newsroom« – den es übrigens ähn-lich auch in Sendeanstalten gibt – ist eine ArtThemen- und Nachrichtenzentrale, in derThemen für verschiedene Medien, Druckbe-reich, Podcast3 usw. vergeben werden. Was istfür Print, was ist für Video, demnächst auchFernsehen, was ist für Online und damit alleszusammen interessant? Man erkennt hier eini-ge Züge der Newsdesk-Philosophie wieder,wobei auch deutlich wird, wie vielfältig dieGrundmodelle miteinander verkoppelt werdenkönnen.

Auch hier – wie bei allen Modellen solcherArt – ist vieles an gutem Neuem denkbar. Einmultimedialer Newsroom, sozusagen als Kom-mandobrücke klassischer und neuer Medien,kann zu einer höchst effektiven Zusammenfas-sung vielfältiger Aufbereitung werden. Darinenthalten sind aber wiederum zwei gefährlicheTendenzen: Die eine habe ich bereits als Aufbe-reitungs- und Verbreitungsvielfalt identischer

Die wissenschaftliche For-schung zu Niedrig- und Min-destlöhnen hat in jüngster Zeitdeutliche Fortschritte gemacht.Die Tarifexperten der Hans-Böckler-Stiftung, Reinhard Bis-pinck und Thorsten Schulten,haben Forschungsergebnissezu zentralen Fragen zusam-mengefasst und dabei einigeArgumente geliefert, die mangegen die Kritiker des gesetzli-chen Mindestlohnes gut ins Feldführen kann. Wir dokumentie-ren:

1. Wie groß ist das Niedriglohn-Problemwirklich? Bieten Niedriglöhne nichtauch Chancen?

Der Niedriglohnsektor ist in Deutsch-land seit Mitte der 1990er Jahre konti-nuierlich gewachsen. Je nach Defini-tion gibt es heute bis zu sieben Millio-nen Niedriglohnempfänger, darunterzwischen drei und vier Millionen Voll-zeitbeschäftigte. Deutschland hat da-mit in absoluten Zahlen den größtenNiedriglohnsektor in Europa. Auchder Anteil an allen Beschäftigten liegtmit 22 Prozent über dem europäischenDurchschnitt, das zeigt eine neueUntersuchung des Instituts Arbeit undQualifikation (IAQ) an der Universität

Duisburg-Essen. Allein zwischen 2004und 2006 stieg die Niedriglohnbe-schäftigung um zehn Prozent, ermit-telten die IAQ-Forscher auf Basis desSozioökonomischen Panels. Die Lohn-spreizung ist in Deutschland ebenfallslängst überdurchschnittlich und be-wegt sich auf dem Niveau von Groß-britannien. Die durchschnittlichenStundenlöhne von Niedriglöhnernsind während der letzten beiden Jahresogar absolut gesunken, so das IAQ –in Westdeutschland von 7,25 auf 6,89Euro und im Osten von 5,48 Euro auf4,86 Euro. Erwartungen, dass durcheine größere Lohnspreizung mehrBeschäftigung entsteht, haben sichnicht erfüllt.

Die Arbeitslosenquote bei Gering-qualifizierten ist in Deutschland deut-lich höher als in anderen europäischenLändern, die überwiegend Mindest-löhne haben. Auch Untersuchungenüber die USA liefern Indizien dafür,dass Niedriglöhne keine besseren Job-chancen für geringer Qualifizierteeröffnen. Aus den Daten könne man»den Schluss ziehen, dass es geringerqualifizierten Arbeitnehmern in denUSA keinesfalls gelingt, sich inBeschäftigung hineinzupreisen«, so derÖkonomieprofessor Ronald Schettkatvon der Universität Wuppertal.

2. Beeinträchtigen Mindestlöhne dieBeschäftigung?

Das Verhältnis von Mindestlöhnenund Beschäftigung wird innerhalb derWirtschaftswissenschaft kontroversdiskutiert. Neuere internationale Stu-dien kommen zu dem Ergebnis, dassvon Mindestlöhnen keine oder sogarleicht positive Beschäftigungseffekteausgehen.

So ist etwa in Großbritannien dieArbeitslosigkeit seit der Einführungdes Mindestlohns im Jahre 1999 deut-lich zurückgegangen. Nach einer aktu-ellen Untersuchung der London Schoolof Economics haben die britischenUnternehmen in dreifacher Weise aufdie Einführung des Mindestlohns rea-giert: Zum einen kam es in vielenBranchen zu einer spürbaren Erhö-hung der Produktivität, womit bereitsein Teil der zusätzlichen Kosten kom-pensiert werden konnte. Darüber hin-aus kam es in einigen Sektoren zumoderaten Preisanstiegen. Schließlichgingen in einigen Bereichen auch dieGewinne zurück, ohne dass dies je-doch zu Beschäftigungsverlusten ge-führt hat. Durch die Förderung derprivaten Konsumnachfrage hat derMindestlohn im Gegenteil die Be-schäftigungsentwicklung positiv be-einflusst.

Ein vermeintlicher Zusammenhangzwischen Mindestlohn und hoherJugendarbeitslosigkeit, über den amBeispiel Frankreichs diskutiert wird,

... sich in Beschäftigung hineinpreisen...ist eine spezifisch deutsche und nicht haltbare Illusion

Im express 12/2007 hatten wir unterdem Titel »Vollendeter Ohnismus«sowohl Auszüge aus der Broschüredes Hans-Jürgen-Krahl-Instituts »Füreinen praktischen Sozialismus – Ant-wort auf die Krise der Gewerkschaf-ten«1 dokumentiert, als auch einen kri-tischen Einwand von Werner Sauer-born unter dem Titel »Absolut amEnde?« publiziert.

Der Einladung zur weiteren Diskussionfolgt nun eine Replik des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts zu diesem Beitrag.

Gerade vor dem Hintergrund der aus-ufernden Feierlichkeiten um die 40Jahre und weniger zurückliegenden»spätkapitalistischen« Verhältnisse giltes unseres Erachtens, sich die damali-gen Erfahrungen einer sich undogma-tisch verstehenden Arbeiterbewegungzu vergegenwärtigen. Das heißt aberauch: die damit verbundenen Hori-zonterweiterungen nicht vorschnellmit »der Organisationsfrage« wiederzu revidieren.

Der Aufruf zur Teilhabe an dieserDebatte sei hiermit wiederholt.

»Die Frage des Sozialismus müssen wir unswarm halten, und wenn es so weit ist, auf siezurückkommen. Unmittelbar stellt sie sich aufvermutlich einige Zeit hin nicht.«

(Werner Sauerborn)

»Wir wissen sehr genau, dass es viele Genossinnenund Genossen gibt, die nicht mehr bereit sind,abstrakten Sozialismus, der nichts mit der eige-nen Lebenstätigkeit zu tun hat, als politischeHaltung zu akzeptieren.«

(Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahlim ›Organisationsreferat‹)

Die Rosa-Luxemburg-Konferenz dieses Jahresstellte sich die Frage nach der »Klasse für sich«:»Wenn die Linke etwas erreichen will, brauchtsie ihre eigene Politik, ihre eigene Kultur undihre Medien« (Junge Welt, 14. Januar 2008,S. 3) Aber wie steht es mit der politischen Kul-tur innerhalb der Linken? Sind ihre Medien diePlattformen fraktionsübergreifender Diskussio-nen, die sie sein sollten? Unsere Erfahrungdagegen ist die Normalität falscher Alternati-ven: Bei wesentlichen Differenzen geht mansich entweder höflich aus dem Weg, oder manpolemisiert gegeneinander. Umso aufrichtigerunser Dank an Werner Sauerborn für seinesolidarische Kritik und an die GenossInnenvom express, die uns die Gelegenheit geben,darauf zu antworten. Wir glauben, dass nur ausder Diskussion auch wesentlicher Unterschiedewirkliche innovative Neuerungen kommenkönnen, die für einen Ausweg aus der histori-schen Defensive, in der sich die Linke und dieArbeiterbewegung insgesamt befinden, unum-gänglich sind.

Wir machen Werner Sauerborn keinen Vorwurfaus seiner politischen Haltung des ›abstraktenSozialismus‹, die er von seiner eigenen Tätigkeitals Gewerkschafter trennen muss, solange eskeine Möglichkeit gibt, sich als Sozialist prak-tisch zu betätigen, namentlich am Aufbau desSozialismus. Dieser reale Bruch spiegelt sichwider in der Zustimmung des Sozialisten Sauer-born zu den abstrakten »theoretischen Prämis-sen«2 »aus dem Marxschen Werkzeugkasten«und der Ablehnung der praktischen »Konklu-sio« durch den Gewerkschafter Sauerborn.

Ist unsere Schlussfolgerung wirklich so irri-tierend und unvermittelt, wie Kollege Sauer-born sie empfindet? »Aus der Analyse derGründe der Gewerkschaftskrise«, der Spaltung

express 2-3/2008 13

der ›Klasse an sich‹ in industrielle Reservearmeeund Lohnarbeiterheer versuchten wir, »dietheoretische Grundlegung« für die »Ausweg-strategie«, nämlich eine einheitliche Organisa-tion von gemeinwirtschaftlich produzierendenLohnarbeitslosen und arbeitskämpfendenLohnabhängigen, den bewussten Aufbau einesselbstorganisierten Sozialismus der ›Klasse fürsich‹ zu entwickeln. Insofern ist für uns nichtdie »Konklusio«, sondern deren Ablehnung»unvermittelt«.

Aber wie zeigt sich dieser ›Bruch im Ver-ständnis‹ in den Äußerungen Sauerborns zuunserer Analyse, in der »theoretische Prämis-sen« und praktische »Konklusio« vermitteltwerden sollten?

Zum einen gibt es hier einen offenen Wider-spruch in Bezug auf unsere Feststellung, dassGewerkschaften strukturell keine revolutio-nären Organisationen des Proletariats sein kön-nen: »Richtig, Gewerkschaften sind keine revo-lutionären Organisationen. Sie sind es aberauch nicht zwangsläufig nicht.« Dem Gewerk-schafter Sauerborn geht es, wie er selbst sagt,»unmittelbar« um die »originäre Sache derGewerkschaften«, d.h. um die »Verteilungs-kämpfe innerhalb des Kapitalismus«. Die obigeZwangsläufigkeit muss von Sauerborn aufge-weicht werden, weil die Einsicht in den ausihrem Wesen abgeleiteten antirevolutionärenCharakter der Gewerkschaften andernfalls dieharte Tatsache offenbaren würde, dass von der»originären Sache« der Gewerkschaften keinWeg zum Sozialismus führt.

Nur wenige Absätze später schreibt Sauer-born zu den Gewerkschaften: »›revolutionäreOrganisationen des Proletariats‹ – können undsollen sie auch gar nicht sein.« (HervorhebungHJK-Institut) Aus dem ausweichenden »mussaber nicht« ist nach dem Zugeständnis derzuvor bestrittenen Unmöglichkeit ein »sollauch gar nicht« geworden.

»Zwar ist der Kapitalismus Geschäftsgrund-lage ihres [gemeint: die Gewerkschaften] pragma-tischen Drangs nach dem Klassenkompromiss,und richtig ist auch, dass dies einen affirmati-ven Effekt auf diese Geschäftsgrundlage hat.Das erlaubt aber nicht die Schlussfolgerung,dass Gewerkschaften zwangsläufig eine ›revolu-tionäre Umwälzung der Produktionsverhältnis-se als organisationsfeindlich, den Bestand derOrganisation gefährdend, ablehnen undbekämpfen‹ müssten.« Kollege Sauerborn ver-

Abstrakter oder ›Prakti-scher Sozialismus‹? Neuer Debattenbeitrag nicht nur zur Organisationsfrage

lässt sich dagegen nicht erhärten. Soging die Jugendarbeitslosigkeit inFrankreich beispielsweise zwischen1996 und 2007 von knapp 28 Prozentauf rund 20 Prozent zurück, währendder Mindestlohn im gleichen Zeit-raum vergleichsweise stark stieg. Dieselangfristig positive Tendenz wurdezwar um die Jahrtausendwende zeit-weise unterbrochen. Doch das fiel ein-deutig mit der konjunkturellen Schwä-chephase zusammen und mit dem zeit-weiligen Stopp von Arbeitsförde-rungsprogrammen für Jugendliche. Imeuropäischen Vergleich zeigt sich, dassauch Länder ohne Mindestlohn, zumBeispiel Italien, eine noch höhereJugendarbeitslosigkeit aufweisen alsFrankreich. Dagegen liegt die Jugend-arbeitslosigkeit in Irland oder den Nie-derlanden, zwei Ländern mit gesetzli-chen Mindestlöhnen, deutlich unterdem EU-Durchschnitt.

Gesetzliche Mindestlöhne gibt es in20 der 27 EU-Länder. Die meistenwesteuropäischen Länder setzen der-zeit eine Lohnuntergrenze von mehr

als acht Euro. In Luxemburg sind essogar gut neun Euro. In den vergange-nen 12 Monaten haben viele dieserLänder ihre Mindestlöhne spürbarerhöht. Die mittel- und osteuropä-ischen Länder haben absolut die nied-rigsten Untergrenzen. Allerdings holenviele dieser Länder langsam, aber kon-tinuierlich auf. So wurden die Min-destlöhne in Polen, Bulgarien undRumänien sowie in den baltischenStaaten im Jahresvergleich Anfang2007/2008 um 20 bis 33 Prozentangehoben.

3. Sind branchenbezogene Lösungen bes-ser als Lösungen für die gesamte Wirt-schaft?

Einheitlicher Mindestlohn und Bran-chenlösungen schließen sich nicht aus,sie bilden im Gegenteil eine sinnvolleErgänzung. In Branchen mit funktio-nierender Tarifvertragspraxis auf derBasis von Flächentarifverträgen kön-nen Mindestlohn-Tarifverträge nachdem Arbeitnehmerentsendegesetz

(AentG) akzeptable Mindeststandardsdefinieren. Damit kann – bei geeigne-ter Umsetzung und Kontrolle – einLohndumping durch nicht tarifgebun-dene Außenseiter innerhalb der Bran-che aus dem In- und Ausland unter-bunden werden. Unabhängig davonschreibt ein einheitlicher, branchen-übergreifender gesetzlicher Mindest-lohn eine Einkommensuntergrenzevor, unterhalb derer niemand zumArbeiten gezwungen sein soll. Diesstellt eine gesellschaftliche Vorgabedar, die für jede Tätigkeit in jederBranche gelten soll.

4. Gefährdet ein gesetzlicher Mindest-lohn die Tarifautonomie?

Nein. In etlichen Branchen funktio-niert die Tarifautonomie derzeit nicht– sei es, weil es keine Arbeitgeberver-bände gibt oder sei es, weil die Ge-werkschaften zu schwach sind, umangemessene Tarifvergütungen durch-zusetzen. Ein gesetzlicher Mindestlohnwürde also die Tarifautonomie stabili-

sieren und in vielen Tarifbereicheneine aktive Tarifpolitik überhaupt erstwieder ermöglichen. In den meisteneuropäischen Ländern sind zudemGewerkschaften und Arbeitgeberver-bände an der Ausgestaltung der Min-destlohnpolitik aktiv beteiligt, ein Bei-spiel dafür ist Großbritannien.

5. Was kann Deutschland von den positi-ven Erfahrungen mit dem Mindestlohnin Großbritannien lernen?

Die Einführung des gesetzlichen Min-destlohns im Jahr 1999 wird heute inGroßbritannien von allen Seiten alsein äußerst positiver Beitrag zur Regu-lierung des Arbeitsmarktes gewürdigt.Nicht unerheblich dazu beigetragenhat die so genannte »Niedriglohnkom-mission«, die die Regierung im Hin-blick auf die regelmäßige Anpassungdes Mindestlohns berät. In dieser Low-Pay-Commission (LPC) sitzen je dreiVertreter von Gewerkschaften, Arbeit-gebern und Wissenschaft. Ein ähnlichzusammengesetztes Gremium könnte

auch in Deutschland die Mindestlohn-politik gestalten. Darüber hinaus kamGroßbritannien die Tatsache zugute,dass der Mindestlohn in einer ökono-mischen Aufschwungphase eingeführtwurde. Demnach wäre der Zeitpunktfür eine Einführung eines Mindest-lohns in Deutschland gerade jetztbesonders günstig.

6. Woran kann sich die Höhe einesgesetzlichen Mindestlohnes orientieren?

Es gibt im Wesentlichen zwei Orientie-rungsmarken für einen gesetzlichenMindestlohn in Deutschland. Zumeinen muss sich der Mindestlohn in dasallgemeine Sozial- und Lohngefügeeinpassen. Als Orientierung könnte dieso genannte Pfändungsfreigrenze die-nen, d.h. derjenige Betrag des Lohns,der einem verschuldeten Arbeitnehmernicht gepfändet werden darf. Umge-rechnet würde dies etwa einem Min-destlohn von 8,19 Euro pro Stundeentsprechen. Geht man von der land-läufigen Definition von Armutslöhnen

Bereicherungen des journalistischen Berufsbil-des erwarten – sofern die Gefährdungen abge-wiesen werden.

Letzteres aber bedeutet Kampf, bedeutetmehr als nur Verteidigung von irgendetwas, dasin irgendwelchen Grundsatzpapieren steht. DerKampf um die Sicherung publizistischer Qua-lität verbindet sich unmittelbar mit demKampf gegen unternehmerische Selbstökono-misierung – in diesem Fall dann erstmals vonFreien und Festen. Dieser Kampf hat, das wis-sen wir in ver.di nur zu gut, keine Chancedurch Berufung auf irgendwelche Privilegien,mit denen Redaktionen und JournalistInnenvor Urzeiten von Verlegern ausgestattet wur-den. Dieser Kampf um gute Publizistik ist Teilvieler Anstrengungen um gute Arbeit: Und dasist unser ureigensten Terrain. Hier geht es umArbeitsbedingungen, Arbeitszeit und darin unddaneben Mußezeit. Hier geht es vor allem auchum Mitbestimmung. Denn nie war – ange-sichts der Potenziale wie der Gefährdungen vonQualitätspublizistik – die publizistische Mitbe-stimmung so wichtig wie heute. Morgen wirdsie noch wichtiger sein denn je.

* Martin Dieckmann arbeitet beim ver.di-Bundesvorstandim Fachbereich Medien, Kunst und Industrie.

Kontakt: [email protected]

Anmerkungen:1) Content-Industrie kommt vom englischen content =

Inhalt, Gehalt und wird seit etwa Mitte der 1990er Jah-re im deutschen Sprachraum insbesondere im Zusam-menhang mit den Neuen Medien verwendet.

2) Wikipedia erklärt Newsdesk so: Newsdesk ist eigentlichdie Bezeichnung für den Arbeitsplatz, an dem die aktu-ellen Meldungen eingehen. Davon abgeleitet ist es derName für eine neue Organisationsform in Redaktionenvon Zeitungen, bei denen »Blattmacher« aus verschiede-nen Ressorts an einem gemeinsamen Tisch sitzen und dieThemen bzw. Nachrichten festlegen und platzieren, alsodie Zeitung produzieren. Davon getrennt sind die Jour-nalisten, die die Beiträge schreiben.

3) Podcasting bezeichnet das Produzieren und Anbietenvon Mediendateien (Audio oder Video) über das Inter-net.

übergehend oder langfristig nicht gelingt«. Esmacht aber einen Unterschied, dazu festzustel-len, dass die Organisationsform des Arbeits-kräfteverkäuferkartells es nicht ermöglicht,Lohnarbeitslose als Lohnarbeitslose zu organi-sieren, gemeinsam mit den Lohnabhängigen.Letzteres wäre aber prinzipiell die Aufhebungder Konkurrenz unter den Arbeitern, auf dernach Marx »ausschließlich« »die Lohnarbeit«und damit auch das Kapital »beruhen«. Inso-fern halten wir auch tatsächlich »Lohnarbeits-losigkeit« für den »wesentlicher Grund der Kri-se und Schwäche der Gewerkschaften«, siezählt wohl aber nicht unmittelbar zu den»eigentlichen Gründen« für den Niedergangdes fordistischen Klassenkompromisses unddessen Folgen für die Gewerkschaften. DieGegenüberstellung von wesentlicher Schrankegewerkschaftlicher Organisierbarkeit und derenakuter Äußerung unter postfordistischenBedingungen funktioniert natürlich nur, wenndie »Frage des Sozialismus«, die Aufhebung derSpaltung der Klasse, eben apriori nicht zurDebatte steht.

»Für die Skepsis der AutorInnen, was dieFähigkeit der Gewerkschaften anlangt, sich zutransnationalen Branchengewerkschaften wei-terzuentwickeln, gibt es viele Gründe, jedochnicht den von ihnen angeführten, nämlich dasFehlen ›dieser Notwendigkeit entsprechender‹Institutionen auf transnationaler Ebene [...]Dies ist zwar empirisch derzeit weitgehendzutreffend, [...] aber Arbeitgeber schließen sichnur und dann zu Arbeitgeberverbänden zusam-men, wenn die VerkäuferInnen von Arbeits-kraft handlungsfähige Koalitionen bilden.«

Dass es diese »handlungsfähigen Koalitio-nen« auf transnationaler Ebene »derzeit« aberebenso wenig gibt wie die ansprechbaren »orga-nisierten Arbeitgeberstrukturen«, die sich inReaktion auf dieselben Arbeiterkoalitionen erstbilden sollen, wäre Kollege Sauerborn sicherder Letzte zu bestreiten, geht es ihm doch gera-de um den Aufbau »transnationaler Branchen-gewerkschaften« – wenn es sie schon gäbe,müsste man sie nicht erst aufbauen. Das Bei-spiel der ITF, das Hoffnung auf diese »schöneUtopie« machen soll, erweist sich aber nachkurzer Überlegung eher als eine die Regelbestätigende Ausnahme. Denn hier haben wirdie Besonderheit vor uns, dass die Branche derTransportarbeiter gerade die Struktur derTransnationalität zum Inhalt hat, welche dienational ausgerichtete gewerkschaftliche Orga-nisierung der anderen Branchen in eine tiefeKrise stürzt.

In welcher Perspektive erscheint unser Vor-schlag einer historischen Verlaufsform für dieVergesellschaftung der Produktionsmittel als»Abwegigkeit«? Sicher in einer Perspektive, inder die Vergesellschaftung der Produktionsmit-tel, ihre Aneignung durch die unmittelbarenProduzenten »derzeit« kein Thema ist. Aber istunser Vorschlag wirklich eine »Revitalisierungder gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft«, vorder Kollege Sauerborn so eindringlich warnt?

Wir hatten geschrieben: »Der Ausweitungder gemeinwirtschaftlichen Unternehmungenauch auf Produktionsgenossenschaften undBanken steht und stand prinzipiell nichts ent-gegen. Die in dieser Dynamik liegende Mög-lichkeit, die Lohnarbeitslosen in der gewerk-schaftlichen Gemeinwirtschaft zu organisierenund so die Aufhebung der Konkurrenz unterden Proletarisierten zu vollenden, hätte aller-dings, wie schon festgestellt wurde, eine neueorganisatorische Grundlegung der Gewerk-schaften zur Voraussetzung.« (PraktischerSozialismus, S. 29)

Nach dieser ›neuen organisatorischenGrundlegung‹, konkret der von uns vorgeschla-genen einheitlichen Organisation von gemein-wirtschaftlich produzierenden Lohnarbeitslo-sen und arbeitskämpfenden Lohnabhängigen,sind Gewerkschaft und gewerkschaftlicheGemeinwirtschaft nicht mehr, was sie waren,nur mehr Funktionen innerhalb einer neuenProzessgestalt, die den Sozialismus im Kapita-lismus aufbaut. Den möglichen Vorwurf desVoluntarismus lassen wir uns dabei, wie übri-gens auch Dutschke seinerzeit, gerne gefallen.Denn wir glauben so wie er nicht an die ›reifeZeit‹, die alle Wunden heilt. Welcher Wegkönnte von einer Praxis, die den Kapitalismuszur Grundlage hat, über den Kapitalismus hin-ausführen? Zu dem Weg einer reformistischenIllusion suchen wir in der Tat die »Abwegig-keit« und eine Praxis auf ›neuer Grundlegung‹.

Wir sind von der Ehrlichkeit des GenossenSauerborn überzeugt und wissen, dass es Kolle-gen wie er sind, die der Offensive des Kapitalsüberhaupt etwas entgegensetzen und sie inihrem Vormarsch bremsen. Und da unserSozialismus nicht abstrakt ist, sind uns dieseLinderungen und Zügelungen auch nicht egal,insofern sie eine reale Verbesserung der Lebens-situation der Proletarisierten bedeuten. Umso

gisst hier offensichtlich das gewerkschaftlichePendant zum Radikalenerlass, die so genannten»Unvereinbarkeitsbeschlüsse« von 1973, indenen Vereinigungen mit revolutionärer Ziel-setzung als »gegnerische Organisationen«bezeichnet werden, und die immer noch inKraft sind.

Häufiger zeigt sich jedoch der Bruch zwischenabstrakt sozialistischem und praktisch gewerk-schaftlichem Verständnis nicht im offenenWiderspruch, sondern anders.

Zunächst werden empirische Tatsachen kon-zediert, die als Bestätigung unserer Herleitun-gen gelten könnten, daraufhin unsere Erklä-rung eben jener Tatsachen mit Bestimmtheitbestritten, dies alles allerdings ohne Begrün-dung und ohne weiter auf unsere Argumenta-tion einzugehen, um dann schließlich denzugestandenen Tatsachen ein »eigentlich« ent-gegenzustellen, also das, was sie besser sein soll-ten, aber eben nicht sind, in der Art vonHegels »um so schlimmer für die Tatsachen«,der bekanntlich auch Unversöhnliches vermit-teln wollte. »Unbestreitbar gelingt es denGewerkschaften weniger denn je, Lohner-werbslose zu gewinnen – dies aber nicht, weilsie eigentlich nicht unser Subjekt sind, sondernobwohl sie es sind.« ›Unbestreitbar, aber nichteigentlich‹, das ist die Formel, in der sich dasVerständnis des Sozialisten mit dem desGewerkschafters vermittelt.

Wir sagen nicht, dass Gewerkschaften nichtauch jene Arbeitskräfteverkäufer organisierenkönnten, denen der Verkauf ihrer Ware »vo-r-

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schmerzlicher trifft uns, dass unsere Positionwie beiläufig in die Nähe einer zynischen »wis-senschaftlichen Warte« gerückt wird, von deraus die »Realität als brutaler, für viele existenz-gefährdender Prozess« nichts als »ein interes-santes Schauspiel« ist. Auch erwähnen wir die»absolute Grenze des Kapitalverhältnisses«nicht, um mit ihr eine Zusammenbruchstheo-rie zu begründen, wie das zumindest suggeriertwird. Diese Grenze hat eine andere Bedeutunginnerhalb unserer Theorie. Sie bringt zum Aus-druck, dass es keine Hermetik des Kapitalver-hältnisses geben kann. Das Kapital ist die realeund »verselbständigte Abstraktion« (Marx) vonsozialen Verhältnissen, die ihm nach derenForminhalt grundsätzlich widersprechen. DasKapital ist von diesen Verhältnissen abhängig.Sie sind der Grund, von dem abstrahiert wirdund bleiben es auch für die eben nur scheinbarverselbständigten Abstraktionen. Diese sozialenVerhältnisse sind die Quellen des gesellschaftli-chen Lebens, aber sie regieren es noch nicht.Ihr Forminhalt ist noch nicht ungebrochen derdes gesellschaftlich Allgemeinen. Diese Ein-sicht ist wichtig, um den Realismus eines Vor-schlags wie den unseres Praktischen Sozialis-mus’ beurteilen zu können, zumindest wennman Realismus nicht positivistisch missverste-hen will.

Auf einer weniger kategorialen Ebene gibt esetwa schon einen »durch den Staat vermittel-ten, ›Sozialismus in einer Klasse‹ (Scharpf )«,der »im Zentrum aus der Alimentierung derArbeitslosen durch die Arbeitslosenversiche-rungsbeiträge der abhängig Beschäftigten«besteht. Innerhalb der Strategie des praktischenSozialismus könnte »sich die Arbeiterbewegungvon Kapital und Staat selbstständig« machen»und den ›Sozialismus in einer Klasse‹ durchden Ausbau der Gemeinwirtschaft« selbst orga-nisieren. Damit »verlöre die Drohung mit dem

aus, die bei 50 Prozent des nationalenDurchschnittslohns angesetzt wird, somüsste der gesetzliche Mindestlohn inDeutschland sogar bei zehn Euro lie-gen. Als zweite Orientierungsmarkekönnten die gesetzlichen Mindestlöh-ne in den mit Deutschland vergleich-baren westeuropäischen Nachbarstaa-ten wie Frankreich, Großbritannien,Irland oder den Benelux-Staaten die-nen – derzeit zwischen knapp acht undgut neun Euro.

Rainer Jung (Leiter Pressestelle derHans-Böckler-Stiftung), Email: [email protected]

(Weitere Links zu detaillierten wissen-schaftlichen Befunde zum Nied-riglohnsektor findet man auf derHomepage der Hans Böckler Stiftungund besonders auf der von BöcklerImpuls)

In der Mindestlohndiskussionist alles wieder offen, seit An-fang März das Berliner Verwal-tungsgericht den allgemeinver-bindlichen Mindestlohn für Brief-zustellerInnen in Höhe von 9,80Euro (West) gekippt hat. DerHintergrund: Neben dem ta-riflichen Mindestlohn, auf denver.di und der von der Deut-schen Post dominierte Arbeitge-berverband Postdienste sich alsBasis für die Allgemeinverbind-lichkeit geeinigt hatten, gibt esnoch einen zweiten tariflichenMindestlohn von 6,50 Euro, dendie eigens zu diesem Zweckgegründete gelbe »Gewerk-schaft Neue Brief- und Zustell-

dienste« mit PIN AG, TNT undanderen Zustellunternehmenvereinbart haben. Dieses Pro-blem droht auch in allen ande-ren Branchen, in denen esGewerkschaften nicht mehr ge-lingt, die »Arbeitgeber« an denVerhandlungstisch zu zwingen.Wir dokumentieren eine Erklä-rung der NGG, die die Misereveranschaulicht:

»In der gegenwärtig aufgeheizten Min-destlohn-Debatte werden Ursache undWirkung verwechselt«, erklärte Franz-Josef Möllenberg, Vorsitzender derGewerkschaft Nahrung-Genuss-Gast-

stätten (NGG). »Deutschland braucht– auch mit Blick auf die ab Mai 2009mögliche volle Freizügigkeit für Ar-beitnehmer aus Mittel- und Osteuropa– eine untere Lohngrenze. Deutsch-land hat heute schon einen höherenNiedriglohnanteil als Frankreich,Dänemark oder Holland. In keinemanderen Land ist darüber hinaus dieNiedriglohnbeschäftigung so starkgestiegen. Zusätzliche Verwerfungenauf dem hiesigen Arbeitsmarkt inBranchen oder Unternehmen ohneTarifbindung sind vorprogrammiert.Europaweit ist Deutschland das einzi-ge Land, das nicht in irgendeiner Formdem Lohndumping Grenzen setzt. Vorallem die europäischen Nachbarn mitgesetzlichen Mindestlöhnen habendurchweg positive Erfahrungen ge-macht.«

Es sei anzuerkennen, dass die Bun-desregierung dies begriffen und mitder Erklärung der Allgemeinverbind-lichkeit für den Post-Mindestlohn einZeichen gesetzt habe. Darüber hinauskönne ein gesetzlicher Mindestlohn

das Tarifvertragssystem und die Tarif-autonomie stärken, die durch denRückzug einiger Arbeitgeberverbändeaus ihrer tarifpolitischen Verantwor-tung immer weiter ausgehöhlt werde.

»Wenn es nicht gelingt, Tarifstan-dards zu setzen, die ein Existenzsicherndes Einkommen ermöglichen,oder Arbeitgeber – wie einzelne Lan-desverbände des Deutschen Hotel-und Gaststättenverbandes oder desBäckerhandwerks – sich weigern, Ta-rifverträge abzuschließen, dann ist derGesetzgeber gefordert und muss einengesetzlichen Mindestlohn, der nichtunter 7,50 Euro liegen darf, einführen.»So lange es in Deutschland keinegesetzlich fixierte untere Lohngrenzein Form eines gesetzlichen Mindest-lohns gibt, sollte die volle Freizügigkeitfür Arbeitnehmer aus Mittel- und Ost-europa bis 2011 beschränkt werden«,forderte der NGG-Vorsitzende.

Presseerklärung der Gewerkschaft Nahrung,Genuss, Gaststätten, Hamburg, 13. März 2008.

Fass ohne BodenMindestlohnstreit eskaliert, NGG fordertrestriktiven Arbeitnehmerzuzug

tionären Sankt Nimmerleinstag ersetzt werden.Wir wollen aber den Reformismus radikalisie-ren, weil er nur, wenn er das Kapitalverhältnisgrundsätzlich in Frage stellt, auch und geradeals Reformismus eine Perspektive hat, wie einNachdenken über den gegenwärtigen Abbaudes real existierenden ›Sozialismus in einerKlasse‹ und dessen Gründe bestätigen könnte.

Die Verlaufsform des praktischen Sozialis-mus böte die Möglichkeit einer friedlichenRevolution. Die gesellschaftliche Verantwor-tung lastet letztendlich ohnehin auf den Schul-tern der »unmittelbaren Produzenten« (Marx),ob sie es nun wahr haben wollen oder nicht.Die Verlaufsform der sozialistischen Revolutionmuss die für die Annahme der gesellschaftli-chen Verantwortung in kollektiver Selbstbe-stimmung notwendige soziale Selbstverände-rung und auch sachliche Qualifikation derunmittelbaren Produzenten mit der Vergesell-schaftung der Produktionsmittel, der objekti-ven Bedingung für eine bewusste Produktionneuer gesellschaftlicher Verkehrsformen, dia-lektisch vermitteln können, d.h. sie in ein Ver-hältnis positiver Rückkopplung stellen. (vgl.»Praktischer Sozialismus«, S. 28-31) Soweit wirwissen, erfüllen die bisherigen sowohl prakti-schen als auch theoretischen Verlaufsformender sozialistischen Revolution diese Anforde-rung nicht. Das Kainsmal der Gewalt ist not-wendiger Ausdruck der von der bürgerlichenGesellschaft ererbten verkehrten und zerstörtenDialektik von Selbst- und Umstandsänderung,von subjektiven und objektiven Produktions-bedingungen. Hingegen scheinen uns diesewirklich entscheidenden Einsprüche des Refor-mismus gegen eine umfassende und radikalegesellschaftliche Transformation – der Realis-mus, das Einzelschicksal und die Sehnsuchtnach Frieden – im »Praktischen Sozialismus«berücksichtigt.

Er ist aber zuerst und vor allem die Mög-lichkeit für den Sozialisten, sich seiner eigentli-chen Aufgabe zu stellen, den Sozialismus auf-zubauen und so sich auch selbst loszumachenvon der ihm objektiv aufgenötigten Schizo-phrenie, sei er nun Gewerkschafter oder sonstein Lohnabhängiger, der die Verdinglichungdes Menschen zur Waren verachten gelernt hat.»Der Sozialismus ist zuerst die Tat der Sozialis-ten; die Tat, die umso schwerer sein wird, jekleiner die Zahl derer ist, die ihn wagen undversuchen wollen. Wer anders soll tun, was erals recht erkannt hat, als der Erkennende?«,heißt es in der hervorragenden Schrift GustavLandauers, die den Titel trägt: »Stelle dich,Sozialist!«3

Anmerkungen:1) »Praktischer Sozialismus. Antwort auf die Krise der

Gewerkschaften« (hier abgekürzt: Praktischer Sozialis-mus) (ISBN 978-3-89144-398-9), die auch für 5 Euro(inkl. Porto) unter [email protected] bestellt werden kann.

2) Alle folgenden Zitate stammen, wenn nicht anders ange-geben, aus Werner Sauerborns Artikel.

3) Gustav Landauer: »Stelle dich, Sozialist«, in: »Auch dieVergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus«,Frankfurt a.M. 1989.

Die »konziliante« Wende der in der zeitgenössi-schen Öffentlichkeit gerne als »IG Krawall«bezeichneten Metallgewerkschaft hat das Bildeiner »hohen Integrationsfähigkeit« bundes-deutscher Tarifbeziehungen bis heute geprägt.2

Hinter diesem Bild bleiben die »anderen«Arbeitskämpfe nach dem Mai 1964 weitge-hend unsichtbar, zumal sie überwiegend vonrandständigen Gruppen des Arbeitsmarktesgetragen wurden: So kam es im Juni 1964 zueinem Frauenstreik in der Kleider- und Wä-schefabrik Nora in Witzenhausen bei Göttin-gen, in dessen Rahmen erfolgreich um einenTarifvertrag gekämpft wurde. Nach dem Streikwurde der Urlaub auf vier Wochen verlängert.Die Löhne stiegen sogar um nicht weniger als60 Prozent, die geschlechtsspezifische Lohndis-

Im letzten express hatten wir Auszügeaus Peter Birkes Buch »Wilde Streiksim Wirtschaftswunder«1 dokumen-tiert. Angesichts der zahlreichen Publi-kationen zu »1968« stand für unszunächst die explizit politische Ausein-andersetzung zwischen Gewerk-schafts- und Arbeiterbewegung undden sog. »neuen« sozialen Bewegun-gen um die Notstandsgesetze im Vor-dergrund. Dabei ging es um die Frage,in welcher Form sich die Gewerkschaf-ten an den Protesten gegen den »Not-stand der Demokratie« beteiligen soll-ten. Statt eines »Generalstreiks für dieVerfassung« konnten sich, wie Birkebeschrieben hatte, sowohl der DGB-Vorstand, als auch zahlreiche Einzel-vorstände und ein Bündnis zwischenOtto Brenner (IGM) und Mitgliederndes Frankfurter Instituts für Sozialfor-schung nur zu der Ankündigung vonProteststreiks als letztem Mittel fürden Fall einer Anwendung der Not-standsgesetze durchringen.

Das Scheitern der vorsichtigenAnnäherungsversuche zwischen APOund ArbeiterInnenbewegungbeschreibt Birke als »doppelte Ent-fremdung«: zwischen Gewerkschafts-vorständen und StudentInnenbewe-

gung einerseits und zwischen der Ein-bindung der Gewerkschaften in diePolitik der »Konzertierten Aktion« undden Bedürfnissen vieler Beschäftigterin den Betrieben andererseits. Letztereerwiesen sich auf dem Höhepunkt der68er-Proteste gegen die Notstandsge-setze als längst nicht so eingebunden,wie dies die These von der »Integrati-on der Arbeiterklasse« nahe legt. Dashat Gründe in der Vorgeschichte von’68. Wir dokumentieren im FolgendenAuszüge aus dem Kapitel »Betriebsna-he Tarifpolitik und wilde Streiks in derBundesrepublik«, die insbesonderevor dem Hintergrund der unterschwel-ligen, weniger explizit politischen Aus-einandersetzungen um Lohnpolitik inder Krise, Konzertierte Aktion und die»zweite Lohnrunde« auch heute nochund wieder interessant sind. DasUnterkapitel beginnt mit der Beschrei-bung einer Zunahme von wildenStreiks als Antwort auf das Versagender »zentralisierten Tarifpolitik« (sieheTabelle auf S. 16 oben), die selbst dieEmpfehlungen des Sachverständigen-rats noch unterschritt und sich vonVolkswirtschaftler Meinhold vorrech-nen lassen musste, was eine stabi-litäts- und wachstumskonforme und -fördernde Lohnpolitik sei:

Dringliches

Kollaps, Krisen, Kapitalismus

Wochenendseminar der Industrial Wor-kers of the World (IWW)

Die gegenwärtige Krise der Finanz-märkte, der drohende Kollaps desDollar und die Ratlosigkeit kapitalisti-scher Wirtschaftswissenschaftler. Diegeplatzte Hypotheken-Blase in denUSA, taumelnde Banken, Flucht ausdem Dollar: Droht der ökonomischeZusammenbruch der führenden Welt-macht? Was bedeutet das für die globa-le Wirtschaft? Was geht da eigentlichvor? Die erste große Finanzkrise von1857 brachte Friedrich Engels dazu,wieder mit den Reitübungen anzufan-gen, um sich für kommenden Gefechtezu rüsten. Für Marx war sie der Aus-gangspunkt, die Funktion des Geldesund die Warenproduktion im Kapita-lismus zu erforschen. Das Seminar wird

ausgehen von empirischen Untersu-chungen (Zahlen, Fakten, Bilanzen,wie sie von bürgerlichen Medien undvon Wirtschaftsinstituten herausgege-ben werden), um die gegenwärtige Kri-se des Finanzsystems zu beleuchten. Eswird einen kurzen Abriss der Zusam-menbruchstheorien in der linksradika-len Debatte der letzten 100 Jahregeben.Davon ausgehend sollen erste theoreti-sche Grundlagen zu folgenden Fragenerarbeitet werden: Was ist Geld? Was istWeltgeld? Was ist Kapitalismus? War-um gerät er anscheinend zwangsläufigin Krisen? Einen Monat vor Seminarbeginn wirdeine Textsammlung ausgegeben. Wäh-rend des Wochenendseminars werdenkurze Texte verteilt und mit kompeten-ter Beratung gelesen und diskutiert.Das theoretische Niveau ist ausgerich-tet auf interessierte ArbeiterInnen,GewerkschafterInnen und Basisaktivis-tInnen.Der Referent kommt aus Köln, warlangjähriges Mitglied der Zeitschrift

»Wildcat«, gehört zu den Übersetzernvon Beverly Silvers »Forces of Labor –Arbeiterbewegungen und Globalisie-rung seit 1870« und beschäftigt sichseit Anfang der 80er Jahre aus undog-matisch-marxistischer Perspektive mitdem kapitalistischen Weltwirtschafts-system.

Zeit: 17. und 18. Mai 2008Ort: Naturfreundehaus Köln-Kalk,Kapellenstraße 9a, 51103 KölnKosten: 55,- EuroAnmeldung: Heiner Stuhlfauth / IWWKöln, [email protected]: IWW, Postfach 19 02 03,60089 Frankfurt/M., [email protected]

Veranstaltungen im Rahmen des von der»Initiative Aktion Mensch« (dieGesell-schafter.de) und der AFP geförderten Pro-jektes:

Rechte haben, kennenund durchsetzen! GuteArbeit finden!

Mehr schlecht als recht leben in Berli-ner Bezirken wie Friedrichshain-Kreuz-berg und Neukölln viele junge Erwach-sene unter 30 Jahren ohne Ausbil-dungsstelle und/oder -abschluss vonHartz IV. Oft kennen sie ihre Rechtegegenüber den Jobcentern oder denArbeitgebern nicht. Sie sind sozialisati-onsbedingt ungenügend auf diese Her-ausforderungen vorbereitet. Sie fallenin eine biographische »Beratungslücke«und können daher ihre Ansprüchenicht geltend machen.Mit ihnen gemeinsam sollen die Inhaltedes Sozialgesetzbuches II, einige Rege-lungen der Sozialgesetzbücher I und Xund des Sozialgerichtsgesetzes erarbei-tet werden. Außerdem sollen sie ken-nen lernen, welche Rechte sie analogzum Arbeitsrecht in Arbeitsfördermaß-nahmen haben, wie individuelle undkollektive Interessenvertretung ausse-hen kann.

A. 19. April 2008Hartz IV – Almosen oder Rechtsanspruch?Wann kann ich Arbeitslosengeld IIerhalten? Welche Leistungen gibt es?Gehöre ich zu der Eltern-Bedarfsge-meinschaft? Muss ich mich in dieEltern-Bedarfsgemeinschaft fügen?Wann bin ich erwerbsfähig? Wann gelteich als hilfebedürftig? Wer bekommtdas Kindergeld? Wie komme ich an denUnterhalt der Eltern heran? WelcheEinkommen werden wie angerechnet?Was heißt Schonvermögen?

B. 3. Mai 2008Zwischen Traumjob und Jobzuweisung?Welche Arbeit ist zumutbar? Was mussich beim Sofortangebot tun? Wiesomuss ich mitwirken? Muss das Jobcen-ter meine Berufswünsche berücksichti-gen? Habe ich ein Recht auf eineBerufsberatung? Kann ich auf eine Aus-bildung pochen? Wozu brauche icheine Eingliederungsvereinbarung? Sindmeine Berufsausbildungschancen nach

express 2-3/2008 15Arbeitsplatzverlust tendenziell an Wirkung undkönnte der Arbeitskampf direkt mit dem Zielgeführt werden, das bestreikte Unternehmenzu sozialisieren, seine Eingliederung in dieGemeinwirtschaft vorzubereiten. Aber auchindirekt durch die Distributionen der Lohnab-hängigen stärkte jeder erfolgreiche Arbeits-kampf die gewerkschaftliche Gemeinwirt-schaft.« (Alle Zitate des Absatzes aus: »Prakti-scher Sozialismus«)

Oder mit der bewundernswerten Prägnanzder Worte des Genossen Sauerborn: »DieUmwidmung gewerkschaftlicher Rücklagen inden Aufbau einer neuen alternativen gemein-wirtschaftlichen Ökonomie bewirke eineSystemkonkurrenz innerhalb des Kapitalismus,diene als Existenzmöglichkeit für Erwerbslose,reduziere die Erpressbarkeit bei kapitalisti-schem Wettbewerbsdruck (Vergemeinwirt-schaftlichung statt Standorterpressung) undermögliche in Form eines gemeinwirtschaftli-chen Mediensektors die Entfaltung politischerGegenöffentlichkeit«, all das wäre »... eineschöne Utopie«.

Dass der nachfolgende Hinweis auf das»katastrophale Scheitern der gewerkschaftli-chen Gemeinwirtschaft« nicht verfängt, umeinen Einwand gegen diese konkrete Utopiegeltend zu machen, dürfte aus dem bereitsGesagten klar sein. Aber es soll hier der Ein-deutigkeit halber noch einmal zu der Frage, obwir nicht vielleicht irgendwie doch eine Revita-lisierung der gescheiterten gewerkschaftlichenGemeinwirtschaft anstreben, aus unserer Bro-schüre »Praktischer Sozialismus« zitiert werden– diesmal aus dessen Vorwort, das unter ande-rem auch geschrieben wurde, um diesem Miss-verständnis vorzubeugen: »... dabei kann viel-leicht gerade bei dem zentralen Begriff derGemeinwirtschaft der Eindruck entstehen, eshandele sich bei dem Wortgebrauch um Äqui-vokationen, hat doch die Gemeinwirtschaft imgewerkschaftlichen Kontext eine bestimmteBedeutung, die durch unseren allgemeinenGebrauch des Wortes als einfacher Gegensatzzur bornierten Produktionsweise unterlaufenzu werden scheint. Es gibt aber dies Verhältnisvon allgemeiner zu bestimmter Bedeutungeinen Sachverhalt wieder. Die gegenwärtigeGemeinwirtschaft würde im organisatorischenRahmen der dargestellten Verlaufsform histori-scher Produktion in der Tat zu einem einfachenAntagonismus zur kapitalistischen Produk-tionsweise werden.« Nein, wir wollen keine»Revitalisierung der gewerkschaftlichenGemeinwirtschaft«. Die Frage aber, bleibt wel-cher Widerspruch dieses Missverständnis desGenossen Sauerborn motiviert.

Es liegt uns fern, den Reformismus zu denun-zieren, wir erkennen seine Bedeutung für diewirkliche Lebenssituation der konkreten Ein-zelnen an, um die es jedem echten Sozialismusgehen muss. Diese, seine reale Bedeutung kanndurch keine revolutionäre Phrase geschmälertund durch kein Vertrösten auf den revolu-

Zwei Welten»Wilde Streiks im Wirtschaftswunder« – eineDokumentation aus aktuellem Anlass

kriminierung wurde zumindest relativiert.3

Ebenfalls im Sommer 1964 kam es zu einemmigrantischen Streik in einem Chemiewerk inBad Homburg bei Frankfurt, in dem wie inder Ford-Aktion die Senkung der Bandge-schwindigkeit gefordert wurde.4 Im Frühjahr1965 fanden dann etliche lokale Streiks derBekleidungsarbeiter Bayerns und Westfalensstatt, da die Unternehmer, weniger konziliantals in der Metallindustrie, die gewerkschaftli-chen Lohnforderungen rundweg abgelehnthatten.5 Aber all diese Streiks wurden in derbundesdeutschen Öffentlichkeit kaum wahrge-nommen.

Erst als die Rezession einzusetzen begann,wurde auch die migrantische Beschäftigungwieder zu einem öffentlichen Streitgegenstand.

Konzertierte Aktion,Weißbücher und eine Streikwelle

Die Gewerkschaften legten sich in dieser Situa-tion darauf fest, die ökonomische Politik dereben angetretenen Großen Koalition zu unter-stützen. Nicht nur in »sozialpartnerschaftlich«orientierten Gewerkschaften wie der IG Bau,Steine, Erden oder der IG Bergbau und Ener-gie wurde das »neue wirtschaftspolitischeInstrumentarium« begrüßt.11 Mit der »Konzer-tierten Aktion«, die im Februar 1967 erstmalstagte, verband sich auch in den linksorientier-ten Einzelgewerkschaften die Hoffnung, denAusschluss von der Einflussnahme auf Parla-ment und Regierung endlich überwinden zukönnen.12 Die ökonomischen Rahmendaten,die vom Sachverständigenrat ausgegeben wur-den, wurden von den Gewerkschaften nichtselten zustimmend zitiert, zumal die »Wirt-schaftsweisen« sich von der mangelnden Einbe-ziehung der Gewerkschaften unter der Regie-rung Erhard kräftig distanziert hatten.13 ImGegenzug war es im DGB weitgehend Kon-sens, der neuen Regierung eine Chance zugeben, indem man an der Überwindung derRezession durch »maßvolle Lohnabschlüsse«mitwirkte. Auch wenn es etwa zwischen derenthusiastischen IG Bau und der skeptischenIG Metall in der öffentlichen Beurteilung derChancen der Konzertierten Aktion Unterschie-de gab; in der Tarifpolitik ging es »rechten« wie»linken« Einzelgewerkschaften 1966/67 umwenig mehr als um eine »Bestandssicherung«.So verschob die IG Bau die im Tarifvertrag fürdas Bauhauptgewerbe vorgesehenen Lohner-höhungen auf dem Höhepunkt der Krise imFrühjahr 1967 um zwei Monate. Für die Zeitdanach akzeptierte sie einen Abschluss, derdeutlich unter den Empfehlungen des Sachver-ständigenrates blieb.14 Aber auch die IGMnahm in der Metallverarbeitung eine neunmo-natige Nullrunde hin, die vom Oktober 1967bis zum März 1968 galt.15 Zwar kritisierten dieGewerkschaften einzelne Maßnahmen derRegierungspolitik, so die Mehrwertsteuerer-höhung, die Kürzungen bei den Renten, dieeinseitige Investitionsförderung. StrategischesZiel blieb langfristig gleichwohl eine (sozial-)politische Kompensation der lohnpolitischenZurückhaltung nach »skandinavischem Vor-bild«.16

Vor dem Hintergrund der Einbindung derIG Metall in die »Konzertation« scheint es aufden ersten Blick durchaus ein Widerspruch zusein, dass diese Gewerkschaft gleichzeitig eine»aktivistische« Kampagne betrieb, die letztlichdas Ziel hatte, das Auseinanderklaffen zwischenTarif- und Effektivlöhnen einzudämmen. Umdieses Ziel zu erreichen griff die Gewerkschaft,wie man es ja bereits in der »betriebsnahen Ta-rifpolitik« der frühen 1960er Jahre entwickelthatte, die Konflikte vor Ort einschließlich derim Laufe des Jahres 1967 massiv zunehmendenwilden Streiks auf. Im Sommer 1967 startetedie IGM vor diesem Hintergrund erstmals eine

Ein Teil des statistischen Effektes war allerdingsdurch die Taktik der Sichtbarmachung produ-ziert worden, wie sie sich in den beiden»Weißbüchern« darstellte. Dass für die IGMetall die Vermittlung zwischen Tarifpolitikund lokaler Arbeitspolitik ein besonderes Pro-blem darstellte, hatte, wie erwähnt, auch damitzu tun, dass die Unterschiede zwischen Tarif-und Effektivlöhnen im Organisationsbereichdieser Gewerkschaft besonders krass waren: Inder Automobilindustrie lagen die EffektivlöhneMitte der 1960er Jahre im Schnitt um 68 Pro-zent, im Maschinenbau um 57 Prozent und inder elektro-technischen Industrie immerhinnoch um 47 Prozent über den zwischen denTarifparteien vereinbarten Margen. Dagegenlagen die Löhne etwa der Bauarbeiter durch-schnittlich nur 6,8 Prozent über dem Tarif.22

Auch aus diesem Grunde begann die IG Me-tall als erste und einzige bundesdeutsche Ge-werkschaft 1967 mit einer systematischenErfassung »irregulärer« betrieblicher Konflikte.Die Ergebnisse der Befragung machten einer-seits das Ausmaß der Konflikte, andererseitsden Grad der Entfremdung der IG Metall vonden betrieblichen Aktionen deutlich. Letzterezeigte sich etwa daran, dass die Motive der300 000 »Metaller«, die 1966/67 in überwie-gend sehr kurze Streiks mit einer Dauer vonzwischen 15 Minuten und 32 Stunden getretenwaren, der Gewerkschaft im Rahmen ihrer Er-hebungen überwiegend unklar blieben.23 DiePolitik der »Weißbücher« muss auch als Reak-tion auf diese Beobachtung gewertet werden.

Die IG Metall legitimierte ihre Kampagneunter anderem damit, dass es sich bei denStreiks um »Abwehrkämpfe« handelte, die sichgegen die »Willkür« der Unternehmer richte-ten. Wirft man einen genaueren Blick auf dieStreikwelle von 1966/67, dann zeigt sich aller-dings, dass gerade die Kämpfe, die die meisteöffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen unddamit bis zu einem gewissen Grade als beispiel-haft und verallgemeinernd wirkten, in Betrie-ben stattfanden, die von der Rezession wenigerals andere betroffen waren. Dies galt bereits fürden ersten bundesweit beachteten Konflikt, derdie Zunahme der wilden Streiks im Metallsek-tor einläutete24: Im November 1966 hatte dieGeschäftsleitung der Offenbacher Druckma-schinenfabrik Faber & Schleicher in einem

systematische, flächendeckende Aktion gegendie betriebliche Lohnpolitik einzelner Unter-nehmer. Dass es dabei nicht darum ging,Gesamtmetall als Ganzes vom Verhand-lungstisch zu verjagen, zeigt sich daran, dassdie IGM an »vernünftige« und »faire« Unter-nehmer appellierte, während sie die »Willkür«einzelner schwarzer Schafe anprangerte. Den-noch hatte die Kampagne bemerkenswerteEffekte, zu der auch eine gewisse Mobilisierungder gewerkschaftlichen Basis gehörte. Im ersten»Weißbuch zur Unternehmermoral« der Ge-werkschaft wurden Übergriffe auf Betriebsräte,willkürliche Entlassungen, körperliche Miss-handlungen, Angriffe auf Kranke, Kürzungender Akkordvorgaben und -preise, die Einstu-fung in niedrigere Lohngruppen, Kürzungenbeim Weihnachtsgeld und so weiter dokumen-tiert.17 Die Strategie, solche in den Betriebensicherlich schon lange bekannten Phänomenean die Öffentlichkeit zu bringen, wurde häufigbegrüßt und angenommen, auch wenn dieBeschäftigten etwas einseitig als »Opfer«erschienen. Nur vier Monate nach dem erstenerschien das zweite »Weißbuch«, in dem sichzeigte, dass die Kampagne durchaus Anklanggefunden hatte: Viele Hinweise auf »Verstöße«kamen offenbar nunmehr direkt aus denBetrieben.18

Zumindest die »aktivistisch« orientierten Funk-tionäre der Gewerkschaft, zum Teil aber auchdie Belegschaften selbst, sahen die Kampagneoffenbar als Möglichkeit, die eigenen Forde-rungen zu artikulieren. Wenn im Zeitraumzwischen 1965 und 1968 im Zusammenhangmit wilden Streiks in der Bundesrepublik fastnur vom Metallsektor die Rede ist, spiegelt diesdessen herausragende Rolle wider. Bei den offe-nen Arbeitskonflikten im Metallbereich han-delte es sich fast ausschließlich um lokale, wil-de Streiks.19 In ihrem Organisationsbereichwurden von 1965 bis 1968 137 wilde Streiksin 398 Betrieben mit 125 929 Ausfalltagengezählt.20 An zweiter Stelle folgte die IG Che-mie mit fünf Streiks in sieben Betrieben und1 723 Ausfalltagen. Daran, dass die absoluteZahl der wilden Streiks geradezu sprunghaftanstieg, hatte der Organisationsbereich der IGMetall den Löwenanteil: 1966 verdoppelte sichihre Zahl im Vergleich zum Vorjahr, und 1967verdreifachte sie sich sogar.21

einem »Ein-Euro-Job« besser? Wanngibt es Sanktionen? Wie wehre ichmich gegen Behördenwillkür?

C. 17. Mai 2008Billigjob, ABM oder richtige Stelle?Welche anderen Maßnahmen der Ein-gliederung in Arbeit gibt es? Was kannich bei einem Praktikum verlangen? IstABM besser als ein Niedriglohnjob?Welche Qualifizierung kann ich beiABM erwarten? Ist Zeitarbeit okay?Welchen Sinn macht das Bewerben beider Jobsuche? Wie reagiere ich auf dasAngebot eines Billigjobs? Was heißt»ortsüblicher«, was »tariflicher« Lohn?

Welche Arbeit gibt es noch? Was ist»Selbständigkeit«?

D. 7. Juni 2008Essensgutschein statt Regelleistung?Wer legt die Regelleistung fest? Habeich einen Mehrbedarf? Wann kriege ichDarlehen?Welche Gelder gibt es bei Schwanger-schaft und Mutterschaft? Wer bezahltdie Erstausstattung der Wohnung?Erhalte ich auch einen Verarmungsge-wöhnungszuschlag? Wer übernimmtStromschulden? Was ist bei einerStromsperre zu tun? Gibt es weitereLeistungen? Und wann müssen Leis-

tungen zurückerstattet werden? Wemdrohen Strafen und Bußgelder? Wannerhalte ich Essensgutscheine? Wo be-komme ich Geld her, wenn das Amtden Antrag nicht bescheidet?

E. 21. Juni 2008Nesthocker oder eigene Wohnung?Was sind »tatsächliche« und was »ange-messene« Kosten der Unterkunft? Werbezahlt die Betriebskosten? Wer zahltdie Heizung? Welche Vorschriften gibtes bei der Mietzahlung? Muss ich biszum 25. Geburtstag bei den Elternwohnen? Was muss ich beim Umzugbeachten? Wann ist ein Umzug erfor-

derlich? Muss das Jobcenter denUmzug genehmigen? Was heißt »Zusi-cherung zur Übernahme der Kosten derUnterkunft«? Übernimmt das AmtKaution, Courtage, Abstand und Reno-vierungskosten? Wer zahlt den Umzug?Was ist zu tun bei einer Zahlungs- undRäumungsklage?

Die Veranstaltungen werden jeweils vonAnne Allex (Diplomökonomin) undRenate Döhr (Diplomsozialpädagogin)begleitet.Termine: Jeweils samstags von 11 bis 16UhrOrt & Kontakt: Selbsthilfe-Treffpunkt,

Friedrichshain-Kreuzberg, BoxhagenerStr. 89, 10245 Berlin, Tel. (030) 291 8348, Fax (030) 29 04 96 62Weitere Infos: express – LokalredaktionBerlin, Tel. (030) 24 72 71 28, [email protected], www.anne-allex.de,http://pariser-kommune.de/1-euro-jobVoranmeldung wird erbeten, die Seminaresind kostenlos. Es gibt Essen und Trinken.

Aber nunmehr stand nicht mehr die Empö-rung über die schlechten Arbeitsbedingungender Migrantinnen/Migranten im Mittelpunkt,sondern der Versuch, die Unterschichtung derArbeitsmärkte endlich zu nutzen, um denDruck auf die Beschäftigten zu erhöhen. Dieswiederum führte zu Konflikten, die ihren stärksten Ausdruck im so genannten Bild-Streik des Frühjahrs 1966 fanden. Am 31. März hattedie Bild-Zeitung mit der Schlagzeile »Gastar-beiter fleißiger als deutsche Arbeiter« getitelt.6

Auf einer Tagung des Arbeitgeberverbandes, sohatte das Blatt weiter ausgeführt, sei festgestelltworden, dass die »Gastarbeiter weniger krank«seien und »sogar bereit, zwölf Stunden zuarbeiten«.Wenn »die Deutschen« mehr undlänger arbeiten würden, sei der Import vonArbeitern überflüssig. Auf diese Äußerungenreagierten mindestens 6 000 Beschäftigte, miteinem Schwerpunkt in den Daimler-Benz-Werken in Untertürkheim, Sindelfingen undMannheim, mit einem Proteststreik. In Stutt-gart zogen erboste Metallarbeiter vor denHauptsitz des Arbeitgeberverbandes, um gegenden Vorwurf des »Bummelantentums« zu pro-testieren. Die Aktionen richteten sich in ersterLinie gegen die Bild-Zeitung und den Arbeitge-berverband Gesamtmetall. Aber auch die imWindschatten der Krise erstarkte NPD nutztedie Gelegenheit, um im Verlaufe der Aktionihre eigene »Arbeiterpolitik« zu formulieren.Auf den Kundgebungen der Metallarbeiter verteilte sie ein Flugblatt, das die Überschrift»Heute Kollegen – morgen Lohndrücker« trug, worauf die üblichen Tiraden gegen »dieSchmarotzer« folgten.7 Die IGM, der DGBund verschiedene betriebliche und überbetrieb-liche Gewerkschaftsgruppierungen, darunterauch Vereinigungen der Migrantinnen undMigranten, reagierten mit einer eindringlichenWarnung vor dem Versuch, »deutsche und aus-ländische Arbeiter gegeneinander auszuspie-len«.8 Allerdings betonte die IG Metall im gleichen Atemzug die Notwendigkeit einer»Begrenzung« der Migration und forderteunter anderem, »daß ebenso wenig wie chro-nisch Kranke und nachweislich Kriminelle,künftig auch keine Analphabeten mehr imAusland angeworben werden«.9 Die Forderungnach »Integration« war damit auch eine nachAnpassung und Ausgrenzung. Die Perspektiveder Migranten hatte innerhalb der Gewerk-schaften noch immer keine Stimme.

Dass die Arbeitgeber den 1966 ungefähr 1,3 Millionen Migrantinnen und Migranten»besonderen Fleiß« attestierten, änderte imübrigen nichts daran, dass diese in der Rezes-sion zuerst vom Arbeitsmarkt verdrängt wur-den. Darüber hinaus waren Frauen, Un- undAngelernte sowie ältere Beschäftigte überdurch-schnittlich betroffen. Und zudem traf dieRezession bestimmte Regionen (etwa das Saar-land) und bestimmte Branchen (so die Stahl-oder die Bekleidungsindustrie) besondershart.10 Ende 1966 wurde jedoch langsam kla-rer, dass auch die Kernbelegschaften mit Ver-schlechterungen rechnen mussten.

16 express 2-3/2008

Wilde Streiks und ihr Anteil an sämtlichen Streiks, 1957–1968Jahr Fälle Betriebe Beteiligte Ausfalltage

1957–1960 83 / 57,6% 94 / 5,5% 48 636 / 5,5% 87 092 / 2,6%

1961–1964 73 / 60,3% 112 / 18,9% 62 183 / 27,4% 31 779 / 2,2%

1965–1968 156 / 85,7% 556 / 38,3% 429 759 / 81,7% 149 036 / 25,3%

niedrigere Lohngruppen, die Kürzung überta-riflicher Zuschläge bei Überstunden sowie eine Kürzung des Weihnachtsgeldes und der Akkord-sätze waren von Entlassungen im Rahmen derso genannten 49er Quote begleitet, das heißtunter Vermeidung der Pflicht, mit dem Be-triebsrat über einen Sozialplan zu verhan-deln.30 Der Widerstand gegen diese Unterneh-menspolitik blieb zunächst sporadisch. ImWinter 1966/67 kündigte die Geschäftsleitungdann erneut die Entlassung von etwa 800 Kol-legen sowie ein weiteres »Sparprogramm« an,das eine pauschale Kürzung der (übertarifli-chen) Effektivlöhne um bis zu sechs Prozentsowie die Streichung des Weihnachtsgeldes undeiner »Treueprämie« beinhaltete.31 Die Entlas-sungen betrafen vor allem ältere Kollegen, diedurch Abfindungen entschädigt wurden.

Ende April 1967 hatten bereits über 400 Be-schäftigte den Betrieb verlassen, gleichzeitigbegann die Geschäftsleitung jedoch, Neuein-stellungen jüngerer Arbeiter vorzunehmen undÜberstunden anzuordnen.32 In der Hanno-veraner Presse konnte zudem von einer erheb-lich verbesserten Auftragslage und Gewinnsi-tuation gelesen werden. Als die Geschäftslei-tung ankündigte, die für den Sommer vorgese-henen »Sparmaßnahmen« trotz der verbesser-ten Auftragslage nicht zurücknehmen zu wol-len, wurde deutlich, dass es sich in erster Linieum den auch anderswo beobachteten Versuchhandelte, »Grauköpfe« und »Leistungsschwa-che« loszuwerden.33 Am 28. April kam es des-halb zu einem ersten wilden Streik, der imKonsens der IG-Metall-Betriebsräte, Vertrau-ensleute und der örtlichen Verwaltungsstellevorbereitet worden war.34 Während des kurzenStreiks wurde eine durchdachte Arbeitsteilungpraktiziert: Der Betriebsrat hielt sich mitöffentlichen Äußerungen zurück, die Vertrau-ensleute riefen als Kollektiv zum Streik auf.Die am stärksten organisierten Abteilungenführten mehrere Demonstrationszüge durchden Betrieb durch, die »zögerliche« Kollegenvon der Teilnahme überzeugten. Um elf Uhrversammelte sich schließlich der größte Teil derBelegschaft vor dem Gebäude der Hauptver-waltung und beschloss den Streik »offiziell«. In diesem Vorgehen zeigt sich, dass es bei derHanomag grundsätzlich eine hohe Loyalitätder Belegschaft gegenüber der Politik der loka-

»10-Punkte-Programm« trotz guter wirtschaft-licher Lage die Streichung von Sozialleistungenannonciert, unter anderem den Abbau einesAkkordzuschlages. Auslöser des darauf einset-zenden wilden Streiks war daneben die Forde-rung nach der Entlassung zweier autoritärerVorgesetzter. Der Ausstand endete erst nachfast einer Woche mit der Rücknahme des »10-Punkte-Programms« sowie mit der Beur-laubung eines der beiden Kritisierten. Obwohlweder die geforderte Entlassung des Personal-chefs noch die Bezahlung der Streikzeit durch-gesetzt werden konnte, erreichten die Strei-kenden damit weitaus mehr als lediglich eineBegrenzung und Regulierung des Abbaus, wiesie die Krisenpolitik der IGM anstrebte.25

Grundlage dafür war auch, dass es sich beiFaber und Schleicher überhaupt nicht umeinen wirklichen »Krisenbetrieb« handelte unddie Konflikte insofern viel eher im Kontext des Kampfes um die »Poren der Arbeitszeit«gesehen werden müssen, der seit den frühen1960er Jahre praktisch ständig auf der Tages-ordnung gestanden hatte. Als zum Jahreswech-sel 1966/67 die Versuche der Unternehmeranhielten, die Arbeitsbedingungen auch dortzu verschlechtern, wo es nachweislich keineoder nur geringe Umsatzeinbrüche gegebenhatte, verlor die These von der ökonomischenNotwendigkeit der »Sparmaßnahmen« weiter an Glaubwürdigkeit. Zudem machte die gleich-zeitige Anordnung von Massenentlassungenund die Neueinstellung junger, »unverbrauch-ter« Beschäftigter deutlich, dass bei der Re-strukturierung auf die Meriten älterer Beschäf-tigter und männlicher, deutscher Facharbeiterkeine Rücksicht genommen wurde. Die unin-tendierte Folge war, dass die »Sparmaßnah-men« als Angriff auf die sozialen Ansprüchealler Beschäftigten gesehen wurden.26

Die Kämpfe bei Hanomag als Beispiel

Dies zeigen unter anderem die wilden Streiksin der Hanomag AG in Hannover im Frühjahr1967.27 Zugleich können diese Arbeitskämpfeals Beispiel dafür gelten, wie sich die Ambiva-lenz der Politik der IGM und der betrieblichenInteressenvertretung vor Ort darstellte. Hano-mag war eine der Tochtergesellschaften desmontanmitbestimmten Rheinstahl-Konzerns,in dessen Aufsichtsrat ein von der Arbeitneh-merseite vorgeschlagener Arbeitsdirektor sowieein Mitglied des Hauptvorstandes der IGMetall saßen. 1966 ging der Umsatz des Kon-zerns, der sich in verschiedenen Branchenengagierte, um 1,4 Prozent zurück. 1967 sta-gnierte er, um im wieder einsetzenden Boom1968 bei mittlerweile wesentlich wenigerBeschäftigten erneut Rekordhöhe zu erreichen.Diese Berg- und Talfahrt erlebte auch dieBelegschaft des Hanomag-Werkes in Hanno-ver, das vor dem Berliner und Hamburg-Har-burger Werk mit etwa 7 500 Beschäftigten diegrößte Zweigstelle des Fahrzeugbauers war.28

Bereits seit Ende 1965 hatte die Belegschaft,nachdem der Betrieb noch kurz zuvor einenUmsatzrekord erzielt hatte, wegen der Verrin-gerung der Nachfrage auf dem BinnenmarktKurzarbeit und Entlassungen hinnehmen müs-sen.29 Bedeutete die Kurzarbeit bereits erhebli-che Lohnverluste, so wurden im Laufe des Jah-res 1966 weitere »Restrukturierungsmaßnah-men« aufgelegt, die zu einer erneuten Senkungder Effektivlöhne führten. Die Rückstufung in

Für eine Linke, die dazwischen geht

Zweite Offene Arbeitskonferenz der Inter-ventionistischen Linken (IL)

Kurze Vorstellung der Interventioni-stischen LinkeIn den Protesten und Aktionen gegenden G8-Gipfel in Heiligendamm hatdie radikale Linke ein deutliches Zei-chen setzen können. Ein zentralerAkteur war die InterventionistischeLinke (IL), ein bundesweiter Zusam-menschluss von Einzelpersonen undGruppen aus der undogmatischen und

post-autonomen Linken. Sie konntedies werden, weil sie eben kein Anti-G8-Bündnis war und ist: Mit den deut-lich sichtbaren Rissen, die sich in derneoliberalen Hegemonie zeigen,scheint vielmehr die Zeit für ein neuesantagonistisches Projekt überfällig zusein. Ein solches Projekt wird allerdingsnicht das Werk einer einzelnen politi-schen Organisation oder Strömung seinkönnen, und es wird sich nicht nur aufdie beziehen können, die schon auf denAntagonismus setzen. Zur IL gehörtdaher eine strategische Bündnisorien-tierung, die die Zusammenarbeit mitanderen Strömungen sowohl der radi-

kalen wie der moderaten Linken nichtnur für konkrete, kurzfristige Projekteanstrebt, sondern als Voraussetzung fürdie Schaffung gesellschaftlicher Gegen-macht ansieht. Aus dem gleichenGrund ist die IL auch kein Ansatz zurGründung einer weiteren, parteiförmi-gen Organisation in Konkurrenz zubereits bestehenden, sondern ein offe-nes Projekt, das sich durch Interventionin praktische Kämpfe entwickeln soll.Es wird die Überzeugung vertreten,dass diese Überlegungen nicht nur vonden jetzt schon beteiligten Gruppenund Personen geteilt werden und des-halb offen für alle, die ähnliches wollen,

sind. Zur Zeit sind dabei: Antifaschistische Linke Berlin, FelSBerlin, Antifaschistische Linke Interna-tional Göttingen, Organisierte Autono-mie Nürnberg, Radikale Linke Nürn-berg, Projekt Interventionistische LinkeKöln, Redaktion analyse&kritik,Redaktion fantômas, Kampagne Liber-tad!, dissident Marburg, Avanti – Pro-jekt undogmatische Linke (Nord-deutschland), Antifa KOK Düsseldorf,Institut für Theologie und PolitikMünster, Rote Aktion Kornstraße Han-nover sowie viele GenossInnen, die alsEinzelne bei der IL sind und ansonstenin anderen Zusammenhängen aktiv

sind: in Gewerkschaften und sozialenInitiativen und Netzwerken, bei attac,in publizistischen Projekten.

Aus dem vorläufigen Programm derArbeitskonferenz:● Linksradikale Organisierung – dieinternationale Perspektive, Podiumsge-spräch u.a. mit GenossInnen aus Ita-lien, Griechenland und Frankreich● Was will wer in der IL und mit derIL? Moderierte Aussprache zumLockermachen. Dann: Felder interven-tionistischer Politik:– Soziale Kämpfe, Krieg und Sicher-heit

express 2-3/2008 17»Geldstrafen bis zu 10 000 DM oder Gefäng-nis bis zu zwei Jahren« eingeleitet werden kön-ne.39 Die Folge derartiger Ankündigungen war,dass zunächst niemand vor der Versammlungzu sprechen wagte, zumal die damit verbunde-ne Entlassungsdrohung weiterhin aufrechter-halten wurde. Erst nach einiger Zeit nahm einVertrauensmann in einer »Einzelaktion«40 dasMikrophon, informierte über den unveränder-ten Stand der Verhandlungen und erklärtezugleich, dass die gesammelten Spendengelderausreichen würden, um den Lohnausfall füreinige Tage zu finanzieren. Damit war derBann gebrochen, den die Geschäftsleitung überdie Versammlung zu legen versucht hatte. Alsdem Vertrauensmann am 17. Mai gekündigtwurde, kam es nicht nur zu heftigen Protestender weiterhin Streikenden in Hannover, son-dern auch zu Solidaritätsstreiks in den Zweig-werken in Hamburg-Harburg und Berlin.41

Schließlich musste die Firmenleitung am 19.Mai nicht nur die Kündigung, sondern auchihre Kürzungsvorschläge weitgehend zurück-nehmen, woraufhin die Arbeit wieder aufge-nommen wurde.

Der Hanomag-Streik ist nicht nur ein gutesBeispiel für den Charakter der wilden Streiksin der Streikwelle von 1966/67. Er verweistauch auf eine Tendenz, die sich bis zum Endedes Jahrzehntes noch stärker ausprägen sollte.In seinem Mittelpunkt stand neben der Frageder »übertariflichen« Leistungen die Begrenzt-heit der großen gewerkschaftlichen »Errungen-schaft« der Montanmitbestimmung, die sichangesichts der offenen Arbeitskonflikte nundeutlich zeigte. Denn der während des Streiksheftig kritisierte Arbeitsdirektor hatte in derTat lediglich die im Gesetz vorgesehene Rolleals Vermittler von Konzerninteressen übernom-men. Für die Weiterführung des Streiks warentscheidend, dass die Belegschaftsversamm-lungen aufrechterhalten werden konnten. DieGeschäftsleitung beging den Fehler, durch die massiven Drohungen gegen diese Versamm-lungen aus einem zunächst mit wenig Begeis-terung geführten Arbeitskampf einen hartenKonflikt zu machen. Insbesondere die Kündi-gung des Vertrauensmannes trug dazu bei, dass sich eine Dynamik entfaltete, die derGeschäftsleitung keine Alternative ließ, als dieForderungen der Streikenden (mit Ausnahmeder Kürzung der Jahresleistung) zu akzep-tieren.42 Viele Elemente, die sich im Hano-mag-Streik zeigten, fanden sich 1967 und,unter den Bedingungen der Hochkonjunktur,nach 1969 in den wilden Streiks in montan-mitbestimmten Betriebe wieder.

Anmerkungen:1) Peter Birke: »Wilde Streiks im Wirtschaftswunder.

Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegun-gen in der Bundesrepublik und Dänemark«, Frank-furt/New York 2007

2) Schroeder, »Industrielle Beziehungen«, S. 514.3) AZ, Nr. 23, 1964, S. 8.4) Hildebrandt/Olle, Ihr Kampf ist unser Kampf, S. 10f.5) AZ, Nr. 4, 1965, S. 7.6) Vgl. AdsD/IGMA, D752/D758, Dokumentation: Die

Ausländerwelle und die Gewerkschaften: Bild-Zeitung,31.3.1966. Ausführlich s.: Schönwälder, Einwande-rung, S. 171-177

7) Abgedruckt in: AdsD/IGMA, D752/D758, »Auslän-derwelle«.

8) Die NPD profitierte von einem zunehmenden offenenRassismus. Zwischen 1966 und 1969 zog sie in siebenLandtage ein: Herbert/Hunn, Gastarbeiterpolitik, S. 297.

9) AdsD/IGMA, D752/D758, »Ausländerwelle«.10) Vgl. IGM, Zweites Weißbuch, S. 17ff.11) Vgl. den Überblick bei Markovits, Trade Unions,

S. 106-112.12) Ebd., S. 110

len Gewerkschaft gab: Der Streik lief »wie amSchnürchen«, und es waren zunächst keinerleiKonflikte zwischen Gewerkschaft und der zuüber 90 Prozent in der IGM organisiertenBelegschaft sichtbar.35

Der erste Kurzstreik endete nach nur weni-gen Stunden, als die Direktion ihre Verhand-lungsbereitschaft erklärte. In den Verhandlun-gen zeigte sich allerdings, dass es der Firmenlei-tung vor allem darum ging, die geplantenKürzungen von rund 4,5 Millionen DM als»betriebswirtschaftliche Notwendigkeit« zulegitimieren. Am 2. Mai reiste außerdem derArbeitsdirektor des Konzerns nach Hannover,um dem Betriebsrat mitzuteilen, dass er selbstsogar Kürzungen von 5 bis 6 Millionen DMfür notwendig halte.36 Beide, Direktion undDirektor, forderten die Belegschaft zu einer»konstruktiven« Mitarbeit an den »unvermeid-lichen Sparmaßnahmen« auf. Zugleich wurdendie Vertrauensleute der IG Metall, die denStreik entscheidend getragen hatten und die alsweniger kompromissbereit galten als die Mehr-heit des Betriebsrats, aus den Verhandlungenausgeschlossen. Am Ende bot der Arbeitsdirek-tor an, dass die Lohnkürzung halbiert undgleichzeitig die leitenden Angestellten durchdie Einschränkung des Weihnachtsgeldes eineneigenen Beitrag zur »Sanierung« leisten wür-den. Nachdem der Betriebsrat dies mehrheit-lich abgelehnt hatte, kam es am 8. Mai 1967erneut zum Streik.

Nunmehr forcierte die Geschäftsleitung denDruck, indem sie die Belegschaft vor dem Ver-waltungsgebäude mit einer Erklärung beschal-len ließ, nach der jeder, der per Mikrophon zuder Versammlung sprechen würde, mit Entlas-sung zu rechnen habe. Gleichzeitig wurden ausder »sicheren Position« des verschlossenen Ver-waltungsgebäudes Aufnahmen mit einem Tele-objektiv gemacht. Außerdem wurden Massen-entlassungen und sogar die Schließung desWerkes angedroht, falls sich die Kollegen wei-terhin weigerten, den Kürzungen zuzustim-men.37 Ziel all dieser Maßnahmen war es, dieDynamik des Streiks zu brechen, indem mandie Herstellung einer internen Öffentlichkeitund damit die kollektive Entscheidungs- undHandlungsfähigkeit der Streikenden unter-band. Unter solchem Druck, wohl aber auch,weil es innerhalb des Betriebsrates eine zuneh-mende Tendenz gab, schnell einen Kompro-miss auszuhandeln, ließ die Streikbereitschaftzunächst erheblich nach. Am 12. Mai legte derRheinstahl-Vorstand erneut einen Vorschlagvor, der ungefähr dem oben skizzierten ent-sprach. Doch diesmal lehnte die örtliche Ge-schäftsleitung ab, die mittlerweile wieder ihreChance sah, das ursprünglich vorgesehene Kür-zungspaket durchzusetzen. Für den 16. Mairiefen die Vertrauensleute erneut zum Streikauf.

Die Belegschaft verließ an diesem Tagzunächst schleppend und widerwillig denArbeitsplatz. Am Vormittag wiederholte sichsodann das bekannte Szenario vor dem Verwal-tungsgebäude, diesmal jedoch war der Druckauf die Versammlung noch größer, unter ande-rem deshalb, weil die Bild-Zeitung im Vorfeldin großer Aufmachung von einem Beschlussder IG Metall berichtet hatte, an die Streiken-den kein Streikgeld auszahlen.38 Außerdemhatte die Geschäftsleitung den Werkschutz ineinem internen, aber der IG Metall zugespiel-ten Papier aufgefordert, Taten wie das »Be-schimpfen von Arbeitswilligen« zu registrieren,damit eine Strafverfolgung mit dem Ziel von

(1767) schreibt: »Allerdings kann bezweifeltwerden, ob das Ausmaß nationaler Leistungs-fähigkeit entsprechend dem Fortschreiten derKünste zunimmt. Viele gewerbliche Künsteerfordern in der Tat keinerlei geistige Befähi-gung. Sie gedeihen am besten bei vollständigerUnterdrückung von Gefühl und Vernunft.Unwissenheit ist die Mutter des Gewerbefleißesebenso sehr wie des Aberglaubens.«5

2.) Auch wenn Arbeit als Quelle des Reich-tums gilt und davon ausgegangen wird, dass dieArbeitsteilung das Ergebnis dieses Prozesses ver-größert, wird die Frage, ob jede Art von Arbeitproduktiv sei, unterschiedlich diskutiert. Wäh-rend für die französischen Physiokraten ledig-lich die landwirtschaftliche Arbeit produktiv ist,überwindet Adam Smith diese Bestimmungtendenziell und verallgemeinert die Bestim-mung der produktiven Arbeit auf andere For-men der Arbeit, der Franzose Jean-Baptiste Sayentwickelt die Kategorie der immateriellen Ar-beit und erklärt selbige gleichfalls zur produkti-ven Arbeit, und Marx selbst legt schließlicheinen großen Exzerptband über diese Debattean, der später als erster Band der so genanntenTheorien über den Mehrwert erscheint.

3.) In den Kolonien der europäischen Staa-ten, aber auch in wichtigen Ländern wie denUSA und Russland hat im 18. und 19. Jahr-hundert eine besondere Form produktiverArbeit trotz aller bürgerlichen Freiheits- undGleichheitsversprechen weiterhin eine kaum zuunterschätzende Bedeutung: Zwangsarbeit alsSklavenarbeit oder Leibeigenenarbeit. Die zen-trale Frage, die dabei innerhalb der Gruppe derbürgerlichen Gegner dieser Form der Arbeitdiskutiert wird, lautet: Soll man sich mit mora-lischen Appellen an die Sklavenbesitzer undFeudalherren begnügen, oder kann man diesennicht sogar demonstrieren, dass sie gegen ihreigenes Interesse handeln, da freie Lohnarbeitproduktiver als Zwangsarbeit sei. Say z.B.,obgleich Gegner der Sklavenarbeit, kritisiertdiese Bemühungen, da er Zwangsarbeit in denfrühen Ausgaben seines »Traité d’économiepolitique« (bis 1819) für mindestens ebensoprofitabel wie die freie Arbeit hält und provo-ziert damit teils heftige Kritiken von Autorenwie Adam Hodgskin, Henri Storch, CharlesDunoyer und Charles Comte.6

4.) Unterstellt, die bürgerliche Gesellschafthätte die Produktivität der in ihr geleistetenArbeit optimiert und die Zwangsarbeit gehörteder Vergangenheit an: Sorgt dies auch dafür,dass die produktiven Arbeiter entsprechendihrem Beitrag am gesellschaftlichen Reichtumpartizipieren? Schon Adam Smith scheint

nerung zu rufen und andererseits bei der Kritikdes Marxschen Werks nicht hinter diesenzurückzufallen.

Aufbruch: Aufwertung der Arbeit

Beginnen wir mit dem vermutlich Bekannten,also jenen zwei Aspekten, die in der einschlägi-gen Literatur häufig genannt werden, wenn esum die besondere Bedeutung der menschlichenArbeit in den sozialphilosophischen Debattenvor Marx geht: Arbeit und Reichtum. Arbeit istdabei die zentrale antifeudale Kategorie desstärker werdenden Bürgertums, und diese bür-gerliche Aufwertung der Arbeit gipfelt insbe-sondere im Werk John Lockes in der Legitima-tion sowohl des unbegrenzten Eigentumser-werbs durch Arbeit als auch der politischenVertretungsansprüche des Bürgertums.1 Jegewichtiger die soziale Position des Bürgertumswird, desto mehr rückt auch die Frage nachden Ursachen des gesellschaftlichen Reichtumsund den Möglichkeiten seiner Steigerung inden Mittelpunkt der sozialphilosophischenPublizistik. William Petty ist es, der Mitte des17. Jahrhunderts die menschliche Arbeit nebender »Mutter« Boden zum »Vater« des Reich-tums macht und damit den Grundstein für dieso genannte Arbeitswerttheorie legt.2

Ohne die verschiedenen Verästelungen, diedieser Schritt Pettys zur Folge hatte, hier chro-nologisch nachvollziehen zu können3, ist es fürein genaueres Verständnis der Reichtumsdebat-te der werdenden bürgerlichen Gesellschaftsinnvoll, auf zumindest vier wesentliche Berei-che dieser Debatte besonders hinzuweisen.

1.) Innerhalb der schottischen AufklärungMitte des 18. Jahrhunderts kommt es – wohlausgehend von der Rezeption Rousseaus – zueiner intensiven Auseinandersetzung um dasPhänomen der Arbeitsteilung. Dabei wird zwarvon keinem der beteiligten Autoren bestritten,dass die menschliche Arbeit durch die Arbeits-teilung eine immense Erhöhung ihrer Produk-tivkraft erfährt, doch während Adam Smith imberühmten Stecknadelbeispiel seines »Wohl-stands der Nationen« (1776) lediglich denWohlstandseffekt der Arbeitsteilung hervor-hebt4, ist es sein Freund Adam Ferguson, derbereits die negativen gesellschaftlichen Folgender Arbeitsteilung und damit den besonderenEinfluss der Produktionsorganisation auf diegesellschaftliche Totalität in den Blick be-kommt, wenn er in seinem »Versuch über dieGeschichte der bürgerlichen Gesellschaft«

– Klimapolitik, Antifaschismus, Anti-rassismus-Globale Soziale Rechte

Bei der Betrachtungen einer Auswahlder (möglichen) Politikfelder geht esnicht um Fachvorträge oder Wissens-vermittlung, sondern immer um dieFragestellung: Wie kann eine interven-tionistische Politik im jeweiligen Poli-tikfeld aussehen? Welchen Beitrag kannunsere Praxis im jeweiligen Politikfeld

für das Projekt einer grundsätzlichenGesellschaftsveränderung leisten?Zeit & Ort: 25. – 27. April, Philipps-Universität, MarburgWeitere Infors über die einschlägigenwebsites, besonders www.interventionistische-linke.de,

Tour de France 2008

Paris – Rouen – Dieppe

Es geht los. Zwischen dem 3./4. Maiund dem 9./10. Mai soll wieder eineFrankreich-Tour gestartet werden. ZweiJahre war diese ausgefallen. Es hat sichseitdem einiges verändert. Sarkozy istan der Regierung und die sud-solidairesmuß sich ganz schön ihrer Haut weh-ren. Um so mehr gibt es natürlich zuerzählen und zu erfahren.Gut wäre es, wenn bis Mitte MärzBescheid gegeben wird, wer mitfahrenwill. Dann können auch recht billigeFahrkarten besorgt werden. Es wirdungefähr 270 Euro als Normalpreiskosten, aber es gibt auch Reduktionen.

Aus dem Programm:● Besuch bei der conféderation pay-sanne in der Normandie● Besuch bei der sud rail im Gare deLyon und bei der Sud in Rouen

● Treffen mit Amandine, einer Verkäu-ferin bei Virgin, einem großen Ein-kaufszentrum, die ein Jahr lang für ihreWiedereinstellung kämpfte und voreinem Monat wieder an ihren Arbeits-platz zurückgekehrt ist. Eine beispiel-hafte Solidarität machte dies möglich.● Netzwerk ohne Grenzen von Eltern,Schülern, Lehrerinnen und Stadtteilbe-wohnern gegen die Abschiebung vonsans-papiers Kindern wie Eltern● Sud-Auto-Gewerkschaft bei Peugeotin Paris-Aulnay ● Diskussion mit den libertären Alter-nativen über den Aufbau einer neuenanti-kapitalistischen Partei oder wasdenn sonst?● Als Abschluss soll der Atlantikbesucht und Wellen, Wind, Sonne undLicht genossen werden.

Kontakt und weitere Infos: WilliHajek, Tel. (030) 8529286, Email:[email protected]

Umkämpfte Arbeit

Tagung der Prokla-Redaktion und derAssoziation für kritische Gesellschaftsfor-schung, unterstützt von ver.di und derRosa-Luxemburg-Stiftung

Aus dem Programm:● Martin Kronauer, Thomas Sablows-ki, Gregor Zattler (Prokla-Redaktion):Umkämpfte Arbeit ● Wolfgang Menz (ISF München):Leistungspolitik und Herrschaft ● Nadine Müller (TU Chemnitz):Variable Entlohnung und ihre Auswir-kungen ● Stefanie Hürtgen (Akademie derArbeit, Frankfurt/M): Prekarisierungund Normalarbeitsverhältnis. KritischeAnmerkungen zur aktuellen Debatte ● Ingrid Artus (TU München): Repres-sive Integration und »verrückte Kämpfe«im prekären Dienstleistungsbereich ● Peter Birke (Universität Hamburg):Das Verhältnis von Arbeitern und

18 express 2-3/2008

13) Vgl. Hardach, »Krise und Reform«, S. 210f.14) Markovits, Trade Unions, S. 35815) Ebd., S. 20316) Ebd., S. 11117) IGM, Erstes Weißbuch. Das Buch wurde am 2. Juni

(1967, Anm. d. Red.) veröffentlicht.18) Die Unternehmer reagierten mit einer »Gegenbroschü-

re« namens »Moment«. Damit stützten sie unfreiwilligdie Strategie der IGM, die Situation in den Betriebenöffentlich zu debattieren: IG Metall, Zweites Weiß-buch, S. 8f.

19) Vgl. Spode u.a., Statistik, S. 38720) Ebd., S. 39421) Kalbitz, Arbeitskämpfe, S. 20122) Vgl. Markovits, Trade Unions, S. 3423) Bei zwei Dritteln der Streikenden konnten die für die

Erfassung zuständigen Sekretäre keine klaren Angabenüber deren Motive machen: IGM, Geschäftsbericht1965-1967, S. 132f.

24) Für das Folgende: AdsD/5/IGMA, 150.373, Mappe:Streik bei Faber & Schleicher, November 1966. Zusam-menfassend auch: Steinhaus, Streiks, S. 33-35, sowieMetall Nr. 24, 1966, 3. Am Beispiel der Maxhütte(Oberbayern) vgl. Süß, Kumpel und Genossen, S. 276

25) AdsD/5/IGMA, 150.373, Vereinbarung zwischenBetriebsrat und Geschäftsleitung

26) Dies betonen Roth/Behrens, Die »andere« Arbeiterbe-wegung, S. 240f.

27) Vgl. auch für das Folgende: Surkemper, InoffizielleStreiks, S. 116, 208

28) Ebd., S. 118.29) Ebd., S. 158.30) Die Zeitschrift Arbeiterpolitik berichtete, dass bis zum

Frühjahr 1967 auf diese Weise ungefähr 1 100 Arbeits-plätze verloren gingen, ARPO, Nr. 4, 1967, S. 8.

31) Surkemper, Inoffizielle Streiks, S. 165.32) AdsD/5/IGMA, 582015, Mitteilungen für die

Beschäftigten der Hanomag AG, Mai 1967.33) Vgl. das Dokument über den »Ilo-Streik« in: Schulen-

burg (Hg.), Das Leben ändern, S. 92-95.34) Surkemper, Inoffizielle Streiks, S. 178-180, auch im

Folgenden.35) Vgl. den Bericht von Heinz Brandt in: Metall, Nr. 10,

1967, S. 5.36) ARPO, Nr. 4, 1967, S. 9, auch im Folgenden37) Surkemper, Inoffizielle Streiks, S. 203.38) ARPO, Nr. 4, 1967, S. 9: In der Öffentlichkeit war

nicht unbedingt klar, dass die Gewerkschaft in einemwilden Streik ohnehin legal keine Streikgelder zahlenkonnte.

39) Metall, Nr. 11, 1967, S. 5.40) ARPO, Nr. 4, 1967, S. 9.41) Surkemper, Inoffizielle Streiks, S. 221 sowie DG, Nr.

4, 1967, S. 223.42) Dass es »erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik

gelang, übertarifliche Leistungen ›einzustreiken‹«, wiedie Welt am Sonntag am 21.5.67 schrieb, war eineÜbertreibung. Vgl. dazu Express international, Mai1967, S. 8.

Nicht nur anlässlich des 125. Todesta-ges des »Giganten der Theoriege-schichte« (so der Historiker JürgenKocka) beschäftigen wir uns ein wenigmit Karl Marx und der Frage, was seinDenken eigentlich unterscheidet vondem der TheoretikerInnen der bürger-lichen Emanzipation.

So unbestritten es ist, dass der materialistischeAnsatzpunkt der Marxschen Theorie in seinembeständigen reflexiven Rekurs auf die (Re-)Pro-duktionspraxis der Menschen besteht, so sehrwirft diese besondere Bedeutung der menschli-chen Arbeit innerhalb der Marxschen Theoriedoch auch bei vielen Marx wohl gesonnenenInterpreten Fragen auf. Warum wird einebestimmte Form menschlicher Praxis bei Marxderart hervorgehoben, und wie aktuell ist dieseHervorhebung heute noch? Geht mit dieserExposition der menschlichen Arbeit bei Marxnicht eine Reduktion der komplexen menschli-chen Verhältnisse und der Geschichte einher?Mündet diese Hervorhebung nicht notwendigin einen schematischen Basis-Überbau-Deter-minismus? Legt schließlich die Zentrierung derMarxschen Theorie auf die Dynamik menschli-cher Arbeit nicht den Grund für jenen Arbeits-fetisch, den viele Interpreten für das emanzipa-tive Scheitern der Arbeiterbewegung verant-wortlich machen, so dass heute die Befreiungvon der Arbeit bei Vielen als entscheidenderBezugspunkt linker Praxis gilt?

Bevor man diese und ähnliche Fragen beant-worten kann, empfiehlt es sich, sie und damitauch das mit ihnen einhergehende Unbehagenetwas hinten anzustellen. Denn zu klären wärezunächst, ob die weit reichenden Urteile überMarx und dessen Hervorhebung der menschli-chen (Re-)Produktionspraxis nicht insofernvorschnell getroffen werden, als sie die Diffe-renz zwischen der Marxschen Theorie und denDebatten des späten 18. und frühen 19. Jahr-hunderts, auf die er sich bezieht, nicht berück-sichtigen. Löst man jedoch das eingreifendeDenken des Viellesers Marx aus dem Kontextheraus, von dem dieses Denken lebt und aufdas es sich, so jedenfalls laut MarxschemSelbstverständnis, kritisch zu beziehen sucht,ent- und verstellt man den kritischen Gehaltdes Marxschen Zugangs zu diesen Debatten.Die Rolle, die die menschliche Arbeit im so-zialphilosophischen Diskurs bis 1840 spielt, istdabei auch heute von Interesse, um einerseitsderen emanzipatorische Dimensionen in Erin-

Produktion und EmanzipationSlave Cubela* zur bürgerlichen Theorie der Arbeit vor Marx, Teil I

Besondere Beachtung – nicht zuletzt da indeutschen Debatten kaum gegenwärtig – ver-dient hierbei die Herausbildung eines »militanteconomic liberalism« (Welch)9 in Frankreichnach 1815 durch Autoren wie Thierry, Duno-yer oder Comte. Denn diese Liberalen ziehennicht nur die klassentheoretischen Konsequen-zen aus den Debatten um die Produktivität derArbeit, indem sie das Verhältnis der produkti-ven und unproduktiven Klassen als wesentli-ches Verhältnis ihrer Zeit begreifen, sondern sie radikalisieren die bürgerliche Reichtumsde-batte, indem sie feststellen: Es ist die Arbeit der produktiven Klassen, die die Basis allermenschlichen Gesellschaften darstellt, und esist die Gewalt und der Zwang der unprodukti-ven Klassen, die dafür sorgen, dass die produk-tiven Klassen selbst nach der FranzösischenRevolution noch um die Früchte ihrer Arbeitgebracht werden. Anders gesprochen, gilt fürdiese Autoren: Alle Geschichte ist Geschichtedes (Verteilungs-)Kampfs zwischen produkti-ven und unproduktiven Klassen.

Gute Ordnung: Alle arbeiten,niemand regiert

Die Folgen dieser Radikalisierung bürgerlichenDenkens sind immens. So wird die Orien-tierung der politischen Praxis des Bürgertumsan Naturzustandskonstruktionen, aber auch anvormodernen, meist antiken Vorbildern in die-ser Fraktion des französischen Liberalismuszurückgewiesen. Schon in den frühesten Sta-dien der Menschheitsgeschichte, so betont z.B.Dunoyer in seinem Werk »L’Industrie et lamorale«, habe bereits eine Ausbeutung der pro-duktiven Klasse der Frauen durch die unpro-duktive Klasse der Männer stattgefunden, inderen Licht die bisherigen Naturzustandskon-struktionen sich als historisch falsch erwiesen,ganz zu schweigen davon, dass es nie einen vor-

jedenfalls an den Verteilungsvorstellungen desbritischen Bürgertums zu zweifeln, wenn ermahnend schreibt: »Unsere Kaufleute undUnternehmer klagen zwar über die schlimmenFolgen hoher Löhne, da sie zu einer Preissteige-rung führen, wodurch ihr Absatz im In- undAusland zurückgehe, doch verlieren sie keinWort über die schädlichen Auswirkungen ihrerGewinne. Sie schweigen einfach über die ver-werflichen Folgen der eigenen Vorteile und kla-gen immer nur über andere Leute.«7

»Militanter Liberalismus« –eine Radikalisierung

Mit jedem dieser Debattenpunkte sind eineganze Reihe weit reichender Implikationen ver-knüpft. Insofern stellt die bürgerliche Reich-tumsdebatte und der damit verknüpfte Diskursder Arbeit eine noch offene Mischung aus öko-nomischen, ethnologischen, soziologischen,geschichts- und moralphilosophischen sowiepsychologischen Elementen dar. EindeutigeKlassifizierungen dieser Debatte zum Zweckeder Orientierung bleiben deshalb bis zum heu-tigen Tag schwierig, da die unterschiedlichensozialen Kontexte, die politischen Ambitionenund die jeweiligen Bezugnahmen der Autorengenau zu berücksichtigen sind und viele Begrif-fe und Argumente noch »work in progress«darstellen. Erst im Zusammenhang mit derIndustrialisierung, der Französischen Revolu-tion und den frühen Anfängen der modernenArbeiterbewegung kann ab Anfang des 19.Jahrhunderts eine Tendenzverschiebung inner-halb dieser Debatte festgestellt werden, indemder Zusammenhang von Arbeit und Herrschaftzum dominanten Diskussionsgegenstand undein verstärktes Bemühen erkennbar wird,Geschichte und Gegenwart als Produkt vonKlassenverhältnissen und Klassenkämpfen zubegreifen.8

geht die Menschheit einem (fast-)anarchischenund klassenlosen Zustand des ewigen Friedensdurch die Emanzipation der Produktion bzw.der produktiven Klassen entgegen.

Teil II folgt im nächsten express.

Anmerkungen:1) Vgl. z.B. Hans Frambach: »Arbeit im ökonomischen

Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von derAntike bis zur Gegenwart«, Marburg 1999, S. 81-83

2) Hierzu siehe Jochen Hartwig: »Petty – oder: die Geburtder Arbeitswertlehre aus den Problemen des frühenKapitalismus«, in: Historical Social Research, Nr.4/2001 (26), S. 88-124

3) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Frag-ment Marxens über die Geschichte der politischen Öko-nomie, in: MEGA I/27, S. 131-215

4) Adam Smith: »Der Wohlstand der Nationen«, Mün-chen 1993, S. 9f.

5) Adam Ferguson: »Versuch über die Geschichte der bür-gerlichen Gesellschaft«, Frankfurt/Main 1988, S. 340

6) Einen guten Überblick über diese Debatte gibt DavidM. Hart in seiner Doktorarbeit: »The Radical Libera-lism of Charles Comte and Charles Dunoyer«, in:http://homepage.mac.com/dmhart/ComteDunoyer/index.html (27.11.2007), insbesondere Kapitel 3

7) Smith, a.a.O., S. 85f.8) Einige der wichtigsten Werke sind hierbei: Charles

Hall: »The Effects of Civilisation on the People inEuropean States« (1805); Robert Owen: »Essays on theFormation of Character« (1813) / »Two Memorials onBehalf of The Working Classes« (1818); Patrick Col-quhoun: »A Treatise on the Wealth, Power and Resour-ces of the British Empire« (1814); François Montlosier:»De la Monarchie Française« (1814); Henri de Saint-Simon: »L’Industrie ou discussions politiques, morales etphilosophiques« (1817); Augustin Thierry: »Des na-tions et de leurs rapports mutuels« (1817); BenjaminConstant: »Mémoire sur les cent jours« (1820);François Mignet: »Histoire de la Révolution française«(1824); Charles Dunoyer: »L’Industrie et la morale«(1825); Charles Comte: »Traité de legislation« (1827);François Guizot: »Cours d’histoire moderne, histoiregénérale de la civilisation en Europe« (1828); WilliamMackinnon: »On the Rise, Progress and Present State ofPublic Opinion« (1828); John Wade: »History of theMiddle and Working Class« (1833); Peter Gaskell:»The Manufacturing Population of England« (1833).Einen ersten Einblick in die benannten englischen Wer-ke gibt Asa Briggs: »The Language of Class in EarlyNineteenth Century England«, in: Ders./John Saville(Hrsg.): »Essays in Labour History«, London/New York1960. Für die Französische Debatte s. die bereits zitier-te Arbeit von David M. Hart. Vorläufer dieser Debattesind im 18. Jahrhundert Millar in Schottland sowieLetrosne, Linguet, Turgot oder de Gournay in Frank-reich

9) Cheryl B. Welch: »Liberty and Utility. The FrenchIdeologues and the Transformation of Liberalism«, NewYork 1984, S. 158

10) Vgl. Hart, a.a.O., Kapitel 4, Abschnitt D11) Ebd. – Darüber hinaus vgl. Shirley M. Gruner: »Eco-

nomic Materialism and Social Moralism. A study inthe history of ideas in France from the latter part of the18th Century to the middle of the 19th century«, TheHague/Paris, 1973, S. 103-108. Über die unmittelba-re Bedeutung dieser historischen Debatten für Frank-reich nach 1815 und über die konservativen Gegen-spieler in dieser Debatte gibt Auskunft: Stanley Mellon:»The Political Uses of History. A Study of Historians inthe French Restoration«, Stanford 1958. Eine neueInterpretation findet sich bei Ceri Crossley: »FrenchHistorians and Romanticism. Thierry, Guizot, theSaint-Simonians, Quinet, Michelet«, London/NewYork 1993

12) Gruner, a.a.O., S. 9913) Zitiert und übersetzt nach Hart, a.a.O., Kapitel 4,

Abschnitt D14) Gruner, a.a.O., S. 100f. (Übersetzung von S.C.)

sozialen Zustand der Menschheit gegebenhabe. Ebenso unterschlüge der gerade in derFranzösischen Revolution so wichtige Rekursauf die Antike, dass die Tugendhaftigkeit undder Gemeingeist der alten Griechen undRömer gerade die wesentliche produktive Klas-se der Sklaven ausgeschlossen habe.10

Zudem verstehen diese liberalen Denker dieFranzösische Revolution als eine – letztlichinfolge der Produktivitätsfortschritte notwendi-ge – Erhebung der produktiven Klassen gegendas alte Joch der unproduktiven Klassen, undsie ist für sie ähnlich wie die englische Revolu-tion im 17. Jahrhundert ein emanzipativerFortschritt.11 Dennoch bemängeln sie denlediglich politischen Charakter der Revolution,also die Konzentration der Akteure auf Verfas-sungsdebatten, die Aufblähung des Staatsappa-rats (da diese erneut nur die produktiven Klas-sen belaste) sowie die monarchistische Wen-dung der Revolution unter Napoleon I., undsie kommen zu dem Schluss, dass die Rechteder produktiven Klassen statt von ihren bestenVertretern wie Industriellen, Bänkern, Ge-schäftsleuten zu sehr von »unproduktiven«Akteuren wie Anwälten und Gelehrten vertre-ten würden, zu viele Akteure der produktivenKlassen sich im Laufe der Revolution korrum-pieren gelassen hätten, zu lange die Antike alsideeller Orientierungsrahmen für die Revolu-tion gegolten habe. Dies und die militärischeBedrohung von außen hätten verhindert, dassdie Revolution zu einer echten Emanzipationder produktiven Klassen geführt habe.12

Schließlich gehen sie davon aus, dass dieEmanzipation der produktiven Klassen mitNotwendigkeit kommen werde, denn, wieerneut Dunoyer betont, der industrielle Fort-schritt sei letztlich nicht aufzuhalten und dasemanzipative Zeitalter des Industrialismus nureine Frage der Zeit. Wie aber hat man sich die-ses Zeitalter des Industrialismus vorzustellen?Dazu Dunoyer: »Das Anliegen des Menschenist keine Frage der Regierung – vielmehr sollteder Mensch der Regierung hierbei eine nach-rangige, wir können fast sagen eine möglichstkleine Bedeutung zusprechen. Sein Ziel ist viel-mehr Industrie, Arbeit und die Produktion alldessen, was er braucht, um glücklich zu sein.In einer guten Ordnung sollte die Regierungnur ein Nebenaspekt der Produktion sein, eineAgentur, kontrolliert von den Produzenten, diefür sie zahlen, und die ihre Person und ihrEigentum schützt, während sie arbeiten. Ineiner guten Ordnung muß die größtmöglicheAnzahl der Personen arbeiten und die kleinst-mögliche regieren. Der perfekte Zustand wäreerreicht, wenn die ganze Welt arbeitet und nie-mand regiert.«13 Oder in den Worten einerInterpretin: »Was ist das Ziel der Menschheit,was ist das Ziel der Gesellschaft? Es ist nichtdie Schaffung einer neuen Form der Regie-rung. Es ist die Schaffung von Industrie,Arbeit, Produktion und auf diese Weise vonGlück. (…) Alle Formen der Regierung sinddiesem Ziel nachgeordnet. Idealerweise sollte esgar keine Regierung geben, jeder sollte arbei-ten, und niemand sollte regieren.«14 Also: Mitdem Zeitalter des liberalen Industrialismus

Gewerkschaften in den Arbeitskämpfender Vergangenheit ● Manuela Bojadzijev (University ofLondon): Rassistische Spaltung derLohnabhängigen und Arbeitskämpfeder MigrantInnen ● Gabriele Sterkel (ver.di): Hand-lungsbedingungen und Perspektivenaktueller gewerkschaftlicher Vertei-lungskämpfe ● Slave Cubela (Redaktion express):Zur Kritik kritischer Sozialwissenschaft– am Beispiel der Prokla 150»Umkämpfte Arbeit«

Termin: 16. bis 18. MaiOrt: ver.di Bundesvorstand Berlin

Um den Raum- und Essensbedarf kal-kulieren zu können, bitten wir diejeni-gen, die an der Tagung teilnehmen wol-len, um Voranmeldung bis zum 15.April bei Thomas Sablowski ([email protected]).

Leserliches

»Faire Arbeit – Mensch –nicht Kostenfaktor«

Studie des ver.di-Fachbereiches Finanz-dienstleistungen

Der ver.di-Fachbereich Finanzdienst-leistungen hat eine Befragung zum The-ma »Faire Arbeit – Mensch – nichtKostenfaktor« erstellt. Befragt wurdenBeschäftigte in rund 40 Betrieben inden Bereichen Banken, Sparkassen,Genossenschaftsbanken und Versiche-rungen zu Belastungen, Leistungs- undVerkaufsdruck etc. und den gesundheit-lichen Auswirkungen dieser Belas-tungen. Rund 3 500 Fragebögen wur-den zwischenzeitlich ausgewertet. DieErgebnisse der Befragung sollen genutztwerden, auf betrieblicher Ebene dieBeschäftigung mit dem Thema Verbes-

serung der Arbeitsbedingungen undGesundheitsschutz voran zu treiben.Die Beschäftigung mit der Arbeits- undBelastungssituation wird von ver.di übereinen längeren Zeitraum angesetzt.

Vorgesehen sind regionale Veranstal-tungen für Beschäftigte, Seminare undgezielte betriebliche Aktivitäten, diez.T. auch mit aktiver Unterstützung derArbeitgeber bereits gestartet sind bzw.sich in der Planung befinden.

Weitere Infos: Gudrun Schmidt, Lan-desfachbereichsleiterin, Tel. (069) 2569-1430 und (0171) 5443769, Email:[email protected] sowiever.di LB Hessen, Wilhelm-Leuschner-Straße 69 – 77, 60606 Frankfurt amMain, Tel. (069) 2569-1330 und(0151) 18900536, Fax (069) 2569-1339, www.hessen.verdi.de, Email:[email protected]

express 2-3/2008 19

miert diese unter P&S Pflege- und ServiceManagement GmbH. Die Geschäftsführungübergab er nach drei Wochen an WolfgangBrandt, der bei Summit schon fast alle Alten-pflegeeinrichtungen geleitet hat.

Der erste Auftritt von Dr. Schulz im Lin-denweg prägte den Konflikt: Eingeladen zurBetriebsversammlung, um sich vorzustellen,versuchte er als erstes, die Betriebsversamm-lung zu beenden. Als ihm entgegengehaltenwurde, dass der Betriebsrat das Hausrechthabe, wies er die KollegInnen an, wieder an dieArbeit zurückzukehren. Als niemand reagierte,drohte er mit Abmahnungen und Gehaltsent-zug. Dann zog er in ein anderes Gebäude undforderte die Belegschaft auf, ihm zu folgen. Bisauf zwei KollegInnen folgte ihm jedoch nie-mand, und die Betriebsversammlung wurdeohne den neuen Arbeitgeber (und sein Gefol-ge) fortgesetzt. In der Folge sprach SchulzAbmahnungen wegen der Teilnahme an derBetriebsversammlung aus.

Als nächstes wurden Personalfragebögen ver-teilt, in denen nach Krankheiten, dem Berufdes Ehepartners oder nach dem Dienstgrad inder Bundeswehr gefragt wurde. Als der Be-triebsrat den Personalfragebogen per einstweili-ger Verfügung untersagen ließ, behaupteten dieHeimleitung und der neue Geschäftsführer,ohne Personalfragebögen das Gehalt nicht aus-zahlen zu können. Auch verkündete die neueLeitung, man dürfe mit dem Betriebsrat nichtwährend der Arbeitszeit sprechen.

Dann wurden den KollegInnen neueArbeitsverträge mit diversen Summit-Firmenvorgelegt, die zum Teil hohe Gehaltsreduzie-

rungen vorsahen sowie die Versetzbarkeit in derganzen Republik. Aber die KollegInnen ließensich hier so wenig einschüchtern wie vorherund nachher. Sie unterschrieben die neuen Ver-träge nicht, sondern stattdessen Beitrittser-klärungen bei ver.di und wehrten sich gemein-sam mit ihrem Betriebsrat gegen die neueObrigkeit. Jeden Mittwochabend treffen siesich seitdem mit ver.di und besprechen dieLage.

Doch es wurde hart für die Beschäftigten:Das Novembergehalt wurde den meisten erstam 17. Dezember überwiesen, verbunden mithohen Abschlägen. Für sechs KollegInnen kames noch viel später – und für den Betriebsrats-vorsitzenden gar nicht: Er hat seitdem keinenCent von seinem Arbeitgeber erhalten. Ver-trauensleute sammeln nun Spenden (s. Spen-denkonto unten), um im schlimmsten Fall dieKolleginnen und Kollegen unterstützen zukönnen.

Gegen die Gehaltskürzungen läuft eine Kla-ge; der Kammertermin vor dem ArbeitsgerichtHeidelberg ist jedoch erst am 29. Mai – bisdahin müssen die meisten KollegInnen damitklar kommen, dass ihnen Teile ihrer Gehälterseit November fehlen. Da macht man sichGedanken über die Unterausstattung unsererArbeits- und Sozialgerichte.

Unterdessen erhalten die KollegInnen vomAltenpflegeheim Lindenweg sehr viel Zuspruchvon außen, das tut gut. Unter anderem gab esschon Mitte Dezember einen offenen Brief vonProminenten an die Arbeitgeber mit der Auf-forderung, endlich die Gehälter ordnungs-gemäß zu zahlen. Darunter waren der halbe

Seit November letzten Jahres prakti-ziert der neue Besitzer des »Altenpfle-geheims Lindenweg« in Heidelberg,ein Unternehmen der Summit Gruppe,seine eigenwilligen Vorstellungen vonArbeitsrecht und Demokratie amArbeitsplatz und stößt damit nicht nurdie Beschäftigten vor den Kopf. Auchdie HeimbewohnerInnen und derenAngehörige sind Opfer der Geschäfts-praktiken des Unternehmens gewor-den – und haben sich gemeinsam mitden Beschäftigten zu wehren begon-nen. Der Konflikt wirft ein Schlaglichtauf den ökonomischen Druck, unterden Pflegeheime, PflegerInnen unddamit letztlich auch die NutzerInnengesetzt sind – eine Situation, die sichdurch das neue Pflegereformgesetznicht verbessern wird.

Summit Healthcare Management Partners kauftin der ganzen Bundesrepublik Altenpflegehei-me und Hotels, und meistens gibt es Krach mitder Belegschaft oder mit den Nutzern, wie inSchlangenbad bei Wiesbaden – dazu untenmehr. Krach mit der Belegschaft gibt es aktuellauch in Goslar, wo eine Firma der Summit-Gruppe (Carenia GmbH; Gesellschafter undGeschäftsführer: Dr. Udo Schulz) das HotelResidenz Harzhöhe kaufte. Dort wurden Kolle-gInnen gezwungen, dem Betriebsübergang zuwidersprechen, anderen wurden rückdatierteAufhebungsverträge oder Arbeitsverträge zudeutlich schlechteren Konditionen angeboten.Die Gewerkschaft NGG führt mittlerweileKlage gegen sechs der Summit-Firmen.

Die Verschleierung der Besitzverhältnissegehört offenbar zum strategischen Repertoiredes Firmenverbunds, dessen Chef Dr. med.Udo Schulz auch Geschäftsführer und alleini-ger Gesellschafter der wichtigsten Summit-Firmen ist.

Zum 1. November 2007 hatte eine Firmader Summit Gruppe das Altenpflegeheim amLindenweg in Heidelberg-Rohrbach übernom-men. Für den Kauf des Heidelberger Altenpfle-geheims gründete er eine Besitzgesellschaft fürdie Immobilie (Geschäftsführer: Udo Schulz)und kaufte die Betriebsgesellschaft, die er»Haus am Lindenweg« nannte. Inzwischen fir-

20 express 2-3/2008

Neue Prämien fürneue Abos

Für jedes neu geworbene Jahresabonnement gibt eseine der folgenden Prämien (bitte ankreuzen)

■■ Flying Pickets (Hg.):»... auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet«, Hamburg 2007

■■ Wolfgang Schaumberg:»Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision ...«, Ränkeschmiede 16, Offenbach 2006

■■ Jens Huhn: »Anders arbeiten – bei vollem Gehalt«, Mannheim/Heidelberger HBV-Hefte, Mannheim, 2001

■■ Yvette Bödecker / Heinz-Günter Lang:»Der längste und letzte Tanz bei Nanz«, Mann-heim/Heidelberger HBV-Hefte, Mannheim, 1999

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ImpressumHerausgeber: AFP e.V., »Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der politischen Bildung« e.V.Redaktionsanschrift: express-RedaktionNiddastraße 64, 60329 Frankfurt a.M., Tel. (069) 67 99 84,email: [email protected], www.labournet.de/expressErscheinungsweise: 10 Ausgaben/JahrBezugspreise: Einzelheft 3,50 Euro; Jahresabonnement 35 Euro, erm. 18 Euro (Studierende, Auszubildende) und 12 Euro (Hartz IV Spezial-Abo) – einschl. Versandkosten.Einzuzahlen an AFP, Postbank Frankfurt, Kto.-Nr. 12 47 66 04 (BLZ 500 100 60); Zusatz Ausland: iban: DE22 500 100 60 0012 47 66 04, swift: BIC PBNKDEFFAbbestellungen müssen bis spätestens 30.9. vor Ende des Kalenderjahres bzw. 3 Monate vor Ablauf des Bestellzeitraumesschriftlich erfolgen.Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion gestattet. MitNamen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.ISSN: 0343-5121V.i.S.d.P.: Kirsten Huckenbeck, FrankfurtLayout/Satz: Birgit Letsch, HanauDruck: Caro Druck GmbH, Frankfurt

Nächster Redaktionsschluss:14. April 2008

Terror im AltenpflegeheimMia Lindemann über eine Belegschaft, die sich erfolgreich wehrt

Stadtrat von Heidelberg, die ehemalige Ober-bürgermeisterin Beate Weber und die Karika-turistin Franziska Becker. Dies und auch diePresseberichterstattung – auch wenn sie nichtarbeitnehmerInnenfreundlich war – trafen denKonzern. Hinzu kam die Verknüpfung mitanderen Skandalen, in die Summit verwickeltist, wie z.B. der Verkauf des Kurhotels Schlan-genbad, das sich in hessischem Staatseigentumbefand, an Summit im Herbst 2007 (Näheresunter www.rhein-neckar.verdi.de)

Schließlich gelang es der Geschäftsführungauch recht schnell, die Angehörigen und dieBewohnerInnen gegen sich aufzubringen. DieKollegInnen erhielten deshalb auch von dieserSeite sehr viel Unterstützung und Solidarität.Ein besonderes Highlight setzte die Geschäfts-führung, als sie im Januar 2008 den Bewohne-rInnen des Altenpflegeheims schriftlich mitteil-te, sie müssten das Heim bis zum 31. Mai räu-men. Angeblich wollte man modernisieren.Bald stellte sich heraus, dass entgegen ihrenBehauptungen nicht einmal eine Bauvoranfra-ge bei der Stadtverwaltung gestellt worden war.Das vordergründige Ziel dieser Maßnahme warwohl, dass man den Mitarbeitern kündigenwollte.

Mittlerweile sind 21 Anhörungen für Kün-digungen beim Betriebsrat eingegangen; nichteine einzige wurde davon bislang umgesetzt.Auch der Betriebsratsvorsitzende selbst erhieltHausverbot, eine fristlose und eine ordentlicheKündigung. Das Hausverbot wurde nach weni-gen Tagen vor Gericht zurückgenommen, dieKündigungen werden am 18. März verhandelt.Der Betriebsratsvorsitzende unterbrach seineBetriebsratsarbeit nicht.

Die große Frage ist für alle Betroffenen, wiediese Geschichte endet. Eine Kommunalisie-rung des Heims wäre adäquat, zumal viele derBewohnerInnen von der Stadt bezahlte Plätzehaben. In den letzten 20 Jahren war diesesHeim das preiswerteste. Die HeimbewohnerIn-nen wohnen teilweise schon viele Jahre hier,und auch die Belegschaft ist recht stabil.

Auch bei der eventuellen Übernahme durcheinen neuen Träger wird die Belegschaft auf derHut sein müssen. Denn in der Branche wirdversucht, die Löhne zu drücken. Die Verab-schiedung des Pflegereformgesetzes am 7. Märzmachte dies deutlich: Pflegesatzverhandlungensollen sich am ortsüblichen Lohn orientieren,nicht mehr am Tarifvertrag.

Zusammenhalten macht stark – das habendie KollegInnen jedenfalls erfahren!

Die Redaktion bittet um Beteiligung an derSpendenaktion für die Beschäftigten des Pflege-heims: Spendenkonto Lindenweg: c/o YvonneBecker, Kontonummer 1000717653 bei derSparkasse Heidelberg (BLZ 672 500 20)