Nr. 7-8/2009, 47. Jahrgang express/AFP e.V....

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Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Deutsche Post AG Postvertriebstück D 6134 E Gebühr bezahlt Nr. 7-8/2009, 47. Jahrgang express/AFP e.V. www.labournet.de/express (069) 67 99 84 ISSN 0343-5121 Preis: 3,50 Euro GEWERKSCHAFTEN INLAND Christian Frings: »Geschichte wird gemacht – aber wie?«, »Aufstand der Armen« – neu gelesen S. 1 »Weniger Fläche, mehr Streik?«, WSI-Halbjahresbilanz 2009 zu Arbeitskämpfen zeigt neue Trends S. 4 Werner Sauerborn: »Neustart Arbeitszeit«, ein Versuch, die Arbeitszeitfrage aus der Wettbewerbslogik zu befreien S. 4 Mag Wompel: »Weit – und doch zu kurz gesprungen«, zum Versuch, die Arbeitszeitdebatte »neu zu starten« S. 6 »Auch nach den Wahlen: nicht zahlen«, Aufruf zum bundesweiten Aktionstag am 17. September S. 6 Wilfried Schwetz: »Welcher Wille, wessen Wohl?«, Dombrowskis Furor fortgesponnen – über Illusionen der Parität und Alternativen zur GKV S. 8 »Problemerzeugende Produktions- verhältnisse«, Positionspapier der Attac-AG »Genug für alle« zur Krise S. 13 BETRIEBSSPIEGEL Rolf Geffken: »Die Dialektik von Recht und Politik«, über erste rechtspolitische Erfolge der Emmely-Kampagne S. 7 »Gefährliche Pflege«, Ergebnisse einer Befragung von Beschäftigten beim Krankenhauskonzern Vivantes S. 10 Moritz Naujack: »Konkurrenz als Dauertherapie?«, bei »Gefahr der Nestbeschmutzung«: Überlastungen anzeigen! S. 11 A-info: »Arbeitsmarkt in der Krise« S. 11 »Enervierende Arbeitsverhältnisse«, Streik und Angriffsaussperrung in privater psychiatrischer Klinik S. 12 INTERNATIONALES Rainer Thomann: »Una bella Compagnia«, der Sieg der Arbeiter bei INNSE Mailand S. 2 REZENSION Helmut Weiss: »Antizipierte Dauer- probleme...«, über die neue Studie von Andrea Gabler zu: »Socialisme ou Barbarie« S. 15 Photos dieser Ausgabe: Vielen herzlichen Dank an Rainer Thomann für die Photos von den Auseinandersetzungen bei INNSE in Mailand. Warum ein Buch vorstellen und zur Lektüre empfehlen, das vor über dreißig Jahren geschrieben wurde und Staub angesetzt hat? Haben sich denn Diskussion und »For- schungsstand« nicht weiterentwickelt und alte Einsichten relativiert? Das Buch ist ak- tuell oder könnte in den nächsten Monaten und Jahren aktuell werden, weil es die Frage aufwirft, wie wir uns als politische Aktivisten zu Massenbewegungen verhalten können. Abstrakt wird diese Frage in linken Zusam- menhängen ständig verhandelt, aber erstens gab es seit mindestens dreißig Jahren hier keine geschichtsträchtigen Massenbewegun- gen von Lohnabhängigen mehr, und zweitens bleiben diese Diskussionen daher meistens ein freihändiges Räsonnieren über politische Vorlieben bis hin zu anthropologischen Spe- kulation über das Verhalten »der« Menschen oder »der« Massen. Das genau vermeiden Frances Fox Piven und Richard A. Cloward in ihrer Studie »Aufstand der Armen«, die 1986 in deutscher Übersetzung erschien (»Poor People’s Move- ments. Why They Succeed, How They Fail«, 1977; alle folgenden Seitenzahlen nach der deutschen Übersetzung). In den sechziger Jahren waren Piven und Cloward (P/C) in der Bewegung von überwiegend afroameri- kanischen Fürsorgeempfängern aktiv und mischten sich dort in die Debatten um poli- tische Strategien ein. Vor dem Hintergrund der fälschlich als »Rassenunruhen« bezeich- neten Gettoaufstände mit ihren Höhepunk- ten in den Jahren 1964 bis 1968 war die Zahl der Fürsorgeempfänger geradezu explo- diert: Von 745 000 Familien 1960 stieg sie bis 1972 auf drei Millionen Familien an (S. 289) – nicht etwa, weil mehr Menschen bedürftig geworden wären, sondern weil mehr Bedürftige sich von der stigmatisieren- den und repressiven Ausgestaltung der Sozialhilfe nicht länger abschrecken ließen und ihre Ansprüche auf den Ämtern – zum Teil auch gegen Schikanen – durchsetzten: »Das Verhalten der Antragsteller in den War- teräumen der Fürsorgeämter hatte sich ... verändert. Sie waren nicht mehr so beschei- den, so untertänig, so flehend; sie waren empörter, wütender, fordernder. Die Wohl- fahrtsbeamten blieben davon nicht unbeein- flußt; vor allem die Sachbearbeiter, die die Anträge entgegennahmen – gewissermaßen die Türsteher des Systems – nutzten ihren Ermessensspielraum jetzt viel freizügiger aus. Die traditionellen Mittel, mit denen die Berechtigung von Ansprüchen überprüft wurden, verschwanden langsam: Hausbesu- che wurden seltener, Vorschriften, nach denen Formulare verschiedener Behörden einzuholen waren, um nachzuweisen, daß eine Familie nicht andere Beihilfen ... erhielt ..., wurden zusehends vernachlässigt...« (S. 300). Es war eine untergründige, kaum wahrgenommene Bewegung, die oft kollektiv und militant ihre Ansprüche durchsetzte: »Ohne organisatorische Führung und ohne in der Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden, war eine Bewegung der Fürsorgeempfänger entstanden, die erhebliche Einkommensverbesserungen für ihre Mitglieder erzielen konnte.« (S. 300) Mobilisierung contra Organisierung Im kleinen Kreis der Aktivisten oder »Orga- nizer«, wie sie in den USA genannt werden, zu denen auch P/C gehörten, entwickelte sich eine Diskussion über das weitere Vorge- hen, wie diese Bewegung gestärkt und aus- geweitet werden könnte. P/C wenden sich Ende 1965 mit einem hektographierten Papier: »Eine Strategie zur Abschaffung der Armut«, an die Aktivisten und schlagen darin vor, durch Unruhe und Störungen auf den Ämtern und eine massive Kampagne zur Stellung von Anträgen eine institutionelle Krise herbeizuführen (S. 301). Vor allem in Großstädten und Bundesstaaten mit zentra- ler Bedeutung für Bundeswahlen könnte diese Entfaltung des Störpotentials auf der Straße und in den Ämtern eine politische Krise herbeiführen und den Herrschenden weitergehende Zugeständnisse abringen (S. 305). Eine Mehrheit der Aktivisten sieht aber die Zeit gekommen, eine Massenorgani- sation mit formaler Mitgliedschaft von Für- sorgeempfängern aufzubauen, um darüber Druck auszuüben und dauerhaften Einfluss zu gewinnen. Diese Kontroverse, die erst im letzten Kapitel geschildert wird, ist für P/C das praktische Motiv, ihre historische Untersu- chung »Aufstand der Armen« zu verfassen, und liefert ihr die theoretischen Fragestel- lungen. Um die Frage Mobilisierung oder Organisierung nicht persönlichen Vorlieben oder der Spekulation zu überlassen, fordern sie dazu auf, die Geschichte wirklicher Bewegungen zu untersuchen und an ihnen zu überprüfen, in welchem Verhältnis die Unruhe auf der Straße oder in den Betrieben zu Organisierungsprojekten standen. Bei denjenigen, die für den Aufbau formal strukturierter Massenorganisationen plädie- ren, machen sie einen »Mangel an histori- scher Analyse aus«, der dazu führe, dass mit dogmenhaften Annahmen hantiert werde: Formelle Organisationen seien ein Machtin- strument, weil sie 1. die Ressourcen von vie- len Menschen bündeln könnten, die einzeln machtlos bleiben, 2. den Einsatz dieser Res- sourcen im Kampf strategisch planen könn- ten, und 3. die zeitliche Kontinuität der Mobilisierung sicherstellen könnten (S. 19). Es könnte noch eine vierte Annahme hinzu- gefügt werden, die sie im Vorwort zur Taschenbuchausgabe von 1979 ansprechen, das auf einige der Kritiken an ihrem Buch eingeht: 4. nur formelle Massenorganisatio- nen könnten dafür sorgen, dass der Kampf über unmittelbare Bedürfnisse hinausgeht und zu einer politischen Veränderung führt (S. 9 ff.). Denn gerade aus der Linken war das Buch hart kritisiert worden, weil es sich nicht in das »leninistische« Schema einfügen wollte, demzufolge erst politisch angeleitete Organisationen dem spontaneistischen Auf- ruhr des Proletariats eine politische Rich- tung weisen können. Historische Bewegungsforschung Alle drei oder vier Annahmen, mit denen für den Aufbau oder die Stärkung von Massen- organisationen plädiert wird, klingen nur zu vertraut. In aktuellen Debatten über die richtige politische Strategie und das große »Was tun?« tauchen sie unweigerlich auf – sei es im gewerkschaftlichen Spektrum anhand des »Organizing«, unter Erwerbslo- sengruppen oder in der radikalen Linken an Fortsetzung auf Seite 2 unten Geschichte wird gemacht – aber wie? »Aufstand der Armen« – neu gelesen von Christian Frings* Auf Kosten des Arbeitgebers Der express liegt viel zu wenig in den Betriebsratsbüros aus. Betriebsräte können das ändern, eini- ge machen’s auch schon länger: Der express kann als Arbeitsmittel auf Beschluss des Betriebsrates bezo- gen werden, sofern es für die Arbeit erforderlich ist. Die Kosten hat der Arbeitgeber nach § 40, Abs. 2 BetrVG zu tragen.

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Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Deutsche Post A

GPostvertriebstückD

6134 EG

ebühr bezahlt

Nr. 7-8/2009, 47. Jahrgang ■ express/AFP e.V. ■ www.labournet.de/express ■ ☎ (069) 67 99 84 ■ ISSN 0343-5121■ Preis: 3,50 Euro

G E W E R K S C H A F T E N I N L A N D

Christian Frings: »Geschichte wird gemacht – aber wie?«, »Aufstand der Armen« – neu gelesen S. 1

»Weniger Fläche, mehr Streik?«, WSI-Halbjahresbilanz 2009 zu Arbeitskämpfen zeigt neue Trends S. 4

Werner Sauerborn: »Neustart Arbeitszeit«, ein Versuch, die Arbeitszeitfrage aus der Wettbewerbslogik zu befreien S. 4

Mag Wompel: »Weit – und doch zu kurzgesprungen«, zum Versuch, die Arbeitszeitdebatte »neu zu starten« S. 6

»Auch nach den Wahlen: nicht zahlen«, Aufruf zum bundesweiten Aktionstag am 17. September S. 6

Wilfried Schwetz: »Welcher Wille, wessen Wohl?«, Dombrowskis Furor fortgesponnen – über Illusionen der Parität und Alternativen zur GKV S. 8

»Problemerzeugende Produktions-verhältnisse«, Positionspapier der Attac-AG »Genug für alle« zur Krise S. 13

B E T R I E B S S P I E G E L

Rolf Geffken: »Die Dialektik von Recht und Politik«, über erste rechtspolitischeErfolge der Emmely-Kampagne S. 7

»Gefährliche Pflege«, Ergebnisse einer Befragung von Beschäftigten beim Krankenhauskonzern Vivantes S. 10

Moritz Naujack: »Konkurrenz als Dauertherapie?«, bei »Gefahr der Nestbeschmutzung«: Überlastungen anzeigen! S. 11

A-info: »Arbeitsmarkt in der Krise« S. 11

»Enervierende Arbeitsverhältnisse«, Streik und Angriffsaussperrung in privater psychiatrischer Klinik S. 12

I N T E R N A T I O N A L E S

Rainer Thomann: »Una bella Compagnia«,der Sieg der Arbeiter bei INNSE Mailand S. 2

R E Z E N S I O N

Helmut Weiss: »Antizipierte Dauer-probleme...«, über die neue Studie von Andrea Gabler zu: »Socialisme ou Barbarie« S. 15

Photos dieser Ausgabe:

Vielen herzlichen Dank an Rainer Thomannfür die Photos von den Auseinandersetzungenbei INNSE in Mailand.

Warum ein Buch vorstellen und zur Lektüreempfehlen, das vor über dreißig Jahrengeschrieben wurde und Staub angesetzt hat?Haben sich denn Diskussion und »For-schungsstand« nicht weiterentwickelt undalte Einsichten relativiert? Das Buch ist ak-tuell oder könnte in den nächsten Monatenund Jahren aktuell werden, weil es die Frageaufwirft, wie wir uns als politische Aktivistenzu Massenbewegungen verhalten können.Abstrakt wird diese Frage in linken Zusam-menhängen ständig verhandelt, aber erstensgab es seit mindestens dreißig Jahren hierkeine geschichtsträchtigen Massenbewegun-gen von Lohnabhängigen mehr, und zweitensbleiben diese Diskussionen daher meistensein freihändiges Räsonnieren über politischeVorlieben bis hin zu anthropologischen Spe-kulation über das Verhalten »der« Menschenoder »der« Massen.

Das genau vermeiden Frances Fox Pivenund Richard A. Cloward in ihrer Studie»Aufstand der Armen«, die 1986 in deutscherÜbersetzung erschien (»Poor People’s Move-ments. Why They Succeed, How They Fail«,1977; alle folgenden Seitenzahlen nach derdeutschen Übersetzung). In den sechzigerJahren waren Piven und Cloward (P/C) inder Bewegung von überwiegend afroameri-kanischen Fürsorgeempfängern aktiv undmischten sich dort in die Debatten um poli-tische Strategien ein. Vor dem Hintergrundder fälschlich als »Rassenunruhen« bezeich-neten Gettoaufstände mit ihren Höhepunk-ten in den Jahren 1964 bis 1968 war dieZahl der Fürsorgeempfänger geradezu explo-diert: Von 745 000 Familien 1960 stieg siebis 1972 auf drei Millionen Familien an (S.289) – nicht etwa, weil mehr Menschenbedürftig geworden wären, sondern weilmehr Bedürftige sich von der stigmatisieren-den und repressiven Ausgestaltung derSozialhilfe nicht länger abschrecken ließenund ihre Ansprüche auf den Ämtern – zumTeil auch gegen Schikanen – durchsetzten:»Das Verhalten der Antragsteller in den War-teräumen der Fürsorgeämter hatte sich ...verändert. Sie waren nicht mehr so beschei-den, so untertänig, so flehend; sie warenempörter, wütender, fordernder. Die Wohl-fahrtsbeamten blieben davon nicht unbeein-flußt; vor allem die Sachbearbeiter, die dieAnträge entgegennahmen – gewissermaßendie Türsteher des Systems – nutzten ihrenErmessensspielraum jetzt viel freizügiger aus.Die traditionellen Mittel, mit denen dieBerechtigung von Ansprüchen überprüftwurden, verschwanden langsam: Hausbesu-che wurden seltener, Vorschriften, nachdenen Formulare verschiedener Behördeneinzuholen waren, um nachzuweisen, daßeine Familie nicht andere Beihilfen ... erhielt..., wurden zusehends vernachlässigt...«(S. 300). Es war eine untergründige, kaumwahrgenommene Bewegung, die oft kollektivund militant ihre Ansprüche durchsetzte:»Ohne organisatorische Führung und ohnein der Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnisgenommen zu werden, war eine Bewegungder Fürsorgeempfänger entstanden, die

erhebliche Einkommensverbesserungen fürihre Mitglieder erzielen konnte.« (S. 300)

Mobilisierung contra Organisierung

Im kleinen Kreis der Aktivisten oder »Orga-nizer«, wie sie in den USA genannt werden,zu denen auch P/C gehörten, entwickeltesich eine Diskussion über das weitere Vorge-hen, wie diese Bewegung gestärkt und aus-geweitet werden könnte. P/C wenden sichEnde 1965 mit einem hektographiertenPapier: »Eine Strategie zur Abschaffung derArmut«, an die Aktivisten und schlagen darinvor, durch Unruhe und Störungen auf denÄmtern und eine massive Kampagne zurStellung von Anträgen eine institutionelleKrise herbeizuführen (S. 301). Vor allem inGroßstädten und Bundesstaaten mit zentra-ler Bedeutung für Bundeswahlen könnte diese Entfaltung des Störpotentials auf derStraße und in den Ämtern eine politischeKrise herbeiführen und den Herrschendenweitergehende Zugeständnisse abringen(S. 305). Eine Mehrheit der Aktivisten siehtaber die Zeit gekommen, eine Massenorgani-sation mit formaler Mitgliedschaft von Für-sorgeempfängern aufzubauen, um darüberDruck auszuüben und dauerhaften Einflusszu gewinnen.

Diese Kontroverse, die erst im letztenKapitel geschildert wird, ist für P/C daspraktische Motiv, ihre historische Untersu-chung »Aufstand der Armen« zu verfassen,und liefert ihr die theoretischen Fragestel-lungen. Um die Frage Mobilisierung oderOrganisierung nicht persönlichen Vorliebenoder der Spekulation zu überlassen, fordernsie dazu auf, die Geschichte wirklicherBewegungen zu untersuchen und an ihnenzu überprüfen, in welchem Verhältnis dieUnruhe auf der Straße oder in den Betrieben

zu Organisierungsprojekten standen. Beidenjenigen, die für den Aufbau formalstrukturierter Massenorganisationen plädie-ren, machen sie einen »Mangel an histori-scher Analyse aus«, der dazu führe, dass mitdogmenhaften Annahmen hantiert werde:Formelle Organisationen seien ein Machtin-strument, weil sie 1. die Ressourcen von vie-len Menschen bündeln könnten, die einzelnmachtlos bleiben, 2. den Einsatz dieser Res-sourcen im Kampf strategisch planen könn-ten, und 3. die zeitliche Kontinuität derMobilisierung sicherstellen könnten (S. 19).Es könnte noch eine vierte Annahme hinzu-gefügt werden, die sie im Vorwort zurTaschenbuchausgabe von 1979 ansprechen,das auf einige der Kritiken an ihrem Bucheingeht: 4. nur formelle Massenorganisatio-nen könnten dafür sorgen, dass der Kampfüber unmittelbare Bedürfnisse hinausgehtund zu einer politischen Veränderung führt(S. 9 ff.). Denn gerade aus der Linken wardas Buch hart kritisiert worden, weil es sichnicht in das »leninistische« Schema einfügenwollte, demzufolge erst politisch angeleiteteOrganisationen dem spontaneistischen Auf-ruhr des Proletariats eine politische Rich-tung weisen können.

Historische Bewegungsforschung

Alle drei oder vier Annahmen, mit denen fürden Aufbau oder die Stärkung von Massen-organisationen plädiert wird, klingen nur zuvertraut. In aktuellen Debatten über dierichtige politische Strategie und das große»Was tun?« tauchen sie unweigerlich auf –sei es im gewerkschaftlichen Spektrumanhand des »Organizing«, unter Erwerbslo-sengruppen oder in der radikalen Linken an

Fortsetzung auf Seite 2 unten

Geschichte wird gemacht– aber wie?»Aufstand der Armen« – neu gelesen von Christian Frings*

Auf Kostendes Arbeitgebers

Der express liegt viel zu wenig in denBetriebsratsbüros aus.

Betriebsräte können das ändern, eini-ge machen’s auch schon länger:

Der express kann als Arbeitsmittelauf Beschluss des Betriebsrates bezo-gen werden, sofern es für die Arbeiterforderlich ist. Die Kosten hat derArbeitgeber nach § 40, Abs. 2 BetrVGzu tragen.

der Frage des Nutzens oder der Notwendig-keit einer linken Partei. Aber an dem »Man-gel an historischer Analyse« hat sich weniggeändert. Auch heute werden diese Annah-men wie selbstverständliche Gewissheitenpräsentiert, die keiner weiteren Begründungbedürfen. Während die objektiven Formenund Faktoren der kapitalistischen Krise mitgrößter wissenschaftlicher Präzision undanspruchsvollen historischen Theorienbehandelt werden, wird in Debatten überBewegungen deren Geschichte kaum zurKenntnis genommen oder nur in sehr dok-trinärer Weise als »Beleg« für die jeweiligestrategische Vorliebe herangezogen. Dabeiweisen schon die simpelsten Beobachtungendarauf hin, dass diese Annahmen nicht sounproblematisch sind, wie sie zu sein schei-nen. Dass ausgerechnet die Arbeiterkämpfein dem westeuropäischen Land mit demgeringsten gewerkschaftlichen Organisations-grad als die militantesten und vorbildlichstenin der Krise gelten – Frankreich –, müsstezumindest Fragen auslösen.

»Aufstand der Armen« war eine bahnbre-chende Studie zur Bewegungsforschung, weiles solche Fragen oder Paradoxien ernstnahm, womit überhaupt jede kritische Wis-

senschaft beginnen muss. In der Bewegung,in der sie aktiv waren, fiel durchaus einigenauf, dass die Strategie der Massenorganisa-tion, die im August 1967 mit der Gründungder »National Welfare Rights Organization«(NWRO) eingeschlagen wurde, nicht freivon Widersprüchen war. Statt den Druck aufden Staat und die Regierung zu erhöhen,führte die massenhafte und zunächst sehrerfolgreiche Organisierung dazu, dass dieAktionen auf der Straße und den Ämternzunehmend durch Lobby- und Gremienar-beit ersetzt wurden: »Die Militanz der Bewe-gung ging, wie zu erwarten war, infolge derumfangreichen Lobby- und Bündnisaktivitä-ten zurück. Im Jahre 1970 konnten Vertreterder Wohlfahrtsempfänger, die ihre Karriereeinst damit begonnen hatten, daß sie Fürsor-geämter stürmten, dann kaum noch mitihren Terminkalendern Schritt halten, eiltensie nur noch von einer Orts-, Länder- oderBundeskonferenz zur anderen. BerühmteLeute waren aus ihnen geworden, und sobenahmen sie sich auch.« (S. 358) Durch diezeitweilige Anerkennung und Hofierung derNWRO durch Staat und Institutionen merk-ten die führenden Aktivisten gar nicht, wieihrer Organisation die eigene Basis weg-brach. 1968 war ein Wendepunkt, es war dasletzte Jahr großer Gettounruhen. Nach den

üblichen internen Konflikten im Niederganglöste sich die NWRO 1972 auf. Wie P/Cspäter einmal in einer Nachbetrachtung aufihr Buch gesagt haben, setzten einige derAktivisten nach wie vor auf die direkte Ak-tion und das Schüren der Unruhe, weil sieinstinktiv spürten, dass sich so materiellmehr durchsetzen ließe – aber sie konntenden Vertretern der Massenorganisationsstra-tegie theoretisch nichts entgegensetzen. Diessei einer der Gründe gewesen, »Aufstand der Armen« zu schreiben. Ähnlich heute:Geschichten wie die der NWRO, die uns inder deutschen Geschichte nur zu vertrautsind – denken wir nur an die recht schnelleIntegration und Ruhigstellung der zahlrei-chen Erwerbslosengruppen, die nach derKrise 1980/82 angetreten waren, eine mili-tante Arbeitslosenbewegung zu werden –,werden von den Verfechtern der Massenor-ganisation mit dem Hinweis auf die allge-meine Käuflichkeit von Menschen oder ein-zelne schlechte Führer abgetan. Daher gehtes P/C darum, an einigen der wichtigstenproletarischen Bewegungen in den USA zuuntersuchen, ob es für diese Entwicklungennicht strukturelle Gründe gibt, die etwasdamit zu tun haben, wie Kapitalismus undpolitische Macht im Kapitalismus funktio-nieren.

Kämpfe in Krise und Nachkriegsboom

»Aufstand der Armen« behandelt vier großeKampfzyklen in den USA, die nicht zufälligausgewählt sind: Die Bewegung der Arbeits-losen in der Großen Depression von 1929 bis1941 (Kapitel 2), die großen Streikbewegun-gen Mitte der dreißiger Jahre, auch währendder großen Krise, die eine völlige Umwälzungder industriellen Beziehungen in den USAherbeiführten (Kapitel 3), die Bürgerrechts-bewegung der Afroamerikaner gegen dieSegregation und Apartheid in den fünfzigerJahren (Kapitel 4), und schließlich die Bewe-gung der Fürsorgeempfänger in den sechzigerJahren, die sie aus der Perspektive ihrer eige-nen Beteiligung schildern (Kapitel 5). Allevier Bewegungen stehen in einem engenZusammenhang und werden auch so behan-delt: Die Revolten der Arbeitslosen ab 1930führten zu »bürgerkriegsähnlichen« Konflik-ten im Inneren und erschütterten das politi-sche System so weit, dass zur Rettung derherrschenden Ordnung etwas Neues, ebender »New Deal«, vorgelegt werden musste.An diesem und seinem formalen, aber nichtrealen Versprechen von gewerkschaftlicherOrganisationsfreiheit und Arbeitsschutzknüpften wiederum die Kämpfe der Indus-

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stand: Gegen den Fabrikbesitzer wird eineKlage wegen Aussperrung geführt.

Mitte Juli 2008 lehnt ein MailänderGericht die Klage ab. Der Fabrikbesitzer wei-gert sich, die am 22. August 2008 formellausgesprochenen Entlassungen zurückzuneh-men. Der Staat stellt sich voll und ganz aufdessen Seite. Am 17. September 2008 holtdie Polizei die ArbeiterInnen mit einem Räu-mungsbefehl aus der Fabrik. Trotz einerfunktionierenden und blühenden Produk-tion, trotz des Willens einer erfahrenenBelegschaft, diese weiterzuführen, und trotzdes Interesse eines Industriellen, die INNSEzu kaufen, hat der Staat nichts anderes getan,als dem Fabrikbesitzer – in der Person desTuriner Schrotthändlers Genta – zu dienen.

Nach der Räumung durch die Polizei ver-lagert sich die Betriebsbesetzung vor dieWerkstore. Ausgesperrt vom Unternehmer-staat sind die INNSE-ArbeiterInnen buch-stäblich auf die Straße geworfen: Mit einemWohnwagen und Klappstühlen sitzen sie vorihrer Fabrik und haben überhaupt nicht dieAbsicht aufzugeben. Nach ein paar Tagenzimmern sie aus einem ehemaligen Pförtner-häuschen einen Raum von etwa 35 Quadrat-metern, den sie zuerst mit Plastikfolienabschließen und später mit Holztafeln ver-stärken. Dieser Raum dient ihnen für Sitzun-

gen und Versammlungen. Jeweils um dieMittags- und Abendzeit werden die Tischezusammengerückt für ein warmes Essen, dasin einem Nebenraum zubereitet wird. An dereinzigen gemauerten Wand ist das Anschlags-brett, das täglich aktualisiert wird mit Solida-ritätserklärungen anderer Betriebe, die siezusammen mit Spenden erhalten. Das Basis-lager der Besetzung wird zum »Labor derSolidarität« im Kampf um die Wiederauf-nahme der Produktion bei INNSE.

Die Unterstützung des Kampfes bei INN-SE durch das Streikkomitee der SBB-Arbei-ter (Schweizerische Bundesbahn) von Bellin-zona ist ein besonders schönes Beispiel derVerbindung zweier Arbeiterkämpfe. Begon-nen hat der Zusammenschluss zwischen denbeiden Belegschaften mit dem Auftritt vonINNSE-Arbeitern anlässlich der Urauf-führung des Streikfilms »Giù le mani« am15. August 2008 in Locarno. Die Teilnahmeeiner INNSE-Delegation am nationalenGewerkschaftstreffen vom 20. September inRodi (Tessin) hat das Band zwischen den bei-den Belegschaften enger geknüpft. In derFolge finden weitere Begegnungen statt. Am6. Dezember beispielsweise besucht eineDelegation aus dem Tessin das Basislager derINNSE. Gianni Frizzo übergibt einem INN-SE-Arbeiter die Streikfahne der Officine undeine Geldspende von 500 Euro.

Eindrücklich beim Kampf um die INNSEist die Geschlossenheit der fünfzig Arbeite-rinnen und Arbeiter, wie sie gemeinsam alleSchwierigkeiten überwinden. Niemand istausgeschert und hat den individuellen Aus-weg gewählt. Alle sind geblieben, auch dieKaderangestellten. Der Ingenieur hat Seite an

Fortsetzung von Seite 1

Halle der ehemaligen »Innocenti Sant’Eustacchio« – kurz INNSE – 2 200 Men-schen gearbeitet. Heute sind es 50 (darunter14 Frauen), die nach verschiedenen Besitzer-wechseln und Frühpensionierungen übriggeblieben sind und sich mit einer seltenenEntschlossenheit zur Wehr setzen.

Bei INNSE, nun ganz in den Händen derArbeiterInnen, ist der Alltag zurückgekehrt.Lastwagen bringen neue Aufträge, andere mitfertiggestellten Arbeiten verlassen das Werk.Erfolgreich wehren sie die Angriffe desFabrikbesitzers ab: Dem Einsatzwagen desElektrizitätswerkes ENEL, der die Stromver-sorgung hätte versiegeln sollen, wird derZugang zum Elektroanschluss versperrt.Nach der Unterbrechung der Telefonverbin-dung wird diese sogleich durch Mobiltelefo-nie ersetzt. Auch die Kantine wird nach einpaar Tagen selbst verwaltet und mit eigenenMitteln finanziert. Gewerkschaftsfunktionärekommen in Scharen vorbei und könnenkaum glauben, dass es noch ArbeiterInnengibt, die sich gegen Entlassungen undBetriebsschließung zur Wehr setzen. Nebeneiner symbolischen Spende von 300 Eurobeschränkt sich die Unterstützung durch dieGewerkschaft FIOM (Federazione ImpiegatiOperai Metallurgia, italienische Metallarbei-tergewerkschaft) auf den rechtlichen Bei-

»Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter,aber nur vorübergehend. Das eigentliche

Resultat ihrer Kämpfe ist nicht derunmittelbare Erfolg, sondern die immer

weiter um sich greifende Vereinigungder Arbeiter.«

Solche Sätze, vor über 150 Jahren niederge-schrieben1, mögen für viele verstaubt klin-gen. Dies, nachdem wir uns längst darangewöhnt haben, dass Niederlagen und Kom-promisse als Siege verkauft werden. Und ech-te Siege der Arbeiter über die Kapitalbesitzersind derart rar geworden, dass es sich lohnt,sie wie Perlen von allen Seiten zu betrachten,um ihre Eigenheiten zu verstehen. Auffallendist auf den ersten Blick, dass die jeweiligenBelegschaften – sei es bei INNSE Mailand,bei Officine im schweizerischen Bellinzonaoder auch bei Continental im französischenClairoix – ihr Schicksal in die eigenen Händegenommen haben. Sie selbst sind die Prota-gonisten des Kampfes. Die offiziellengewerkschaftlichen Strukturen spielen nureine untergeordnete Rolle. Erstaunlich istauch die ungeheure Dynamik, die zu ent-wickeln einer einzelnen Belegschaft gelingt:Bei INNSE Mailand ist es eine ziemlichgeringe Anzahl ArbeiterInnen, die schließlichdie gesamte Staatsmacht zum Rückzug zwin-gen.

Chronologie der Auseinandersetzung

Sie sind gemeinsam auf einem Tagesausflug,als sie das Telegramm des Fabrikbesitzerserreicht: »Wir haben beschlossen, ab dem 31.Mai 2008 sämtliche Aktivitäten einzustel-len.« Schnellstens kehren die INNSE-Arbei-terInnen um und gehen zum Werk. Das Torist abgesperrt. Im Hof patroullieren Männereiner privaten Sicherheitsfirma. Die Arbeite-rInnen benützen den Schichtwechsel derSicherheitsleute, um heimlich in die Halle zugelangen und sie zu besetzen. Am Dienstag-morgen nehmen sie die Produktion wiederauf. »Wir haben Kunden. Firmen, die uns fürdrei Jahre Aufträge geben wollen«, erklärensie. Die INNSE stellt Pressen und Walzen fürdie Stahlindustrie her. Früher haben an denriesigen Maschinen in der altertümlichen

Una bella CompagniaRainer Thomann* über den Sieg der Arbeiter bei INNSE Mailand

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triearbeiter an. Ausgeschlossen von den »NewDeal«-Versprechen blieben im Nachkriegs-boom vor allem die Afroamerikaner, in extre-mer Weise in den Südstaaten, so dass hier dernächste große Kampfzyklus des Proletariatsbeginnt, der aber nicht bei der Einforderungpolitischer Rechte stehen bleibt, sonderndann besonders in den Gettos im Nordenzum Kampf um soziale Verbesserungen wird,der sich angesichts des nach wie vor gespalte-nen Arbeitsmarkts vor allem in der Forde-rung nach Einkommen auch ohne Arbeit,also in der Bewegung der Fürsorgeempfängerentlädt.

Das Buch ist so nicht nur eine Analysezum strukturellen Zusammenhang undWiderspruch von Aufruhr und Organisie-rung, es ist zugleich eine spannend zu lesen-de Sozialgeschichte der USA. Für die heutigeDebatte besonders interessant sind die erstenbeiden Protestbewegungen, weil sie zur Zeiteiner globalen Wirtschaftskrise stattfinden,deren Dimension die heutige Krise wahr-scheinlich auch erreichen oder noch über-treffen wird. In ihrer Mai-Ausgabe schriebdie Zeitung analyse & kritik unter dem Titel»Kleiner Mann, was tun? Keine sozialenUnruhen sind auch keine Lösung«: »Die Kri-se stellt für die Linke nach wie vor eineChance dar. Eine Chance, die Wirtschafts-

krise in eine Legitimationskrise des Kapitalis-mus zu überführen und die Linke in dieOffensive zu bringen. Geschichte wirdgemacht. Machen wir Geschichte!« Genaudarum geht es in »Aufstand der Armen«: Wiemachen die Armen und AusgebeutetenGeschichte? Wie setzen sie das herrschendeSystem unter Druck, zwingen es zur Verän-derung und verbessern ihre eigene Situation.P/C analysieren das ganz unideologisch.Sicherlich wäre es ihnen auch am liebsten,die Kämpfe hätten den Kapitalismus überden Haufen geworfen, aber sie fragen nachdem, was historisch möglich war und war-nen davor, mit Bezug auf höher gesteckteZiele diese Möglichkeiten nicht wahrzuneh-men oder sogar noch zu verbauen. Hier hal-ten sie es mit Rosa Luxemburg: »Wollte esjemand unternehmen, den Massenstreiküberhaupt als eine Form der proletarischenAktion zum Gegenstand einer regelrechtenAgitation zu machen, mit dieser »Idee« hau-sieren zu gehen, um für sie die Arbeiterschaftnach und nach zu gewinnen, so wäre daseine ebenso müßige, aber auch ebenso ödeund abgeschmackte Beschäftigung, wie wennjemand die Idee der Revolution oder desBarrikadenkampfes zum Gegenstand einerbesonderen Agitation machen wollte.«(S. 50)

Was sind überhaupt Bewegungen?

Im ersten Kapitel, »Strukturen des Protests«,stellen P/C einige Vorüberlegungen dazu an,warum und in welchen Situationen Bewe-gungen entstehen können und was überhauptBewegungen sind. Letzteres ist aus zweiGründen wichtig: Erstens ist mit dem Auf-kommen der Redeweise von den »neuensozialen Bewegungen« der Begriff etwas ver-schwommen geworden, weil unter diesemLabel schon jede Arbeitsgruppe, NGO oderallein die korrekte Gesinnung zur »Bewe-gung« wird. In »Aufstand der Armen« sindsoziale und geschichtsträchtige Bewegungengemeint, die das System erschüttern und zuderen Kennzeichen es gehört, dass sie dassoziale Alltagsleben durcheinander bringen.Salopp und modern gesagt: Von Bewegung indiesem Sinne können wir erst sprechen, wenndie Leute ihre Terminkalender wegschmeißenund Ampeln ignorieren. Zweitens stehen P/Cvor dem Problem, dass die Doktrin der Mas-senorganisation nicht nur politisch über-mächtig ist, sondern auch dem Forschungs-prozess im Weg steht, weil sie bestimmte For-men des Protests ausblendet: »Was auchimmer die intellektuellen Ursachen für diesenIrrtum sein mögen, die Gleichsetzung von

Bewegungen mit ihren Organisationen – diezudem voraussetzt, daß Proteste einen Füh-rer, eine Satzung, ein legislatives Programmoder doch zumindest ein Banner haben müs-sen, bevor sie anerkannt werden – hat denEffekt, daß die Aufmerksamkeit von vielenFormen politischer Unruhe abgelenkt wirdund diese per definitionem dem verschwom-menen Bereichen sozialer Probleme undabweichenden Verhaltens zugeordnet werden.Folglich erregen Phänomene wie massiveSchulverweigerung, zunehmende Abwesen-heit vom Arbeitsplatz, die steigende Flut vonAnträgen auf Sozialfürsorge oder die wach-sende Zahl von Mietschuldnern kaum dieAufmerksamkeit der wissenschaftlichenBeobachter. Nachdem auf definitorischemWege entschieden worden ist, daß nichtsPolitisches vorgeht, bleibt auch nichts zuerklären, jedenfalls nicht in den Begriffen despolitischen Protests.« (S. 30) Hier hat sich inder historischen Forschung in den letztendreißig Jahren sicherlich viel verändert unduntergründige Alltagskonflikte werden heutegesehen und gewürdigt. In der politischenDebatte besteht aber nach wie vor die latenteGefahr, als »unpolitisch« auszublenden, wassich nicht in herkömmliche Muster fügt.

Seite mit den ArbeiterInnen die Pfannen derselbstverwalteten Werkskantine gespült.Auch nach der Räumung durch die Polizeitrotzen alle zusammen monatelang Nässeund Kälte und halten so während des ganzenWinters die Besetzung der Werkstore auf-recht. Diese fast unglaubliche Solidarität gibteine kleine Ahnung, welche Macht an ver-borgenen Kräften in uns allen schlummert.Kräfte, die durch den gemeinsamen Kampfgegen eine absurde und unmenschliche Wirt-schafts- und Gesellschaftsordnung freigesetztwerden können!

Repression und Militanz

Das INNSE-Basislager in der Via Rubattinodient als Stützpunkt der Arbeitermacht.Rund um die Uhr halten die ArbeiterInnendie Werkstore besetzt und verhindern so denAbtransport der Maschinen. Mehrere solcheVersuche des Fabrikbesitzers werden erfolg-reich abgewehrt. Im Laufe der Monate hatsich ein Netz von Unterstützern gebildet, dasaus ArbeiterInnen anderer Betriebe, Studie-renden und Jugendlichen autonomer Zent-ren besteht. Im Morgengrauen des 10.Februar 2009 stehen rund 300 Ordnungshü-tern fast ebenso viele ArbeiterInnen undUnterstützer gegenüber. Drei Arbeiter wer-den nach den gewaltsamen Zusammenstös-sen mit gebrochener Nase und Kopfverlet-zungen in die Notfallklinik gebracht. Aberauch sechs Carabinieri und ein Polizeichefsind von Steinwürfen und Schraubenschlüs-seln getroffen und verletzt worden, mitdenen die Arbeiter versucht haben, sich zuverteidigen.

Nach den gewaltsamen Zusammenstößenvom 10. Februar werden auf Druck derRegionalregierung die Verhandlungen übereinen Verkauf der INNSE wieder aufgenom-men. Mit der Übernahme durch einen neuenBesitzer stünde einer Weiterführung der Pro-duktion nichts mehr im Wege. Doch die Ver-handlungen verlaufen erneut im Sand. Paral-lel dazu hat Genta – der den gesamten

Maschinenpark drei Jahre zuvor, mit der Ver-pflichtung, die Produktion wieder inSchwung zu bringen, zum symbolischenPreis von 700 000 Euro dem Staat abgekaufthatte – damit begonnen, die Maschinenstückweise zu veräußern, um so einenGewinn von mehreren Millionen zu erzielen.Demontage und Abtransport der siebeninzwischen verkauften Maschinen werdenallerdings weiterhin durch die permanenteBesetzung der Werkstore verhindert. DerSchrotthändler Genta macht nun sein Rechtals Eigentümer geltend, um seinen Spekula-tionsgewinn zu realisieren.

Am Sonntag, den 2. August 2009, benütztdie Staatsmacht die Sommerferienzeit, um dieBesetzung mit Gewalt zu beenden. Ein Heervon rund 500 Ordnungshütern, Carabinieriund zivilen Beamten der StaatschutzpolizeiDIGOS umzingelt die INNSE, während inder Halle ein von Genta angeheuerter Arbeit-strupp mit der Demontage der Maschinenbeginnt. Die vierspurige Via Rubattino bleibtfür den Verkehr gesperrt. Die ganze Gegendwird militärisch belagert. Zuerst hat der Staatden Ausverkauf der INNSE organisiert, jetztschützt er mit seinen Sicherheitskräften dasPrivateigentum und damit die Verschrottungder Maschinen. Statt fünfzig Familien zuermöglichen, mit der Wiederaufnahme derProduktion ihr Brot zu verdienen, will derUnternehmerstaat sie zwingen, von denAlmosen zu leben, die »soziale Abfederung«genannt werden. Als früher die ArbeiterInnenstreikten, schützte die Armee die Streikbre-cher, um die Weiterführung der Produktiondurchzusetzen. Heute, im niedergehendenKapitalismus, versucht bei INNSE ein Heervon Polizeikräften, das Ende der Produktionzu erzwingen, die von den ArbeiterInnengegen den Willen des Fabrikbesitzers undohne ihn weitergeführt worden ist.

Am Dienstag, den 4. August, gelingt esvier Arbeitern, den militärischen Belage-rungsring rund um die INNSE zu überlistenund in die Werkshalle zu gelangen. Dortbesetzen sie einen Kran in luftiger Höhe underklären, diesen erst wieder zu verlassen,wenn die Polizei sich zurückziehe. GentasLeute unterbrechen sogleich die Demontage-arbeiten und verlassen das Werk, weil sie ihrepersönliche Sicherheit in Gefahr sehen.Damit ist ein erstes Ziel erreicht. Nunbeginnt ein Tauziehen zwischen den INNSE-ArbeiterInnen mit ihren UnterstützerInnenauf der einen Seite – es sind Tag und Nachtzwischen 50 und 200 Personen vor demWerkstor – und Genta sowie der gesamtenStaatsmacht auf der andern Seite.

Der Kampf um die INNSE steht in Italieneine Woche lang im Zentrum des öffentli-

chen Interesses. Das Fernsehen, das mehr-mals täglich live über die Geschehnisseberichtet, trägt die Szenen der Menschen-massen, die den mit Schild und Schlagstockbewaffneten Polizeikräften gegenüberstehen,in jedes Haus. Das Bild von den vier Arbei-tern auf dem Kran ist in allen italienischenTageszeitungen auf der ersten Seite. Diemilitärische Überlegenheit der Staatsmachthat sich in einen Bumerang verwandelt.Wenn der Schlagstock das einzige ist, was derStaat den Lohnabhängigen zu bieten hat,dann zerbröckelt das Bild eines Staates, dervorgibt, über den gesellschaftlichen Klassenzu stehen und die »öffentliche Sicherheit«zum Wohle aller aufrechtzuerhalten.

Als die Industriegruppe Camozzi ihreAbsicht erklärt, die INNSE zu übernehmenund das Geschäft innerhalb von 48 Stundenabzuschließen, scheint ein Sieg der Arbeite-rInnen in greifbarer Nähe. Dann ziehen sichdie Verhandlungen erneut in die Länge.Doch am Mittwoch, den 12. August, kurznach Mitternacht ist es soweit: Genta hatkapituliert und die INNSE einen neuenBesitzer. Dieser wird alle 49 weiter beschäfti-gen und hat sogar die Absicht, die Produk-tion zu erweitern. Die Menschen auf derStraße jubeln und prosten einander zu. DieArbeiterInnen der INNSE tragen ihrenWortführer auf den Schultern. Das Heer anPolizeikräften ist in Auflösung begriffen, dieVia Rubattino hat sich in ein Volksfest ver-wandelt: eine klassische Szene, wenn dieMacht zusammenbricht und die Solidaritätaller die Übermacht einiger weniger bezwun-gen hat. Die Arbeiter haben einen wichtigenSieg errungen.

Die Beispiel INNSE hat in Italien Schulegemacht. Allein in der Zeit zwischen dermilitärischen Belagerung und dem Sieg derArbeiterInnen sind aus verschiedenen Lan-desteilen vier weitere Betriebsbesetzungenbekannt geworden. Wann folgen die deut-schen ArbeiterInnen ihrem Beispiel? WelchesWerk wird die deutsche INNSE?

Und hier das Konto, auf das ihr spendenkönnt – unbedingt immer mit dem Vermerk:Lotta operai INNSEKontoinhaber: Ass.Cult. ROBOTNIK ONLUSIBAN: IT 51O 0760101600000022264204BIC: BPIITRRXXX

* Rainer Thomann ist Mitglied der schweizerischenGewerkschaft Unia, Unterstützer des Streikkomitees vonBellinzona und Aktivist im Netzwerk für eine kämpferischeBewegung der ArbeiterInnen.

Anmerkung:1) Karl Marx/Friedrich Engels: »Manifest der Kommunisti-

schen Partei«, MEW 4, Berlin 1972, S. 471

»Geschichte wird gemacht«, wenn man das als inden 80er Jahren sozialisierter Mensch hört, singtman intuitiv weiter: »Es geht voran«! Und fragt,wie die Älteren schon beim ersten Satz: Aber wie?

Dass man bei der Antwort nicht – oder vielleichterst ziemlich spät – an die anstehenden Wahlendenken muss, zeigt die Geschichte theoretischselbst. Man muss es nur wissen, und dazu mussman sie befragen. Das passiert in dieser Ausgabenicht zufällig vor dem Hintergrund der Krise undder recht freihändigen Praxis, in der die Verschrei-bung von Rezepten und Therapien erfolgt. Dennalle tun sich schwer mit der Frage, wer denn dievielen guten Rezepte anwenden und die Thera-pien auf sich nehmen soll. Auch das erinnert anSeminare der 80er Jahre und an die damaligeFrage: Ja, wo bleiben sie denn? Die revolutio-nären Subjekte nämlich. Diese Frage stellt sichz.B. für die Frage der Umsetzung einer »an sich«wünschenswerten Arbeitszeitverkürzung, wie sieW. Sauerborn und M. Wompel »für sich«, alsokontrovers diskutieren, genauso wie für die Vor-schläge der Attac-AGen »Solidarische Ökono-mie« und »Genug für alle«, die auf Belegschafts-übernahmen, Produktions- oder wenigstens Pro-duktkonversion und ein bedingungsloses Grund-einkommen setzen – gewissermaßen als Hebel füreine ganz andere Form der Vergesellschaftung –und die wir hier in Auszügen vorstellen.

Offensichtlich muss man anders fragen, um andereAntworten zu erhalten. Das tut Ch. Frings mit undanhand der 30 Jahre alten Veröffentlichung »Auf-stand der Armen« von Piven / Cloward. Hier zeigtsich, dass Organisationsfragen zwar notwendigprioritär erscheinen, aber nicht das Motiv derBewegung oder gar der Zündschlüssel für den sog.Motor der Geschichte sind. Oder R. Thomannanhand der militanten Auseinandersetzung beiINNSE, wo die Belegschaft zumindest ihre Ge-schichte selbst gestaltet hat, indem sie zum Schlussauf einen Kran stieg. Oder der BR der Vivantes-Klinken, der eine große Erhebung mit und unterden Beschäftigten organisiert und gefragt hat, wasdenn die Beschäftigten selbst beschäftigt, wenn sieüber die gesellschaftliche Bedeutung von Pflege,die Versorgung von Patienten und die eigenen Vorstellungen von »guter Arbeit«, nachdenken.Wenn die große Kraft dieser Bewegungen eher im»Nein«, in der Unterbrechung des Betriebsablaufs,der »disruptive Power« als in verordneten Organi-sationsfragen zu liegen scheint, dann sind all dieseFragen sowohl unabhängig von der nächsten Wahlals auch davon, ob die Krise nun schon wieder vor-bei sei oder doch erst noch richtig zuschlage.

Keine Wahlempfehlung, aber so viel historischeErinnerung sei erlaubt: Zu Zeiten der letztengroßen Koalition Ende der 60er Jahre entstanddie APO – doch Geschichte wird bekanntlichgemacht...

Fortsetzung auf Seite 4 oben

4express 7-8/2009

Über eine Dekade lang hatDeutschland in den internatio-nalen Streikstatistiken vonILO und Eurostat den vorletz-ten Platz belegt, nur nochunterboten von der Schweiz.Sollte sich daran nun ausge-rechnet in der Krise etwasändern? Auch wenn dieStreikstatistik in Deutschlandsystematische Mängel auf-weist und die tatsächlicheAnzahl von Streiks nicht er-fasst, lassen sich aus ihr Ten-denzen ablesen. Mindestensdie: Der Erosion der Flächen-

tarife entsprechend scheinenauch die Tage der – wie, sta-tistisch ersichtlich, ohnehinnicht sehr – ›massenwirksa-men‹ Flächen- und Branchen-streiks gezählt. Doch wer dar-aus den Schluss zieht, dassDeutschland nun endgültigdie rote Laterne übernimmt,irrt: Neue Streik- und Arbeits-kampfformen und die vonden Arbeitgebern forcierteDezentralisierung der Tarif-verhandlungen können auchdas Gegenteil bewirken. Wirdokumentieren:

Vor dem Hintergrund der anhalten-den Wirtschaftskrise hat sich derTrend zu konfliktreichen Tarifrun-den auch im Jahr 2009 mit einerganzen Reihe von Arbeitskämpfenfortgesetzt. Zwar waren mit rund300 000 Streikenden deutlich weni-ger Beschäftigte als im Vergleichs-zeitraum des Vorjahres an Streiksund Warnstreiks beteiligt, dochblieben Konflikthäufigkeit undStreikvolumen auf einem anhaltendhohen Niveau. Dies zeigt die Halb-jahresbilanz zur Arbeitskampfent-wicklung des Wirtschafts- undSozialwissenschaftlichen Instituts

(WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. DasArbeitskampfvolumenschätzt das WSI für dieersten sechs Monatedes Jahres 2009 aufetwa 350 000 Streikta-

ge. Im gesamten Jahr 2008 fielennach WSI-Schätzungen etwa542 000 Arbeitstage wegen Arbeits-kämpfen einschließlich Warnstreiksaus.

Ein wesentlicher Grund für denzahlenmäßigen Rückgang bei denStreikbeteiligten in diesem Jahr liegtdarin, dass einige Großbranchen,darunter die Metallindustrie, bereitsim letzten Jahr Tarifverträgegeschlossen hatten, die auch 2009umfassen. In anderen Branchenwurde 2009 rascher als in den Vor-jahren eine Tarifeinigung erzielt, soWSI-Arbeitskampfexperte Heiner

Dribbusch. Dies gilt insbesonderefür den Einzelhandel, wo es diesmalbereits nach knapp zweieinhalbMonaten und lediglich 820 Streik-aktionen zu einem Pilot-Abschlusskam. Die Tarifrunde 2007/2008hatte sich hingegen über mehr alszwölf Monate hingezogen, begleitetvon mehr als 6 000 Streikaktionen.

Umfangreiche Warnstreiks undganztägige Arbeitsniederlegungenfanden zu Beginn des Jahreswährend der Tarifrunde der Länderstatt. Dabei stellten nach Drib-buschs Untersuchung erstmals dieangestellten Lehrerinnen und Leh-rer die größte Gruppe von Streiken-den. In den bisher größten Streikak-tionen in der Geschichte derGewerkschaft Erziehung und Wis-senschaft (GEW), an denen auchMitglieder der Gewerkschaften desDeutschen Beamtenbundes sowie

Eine weitere Stärke der unideologischenBetrachtung besteht darin, dass sie nicht nurdas Aufkommen von Protest, sondern auchdessen Abebben theoretisch fassen können.Das Argument, mit Massenorganisationenkönnte Bewegungen eine Kontinuität verlie-hen werden, widerspricht jeder historischenErfahrung. Das zeigen P/C detailliert an denvon ihnen analysierten Bewegungen – undnoch mehr: Sie zeigen auch, wie diese Illu-sion immer wieder dadurch entsteht, dassOrganisationen durch ihre Anerkennung impolitischen System für eine zeitlang den Nie-dergang der Protestbewegung überdauernkönnen. In diesem Sinne liefert »Aufstandder Armen« nicht nur eine Kritik falscherVorstellungen, sondern leistet auch materia-listische Ideologiekritik, indem es zeigt, war-um sich die Akteure zwangsläufig falscheVorstellungen über ihr eigenes Tun machen.

Eine neue Theorie der Macht:Störpotential

Einzige Ausnahme scheint die Geschichte derIndustriegewerkschaften im 3. Kapitel zusein, weil sie tatsächlich zu einer auf Dauergestellten Repräsentanz der Arbeiter geführthaben – auch dann noch, als die offeneUnruhe abgeflaut war. In »Aufstand derArmen« wird ansatzweise eine Theorie derMacht entwickelt, die von P/C später genau-er ausformuliert worden ist. Unter normalenUmständen besteht Macht in der Verfügungüber Ressourcen wie Geld, Besitz, Waffen,Ordnungskräfte, Medieneinfluss usw. DieStrategie der Massenorganisation orientiertsich an diesen Quellen der Macht und ver-sucht ihrerseits durch die Zusammenfassungvon Menschen und deren Ressourcen eine

Gegenmacht zu bilden. Wie aber, so P/C,soll das jemals erfolgreich sein, angesichts derextrem ungleichen Verteilung der wichtigstendieser Ressourcen in der kapitalistischenGesellschaft? Wie hätten die Armen unterdiesen Umständen jemals den Herrschendenetwas abringen oder aufzwingen können?Mit einer Ressourcen-Theorie der Machtbleibt das rätselhaft, obwohl es in derGeschichte sehr wohl stattgefunden hat.

Der Grund dafür muss woanders gesuchtwerden: Die Proletarier haben keine Ressour-cen, um mit der herrschenden Macht zukonkurrieren, aber die Abhängigkeit derGesellschaft und der politischen Ordnungvon ihrer Arbeit, ihrer alltäglichen Befolgungder Regeln gibt ihnen eine Macht des Stör-potentials, »disruptive power«, mit der siezumindest für kurze Zeit Druck ausübenkönnen. An einem einfachen Beispielmachen sie das im einlei-tenden Kapitel deutlich:»So tadeln Wohlfahrtsbüro-kraten die Lahmlegungihrer Ämter durch Fürsor-geempfänger und schlagenihnen statt dessen vor, lie-ber eine Lobby im Staats-parlament oder im Kon-greß in Washington aufzu-bauen. Fürsorgeempfänger haben aber mei-stens nicht einmal die Möglichkeit, in diejeweilige Staats- oder Bundeshauptstadt zufahren, und wenn einige es dennoch schaf-fen, werden sie dort natürlich nicht beachtet.Manchmal aber können sie ein Sozialamtdurcheinanderbringen und das ist schonschwerer zu ignorieren.« (S. 45)

Mit der Illusion, die Quelle der Macht lie-ge in der Organisierung, haben politischeAktivisten und Strategen die tatsächlichenMöglichkeiten von Protestbewegungen nichtnur übersehen, sie haben ihnen oft auch dieSpitze abgebrochen und zu ihrer Befriedungbeigetragen. Das ist eine der Kernthesen, diesich – sehr viel detaillierter – aus der Analyseder vier Bewegungen ergibt. Mit feiner Ironieschreiben sie in der Einleitung: »Währendder kurzen Perioden, in denen Menschensich erheben und ihrer Empörung ›Luftmachen‹, die Autoritäten, denen sie sich nor-malerweise unterwerfen, herausfordern – indiesen kurzen Momenten, in denen Unter-schichtsgruppen den Staat unter Druck set-zen, versagen in der Regel die selbsternann-ten Anführer, scheitern sie an der Aufgabe,den Massenprotest voranzutreiben. Denn siesind emsig damit beschäftigt, embryonaleOrganisationen zu schaffen und lebendig zuerhalten – in der festen Überzeugung, dassdiese Organisationen wachsen und zu macht-vollen Instrumenten heranreifen werden. Sowerden die folgenden Untersuchungen auf-zeigen, das Gewerkschaftsfunktionäre nur all-zuoft Beitrittserklärungen sammelten,während die Arbeiter die Räder stillstehenließen; daß ›organizers‹ Hauskomitees grün-deten, während die Mieter sich weigerten,

ihre Miete zu zahlen, und sich auch von derPolizei nicht aus ihren Häusern vertreibenließen; daß ›organizers‹ bei massiven Gewalt-vorfällen, bei Brandstiftung und Plünderungdamit beschäftigt waren, Satzungen zu ent-werfen.« (S. 21)

Hieraus erklärt sich auch, warum einzigdie Industriegewerkschaften zu dauerhaftenOrganisationen werden konnten: »DerHauptgrund dafür ist, daß keine andereGruppe über eine vergleichbare Fähigkeit zurErschütterung verfügt. Eben weil dieseFähigkeit des Streiks, soziale Erschütterungengewaltigen Ausmaßes hervorzurufen, einge-dämmt werden mußte, konnte die Gewerk-schaft den Eliten die Ressourcen abringen,die für die Aufrechterhaltung von Massenor-ganisierung unabdingbar sind.« (S. 200) Aberzugleich wurde damit der Streik und dieStörung des Produktionsprozesses ritualisiert

und einge-schränkt, wasfaktisch zumMachtverlustder Arbeiterbeitrug. DieGewerkschaf-ten, so P/C,hätten zu kei-nem Zeitpunkt

wieder solch einen unmittelbaren Einfluss inder politischen Arena ausüben können, wieihn die Kämpfe Mitte der dreißiger Jahrehatten, aus denen die modernen Industriege-werkschaften in den USA erst hervorgegan-gen sind.

Materialistische Theorie der Subjektivität

In der angelsächsischen Debatte gehört »Auf-stand der Armen« zu einem der Standardwer-ke, auf das sich von Kim Moody bis BeverlySilver fast alle beziehen, die über die Perspek-tiven proletarischer Bewegungen forschenund nachdenken. Die deutsche Ausgabe istnach ihrem Erscheinen in den achtziger Jah-ren für eine kurze Zeit in linksradikalen Krei-sen sehr enthusiastisch aufgenommen wor-den, dann aber wieder aus der Diskussionverschwunden, weil schon die Fragestellungnicht mehr in den Zeitgeist passte. Meinkleines und höchst unvollständiges Plädoyer,den Staub vom Buch zu wischen und es alsmodernen und aktuellen Beitrag zu eineranstehenden Debatte um revolutionäre Sub-jektivität zu lesen, beruht auf der Einschät-zung, dass die globale Krise noch lange nichtvorbei ist und mit ihrer weiteren Verschär-fung in den nächsten Jahren all die in densechziger Jahren gestellten, aber nicht ausdis-kutierten Fragen wieder auf die Tagesord-nung kommen. Das Buch ist in den meistenBibliotheken oder auch antiquarisch für klei-nes Geld zu bekommen.

* Christian Frings lebt und arbeitet in Köln.

Im Grunde ist Arbeitszeitverkürzung dieKönigsdisziplin gewerkschaftlicher Tarifpoli-tik, gewerkschaftlicher Politik überhaupt.Über die Verteidigung des materiellen Über-lebens im Kapitalismus hinaus ist sie einStück Emanzipation in und von der Arbeit.Sie schafft die Spielräume für ein besseresLeben, wir können mehr für uns, unsereGesundheit oder Bildung tun, für Beziehun-gen und Familien. Männer, die sich inUmfragen mehr noch als Frauen kürzereArbeitszeiten wünschen, hätten die Gelegen-heit, sich mehr um Kinder und Familie zukümmern und so ihren überfälligen Teil zurGeschlechtergerechtigkeit beizutragen. Wieauch immer wir kürzer arbeiten, wir könntenuns mehr um die Gesellschaft kümmern, unsgegen Sachen engagieren, die uns schon lan-ge ärgern und in der Politik oder bei denGewerkschaften aktiver werden. Arbeitszeit-verkürzung, so wie wir sie wollen, ist Gesell-schaftsveränderung – das alles ist nicht auto-matisch so, aber es bietet diese Chancen.

... Und: Arbeitszeitverkürzung ist unserstrategisch zentraler Hebel gegen Massenar-beitslosigkeit, die die Durchsetzungsbedin-gungen für Gewerkschaften entscheidendschwächt. Die Produktivität je Arbeitsstundeist in Deutschland von 1991 bis 2006 um32,4 Prozent gestiegen. Ein Drittel mehr zuproduzieren, um den Beschäftigungsstand zuhalten, ist nicht möglich und oft – StichwortKlima – auch nicht sinnvoll. Dabei hat dasextreme Exportwachstum nur bewirkt, dassdie Arbeitslosigkeit in Deutschland, die sonstnoch höher wäre, mit unseren Außenhandels-überschüssen »exportiert« wurde – und jetzt,wo die Exporte einbrechen, wieder zurück-kehrt und den krisenbedingten Anstieg derErwerbslosigkeit in Deutschland spätestensim Herbst dramatisch zuspitzen wird.

Produktivitätssteigerungen, die Arbeiteffektiver und damit tendenziell überflüssigmachen, sind etwas Urkapitalistisches. Ent-sprechend muss es zu den »Basics« vonGewerkschaften gehören, diesen Mechanis-mus durch Arbeitsumverteilung zu kontern.Arbeitszeitverkürzung ist deswegen nichtgewerkschaftliche Kür, sondern Pflicht,genauso wie Lohnpolitik. Diese »Pflicht« hatdie Arbeiterbewegung historisch im Großenund Ganzen auch erfüllt. Gerade in derNachkriegszeit wurde, ausgehend von der 48-Stunden-Woche, die wöchentliche Arbeits-zeit verkürzt, der Samstag frei gekämpft undder Urlaub ausgeweitet. Nicht von ungefährnahm die Arbeitslosigkeit Anfang der 90er-Jahre sprunghaft zu – gerade zu der Zeit, als

NeustartEin Versuch, die

zu befreien –

Frances Fox Piven /Richard A. Cloward:

»Aufstand der Armen«,Suhrkamp, Frankfurt a.M.1986, 467 S., antiquarisch,

ISBN 3-518-11184-1

Weniger Fläche, mehr Streik?WSI-Halbjahresbilanz 2009 zu Arbeitskämpfen zeigt neue Trends

Fortsetzung von Seite 3 unten

express 7-8/2009 5

Unorganisierte beteiligt waren, leg-ten etwa 100 000 Lehrerinnen undLehrer die Arbeit nieder. Die großeMehrheit der Streikenden warenFrauen.

Auch der zweite Großkonflikt,die bundesweite Auseinanderset-zung bei den Kindertagesstätten,wurde von Frauen getragen. SeitAnfang Mai streikten in mehrerenWellen nach Gewerkschaftsangabennahezu 150 000 ErzieherInnen füreinen Tarifvertrag zum Gesund-heitsschutz. Im Zusammenhangmit der Tarifrunde, die die IGMetall in der Textil- und Beklei-dungsindustrie führte, fanden imMärz umfangreiche Warnstreiks mitknapp 9 000 Beteiligten statt.

Die Anzahl der Streiks wird vonder amtlichen Statistik nicht erfasst.Doch sieht Dribbusch Anzeichendafür, dass die in den letzten Jahren

zu beobachtende Zunahme vonArbeitskämpfen anhält. Ein Indika-tor ist, dass allein die Dienstleis-tungsgewerkschaft ver.di im erstenHalbjahr 2009 über 118 Anträgeauf Arbeitskampfmaßnahmen ent-schieden hat, während es im Jahr2008 insgesamt 149 und 2007 ins-gesamt lediglich 82 waren.

Der Großteil aller Arbeitskämpfesind Konflikte um Firmen- undHaustarifverträge, bilanziert Drib-busch. Die zunehmende Zersplitte-rung der Tariflandschaft, Tariffluchtund die Weigerung vieler Unterneh-men, überhaupt einen Tarifvertragabzuschließen, seien die wesentli-chen Gründe für die Zunahme sogenannter »Häuserkämpfe«, erklärtder Wissenschaftler. Diese Konfliktekönnen sich teilweise über vieleMonate, im Einzelfall sogar längerals ein Jahr hinziehen. Als Beispiel

nennt Dribbusch die Auseinander-setzung von Pflegekräften um einenTarifvertrag bei der Lippischen Ner-venklinik Dr. Spernau in Bad Salzu-flen. Nachdem seitens ver.di überein Jahr vergeblich versucht wurde,zu einer Einigung zu gelangen, kames seit April diesen Jahres immerwieder zu Arbeitsniederlegungen.»Der Klinikbesitzer, der bisher prin-zipiell jeden Tarifvertrag verweigert,versucht die Auseinandersetzungmit dem Einsatz von Leiharbeitsfir-men auszusitzen«, berichtet Drib-busch.

Mehrere Firmen-Auseinanderset-zungen betrafen Umstrukturierun-gen und Arbeitsplatzabbau. Beispie-le sind unter anderem die Auseinan-dersetzung um geplante Entlassun-gen beim Wiesbadener Autozuliefe-rer Federal Mogul im Mai sowie derfünfwöchige Streik beim IT-Unter-

nehmen EDS, bei dem es nach derÜbernahme des Unternehmensdurch Hewlett Packard um Stan-dortschließungen, Massenentlas-sungen sowie die Sicherung derEinkommen ging.

Das erste Halbjahr 2009 zeige,dass die Beschäftigten auch in derKrise bereit seien, ihre Interessenmit Arbeitskämpfen zu verteidigen.»Die Gewerkschaften bleiben mobi-lisierungsfähig«, resümiert WSI-Experte Dribbusch. »Sollte es imweiteren Verlauf des Jahres zurAndrohung von Standortschließun-gen und Massenentlassungen kom-men, ist mit einer Zunahme vondefensiven Arbeitskämpfen zu rech-nen.«

(Quelle: WSI-Pressemitteilungvom 29. Juli 2009)

die bis dahin erfolgreiche Politik der Arbeits-zeitverkürzung endete. Massenarbeitslosig-keit, wie wir sie in Deutschland und weltweithaben, ist nicht durchgesetzte Arbeitszeitver-kürzung und erst recht: nicht verhinderteArbeitszeitverlängerung.

Eigentlich wissen wir das. Noch bei jedemBundeskongress haben wir uns in die Handversprochen, einen neuen Anlauf zu nehmenin der Arbeitszeitverkürzungspolitik. Undnatürlich haben die MahnerInnen und Kriti-kerInnen recht, die eine 30-Stunden-Wochein Europa fordern. Aber jeder, der die Stim-mung in Betrieben oder Tarifkommissionenkennt, weiß, dass nach jahrelangen Reallohn-einbußen Arbeitszeitverkürzung beim bestenWillen nicht für mobilisierbar, allenfalls füreine schöne Utopie gehalten wird. Pragmati-ker, die wir sind, haben wir das Drehen anden großen arbeitszeitpolitischen Rädern auf-gegeben, um es an kleineren weiter zu versu-chen. Wenn man mehr an den individuellenArbeitszeitwünschen anknüpfe, so die Hoff-nung, könne Arbeitszeitpolitik wieder anBedeutung gewinnen. Dem diente u.a. einegroße Arbeitszeitumfrage unter 25 000 Mit-gliedern und Nichtmitgliedern. Daraus sind

viele Konzepte im Sinne einer arbeitnehmer-orientierten Arbeitszeitflexibilisierung ent-standen, die es lohnen würden weiter verfolgtzu werden (wie etwa das der Zeitwertgut-scheine). Doch zum einen sind wir auchdamit nicht richtig vom Fleck gekommen,und zum anderen stellen sie als individuelleAngebote, auch von ihrem Anspruch her,kaum einen Beitrag zur gesellschaftlichenArbeitsumverteilung dar.

AZV muss wieder auf dieTagesordnung – national & international

So unbestreitbar schwierig derzeit ein Wie-deraufgreifen des Themas Arbeitszeitverkür-zung ist, so unmöglich ist es, vom anderenEnde her gedacht, für eine Gewerkschaft imAngesicht einer Riesenwelle von Arbeitslosig-keit, das Thema Arbeitszeitverkürzung zubeerdigen – das grenzte an Selbstaufgabe.Aber moralischer Impetus und das Hantierenmit Untergangsszenarien werden nicht vielhelfen, solange die Ursache für die Reser-viertheit beim Thema AZV nicht geklärt ist.

Liegt es daran, dass wir die Forderung nichtgut genug begründet und erklärt oder dasswir sie nicht zeitgemäß oder personenbezo-gen genug gefasst hätten? Warum erwärmtsich die Kollegin in einem Druckbetrieb, derKollege bei der Abfallwirtschaft oder bei derTelekom nicht für die guten Argumente fürAZV? Weil sie oder er nicht glauben, dass siedamit ihre Arbeitsplätze sicherer machen,sondern befürchten, sie zu gefährden!

Sie wissen, dass eine Verkürzung ihrerArbeitszeit, die nicht durch Arbeitsintensivie-rung oder Lohnverzicht bezahlt wird, Kostenfür ihren jeweiligen Arbeitgeber darstellt. Daswürde sie nicht weiter beeindrucken, wennsie davon ausgehen könnten, dass auch alleanderen Firmen, mit denen ihr Arbeitgeberim Wettbewerb steht, die höheren Kosteneiner kollektiven Arbeitszeitverkürzung tra-gen müssten. Davon können sie aber leidernicht ausgehen, weil wir mit unseren Tarif-verträgen nur noch Teile der jeweiligen Bran-che abdecken: bei der Telekom nicht derenKonkurrenten Vodafone oder O2, in derAbfallwirtschaft nicht die private Konkur-renz, beim Druckbetrieb nicht die Wettbe-werber in neuen Bundesländern oder inRussland. Von wegen Flächen(= Branchen)-Tarifverträge!

Also fürchten die KollegInnen, dass ihreUnternehmen weniger profitabel als anderewürden, sich Investoren zurückziehen könn-ten oder dass ihre Druckerzeugnisse/Abfall-gebühren/Telefonverträge sich verteuernkönnten, was den Verlust von Marktanteilenund damit Arbeitsplätzen zur Folge hätte.Gegen diese oft sehr realistische Befürchtung

verpufft jedes volkswirtschaft-lich gut begründete Argument,wonach Lohnerhöhungen aberdie Massenkaufkraft stärktenund Arbeitszeitverkürzungendie Arbeitslosigkeit eindämmenwürden. Wir haben zu langefestgehalten an unseren schein-bar selbstverständlichen Tarif-und Gewerkschaftsstrukturen.Wir haben versäumt, die dra-matischen Veränderungen derWirtschaftsstrukturen in denletzten 20 Jahren nachzuvollzie-hen. Jetzt können wir den Kol-legInnen nicht mehr zusagen,dass das, was für ihren Arbeitge-ber gilt, auch für alle seine Kon-kurrenten gilt, dass es deshalbnicht zu Wettbewerbsverzerrun-gen kommt, wenn wir demArbeitgeber Mehrkosten aufsAuge drücken.

Unser Problem mit derArbeitszeitverkürzung ist weni-ger ein ideologisches als einDurchsetzungsproblem, einProblem unserer inadäquatgewordenen gewerkschaftlichenStrukturen – und kann letztlichauch nur in diesem Zusammen-

hang gelöst werden. Die auf uns zurollendeMassenarbeitslosigkeit wird uns branchen-und grenzüberschreitend treffen. Da könnteeine gemeinsame Forderung nach Arbeits-zeitverkürzung auch ein Vehikel der Gewerk-schaftserneuerung sein. Gerade Arbeitszeit-verkürzung lässt sich tarifpolitisch nurgemeinsam in Überwindung der Konkurrenzzwischen Belegschaften der gleichen, oftgrenzüberschreitenden Branche durchsetzen– oder gar nicht. Gewerkschaften, die einesolche Perspektive nicht eröffnen, treiben dieBelegschaften geradezu in antisolidarische,korporatistische Bündnisse mit ihren Arbeit-gebern. Deswegen sollten wir auf nationaler,europäischer und internationaler EbeneArbeitszeitverkürzung neben Mindestlöhnenund Konjunkturprogrammen auf die Tages-ordnung setzen und alles dafür tun, dieseForderung schnell zu operationalisieren undgemeinsam streikfähig zu machen.

Notwendige Schritte aufeinem weiten Weg

Während dies erste notwendige Schritte aufeinem weiten Weg sind, steht die Tarifrunde2010 im Öffentlichen Dienst (Bund/Kommunen) vor der Tür. Und das zu einerZeit, wo die Massenarbeitslosigkeit in dieHöhe schnellen wird. Zwar steht der Öffent-liche Dienst auch unter erheblichem Kosten-druck und war deswegen oft Vorreiter beiArbeitszeitverlängerungen, er ist aber zumin-dest in seinem Kernbereich nicht so starkenKonkurrenzverhältnissen ausgesetzt, dieStreiks in vielen privaten Bereichen erschwe-ren – s.o. Zudem ist der Neoliberalismus alsIdeologie (weniger materiell) am Boden, derÖffentliche Dienst und seine Aufgabenhaben an Anerkennung gewonnen, in derKrisenbekämpfung sind sie fast unbestritten.Eine Forderung nach Arbeitszeitverkürzungbei maximalem Lohnausgleich, die den Staatin seiner beschäftigungspolitischen Verant-wortung ernst nehmen würde, wäre plausi-bel, begründbar und bei guter Vorbereitungsicher auch streikfähig.

Der öffentliche Sektor könnte so eine Zug-pferdrolle gewerkschaftlicher Antikrisenpoli-tik einnehmen. Tarifauseinandersetzungenum kürzere Arbeitszeiten müssten im privatenSektor und grenzüberschreitend anschlus-sfähig gemacht und koordiniert werden. Dain den meisten Branchen aus den genanntenGründen und erst recht in Krisenzeiten tarif-liche Kämpfe für kürzere Arbeitszeitenschwierig sind, käme es darauf an, einebetriebs- und branchenübergreifende politi-sche Forderung zu entwickeln – nach gesetzli-cher Arbeitszeitverkürzung, nach Höchstar-beitszeiten und/oder finanzieller oder regula-torischer staatlicher Förderung einer arbeits-zeitverkürzende Tarifpolitik. In einer solchenPerspektive konfliktfähig zu sein, bedeutet,

ArbeitszeitArbeitszeitfrage aus der WettbewerbslogikWerner Sauerborn*

Fortsetzung auf Seite 6 oben

6express 7-8/2009

Das Aktionsbündnis »Wir zah-len nicht für Eure Krise«, einZusammenschluss zahlreichera u ß e r p a r l a m e n t a r i s c h e rInitiativen sowie von Gewerk-schaftsgliederungen und Ver-bänden der Linken, der Grü-nen, der SPD und andererKleinparteien, war maßgeb-lich am Zustandekommen derDemonstrationen am 28.März beteiligt. Nachdem dasBündnis sich im Juni zumgroßen Ratschlag in Kasselgetroffen hatte und – anders

als der Medienmainstream –dort u.a. zu dem Schlussgekommen war, dass die Kri-se keineswegs dann vorbeiist, wenn einige Aktienkursewieder nach oben zeigen,sondern, dass das dicke Endeerst noch kommt, ruft es nunfür den 17. September bun-desweit zur Fortsetzung derProteste auf. Vor wie erstrecht nach den Wahlen giltdabei für den Kreis der Aufru-fenden: »Die Krise gehörtden Reichen. Die Zukunft

gehört uns.« Wir dokumentie-ren aus dem Aufruf:

Die größte Wirtschaftskrise seit1929 ist nicht überwunden, son-dern wird derzeit durch Kurzarbeit,Abwrackprämie und Konjunktur-pakete abgefedert. Jahrelang hat dieBundesregierung mit dem Verweisauf leere Kassen die Sozialsystemegekürzt, jetzt macht der Staat Milli-arden für die Rettung eines Finanz-systems locker, das diese Krise erstermöglicht hat. Die Rechnung wird

uns nach der Wahl präsentiert:Mehrwertsteuererhöhungen, An-griffe auf die öffentliche Daseinsfür-sorge und Arbeitsplätze.

Wir wollen jetzt einen sozialenund ökologischen Umbau der Wirt-schaft, der sich an den Menschenund nicht an Profiten orientiert.Mit Demut und Appellen werdenwir die Abwälzung der Krisenlastenauf uns nicht verhindern oder gareine überfällige Neuorientierungjenseits der Profit- und Wachstums-logik des Kapitalismus erreichen.Deswegen brauchen wir eine solida-rische gesellschaftliche Bewegungaus Beschäftigten, Arbeitslosen,SchülerInnen, Studierenden, Stadt-und UmweltaktivistInnen. Schlagenwir am 17. September gemeinsamAlarm!

Mit dem Aktionstag wollen wirvor den Bundestagswahlen ein deut-liches Zeichen setzen gegen die

Abwälzung der Krisenfolgen aufunsere Kosten. Die Krise gehört denReichen. Die Zukunft gehört uns.Wir sind nicht bereit, die Folgender Krise zu tragen:● nicht durch Sozialabbau und

Lohndumping ● nicht durch Einsparungen bei

der Infrastruktur ● nicht durch verstärkten Raubbau

an der Natur ● nicht durch Demokratieabbau

Was wir wollen

Profiteure zur Kasse! Banken enteig-nen und unter gesellschaftlicheKontrolle!

Arbeitslosigkeit bekämpfen –Arbeit umverteilen: Verkürzung derArbeitszeit auf 30 Stunden bei voll-em Lohnausgleich! Rücknahme derRente mit 67 – keine Profite aufKosten der Rentenversorgung!

das politische, also auf den Gesetzgeber, nichtden Arbeitgeber gerichtete Streikrecht in An-spruch zu nehmen. Dass dies Gewerkschaftenverboten sei, ist auch so ein alter Zopf ausden Zeiten des Rheinischen Kapitalismus.Zugestanden hatten wir in einem »histori-schen Kompromiss« den Verzicht auf das

politische Streikrecht gegen die Zusage derArbeitgeber, die Einheitsgewerkschaften, dieMitbestimmung und vor allem die Flächenta-rifverträge zu respektieren. Das tun sie be-kanntlich nicht mehr. Was also hält uns?

* Werner Sauerborn arbeitet für den ver.di-LandesbezirkBaden-Württemberg. Der Beitrag ist als Kurzfassungerschienen in ver.di-publik, Nr. 6/7 2009 und wurde fürden express überarbeitet. »Neustart Arbeitszeit« von Werner Sauerborn

ist eine von mehreren gewerkschaftlichenInitiativen für die Neuaufnahme der Forde-rung nach Arbeitszeitverkürzung durch dieGewerkschaften (siehe im LabourNet Germany www.labournet.de/diskussion/arbeitsalltag/az/azv.html).

Diese sind – ebenso wie die Forderungennach »guter Arbeit« – sehr erfreulich undbegrüßenswert. Endlich, nach Jahrzehnteneiner auf den Arbeitsplatzerhalt begrenztenArbeitspolitik, rücken auch die alltäglichenArbeits- und damit auch die Lebensbedin-gungen in den Fokus gewerkschaftlicherDebatten. »Wir haben andere Probleme«oder »Hauptsache Arbeit« hieß es viel zu lan-ge von Seiten der Betriebsräte und Gewerk-schaftsfunktionäre, wenn Arbeitszeit, Arbeits-verdichtung oder Gesundheitsschutz ange-sprochen wurden.

Mit diesen Forderungen wird also gewerk-schaftspolitisch weit gesprungen, sofern siesich breit durchsetzen können. Und doch giltfür die Begründung dieser Forderungen, hieram Beispiel der Arbeitszeitverkürzung, dasssie zu kurz greifen und m.E. eben deshalbmit dieser Begründung kaum zum Erfolgführen können.

Denn all die massiven Verschlechterungender Arbeitsbedingungen seit den gegen unsgewendeten Ansprüchen an Autonomie, Sou-veränität und Humanisierung am Arbeits-platz waren und sind unserer Erpressbarkeitdurch die Drohung des Arbeitsplatzverlustesgeschuldet. An dieser Erpressbarkeit hat sichnichts geändert, im Gegenteil, sie ist seit denHartz-Gesetzen stärker denn je. Massener-werbslosigkeit durch Lean Production, Glo-balisierung und Wirtschaftskrise(n) habender Kampfkraft der Belegschaften undGewerkschaften das Genick gebrochen undall die Zugeständnisse an Löhnen, Arbeitszei-ten und Arbeitsbedingungen bewirkt. Ausge-rechnet nun soll Arbeitszeitverkürzung mög-lich sein und eine Umkehr dieser Verschlech-terungen einleiten? Und dann auch nochüber die damit erhoffte Arbeitsumverteilungzum »strategisch zentralen Hebel gegen Mas-senarbeitslosigkeit« werden?

Lohnarbeit als Selbstzweck?

Die Drohung mit und die Angst vor Arbeits-platzverlust machen durch die Lohnabhän-gigkeit erpressbar und erzwangen die vorran-gige Rücksichtnahme auf die Wettbewerbs-fähigkeit des Standortes, des Konzernsund/oder der Nation. Dafür wurden Arbeits-

zeitflexibilisierung und Produktivitätssteige-rung zu Lasten der Lohnabhängigen, Arbeits-verdichtung (oft in Eigenregie), unbezahlteArbeitszeitverlängerung weit über Pausenkür-zungen hinaus, Jagd auf Kranke zur zusätzli-chen Senkung der Personalkosten und weite-re Schweinereien mitgemacht, wenn nichtgar aktiv mitgestaltet. Wenn »die Hand, dieeinen füttert«, nicht gebissen werden darf,setzt sich der Lohnabhängige auch schon malselbst auf Diät. Und diese Erpressbarkeit hatdazu geführt, dass die (angeblich) zur Exis-tenzsicherung im Kapitalismus alternativloseLohnarbeit durch massive Lohnsenkungen,(akzeptierte) Tarifunterschreitungen, Auswei-tung des Niedriglohnsektors und von denLohnabhängigen finanzierte unzählige Sub-ventionen für das Kapital längst diesen ihrenZweck der Existenzsicherung weitgehendverloren haben und zum (gewerkschafts-)politischen Selbstzweck wurden. Zu diesemSelbstzweckcharakter gehören neben Vollar-beitsplätzen, die nicht vor Armut schützen,auch künstlich am Leben erhaltene (Autoin-dustrie), überflüssige (Automatisierung),schädliche (Rüstung, Kernenergie, Verfas-sungsschutz oder Sozialschnüffler) sowiekünstlich geschaffene Jobs in der Erwerbs-losenindustrie.

Vor dem Hintergrund dieser Erpressbar-keit und der damit verbundenen Abhängig-keit von der Wettbewerbsfähigkeit des»Arbeitgebers« ist es daher richtig, dass nureine gesetzliche, branchenübergreifende, füralle verbindliche Arbeitszeitverkürzungzumindest optional tatsächlich zur Arbeits-umverteilung führen kann – und dies ange-sichts der Globalisierung auch nur interna-tional! Die gesetzliche Form der Arbeitszeit-verkürzung ist auch zum Schutz der Beleg-schaften und der Betriebsräte vor ihrer eige-nen Erpressbarkeit, also gewissermaßen vorsich selbst nötig. Nicht richtig ist aber, dassdamit das Argument der Wettbewerbsfähig-keit der »Hand, die einen füttert« ausgehe-belt wäre. Richtig ist viel mehr, dass dafüralternative Futterquellen gesucht underkämpft werden müssten.

Aus der erpressbaren Lage und den ent-sprechenden Kräfteverhältnissen heraus hin-gegen ist eine Umkehr der Arbeitspolitiknicht möglich und auch von den meistenLohnabhängigen nicht erwünscht. Wenn dasGeld knapp ist und die entwürdigendeErwerbslosigkeit droht, wird die eigeneLebenszeit und damit auch Freizeit nachran-gig, wenn nicht gar zum einzigen Pfund, umArbeitsplätze zu erhalten oder die abgepress-ten Lohnverluste auszugleichen.

Die AusgleichsfrageWer mit der Forderung nach Arbeitszeitverkür-zung (AZV) unterwegs ist und nicht ohne Atem-pause den Zusatz »bei vollem Lohn- und Personal-ausgleich« anschließt, riskiert Rüffel, besondersgern von Gewerkschaftslinken. Zurecht, denngerade als Linke haben wir immer vor dem Risikogewarnt, dass die Arbeitgeber uns die Kosten derArbeitszeitverkürzung zuschieben, sei es, indemsie den Lohnausgleich verweigern oder/und dieArbeitszeit intensivieren. Etwas unscharf bliebdabei immer, inwieweit auch von vollem Lohnaus-gleich zu reden ist, wenn nur der nominaleMonatslohn erhalten blieb oder wenn wir überniedrigere Lohnabschlüsse in der Folge an derFinanzierung der AZV beteiligt wurden. Die War-nungen waren jedenfalls allzu berechtigt, dennvielfach haben wir die Arbeitszeitverkürzungender 80er Jahre mit Lohneinbußen, mehr Stressund Belastungen bezahlt.

Dies hat die Arbeitszeitverkürzung diskreditiertund war eine der Ursachen, warum die Gewerk-schaften vor etwa 20 Jahren ihre Arbeitszeitpoli-tik, wenn auch unfreiwillig, de facto eingestellthaben. Aber zu glauben, man könne sich straf-und folgenlos vom Thema AZV verabschieden,hat sich als historischer Irrtum der Gewerkschafts-bewegung erwiesen. Das geräumte Feld wurdestattdessen von der Gegenseite besetzt durch ihrVerständnis von Arbeitszeitpolitik: erstens Teilzeit-arbeit ohne jeden Lohnausgleich und alle mögli-chen Formen prekärer Jobs völlig außerhalbjeder tariflichen Gestaltung und Kontrolle, zwei-tens und andererseits entgrenzte und verlängerteArbeitszeiten (die tatsächliche Wochenarbeitszeitin Deutschland ist allein seit 2003 um 3,3 Stun-den auf 41,1 Stunden angestiegen) und drittensmassenhaft Arbeitszeit null, d.h. Massenarbeitslo-sigkeit.

Aus dem moralisch und verteilungspolitisch be-rechtigten Anliegen des vollen Lohnausgleichsdas Prinzip abzuleiten: »wenn kein voller Lohn-ausgleich, dann gar keine AZV«, hat hinterrückseinen viel größeren Flurschaden angerichtet unddazu beigetragen, dass die Gewerkschaften viaMassenarbeitslosigkeit erst richtig in die Defensi-ve gerieten und verteilungspolitisch so stark verlo-ren haben.

Wenn wir einen Neustart in der Arbeitszeitpolitikwollen, müssen wir diese Lektion aufarbeiten.Dazu gehört, sich zu vergegenwärtigen, dass dieForderung nach AZV zwei Dimensionen enthält,die nur analytisch, nicht praktisch zu trennen sind.

Die erste ist die Verteilung in der Klasse: Dieeinen bekommen wieder Arbeit, weil die anderenweniger arbeiten. Dies ist reine Arbeitsumvertei-lung, die das volkswirtschaftliche Beschäftigungs-volumen nicht erhöht. Dennoch ist diese reine Ar-beitsumverteilung für uns von höchster Bedeu-tung, zum einen weil sie eine Frage der Solida-rität aller auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft Ange-wiesener ist, und zum anderen, weil sie Massen-arbeitslosigkeit verhindert, durch die den Arbeit-gebern ein wirksames Erpressungsinstrument fürDumpingpolitik aller Art zuwächst.

Die davon zu unterscheidende zweite Dimensionder Arbeitszeitverkürzungspolitik ist die Vertei-lung zwischen den Klassen, also die Frage desLohnausgleichs. Wie jede Lohnerhöhung erhöhtauch jede Arbeitszeitverkürzung mit Lohnaus-gleich die Arbeitskosten. Ohne Lohnausgleich istAZV für die Arbeitgeber vor allem ein Organisa-tionsproblem, mit Lohnausgleich eine Kostenbe-lastung. Hier liegt der verteilungspolitischeKnackpunkt und die Herausforderung für dieGewerkschaften.

Es geht um eine Neubestimmung dieser beidenDimensionen der Arbeitszeitpolitik zueinander.Die bisherige Verhältnisbestimmung »AZV beivollem Lohnausgleich oder gar nicht« hat sich alsfatal erwiesen und hat, natürlich in Verbindungmit anderen Ursachen, eher ihr Gegenteilerreicht. Arbeitsumverteilung (Dimension 1) eig-net sich nicht als Geisel oder Druckmittel für denLohnausgleich (Dimension 2), weil Arbeitsumver-teilung für die Gewerkschaften eine existentielle,nicht aufzugebende, weil an ihre Funktionsfähig-keit rührende Frage ist. Die Verhältnisbestimmungsollte daher lauten: AZV bei maximalem Lohnaus-gleich, d.h. Arbeitsumverteilung auf jeden Fallund voller Einsatz für einen maximalen und sozialgerechten Lohnausgleich.

Prämisse dieser Argumentation ist, dass Arbeits-zeitverkürzung auch Arbeit umverteilt und nichtnur intensiviert. Dieses Anliegen ist im zweitenZusatz »... bei vollem Personalausgleich!« etwasmissverständlich repräsentiert. Als gewerkschaftli-che Schlüsselstrategie gegen die Folgen der Kri-se wird Personalausgleich selten NeueinstellungErwerbsloser bedeuten, sondern Verhinderungvon Erwerbslosigkeit noch Beschäftigter. AberAZV soll ja nicht nur unsere Antwort auf die Krisesein, sondern wieder zu einer Grundform vonGewerkschaftspolitik werden.

Werner Sauerborn

Weit – und dochMag Wompel* zum Versuch, die

Auch nach den Wahlen: nicht zahlenAufruf zum bundesweiten Aktionstag am 17. September

Fortsetzung von Seite 5 oben

express 7-8/2009 7

Verlängerung des ALG I auf 36Monate – Mindestlohn von 10Euro – sofortige Erhöhung vonHartz IV auf 500 Euro ohne Sank-tionen und Repression!

Ausbau des öffentlichen Sektors– massive Investitionen in einkostenfreies, öffentliches und sozialgerechtes Bildungs- und Gesund-heitssystem!

Klimawandel und soziale Krisegemeinsam bekämpfen: Sozialerund ökologischer Umbau der Wirt-schaft durch Überführung zentralerWirtschaftsbereiche in öffentlichesEigentum unter demokratischerGestaltung der Beschäftigten undBürgerInnen!

Aufruf zum Aktionstag und Infosunter www.kapitalismuskrise.org; aktiv werden bei der Vorbereitungund in den Krisenprotesten: [email protected]

Arbeitszeitverkürzung und/oder »guteArbeit« im Sinne humanerer Arbeitsbedin-gungen können nur dann wirklich zu einertagtäglichen Verbesserung der Lebensbedin-gungen der Lohnabhängigen – statt zur wei-teren Abkoppelung des SelbstzweckesArbeitsplatz von der ursprünglichen Funk-tion der Existenzsicherung – führen, wennsie (notfalls) dem privaten oder staatlichenKapital weh tun können und dürfen. Dafürmüsste das Ziel der Verbesserung der Lebens-bedingungen wichtiger werden als der»Besitz« oder »Erhalt« von Arbeitsplätzen –und zwar unabhängig von ihrer Eignung zurExistenzsicherung.

Eine Arbeitszeitverkürzung hingegen, dielediglich als »strategisch zentraler Hebelgegen Massenarbeitslosigkeit« statt zur Ver-besserung der Lebensbedingungen der Lohn-abhängigen dienen soll, also dem (ungeeigne-

ten) Mittel zum Zweck statt dem Zweck jeg-lichen menschlichen Tuns, droht eben diedurch die Erpressbarkeit der Lohnabhängi-gen bewirkte Abkoppelung des SelbstzweckesArbeitsplatz von der ursprünglichen Funk-tion der Existenzsicherung zu betonieren.

Es geht dabei nicht um die Frage, ob ein»echtes« bedingungsloses Grundeinkommenim Kapitalismus wirklich durchsetzbar wäre,da das Kapital unsere Lohnabhängigkeit unddamit Erpressbarkeit braucht, um uns aus-beuten und disziplinieren zu können. Aus-nahmsweise genügten bereits ernsthafteBemühungen, diese Erpressbarkeit zu min-dern. Aus dieser Sicht wäre ein Kampf gegendie sozialpolitischen Sparprogramme der letz-ten 30 Jahre (und nicht nur gegen das Sym-bol Lohnfortzahlung beim Beispiel des 50-Punkte-Sparprogramms am Ende der Kohl-Ära) samt der (aktiven Mitgestaltung der)

Hartz-Gesetze wichtigergewesen als die Arbeits-zeitverkürzung von1984, die nur wenigeerreichte, mit Flexibili-sierung zu unserenLasten sowie Arbeitsver-dichtung einher ging

und maßgeblich dadurch die Massener-werbslosigkeit nicht verhinderte. Dagegenhätte der Kampf um möglichst gute Lebens-bedingungen gerade der Erwerbslosen, derÄrmsten, Prekären und der Überflüssigendiese erstens nicht isoliert und entwürdigt(und damit die Arbeiterklasse gespalten)sowie zweitens die Erpressbarkeit aller Lohn-abhängigen gemindert. Dann, ohne die Keu-le »Arbeitsplatzverlust = Armut und Entwür-digung«, wäre auch die Kampfkraft fürArbeitszeitverkürzung und gesündere, sinn-vollere Arbeitsbedingungen längst da.

Wer hingegen, wie viele Gewerkschaftspu-blikationen und viele Gewerkschaftsfunk-tionäre, jahrelang »Hauptsache Arbeitsplatz«predigt und die Lebensbedingungen derErwerbslosen höchstens unter dem Aspektder geheiligten Binnennachfrage (schon wie-der ein Mittel zum Zweck!) betrachtet, darfsich nicht wundern, wenn die Belegschaftennicht für die Forderung nach Arbeitszeitver-kürzung mobilisierbar sind!

Dies setzt nämlich in allen Köpfen denBruch mit der bisherigen Akzeptanz derWettbewerbsbedingungen der »FutterquelleArbeitgeber« voraus, was bei Bemühungenum Minderung der oder Alternativen zurkapitalistischen Lohnabhängigkeit kein Pro-blem sein dürfte. Ist doch zuletzt die gestei-gerte Erpressbarkeit durch Lohnsenkung undHartz-Gesetze gerade der Wettbewerbsfähig-keit des Standorts Deutschland geschuldet.Wer bei der durchaus notwendigen Forde-rung nach Arbeitszeitverkürzung den für dieLohnabhängigen notwendigen Lohn- undPersonalausgleich als Kostenbelastung derArbeitgeber betrachtet und daher zur Disposi-tion stellt, verbleibt leider in dieser Tradition,die Wünsche des Kapitals vor die Bedürfnisseder Menschen zu stellen. Auch hier sollte gel-ten: Die Menschen retten, nicht die Banken!

Der Mensch, sofern er sich das ohneAngst eingestehen darf, will nämlich gutesLeben, nicht gute (Lohn-)Arbeit. Eine dafürnotwendige humane finanzielle Grundsiche-rung wäre mit all den bisherigen Verzichts-leistungen und Subventionen längst finan-zierbar. Dann könnte man durchaus übergute, sinnvolle Arbeit statt erzwungenerLohnarbeit reden. Und dann wären Produk-tivitätssteigerung und Arbeitsplatzabbau einbegrüßenswerter zivilisatorischer Fortschrittund nicht die (gewerkschaftlich mitverschul-dete und nun bejammerte) Keule gegen dieGewerkschaftsbewegung.

* Mag Wompel ist Industriesoziologin und Redakteurin desLabourNet Germany

Das Thema Verdachts- undBagatellkündigungen ist, an-ders als vielfach erwartet,nicht vom Tisch: Nach demUrteil des Landesarbeitsge-richts Berlin, dass eine Revisi-onsklage von »Emmely« undihrem Anwalt Benedikt Hop-mann vor dem Bundesarbeits-gericht unzulässig sei, warenviele skeptisch, ob die Klageder beiden dagegen vor demBAG Erfolg haben würde.Trotz der elaborierten Propa-gandaschlacht, die der Miet-gutachter aus ÜberzeugungVolker Rieble, Professor für»Arbeits- und bürgerliches

Recht« (eine Konstruktion, diein sich nicht frei von Wider-sprüchen ist) an der konser-vativen Münchener Maximi-lians-Universität und Vorsit-zender der Unternehmer-«Stiftung für Arbeitsbeziehun-gen und Arbeitsrecht«, zeit-nah gegen eine offensichtlichandere öffentliche Rechts-und Gerechtigkeitswahrneh-mung anzettelte, hat das BAGam 28. Juli eine Revisionzugelassen. Dabei wird esallerdings nicht um dasgrundsätzliche Problem derklassenjuristischen Diskre-panz zwischen Arbeits- und

Strafrecht oder um die Frageder sozialen Verhältnismäßig-keit von Verdachts- und Baga-tellkündigungen gehen, son-dern um Verfahrensfragen.Rolf Geffken, Fachanwalt fürArbeitsrecht in Hamburg, hatim Labournet einen Kommen-tar zu dem Urteil veröffent-licht, in dem er uns dessenBedeutung erklärt und diesesals Erfolg des öffentlichenDrucks auf die unhaltbareRechtsprechung im Sinne derguten alten Tradition des»Rechtsfortschritts durchRechtsaneignung« wertet.Wir dokumentieren:

1.) Längst geht es bei der so genann-ten Emmely-Kampagne nicht mehrnur um einen einzelnen Fall. Viel-mehr war Gegenstand dieser Kam-pagne von vornherein die generelleInfragestellung so genannter Ver-dachtskündigungen oder von Kün-digungen wegen so genannter Baga-tellstraftaten im Arbeitsverhältnis.Die bisherige Rechtsprechung siehtbei dem Verdacht einer strafbarenHandlung eine Kündigung desArbeitsverhältnisses durch denArbeitgeber als grundsätzlich ge-rechtfertigt an, sofern der Arbeit-nehmer nach entsprechender An-

Die Dialektik von Recht und PolitikRolf Geffken über erste rechtspolitische Erfolge der Emmely-Kampagne

zu kurz gesprungenArbeitszeitdebatte ›neu zu starten‹

Fortsetzung auf Seite 8 unten

8express 7-8/2009

hörung durch den Arbeitgeber den

Verdacht nicht ausräumen oder ent-kräften kann. Grundsätze der Ver-hältnismäßigkeit, lange Betriebszu-

gehörigkeit, Umstände des Einzel-falles usw. spielen grundsätzlich kei-ne Rolle dabei. Mit dem dringen-den Tatverdacht sei das »Vertrauens-verhältnis« zwischen Arbeitgeberund Arbeitnehmer zerstört unddaher die Weiterbeschäftigung demArbeitgeber »unzumutbar«.

Ähnliches galt (und gilt noch) fürKündigungen wegen so genannterBagatellstraftaten. Etwa bei demunerlaubten Verzehr einer ScheibeKäse in der Kantinenküche oder beider Unterschlagung oder Verun-treuung äußerst geringer Beträge anKassen oder durch falsche Abrech-nungen. Auch hier fand bisher – derim Strafprozess oder im Beamten-recht längst anerkannte – Grund-satz der Verhältnismäßigkeit keineAnwendung.

Es war deshalb keineswegs über-raschend, dass das Landesarbeitsge-

richt Berlin-Brandenburg im sogenannten »Fall Emmely« (in wel-chem es praktisch um beide Artender Kündigung ging) gegen seinnegatives Urteil keine Revisionbeim Bundesarbeitsgericht zuließ.

Nun hat das Bundesarbeitsge-richt in einer durchaus salomoni-schen Entscheidung die Revisiondoch zugelassen. Natürlich ist esdabei nicht von seiner jahrzehnte-lang gefestigten Rechtsprechungabgewichen. Es hat diese auch inseinem Beschluss vom 28. Juli 2009(3 AZN 224/09) nicht in Fragegestellt. Es hat aber – und das istSymbol genug – einer bestimmtenFrage, nämlich der nach demzugrundeliegenden Zeitpunkt derBewertung des Vorgangs und der sogenannten Zumutbarkeit zur Wei-terbeschäftigung – grundsätzlicheBedeutung zugemessen und deshalb

die Revision zugelassen. Dabei ist esden Anträgen und Begründungender Betroffenen beziehungsweiseihres Rechtsanwaltes gerade nichtgefolgt, sondern hat nach einemgewissermaßen »eigenen« Grundfür die Überprüfung des Urteilsgesucht und ihn in der »grundsätz-lichen Bedeutung« dieser Fragegefunden. Wer die Rechtsprechungdes Bundesarbeitsgerichts kennt,weiß, dass darin das deutliche Sig-nal liegt, dass eine Relativierung derbisherigen Rechtspositionen jetztzumindest möglich ist.

2.) Für den juristischen »Laien«sind die Gründe für dieses Manövernur schwer nachvollziehbar. Dergewissermaßen »reine« politischeBeobachter hätte vermutlich vordem Hintergrund der Emmely-Kampagne irgendeine grundsätzli-

Mit außerordentlicher Freude – und Überra-schung – habe ich im express, Nr. 5/2009,den Artikel von Samuel Arret »DombrowskisFuror« zu Kenntnis genommen, besondersauch, weil das (Tabu)-Thema »paritätischeFinanzierung der GKV«, wenn auch nurimplizit, angesprochen wurde, das für Jahr-zehnte aus der öffentlichen Debatte der Lin-ken verschwunden war. Denn um diesesThema geht es letztlich.

Ich kann mich noch gut erinnern, wieAnfang der 1980er Jahre in den sozialpoliti-schen Seminaren der großartigen GöttingerProfessorin Ingeborg Nansen darüber debat-tiert wurde, dass erstens die so genannteparitätische Finanzierung der BismarckschenSozialversicherung eine Illusion sei und dasszweitens diese Konstruktion außerdem fürdie abhängig Beschäftigten nur Nachteilehat.

Jeder, der selbständig arbeitet oder sich dieeigene Arbeitsstelle über die Einwerbung vonProjektgeldern, Aufträgen o.ä. selbst finanzie-ren muss (Lohnarbeitern in ›profit centern‹dürfte es ähnlich gehen), weiß, dass es eineparitätische Finanzierung der Sozialversiche-rung nicht gibt. Alles ist Teil der Lohnsum-me, also Arbeitnehmerbrutto plus Arbeitge-beranteil zur Sozialversicherung = Arbeits-lohn. Der Arbeitgeber rechnet auf jeden Fallso. Dennoch ist die »paritätische« Finanzie-rung der Sozialversicherung von gewerk-schaftlicher Seite meines Wissens nie wirklichin Frage gestellt worden – von Linken in denletzten zwei Jahrzehnten auch nur noch sel-ten. Wobei auffällt, dass es auch keinen nen-nenswerten Protest von dieser Seite gab gegenden Zuschlag in Höhe von 0,9-Prozent-Punkten auf den GKV-Beitragssatz der Ar-beitnehmer, der im Rahmen der rot-grünenGesundheitsreform beschlossen wurde. Aberauch über den Ist-Zustand hinausweisendeIdeen zur Finanzierung der Sozialversiche-rung beinhalteten weiterhin einen Arbeitge-beranteil, allerdings dann meist in Form einerWertschöpfungsabgabe (»Maschinensteuer«),die ihre Begründung in der zunehmendenErsetzung lebendiger Arbeit durch Maschinenund der damit einhergehenden Finanzie-rungskrise der Sozialversicherung findet.

Scheinlösung Scheinparität

Für die Aufrechterhaltung der ›ordinären‹paritätischen Finanzierung können eigentlichnur zwei nachvollziehbare Begründungenherhalten: 1. jede Erhöhung der Beitragssätze

geht nur zur Hälfte (wir sehen jetzt mal abvon den 0,9 Prozentpunkten für Kranken-geld und Zahnersatz, die die Arbeitnehmeralleine tragen müssen) zu Lasten der Lohnab-hängigen (reduziert also das AN-Netto nurum die Hälfte des Erhöhungssatzes), und 2.,vice versa, jede Erhöhung der Beitragssätzebedeutet eine Erhöhung der Lohnsumme umdie Hälfte der Beitragserhöhung.

Dem stehen jedoch gewichtige Nachteilegegenüber – für Arbeitnehmer: Zunächstberechtigt die paritätische Finanzierung dieArbeitgeber, also die Kapitalseite, ein gewich-tiges Wort in der Ausgestaltung der GKVmitzusprechen, zumindest als Anspruch aufparitätische Repräsentanz in den Selbstver-waltungsorganen. Ob sie hier tatsächlicheinen gewichtigen Einfluss z.B. auf die Aus-gestaltung der Politik der GKV nehmen, istnicht ohne weiteres auszumachen. Ihr Ein-fluss hat sich politisch bislang eher geltendgemacht in der – erfolgreichen – Forderungnach »Reduzierung der Lohnnebenkosten«.Diese bedeutet aber immer – denn diegesparten Kosten werden ja nicht dem Lohnzugeschlagen, sondern fallen für den Arbeit-geber einfach weg – eine Verminderung derLohnsumme, also Lohnkürzung.

Der nächste Nachteil für die Arbeitneh-mer besteht darin, dass die paritätischeFinanzierung den Staat, ebenfalls zumindestaugenscheinlich, berechtigt, die letztendlicheHoheit über die Ausgestaltung der Sozialver-sicherung zu beanspruchen – als quasi überden Parteien stehende Instanz, die den Inter-essenausgleich zwischen Lohnabhängigenund Arbeitgebern unter besonderer Berück-sichtigung des Allgemeinwohls (was heute oftschlicht Standortkonkurrenz meint) organi-siert.

Die Interessen der abhängig Beschäftigten(und prekär Selbständigen), der Versichertenalso, sind damit nicht die einzigen, die dassog. »Allgemeinwohl« und deshalb die Ausge-staltung der Sozialversicherung bestimmen.Damit wird ein Konflikt angesprochen, derschon bei der Gründung der GesetzlichenKrankenkassen die SPD davon abgehaltenhat, dem »Gesetz betreffend die Krankenver-sicherung der Arbeiter« von 1883 zuzustim-men. Es war unter Bismarck als Zuckerbrot(Hatte die herrschende Klasse in Deutsch-land etwa gelernt aus der Pariser Commune?)zur Peitsche der Sozialistengesetze, d.h. alsZugeständnis an die wachsende, sich radika-lisierende Arbeiterbewegung zustande ge-kommen, deren politischer Arm in Gestaltder SPD damals noch genügend politischen

Verstand hatte, um ›den Braten zu riechen‹,d.h. die Abhängigkeiten, in die die Lohnab-hängigen sich damit begeben würden, zuanalysieren. Das Bismarcksche Sozialversi-cherungssystem – 1884 folgte noch das»Unfallversicherungsgesetz«, 1889 das »Inva-liditäts- und Altersversicherungsgesetz« –entsprach nicht dem, was sich die organisier-te Arbeiterschaft als selbstverwaltete Institu-tion vorgestellt hatte. Nicht nur die Unfall-versicherung wurde von ihr kritisiert, weil esihr weniger um Kompensation bereits einge-tretener Gesundheitsschäden ging, als umeine Erweiterung des Arbeitsschutzes im Sin-ne einer Verkürzung der Arbeitszeit, des Ver-bots der Nacht- und Sonntagsarbeit, der Ver-besserung der unerträglichen Arbeitsbedin-gungen etc. Hinsichtlich der Krankenkassenbestanden die organisierten Arbeiter auch aufeiner ausschließlichen Selbstverwaltungdurch die Versicherten und einer Versiche-rungspflicht für alle Arbeiter.1 Diese Vorstel-lungen wären es wert, heute wieder einmalins Gedächtnis gerufen und weiterentwickeltzu werden von allen, die an einer Emanzipa-tion der Arbeiterschaft interessiert sind.

Zerstörung der gesetzlichenKrankenversicherung

Fest steht jedenfalls, dass die Sozialversiche-rung bislang in Deutschland nie in der Handder Versicherten und stets nur sehr partiell inihrem Sinne organisiert gewesen ist. Diestrifft vor allem auf die GKV zu, die ein unge-heures Konglomerat von Interessen undGewinnabsichten war und ist. Nicht nur,dass sich die Arbeitgeber im Allgemeinen umeine möglichst billige GKV bemühen,während es zugleich besondere Kapital-fraktionen gibt, denen die GKV gar nichtteuer genug sein kann, weil ihre Produkte(z.B. Arzneimittel) aus diesem Topf bezahltwerden etc. Als Kompromiss aus diesenwiderstreitenden Zielrichtungen ergibt sich,fast logischerweise, die GKV möglichst billig,das Gesundheitswesen insgesamt aber mög-lichst teuer zu machen. So viel Klassensolida-rität bringt das Kapital allemal zustande. Inder Konsequenz heißt das, die Beitragssätzeder GKV möglichst weit nach unten zu fah-ren (also die Lohnsumme zu verringern) unddie Versicherten möglichst viel aus eigenerTasche drauflegen zu lassen, und dabeigleichzeitig zu verhindern, dass Abzockereienjeglicher Art (wie teure Scheininnovationen,überflüssige Untersuchungen und Medika-

mentenverschreibun-gen) effektiv unter-bunden werden. Die-sen Prozess könnenwir seit Langembeobachten – insbe-sondere die rot-grüneGesundheitsreformmit ihrer immensenLastenverteilung hin

zu den Versicherten und Kranken hat ihnnoch einmal verschärft –, und er ist auf dembesten Wege, die GKV als immer noch rela-tiv solidarische zu zerstören.

In diesem Zusammenhang sollten Ge-werkschaften und Linke auch noch einmaldie Rolle des Staates in der kapitalistischenGesellschaft hinterfragen. In allen Verteidi-gungsreden zur Sozialversicherung im Allge-meinen und der paritätischen Finanzierungderselben im Besonderen wird dem Staat dieFunktion des Organisators des Allgemein-wohls zugewiesen. Dieses wird dann kurzge-schlossen mit den Interessen »der Bevölke-rung«, denn der Staat ist in diesem Modelldie Instanz, die den Interessen »der Bevölke-rung« zur Geltung verhelfen soll, und dassind nun einmal in ihrer absoluten MehrzahlLohnabhängige ohne Produktionsmittel-eigentum. Daraus wird dann – naiv? – dieErwartung abgeleitet, dass der Staat dieInteressen der Lohnabhängigen nicht nurberücksichtigen, sondern ins Zentrum stellenund die Sozialversicherung dementsprechendoptimal organisieren möge.

Nun erleben wir seit drei Jahrzehnten ganzoffensichtlich, dass der Staat diese Rolle nichtnur nicht einnimmt, sondern stattdessen einseitig Partei für die Kapitalinteressen inGestalt der Interessen der Arbeitgeber anniedrigen Lohn«neben«kosten ergreift. Undwir sollten auch zur Kenntnis nehmen, dassdies die eigentliche, die traditionelle Rolledes Staates in der kapitalistischen Gesell-schaft immer gewesen ist – lediglich abge-schwächt von einer kurzen Periode in Folgedes Zweiten Weltkrieges, die zum einendurch ökonomischen Aufschwung und relati-ve Vollbeschäftigung und zum anderen durchdie Kalte-Kriegs-Konstellation gekennzeich-net war.

Wir müssen uns fragen, was hinsichtlichder Krankenversicherung möglich wäre,wenn die Bedürfnisse der Krankenversicher-ten wirklich im Zentrum der Gesundheitspo-litik und der Selbstorganisation der GKVstünden. Und können wir realistischer Weiseerwarten, dass wir das bekommen, solangedie Arbeitgeber, angeblich paritätisch, mit imBoot sitzen? Und der Staat ebenfalls, dem dieKapital-Jacke stets näher ist als die Arbeiter-Hose? Solange die Anbieter, also die Pharma-industrie, die Geräteindustrie und die Ärzte-schaft das System so dominieren, wie esselbst in anderen kapitalistischen Gesellschaf-ten nicht üblich ist?

Die Frage aufzuwerfen, ob denn dieparitätische Finanzierung der GKV wirklich

Welcher Wille, wessen Wohl?Dombrowskis Furor fortgesponnen – Wilfried Schwetz* über Illusionen der Parität und Alternativen zur GKV

Fortsetzung von Seite 7 unten