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Fachreferat Strukturpolitik und Kohäsion DIE LANDWIRTSCHAFT BRASILIENS LANDWIRTSCHAFT DE VERMERK Februar 2008

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Fachreferat Strukturpolitik und Kohäsion

DIE LANDWIRTSCHAFT BRASILIENS

LANDWIRTSCHAFT

DE

VERMERK

Februar 2008

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Generaldirektion Interne Politikbereiche der Union

Fachreferat Struktur- und Kohäsionspolitik

LANDWIRTSCHAFT UND LÄNDLICHE ENTWICKLUNG

DIE LANDWIRTSCHAFT BRASILIENS

VERMERK

INHALT: Dieser Vermerk wurde zur Unterstützung der Delegation des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung des EP auf ihrer Reise nach Brasilien im April 2008 abgefasst. Er besteht aus: 1) einer Einführung mit den wichtigsten physikalischen und demografischen Angaben, 2) einem Kapitel über die brasilianische Wirtschaft im Allgemeinen und schließlich 3) einer eingehenden Analyse des Agrarsektors mit Blick sowohl auf den produktiven als auch auf den kommerziellen Bereich, mit ergänzenden Anmerkungen zu den jüngsten Problemen mit den gesundheitspolizeilichen Bestimmungen für Fleischimporte durch die EU.

IP/B/AGRI/NT/2008_02 14/02/2008 PE 397.242 DE

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Dieser Vermerk wurde im Auftrag des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung des Europäischen Parlaments. Der Vermerk wird in folgenden Sprachen veröffentlicht: – Original: ES; – Übersetzungen: DA, DE, EN, FR, HU, IT, PL, PT. Verfasser: Herr Albert Massot Marti Fachabteilung Struktur- und Kohäsionspolitik Europäisches Parlament B-1047 Brüssel E-Mail: [email protected] Manuskript abgeschlossen im Februar 2008 Der Vermerk ist erhältlich unter folgendem Link: http://www.europarl.europa.eu/activities/expert/eStudies.do?language=DE Brüssel, Europäisches Parlament, 2008. Die Inhalte des Vermerks entsprechen persönlichen Ansichten des Autors, die nicht unbedingt mit der offiziellen Position des Europäischen Parlaments übereinstimmen. Vervielfältigung und Übersetzung sind nur zu nichtkommerziellen Zwecken und unter Angabe der Quelle gestattet, sofern der Herausgeber vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.

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INHALT 1. EINFÜHRUNG 1 1.1. Politisch-administrative Gliederung 1 1.2. Physikalische Geografie: die Wirtschaftsregionen 2 1.3. Demografie: Rassenvielfalt, ungleiche räumliche Verteilung und Überalterung 5 2. DIE BRASILIANISCHE WIRTSCHAFT: GRUNDLEGENDE DATEN 7 2.1. Allgemeine Wirtschaftsstruktur: Agrarhandelsmacht, industrielle Diversifizierung

und fortschreitende Tertiarisierung 7 2.2. Auf der Suche nach wirtschaftspolitischen Ansätzen in einer globalisierten Welt 9 2.3. Die (umstrittene) Rolle des „Agribusiness“-Sektors in der brasilianischen

Entwicklung 10 3. DIE BRASILIANISCHE LANDWIRTSCHAFT: EIN WELTWEIT FÜHRENDER

SEKTOR 11 3.1. Grundlegende Daten 11 3.2. Produktionsstruktur (I): Hauptsektoren im Pflanzenbau 13 3.3. Produktionsstruktur (II): Hauptsektoren in der Viehwirtschaft 16 3.4. Der Agrarhandel im Rahmen des Multilateralismus und der lateinamerikanischen Regionalintegration 17 3.5. Die Differenzen zwischen der EU und Brasilien aus Anlass der gesundheits-

polizeilichen Bestimmungen für Rindfleischimporte 19 3.6. Die brasilianische Agrarpolitik 20 WICHTIGE BIBLIOGRAPHISCHE REFERENZEN 21

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1. EINFÜHRUNG 1.1. Politisch-administrative Gliederung Brasilien ist derzeit eine Bundesrepublik, die aus 26 Staaten und einem Bundesdistrikt (KARTE 1) mit der Hauptstadt Brasilia (2 384 000 Einwohner 2006) besteht. Das Land hat ein Präsidialsystem (Präsident ist seit 2003 Luíz Inácio Lula da Silva von der „Partido dos Trabalhadores“ – PT) und ein Zweikammern-Legislativsystem, bestehend aus einem Kongress (Unterhaus) mit 513 Abgeordneten (für 4 Jahre) und einem Senat (Oberhaus) mit 81 Mitgliedern (mit einem Mandat von 8 Jahren). Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden 2010 statt. Insgesamt sind nach den letzten Wahlen von 2006 in beiden Kammern 19 Parteien vertreten. Darunter sind besonders hervorzuheben: die PMDB („Partido do Movimento Democrático Brasileiro“, sozialdemokratisch, die landesweit größte Partei mit 93 Mitgliedern im Kongress und 19 im Senat), die bereits erwähnte PT (linksorientiert, mit 82 Sitzen im Kongress und 12 Mitgliedern im Senat), die Demokraten (DEM, tendenziell konservativ, mit 57 Sitzen im Kongress und 17 Mitgliedern im Senat) und die PSDB („Partido da Social Democracia Brasileira“, entstanden als Abspaltung von der PMDB, die über 57 Sitze im Kongress und 17 Senatoren verfügt). Im Kongress gibt es eine starke Agrarlobby („Bancada ruralista“), für die eine radikale Verteidigung der Interessen der großen landwirtschaftlichen Eigentümer und des Agribusiness charakteristisch ist. Jeder Staat hat seinerseits eine eigene Regierung und Legislativgewalt, was die Regierungsarbeiten außerordentlich schwierig macht und zur ständigen Suche nach politischen Kompromissen zwingt.

KARTE 1: REGIONEN UND STAATEN

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1.2. Physikalische Geografie: die Wirtschaftsregionen Brasilien steht mit 8 547 400 km² und 189 Millionen Einwohnern (2007) sowohl von der Fläche als auch von der Bevölkerungszahl her an Platz 5 in der Welt. Mit diesen Ausgangsdaten ist es gleichzeitig das größte und bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas. Die gewaltige territoriale Ausdehnung im Vergleich zur Einwohnerzahl des Landes erklären auch dessen niedrige mittlere Bevölkerungsdichte (22 Einwohner/km²) und seine starken geografischen, klimatischen und soziologischen Unterschiede. Für statistische Zwecke werden fünf große Regionen unterschieden, die sich ihrerseits aus mehreren Staaten zusammensetzen (TABELLE 1): – Der Süden (Karte 1 – E), eingerahmt vom Atlantischen Ozean, Argentinien, Uruguay und Paraguay, besteht aus den Bundesstaaten Paraná (Nr. 15), Santa Catarina (Nr. 23) und Río Grande do Sul (Nr. 20). Gebirgsregionen beherrschen seinen nördlichen Teil, während der südliche Teil von weiten Ebenen (Pampas) eingenommen wird. Dieses letztgenannte Gebiet mit subtropischem oder gemäßigtem Klima, ähnlich dem einiger Regionen der EU, und mit Böden von hoher Qualität weist ein hohes Entwicklungsniveau und einen starken europäischen Einfluss auf, wobei die Hauptmigrationskomponente durch Personen deutscher und italienischer Abstammung bestimmt wird. Die vorherrschenden Anbaukulturen sind Soja, Mais und Weizen. Es besitzt außerdem wichtige industrielle Zentren in Río Grande do Sul (Petrochemie) und Paraná (Kraftfahrzeuge). Seine bedeutendsten Städte sind Porto Alegre (1 500 000 Einwohner, Hauptstadt von Río Grande do Sul) und Curitiba (1 800 000 Einwohner, Hauptstadt des Staates Paraná). – Der Südosten (KARTE 1 – D), an der Atlantikküste gelegen, besteht aus den Staaten Espírito Santo (Nr. 7), Minas Gerais (Nr. 12), Río de Janeiro (Nr. 18) und São Paulo (Nr. 24). Das ist die bei weitem bevölkerungsreichste Region (mit 79,5 Millionen Einwohner bzw. 42,6 % der Bevölkerung Brasiliens). Gleichzeitig ist sie die am stärksten industrialisierte Region des Landes, die trotz eines seit 1985 festzustellenden Rückgangs zugunsten des Mittelwestens mehr als die Hälfte des BIP erbringt. Bei den landwirtschaftlichen Kulturen herrschen wie im Süden Soja und Getreide vor, zu denen noch Zitrusfrüchte (im Staat São Paulo) hinzukommen, die die Grundlage für eine bedeutende Verarbeitungsindustrie (Fruchtsaftkonzentrate und Tiefkühlprodukte) liefern. Sie umfasst drei große Städte, die ihrerseits Zentren der bedeutendsten großstädtischen Ballungsräume sind: Río de Janeiro (6 136 000 Einwohner, Bundeshauptstadt bis 1960, heute Hauptstadt des Staates gleichen Namens und Sitz von Petrobras, des weltweit führenden Unternehmens zur Erkundung und Ausbeutung von Erdölvorkommen unter dem Meeresgrund), Belo Horizonte (2 400 000 Einwohner, Hauptstadt des Staates Minas Gerais mit einer bedeutenden metallurgischen und Automobilindustrie) und São Paulo (11 017 000 Einwohner, Hauptstadt des gleichnamigen Staates und gleichzeitig wichtigstes Gewerbezentrum sowie die Stadt mit der größten Bevölkerungskonzentration Brasiliens). Außerdem entwickelt sich Campinas, eine Nachbarstadt von São Paulo, mehr und mehr zu einem hervorragenden Zentrum mit Spezialisierung auf die neuen Technologien. – Der Nordosten (KARTE 1 – B) umfasst neun Staaten: Alagoas (Nr. 2), Bahia (Nr. 5), Ceará (Nr. 6), Maranhão (Nr. 9), Pernambuco (Nr. 16), Piauí (Nr. 17), Rio Grande do Norte (Nr. 19) und Sergipe (Nr. 25). Dabei handelt es sich um eine Region, die historisch im Zeichen des Zuckerrohranbaus stand, der in seiner Blütezeit mit einem intensiven Handel mit Sklaven aus Afrika und mit dem Entstehen malerischer Städte im Kolonialstil verbunden war, so zum Beispiel Salvador da Bahía (2 714 000 Einwohner, die erste Hauptstadt des unabhängigen

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Brasiliens vor Río de Janeiro, in deren Einzugsgebiet eine bedeutende petrochemische, Holzschliff-, Papier- und Schuhindustrie entstand), Recife (1 500 000 Einwohner), São Luís do Maranhão und Olinda. Obwohl das eine an natürlichen Ressourcen (einschließlich Erdöl) reiche Region ist, sind hier starke soziale Unterschiede festzustellen, die zusammen mit den zyklisch wiederkehrenden Dürreperioden, die die semiariden Zonen des Binnenlands (sertão) mit ihren im Allgemeinen unter 500 mm liegenden Niederschlägen heimsuchen, zu einer massiven Abwanderung der landlosen Bauern in die großen Metropolen und die neuen Agrarkolonisierungsgebiete des Nordens und Mittelwestens führen.

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TABELLE 1: POLITISCH-ADMINISTRATIVE GLIEDERUNG REGION UND NUM-MER DES STAATES

IN KARTE 1

STAAT BEVÖLKERUNG

(2006)

FLÄCHE

(KM²)

HAUPTSTADT DES STAATES

SÜDEN (E) 27.309.000 (14, 6%) 564.306

15 PARANÁ 10.388.000 199.709 Curitiba

23 SANTA CATARINA 5.958.000 95.443 Florianópolis

20 RIO GRANDE DO SUL 10.963.000 269.154 Porto Alegre

SÜDOSTEN (D) 79.561.000 (42, 6%) 927.287

7 ESPIRITO SANTO 3.453.000 46.184 Vitória

12 MINAS GERAIS 19.479.000 588.384 Belo Horizonte

18 RIO DE JANEIRO 15.562.000 43.910 Río de Janeiro

24 SAO PAULO 41.056.000 248.809 Sao Paulo

NORDOSTEN (B) 51.609.000 (27,6 %) 1.604.711

2 ALAGOAS 3.051.000 27.933 Maceió

5 BAHIA 13.950.000 567.295 Salvador

6 CEARÁ 8.217.000 146.348 Fortaleza

9 MARANHAO 6.185.000 333.366 Sao Luis

14 PARAÍBA 3.623.000 56.585 Joao Pessoa

16 PERNAMBUCO 8.503.000 98.938 Recife

17 PIAUÍ 3.321.000 252.378 Teresina

19 RIO GRANDE DO NORTE 3.044.000 99.818 Natal

25 SERGIPE 2.001.000 22.050 Aracaju

MITTELWESTEN (C) 13.270.000 (7,1 %) 1.612.077

10 MATO GROSSO 2.857.000 906.807 Cuiabá

11 MATO GROSSO DO SUL 2.298.000 358.159 Campo Grande

8 GOIÁS 5.731.000 341.289 Goiânia

27 DISTRITO FEDERAL 2.384.000 5.822 Brasilia

NORDEN (A) 15.022.000 (8,0 %) 3.869.638

1 ACRE 687.000 153.150 Río Branco

3 AMAPÁ 616.000 143.454 Macapá

4 AMAZONAS 3.312.000 1.577.820 Manaus

13 PARÁ 7.1110.000 1.253.164 Belém

21 RONDONIA 1.562.000 238.513 Porto Velho

22 RORAIMA 403.000 225.116 Boa Vista

26 TOCANTINS 1.332.000 278.421 Palmas

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– Der Mittelwesten (KARTE 1 – C) besteht aus den Staaten Mato Grosso (Nr. 10), Mato Grosso do Sul (Nr. 11), Goias (Nr. 8) und dem Bundesdistrikt (Nr. 27). Er bildet eine ausgedehnte Region mit sehr niedriger Bevölkerungsdichte, weshalb dort 1960 die neue Hauptstadt Brasilia angesiedelt wurde. Sein bedeutendster Staat ist Mato Grosso, der eine ungeheuer große Flächenausdehnung hat, die derzeit als Grundlage für eine beschleunigte Expansion von Ackerbau und Viehwirtschaft (u. a. Zucker, Soja, Baumwolle, Rinder und Geflügel...) dient. Dort bestehen neben kleinbäuerlichen Betrieben und Subsistenzlandwirtschaft die modernsten Agrarstrukturen. Vor diesem Hintergrund sind es die Staaten des Mittelwestens, wo derzeit die höchsten wirtschaftlichen Wachstumszahlen zu verzeichnen sind. – Der Norden (KARTE 1 – A) grenzt an Bolivien, Peru, Kolumbien, Venezuela und die Guayana-Staaten und besteht aus den Staaten Acre (Nr. 1), Amapá (Nr. 3), Amazonas (Nr. 4), Pará (Nr. 13), Rondônia (Nr. 21), Roraima (Nr. 22) und Tocantins (Nr. 26). Mit 3,8 Millionen km² ist das die größte Region Brasiliens, die vorwiegend von tropischem Regenwald bedeckt und praktisch menschenleer ist und wo im Allgemeinen kleinbäuerliche Betriebe und Subsistenzlandwirtschaft zu finden sind. Seine beiden wichtigsten Städte, am Amazonas gelegen, sind Manaus (1 400 000 Einwohner, Hauptstadt des Staates Amazonas) und Belém (Hauptstadt des Staates Pará und gleichzeitig wichtiges Zentrum des Bergbaus und der Aluminiumerzeugung). Amazonien, der weltgrößte tropische Regenwald, der sich zu 65,7 % auf brasilianischem Hoheitsgebiet befindet, leidet vor allem im Zusammenhang mit Bergbau und Holzindustrie sowie dem Bau von Infrastrukturen unter einem starken Abholzungsprozess. In den letzten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts verlor er rund ein Siebtel seiner Forstmasse (1), mit Spitzenjahren des Holzeinschlags wie 1995 (29 059 km² Rodungen) und 2004 (27 429 km²). Obwohl das Tempo der Abholzung in den letzten Jahren rückläufig ist (10 010 km² in 2007), besteht das Problem nach wie vor und ist weit davon entfernt, unter Kontrolle zu sein (2). 1.3. Demografie: Rassenvielfalt, ungleiche räumliche Verteilung und Überalterung Nach der Entdeckung und Kolonisierung des Landes durch die Portugiesen ab dem 16. Jahrhundert wurde die amerikanisch-indianische Bevölkerung fortschreitend durch aufeinander folgende Einwanderungswellen von Personen europäischer Herkunft (neben den Portugiesen hauptsächlich Italiener, Deutsche, Spanier und Polen) ersetzt. Außerdem kam ab dem 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Riesenplantagen auf Sklavenbasis, die sich an der Nordküste etablierten (Maniok, Tabak und vor allem Zuckerrohr), eine starke Bevölkerungskomponente afrikanischen Ursprungs ins Land. Zudem gibt es eine bedeutende Minderheit asiatischer Herkunft (insbesondere aus Japan, Korea und Syrien/Libanon mit Gemeinschaften, die heute im Raum São Paulo konzentriert sind. Die amerikanisch-indianische Bevölkerung beläuft sich heute auf rund 750 000 Personen, eine Zahl, die zwar gering

1 Der Baumeinschlag und die Waldbrände führen zur Freisetzung des in den Pflanzen enthaltenen Kohlenstoffs,

was in einer Größenordnung von 20 % zur weltweiten Treibhausgasemission beiträgt. In diesem Kontext ist der Verlust von Waldmasse für 75 % der Emissionen Brasiliens verantwortlich, das seinerseits der weltweit viertgrößte Erzeuger kontaminierender Emissionen ist.

2 Auf dem letzten Gipfel von Bali Ende 2007 wurde die Einrichtung eines Fonds zur Vermeidung der Abholzung der Tropenwälder, regelrechter Lungen des Planeten, beschlossen, die (in dieser Reihenfolge) in Brasilien, Kongo und Indonesien konzentriert sind. Dieser durch die Weltbank verwaltete Fonds wird anfangs 111 Millionen Euro enthalten, die von mehreren entwickelten Ländern eingebracht werden. Parallel dazu hat die brasilianische Regierung für den gleichen Zweck die Einrichtung eines für ausländische Beiträge offenen weiteren Fonds (von 104 Millionen Euro) in Händen der Nationalen Entwicklungsbank, angekündigt. Gleichzeitig werden jedoch im brasilianischen Parlament derzeit zwei Gesetzentwürfe diskutiert, um das Territorium des so genannten „Legalen Amazoniens“ zu reduzieren, was es ermöglichen würde, die administrativen Hindernisse für den Abbau seiner Ressourcen zu beseitigen.

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erscheinen mag, jedoch einen klaren Konsolidierungsprozess belegt, da die indigene Bevölkerung in den Siebzigerjahren kaum noch 100 000 Menschen umfasste. Mithin wird die brasilianische Gesellschaft heute durch ihre Rassenvielfalt geprägt. Aus ethnischer Sicht wird eingeschätzt, dass 49 % der Bevölkerung europäischer Herkunft (91,3 Millionen), fast 35 % Mestizen (65,3 Millionen), 6 % afrikanischen Ursprungs (10,5 Millionen) und die restlichen 0,5 % Bevölkerungsgruppen asiatisch-orientalischer, arabischer und indigener Herkunft sind. Von den 189 Millionen Brasilianern (TABELLE 2 - IV) leben 84 % in den ständig wachsenden Städten, von denen 14 bereits mehr als eine Million Einwohner haben. Ein Viertel der Bevölkerung wohnt in fünf großstädtischen Ballungsräumen: São Paulo (mit über 20 Millionen Menschen derzeit die drittgrößte Megalopolis der Welt nach Tokio und Mexiko); Río de Janeiro (12 Millionen Einwohner); Belo Horizonte (etwa 5,6 Millionen); Porto Alegre (mehr als 4 Millionen); und Recife (fast 4 Millionen). Die traditionellen Migrationsströme aus dem Süden in die neuen landwirtschaftlichen Gebiete des Nordens (Amazonas, Pará) und des Mittelwestens (Mato Grosso) sind seit den Neunzigerjahren schwächer geworden. Doch die Wanderung vom Nordosten in diese Regionen dauert unvermindert an. Trotz des starken Anstiegs der Gesundheitsausgaben in den vergangenen Jahren (7,5 % des BIP im Jahr 2000; 8,8 % im Jahr 2004), und zwar über den lateinamerikanischen Mittelwert hinaus, ist die Kindersterblichkeit weiterhin sehr hoch (28 je 1000 Lebendgeburten), höher als die anderer großer Volkswirtschaften der Region: Chile (8 ‰), Argentinien (14 ‰), Venezuela (18 ‰) oder Mexiko (22 ‰). Darüber hinaus beträgt die Lebenserwartung in Brasilien nach Angaben der WHO (2005) 71,1 Jahre, ein Parameter, der unter dem mehrerer anderer lateinamerikanischer Länder liegt: Chile (77,5), Kuba (77,2), Uruguay (75,2), Argentinien (75,0). Hervorzuheben ist die starke Ungleichheit zwischen der Lebenserwartung der Männer (68) und der der Frauen (75), vor allem wegen der Unterschiede, die bei den Mortalitätsindizes der Bevölkerungsgruppen unter 60 Lebensjahren festzustellen sind. Dies könnte seine Erklärung in den hohen Kriminalitätsraten in den Städten (über 20 000 Morde im Jahr 2006) haben, die besonders die männliche Bevölkerung betreffen. Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich in dem Maße, in dem sich der Verstädterungsprozess konsolidiert: Ausgehend von einem Index von 2,2 % in den Achtzigerjahren hat es sich zwischen 1990 und 2006 bei etwa 1,4 % stabilisiert. Parallel dazu ist der Anteil der Bevölkerung unter 14 Jahren seit 1991 rückläufig. Es ist also eine leichte, aber fortschreitende Alterung festzustellen. Dennoch wird geschätzt, dass Brasilien im Jahr 2020 eine Einwohnerzahl von 219 Millionen mit einem dann auf 0,7 % abgesunkenen Wachstumsindex erreicht.

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2. DIE BRASILIANISCHE WIRTSCHAFT: GRUNDLEGENDE DATEN 2.1. Allgemeine Wirtschaftsstruktur: Agrarhandelsmacht, industrielle Diversifizierung und fortschreitende Tertiarisierung Brasilien teilt noch heute viele Strukturparameter der so genannten Entwicklungsländer. Hierzu sei nur auf die ungleiche Einkommensverteilung oder die extrem hohen Armutskennzahlen vorwiegend auf dem Lande verwiesen: Jedem Fünften stehen pro Tag noch nicht einmal 2 Dollar zur Verfügung, und nach Angaben der OCED lebt 1/3 der Bevölkerung nach wie vor in Armut, wobei dieser Anteil auf dem Lande (61 %) im Vergleich zum städtischen Raum (25 %) besonders hoch ist. Doch gleichzeitig ist Brasilien mit einem BIP von etwa 1000 Milliarden Dollar (TABELLE 2 - I) statistisch gesehen die neuntstärkste Wirtschaft des Erdballs. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von etwas mehr als 9000 Dollar (TABELLE 2 - V) gehört es zur Gruppe der „großen Schwellenwirtschaften“. Mit einem Wachstum von 2,3 % im Jahr 2005 und von 3,7 % im Jahr 2006 ist es jedoch weit von dem Rhythmus entfernt, der in anderen Ländern derselben Gruppe zu beobachten ist (z. B. China mit 10,2 % im Jahr 2005 oder Indien mit 8,5 %). Die Wachstumsprognosen für 2008 und 2009 (TABELLE 2 - II) sehen zwar etwas besser aus (4-4,5 %), liegen aber immer noch weit hinter den Indizes ihrer wichtigsten Konkurrenten im Weltmaßstab zurück. Brasilien unterscheidet sich von diesen neuen industrialisierten Ländern zudem durch seinen Charakter als Agrarexporteur: Während China Nettoimporteur von Lebensmitteln ist (3) und Indien eine leicht positive Handelsbilanz im Agrar- und Ernährungsbereich aufweist (4), konsolidiert sich Brasilien von Tag zu Tag als eine Agrarexportmacht erster Ordnung mit 28 396 Millionen Dollar Handelsüberschuss im Agrar- und Ernährungsbereich im Jahr 2005 und Ausfuhren von Agrar- und Nahrungsmittelerzeugnissen im Umfang von 27,7 % der Gesamtausfuhren (TABELLE 3 - XII).

3 Mit einem Negativsaldo von -1464 Millionen Dollar im Jahr 2005 und mit einem Verkauf von Agrar- und

Nahrungsmittelprodukten ins Ausland, der kaum 3,6 % des Gesamtexports ausmacht. 4 Mit einem Positivsaldo von +5374 Millionen Dollar im Jahr 2005 und mit Exporten von Agrar- und

Nahrungsmittelprodukten, die sich auf 10,4 % seiner Gesamtverkäufe belaufen.

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TABELLE 2. WICHTIGSTE MAKROÖKONOMISCHE INDIKATOREN BRASILIENS UND DEREN VORAUSSICHTLICHE ENTWICKLUNG (2006/2009)

2006 2007 2008 2009 I. Nominelles BIP (in Milliarden Dollar)

1 072,1 (a) 1 289,7 (p) 1 432,0 (p) 1 429,7 (p)

II. Reales Wachstum des BIP (in %)

3,7 % (a) 5,1 % (p) 4,5 % (p) 4,1 % (p)

III. Wachstum des BIP nach Sektoren Landwirtschaft Industrie Dienstleistungen

4,1 % (a) 2,8 % (a) 3,7 % (a)

T. 1 ./ T. 2/ T. 3

3,7 % / 1,1 % / 9,2 % 3,2 % / 6,9 % / 5,0 % 4,7 % / 4,7 % / 4,8 %

4,0 % (p) 4,4 % (p) 4,6 % (p)

3,0 % (p) 3,8 % (p) 4,3 % (p)

IV. Bevölkerung (in Millionen Einwohner)

186,8 (a) 189,3 (p) 191,9 (p) 194,4 (p)

V. Pro-Kopf-Einkommen (in Dollar in KKP/PPP)

9 193 (p) 9 770 (p) 10 285 (p) 10 853 (p)

VI. Jährliche mittlere Inflation (in %) (Verbraucherpreise)

4,2 % (a) 3,6 % (a) 4,5 % (p) 4,1 % (p)

VII. Warenexporte (FOB in Milliarden Dollar)

+137,8 (a) +160,9 (a) +180,2 (p) +194,0 (p)

VIII. Warenimporte (FOB in Milliarden Dollar)

-91,3 (a) -120,9 (a) -145,6 (p) -163,0 (p)

IX. Handelsbilanz (Exporte-Importe) (FOB in Milliarden Dollar)

+46,5 (a)

+40,0 (a)

+34,6 (p)

+31,0 (p)

X. Leistungsbilanz (in % des BIP)

1,3 % (a) 0,3 % (a) -0,1 % (p) -0,3 % (p)

XI. Wechselkurs (Real / €) 2,73 (a) 2,67 (a) 2,77 (p) 2,71 (p) (a) Aktuelle Angaben (p): Schätzungen von The Economist Intelligence Unit. 2007: T. 1: Erstes Quartal; T. 2: Zweites Quartal; T. 3: Drittes Quartal KKP: Kaufkraftparität (Purchasing Power Parity - PPP) Quelle: The Economist Intelligence Unit (2008): "Brazil. Country Report", January 2008; (2007) "Brazil. Country Profile 2007". Andererseits bedeutet die Tatsache, dass Brasilien eine wirkliche landwirtschaftliche Supermacht mit Spitzenpositionen bei vielen Produkten ist (5), keinesfalls, dass es sich bei der brasilianischen Wirtschaft im Grunde um eine Agrarwirtschaft handelt. In Wirklichkeit erbringt der Primärsektor streng genommen kaum 10 % des BIP (TABELLE 3 – II). Hierzu ist zu sagen, dass Brasilien seinerseits eine umfangreiche und diversifizierte industrielle Basis besitzt, die um São Paulo, Río de Janeiro und Minas Gerais (Südosten) konzentriert ist und im Schnitt 26-27 % des BIP erwirtschaftet. Seine industrielle Spezialisierung macht Brasilien heute zu einem Großexporteur von Kraftfahrzeugen, Mobiltelefonen und Flugzeugen (wobei das Unternehmen Embraer der weltweit größte Erzeuger von kleinen und mittleren Flugzeugen ist). An der Spitze der jüngsten Wachstumsindizes liegt jedoch der Dienstleistungssektor (TABELLE 2 – III), auf den heute bereits 64 % des BIP entfallen. Ebenso wie der verarbeitende Sektor ist er vor allem im Ballungsraum der großen Metropolen des Südostens angesiedelt,

5 Weltgrößter Erzeuger von Kaffee; weltgrößter Erzeuger von Zuckerrohr und Bioethanol; weltgrößter Erzeuger

von Obst; zweitgrößter Erzeuger von Soja; zweitgrößter Erzeuger von Rindfleisch; drittgrößter Erzeuger von Geflügel; drittgrößter Erzeuger von Mais; viertgrößter Erzeuger von Schweinefleisch; fünftgrößter Erzeuger von Baumwolle usw. Weitere Einzelheiten finden sich in den Abschnitten 3.2 und 3.3 und den Produktionsangaben in TABELLE 3.

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wobei das Expansionstempo des Finanz- sowie des Informations- und Kommunikationssektors hervorzuheben ist. Dieser so heterogenen Wirtschaft entsprechend verteilt sich auch der brasilianische Außenhandel auf sehr unterschiedliche Zielrichtungen. Der wichtigste Partner ist Lateinamerika mit 27 % des Gesamtvolumens, eine Position, die es Brasilien gestattet, seinem wirtschaftlichen und politischen Führungsanspruch in der Region immer stärker Nachdruck zu verleihen. An der Spitze des MERCOSUR hat sich das Land zum wichtigsten Motor der südamerikanischen Integration entwickelt. Als zweitgrößter Kunde folgt die Europäische Union mit 24 % des Warenaustauschs, an dritter Stelle stehen die USA mit 15 % des Gesamtumfangs. 2.2. Auf der Suche nach wirtschaftspolitischen Ansätzen in einer globalisierten Welt Traditionell war Brasilien eine relativ geschlossene Wirtschaft, ein Aspekt, der während des langen Zeitraums importsubstituierender Wirtschaftspolitik (Import-substituting Industrialisation - ISI), die auf dem Schutz des Binnenmarkts und staatlichen Investitionshilfen für die als führend geltenden Sektoren beruhte, eine Verstärkung erfuhr. Nach über drei Jahrzehnten zwangen die schwerwiegenden makroökonomischen Ungleichgewichte im Ergebnis dieses Entwicklungsmodells (Haushaltsdefizit, Auslandsverschuldung, Hyperinflation...) Ende der Achtzigerjahre zur Aufgabe dieser Politik, woraufhin die brasilianischen Behörden auf eine progressive Liberalisierung des Handels, die Stabilisierung von Wirtschaft und Finanzen und die Rationalisierung der öffentlichen Haushalte setzten. Die nachfolgende Eliminierung der nichttarifären Schranken, die Reduzierung der Zolltarife und der so genannte „Plan Real“ von 1994 (der die brasilianische Währung an den US-Dollar band) führten zu einer drastischen Absenkung der Inflation, ermöglichten die Modernisierung der Industriestruktur und konsolidierten indirekt das wirtschaftliche und kommerzielle Gewicht der Land- und Viehwirtschaft. Doch gleichzeitig verdeutlichten sie die strukturellen Schwächen der Sektoren mit intensiver Nutzung von Arbeitskräften (Textilien, Schuhwaren...), sobald diese Sektoren dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt wurden. Deutlich trat auch die Notwendigkeit zutage, sich der zunehmenden Globalisierung der Märkte mit neuen Maßnahmen zur Deregulierung und Öffnung für ausländisches Kapital und zur Umstrukturierung des öffentlichen Sektors sowie mit Reformen des Steuer- und Sozialversicherungssystems zu stellen. In der Praxis brachten die von den brasilianischen Behörden vorgenommenen unzureichenden Strukturreformen neben einer Überbewertung des Wechselkurses und der Stärke der Binnennachfrage eine rasche Verschlechterung der Außenbilanz mit sich und verschärften die fiskalischen Verwerfungen. Die Finanzkrisen von 1997/98 in Asien und Russland erschwerten die Situation zusätzlich. Daher wurde 1999 der Real freigegeben, doch ließ die anschließende Abwertung der brasilianischen Währung die Auslandsverschuldung weiter anwachsen, da sie an den Wechselkurs gebunden war. Aus diesem Grunde wurde ebenfalls 1999 eine Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mit der ausdrücklichen Zielsetzung getroffen, die Verschuldung zu stabilisieren, die seit den Siebzigerjahren, als die Militärdiktatur zur Finanzierung ihrer pharaonischen Investitionspläne auf die internationalen Märkte zurückgriff, zu einem regelrechten Ballast für die Entwicklung geworden ist. Die aufeinander folgenden Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten (unter dem so genannten „Lei de Responsabilidade Fiscal“) schufen in Verbindung mit einem niedrigen Wirtschaftswachstum den Nährboden für einen politischen Wechsel, der mit den Präsidentschaftswahlen von 2003 vollzogen wurde.

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Der neue Präsident Lula da Silva, damals unumstrittener Führer der Linkskoalition, die ihn an die Macht brachte, setzte sich mit einem Programm durch, das der Beseitigung der Armut und der Politik zur Umverteilung der Einnahmen Vorrang einräumte. Doch gleichzeitig hielt er sich, trotz der Kritiken einiger seiner Parteigänger, peinlich genau an die Grundprinzipien der makroökonomischen Orthodoxie (Haushaltsdisziplin, freier Wechselkurs, Bekämpfung der Inflation...). Zunächst zwangen die unvermeidlichen Haushaltsanpassungen zu Einschränkungen bei den öffentlichen Investitionen und zu Abstrichen beim ursprünglichen Ehrgeiz der Sozialprogramme. Im Laufe der Jahre gestatteten sie jedoch der Regierung, mit einem nachhaltigen Wachstum (6), fortschreitender Senkung der Inflation (7) und der Arbeitslosigkeit (8) und schließlich der Sanierung der öffentlichen Haushalte (9) die Umsetzung ihrer Wahlversprechen fortzusetzen. Im sozialen Bereich stechen zwei Maßnahmen heraus: die „Bolsa Familia“, ein Programm monatlicher Beihilfen für die ärmsten Haushalte, die Nachweise für den Schulbesuch und die ärztliche Kontrolle ihrer Kinder vorlegen; und die wiederholten Anhebungen des Mindestlohns. Andererseits wurde 2007 das „Programa de Aceleraçao do Crescimento“ (PAC) mit dem Ziel, die wirtschaftliche Entwicklung vor allem über öffentliche Investitionen zu fördern, angenommen. Auf jeden Fall bleibt trotz der in den letzten Jahren durchgeführten Reformen und der viel versprechenden Ergebnisse noch viel zu tun. Das Defizit des Rentensystems, die übermäßig hohen Geldkosten, die Bürokratie, die andauernden Engpässe bei den Infrastrukturen (10), die starke soziale Ungleichheit bzw. das noch immer hohe Armutsniveau sind weiterhin ungelöste strukturelle Probleme, die die Investitionen, das Industriepotenzial und letztendlich die Entwicklung Brasiliens beeinträchtigen. 2.3. Die (umstrittene) Rolle des „Agribusiness“-Sektors in der brasilianischen Entwicklung Als Ergebnis der wiederholten Maßnahmen zur Öffnung des Handels seit Anfang der Neunzigerjahre stiegen die Importe von Waren und Dienstleistungen von 7 % des BIP im Jahr 1990 auf 11,7 % im Jahr 2000 an. Diese Tendenz hat sich seither, angetrieben durch die Binnennachfrage, weiter gefestigt und könnte nach jüngsten Prognosen im Jahr 2009 bei 11,4 % liegen (TABELLE 2 – VIII). Unter diesen Umständen spielt die Handelsbilanz der Agrar- und Nahrungsmittelwirtschaft - mit positivem Vorzeichen und einem deutlichen Anstieg (TABELLE 3 – XII) - eine überragende Rolle beim Anstreben einer ausgeglichenen und nachhaltigen Entwicklung der brasilianischen Wirtschaft. Doch wie bereits geschildert (2.1), sind die Wachstumsraten Brasiliens in den vergangenen Jahren (2,5 % zwischen 1995/2004) weit von den Standards entfernt, die von anderen großen Schwellenwirtschaften erreicht wurden, ja sie liegen, was noch paradoxer

6 4,1 % im Durchschnitt für den Zeitraum 2004/2006 (2004: 5,7 %; 2005: 3,1 %; 2006: 3,7 %) (Quelle: The

Economist Intelligence Unit, 2008) 7 Der mittlere Anstieg der Verbraucherpreise von einem Jahr zum anderen sank von 14,7 % im Jahr 2003 auf

4,2 % im Jahr 2006 (Quelle: The Economist Intelligence Unit, 2008) 8 Von 12,3 % im Jahr 2003 auf 10 % im Jahr 2006 (Quelle: The Economist Intelligence Unit, 2008) 9 Das Defizit des öffentlichen Sektors sank von -4,65 % des BIP im Jahr 2003 auf -3,01 % im Jahr 2006.

Gleichzeitig gingen die offenen Auslandsschulden von 59 064 Millionen Dollar im Jahr 2003 auf 35 326 Millionen im Jahr 2006 zurück (Quelle: The Economist Intelligence Unit, 2008)

10 Rein für Anschauungszwecke: Nur 10 % der Fernstraßen sind asphaltiert (gegenüber 29 % in Argentinien), was sich in Anbetracht der fehlenden Investitionen zur Entwicklung der Eisenbahn und der Binnenschifffahrt, die ein großes Wachstumspotenzial haben, deutlich auf die Transportkosten auswirkt.

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erscheint, sogar unter den in den drei Jahrzehnten, in denen Brasilien das Importsubstitutionsmodell (ISI) anwendete, erreichten Mittelwerten (7,3 %). Kurz gesagt, scheint es nicht so zu sein, dass der Sektor Agrar- und Ernährungswirtschaft, obschon er doppelt so stark angewachsen ist wie die Gesamtwirtschaft (ca. 4,5 % im Jahresdurchschnitt in den zehn Jahren zwischen 1995 und 2004), ein ausreichender Motor zur Nutzung der kommerziellen Möglichkeiten war, die sich im Zeitalter der Globalisierung aufgetan haben. Gewissermaßen könnte man sagen, dass die brasilianische Landwirtschaft Opfer ihres eigenen Erfolgs wurde. Das Gewicht der „Warenausfuhren“ führte zusammen mit den an das Auslandskapital gezahlten hohen Zinsen wiederholt zu einer Wertsteigerung des Reals. Fällt diese Tatsache zudem mit einer starken Volatilität der Weltmarktpreise für Grunderzeugnisse zusammen, dann sind Wechselkursschwankungen unausweichlich und kommt es zu ständig wiederkehrenden Krisen der Agrareinnahmen. Genau dies geschah 2005 (TABELLE 3 – IV und V): Als ein Rückgang der Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Grunderzeugnisse, der Anstieg der Betriebsmittelkosten (Treibstoffe) und die Aufwertung des Wechselkurses zusammenfielen, war der typische „Schereneffekt“ zu beobachten. Dieses Risiko ließe sich künftig jedoch vermindern, wenn die 2006/2007 eingeleitete Phase hoher und nachhaltiger Preise für landwirtschaftliche Grunderzeugnisse konsolidiert werden kann. Sollte sich diese Hypothese bestätigen, hätte Brasilien ebenso wie andere Schwellenländer, die Nettoexporteure von Nahrungsmitteln sind (z. B. Argentinien, Ukraine, Südafrika), im Agribusiness so etwas wie „grünes Erdöl“, auf das es seine Entwicklung stützen könnte. Zu berücksichtigen ist, dass auf das „Agribusiness“, den Wirtschaftskomplex, der die landwirtschaftlichen Grunderzeugnisse und Verarbeitungsprodukte, Zucker und Alkohol, Papier und Zellulose, Häute und Felle sowie Holzerzeugnisse umfasst, unter dem Branchenaspekt heute sogar 34 % des brasilianischen BIP entfallen würden (11), womit sich der Beitrag des Agrar- und Ernährungssektors zum BIP streng genommen fast vervierfacht (TABELLE 3 – II). Gleichzeitig ist es für 37 % der Gesamtbeschäftigung, 43 % der Exporte und letztlich 86 % des allgemeinen Handelsüberschusses des Landes verantwortlich. 3. DIE BRASILIANISCHE LANDWIRTSCHAFT: EIN WELTWEIT FÜHRENDER SEKTOR 3.1. Grundlegende Daten Die potenziell landwirtschaftlich nutzbare Fläche Brasiliens beträgt 264 Millionen ha, was nur von China, Australien und den USA übertroffen wird. Doch sind bis zum heutigen Tage drei Viertel dieser Flächen Dauergrünland und nur ein knappes Viertel ackerfähige oder Aussaatflächen (62 Millionen ha im Jahr 2004) (TABELLE 3 – I). Vor diesem Hintergrund unterstreicht das Ministerium für Landwirtschaft, Viehzucht und Versorgung Brasiliens („Ministério da Agricultura, Pecuària e Abastecimiento“) immer wieder, es sei in der Lage, in den kommenden 15 Jahren mindestens 30 Millionen ha Weideland in landwirtschaftliche Flächen umzuwandeln (ein Gebiet, das 16 % der landwirtschaftlichen Fläche der EU-27 entspricht). Auch wird behauptet, dies werde durch die technologische Entwicklung ermöglicht, ohne den Amazonas-Urwald anzutasten und ohne die Fleisch- und Milchviehwirtschaft zu beeinträchtigen.

11 Angaben der Associação Brasileira de Agribusiness (ABAG).

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TABELLE 3. LANDWIRTSCHAFTLICHE HAUPTINDIKATOREN BRASILIENS (Vergleich zwischen den Jahren 1995, 2003, 2004 und 2005)

1995 2003 2004 2005 I. Gesamtaussaatfläche (in Millionen ha) 51,1 57,7 62,0 n.a. II. Anteil der Landwirtschaft am BIP 9 % 9,9 % 10,1 % 8,4 % III. Anteil der Beschäftigung in der Landwirtschaft an der Gesamtbeschäftigung

26,1 % 18,9 % n.a. n.a.

IV. Preisindex der landwirtschaftlichen Einsatzmittel (Inputs) (in % zum Vorjahr) Landwirtschaftlicher Erzeugerpreisindex (in % zum Vorjahr) Preisindex für Nahrungsmittel (in % zum Vorjahr)

78,6 % 49 % 8,0 %

29,0 % 32 % 7,0 %

10,0 % 5,0 % 4,0 %

6,4 % -3,0 % 2,0 %

V. Bruttoagrarproduktion insgesamt (in % zum Vorjahr) Pflanzenproduktion (in % zum Vorjahr) Tierproduktion (in % zum Vorjahr)

5,5 % 2,6 % 9,5 %

7,5 % 9,7 % 4,8 %

5,0 % 3,8 % 6,5 %

-0,3 % -0,6 % 0,0 %

VI. Getreideerzeugung insgesamt (in tausend Tonnen) Maiserzeugung insgesamt (in tausend Tonnen)

49 642 36 267

67 328 47 988

63 812 41 806

55 724 34 860

VII. Sojaerzeugung insgesamt (in tausend Tonnen)

25 683 52 018 49 793 52 700

VIII. Zuckerrohrerzeugung insgesamt (in tausend Tonnen)

303 699 389 849 416 256 420 121

IX. Obsterzeugung insgesamt (in tausend Tonnen) Orangenerzeugung (in tausend Tonnen)

33 884 19 837

34 695 16 918

36 095 18 271

35 788 17 805

X. Fleischerzeugung insgesamt (in tausend Tonnen Schlachtgewicht) Rindfleischerzeugung (in tausend Tonnen Schlachtgewicht) Schweinefleischerzeugung (in tausend Tonnen Schlachtgewicht)

12 808 5 529 1 430

18 388 7 569 2 698

19 919 8 674 2 679

19 919 9 167 2 940

XI. Milcherzeugung (in tausend Tonnen)

16,99 23,32 23,32 23,32

XII. Handelsbilanz Agrar- und Ernährungsprodukte (in Millionen Dollar) Ausfuhr von Agrar- und Ernährungsprodukten (in Millionen Dollar) Anteil der Ausfuhr von Agrar- und Ernährungsprodukten an den Gesamtexporten Anteil der Einfuhr von Agrar- und Ernährungsprodukten an den Gesamtimporten

6 714 13.799 29,7 % 13,2 %

17 673 21.718 29,7 % 8,0 %

24 565 28.363 29,9 % 5,8 %

28 396 32.201 27,7 % 5,0 %

n.a.: Keine Angaben verfügbar

Quelle: OCDE (2007): „Politiques agricoles des pays non membres de l'OCDE. Suivi et évaluation 2007“ (http://dx.doi.org).

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Die Land- und Viehwirtschaft macht gegenwärtig 8,4 % des BIP Brasiliens aus (TABELLE 3 – II). Doch spiegelt diese Zahl, obwohl sie hoch ist und im Vergleich zu dem, was in anderen großen Schwellenwirtschaften geschieht, eine große Stabilität aufweist (12), noch nicht die tatsächliche Bedeutung des Agrarsektors in der brasilianischen Entwicklung wider. Einerseits entfällt auf ihn rund 19 % der offiziellen Erwerbstätigkeit des Landes (TABELLE 3 – III). Das belegt wiederum seine allgemein niedrige Produktivität und erklärt den fortschreitenden Rückgang seit Mitte der Neunzigerjahre. Gleichzeitig liegen die Exporte der Agrar- und Ernährungswirtschaft trotz der zügigen Entwicklung anderer Sektoren, des verarbeitenden Gewerbes und der Dienstleistungen mit einem Anteil von 27,7 % der gesamten Verkäufe ins Ausland weiterhin an erster Stelle des Warenaustauschs (TABELLE 3 – XII). Nicht vergessen werden sollte auch die große Rolle, die die Landwirtschaft für das sozioökonomische Gleichgewicht und die Ordnung eines so ausgedehnten und geoklimatisch derart vielfältigen Raumes spielt. In beträchtlichem Maße trägt hierzu auch die Tatsache bei, dass Brasilien eine über das gesamte Territorium verstreute und in der Nähe der Anbaufelder und der Farmen gelegene Zwischenprodukte-Industrie besitzt, die es ermöglicht, Synergien zu erzeugen und eine hohe zusätzliche Wertschöpfung zu ihren Basiserzeugnissen zu erbringen. Jahreskulturen wie Soja, Mais, Maniok, Baumwolle oder Zuckerrohr werden heute auf 80 % der Aussaatflächen angebaut und beweisen Tag für Tag eine große Dynamik und hohe Anpassungsfähigkeit an die Endverbraucher- und Viehmärkte. Mit der Erzeugung von Gehölzfrüchten (Kaffee, Kakao, Zitrusfrüchte) werden knapp 9 % der Flächen belegt. Hervorzuheben ist schließlich noch die starke strukturelle Dualität, die sich ebenfalls aus der Heterogenität „der Landwirtschaften“ Brasiliens ableitet. Nach Angaben der letzten Zählung besitzt das Land rund 5 Millionen Betriebe, davon 85 % Familienbetriebe, die eine durchschnittliche Größenordnung von 26 ha (ähnlich dem europäischen Durchschnitt) aufweisen und 38 % der Agrarendproduktion beisteuern. Der Rest sind Betriebe kapitalistischen Zuschnitts, die bis zu 70 % des Territoriums bedecken und eine durchschnittliche Größe von 430 ha haben. Doch diese letztgenannten Zahlen verschleiern die jüngsten Tendenzen: Unter Ausnutzung der starken Agrarexpansion im Mittelwesten und der dortigen extrem niedrigen Bodenpreise machen sich allmählich Latifundien mit über 1000 ha breit, sodass knapp 1 % der Betriebe heute bereits 46 % der landwirtschaftliche Flächen besitzen. Nebenbei gesagt, stellen diese Makrounternehmen die Speerspitze der wichtigsten Sektoren des brasilianischen „Agribusiness“. 3.2. Produktionsstruktur (I): Hauptsektoren im Pflanzenbau Obwohl, wie bereits geschildert, der Gesamtanteil der Landwirtschaft am BIP in den letzten zehn Jahren stabil gehalten wurde (s. Fußnote (12)), hat sich ihre Produktionsstruktur durch die angewendeten Deregulierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen und die jüngste Öffnung und Globalisierung der internationalen Märkte beträchtlich verändert.

12 Während sich die brasilianische Landwirtschaft seit Mitte der Neunzigerjahre bei 8-10 % des BIP hält (je nach

Kampagne), verliert der Primärsektor in anderen in voller Industrialisierung befindlichen Ländern wie in China oder Indien ständig an Gewicht, wenngleich er noch immer beträchtliche Anteile aufweist. Die chinesische Landwirtschaft, die 1995 einen Anteil von 20,8 % des BIP stellte, machte im Jahr 2005 nur noch 12,5 % aus. Indien, das 1995 einen Agrarsektor von 25,9 % des BIP besaß, hat inzwischen einen Rückgang auf 18,6 % zu verzeichnen.

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– a) Soja. Die wichtigste Veränderung hat sich im Teilsektor Soja vollzogen, dessen Anbaufläche von 13 Millionen ha im Jahr 1999 auf 20 Millionen im Jahr 2007 vergrößert wurde und der sich vor allem auf die Staaten Mato Grosso, Paraná und Río Grande do Sul konzentriert. Mit einer Gesamterzeugung von 52,7 Millionen t im Jahr 2005 (TABELLE 3 – VII), die 2007 auf 58,1 Millionen anstieg, ist Brasilien das zweitgrößte Erzeugerland nach den USA. Dieser Erfolg erklärt sich zum großen Teil durch die Freigabe und Abwertung des Reals im Jahr 1999 (2.2), die einen beträchtlichen Anstieg der Inlandspreise nach sich zog. Außerdem ist die Verbesserung bei den Erträgen (heute ähnlich denen der USA) und die regelrechte Explosion bei den Sojaderivaten (die vom Ölkuchen für die Tierernährung bis zum Sojaöl und zur Sojamilch reichen) zu berücksichtigen. Etwa die Hälfte der Kulturen ist genetisch verändert. Um die von der EU auferlegten Handelsbeschränkungen für GVO zu überwinden, wird je nach dem Bestimmungsland der Ausfuhr eine klare Spezialisierung nach Zonen (oder Staaten) eingehalten. Darüber hinaus ist das Land mit 37 Millionen t jährlich im Wert von etwas über 9 Millionen Dollar (TABELLE 4 – II) der zweitgrößte Sojaexporteur der Welt mit einem Weltmarktanteil von einem Drittel. Hauptkunden sind die EU (17 Millionen t) und China (8,5 Millionen t). Sowohl die OECD als auch das FAPRI schätzen ein, dass sich die Sojaanbaufläche in den kommenden zehn Jahren noch um weitere 10 Millionen ha ausdehnen dürfte, womit Brasilien mit einem Anteil von rund 45 % der Weltmärkte die weltweite Führungsposition erreichen würde. In Rechnung zu stellen ist jedoch auch die starke Expansion der Viehwirtschaft Brasiliens, insbesondere der Geflügelwirtschaft, die bereits heute 2/3 der Inlandserzeugung verbraucht. Andererseits ist vorgesehen, dass 2008 eine obligatorische Beimischung von Biodiesel eingeführt wird, dadurch könnte ein beträchtlicher Teil der ursprünglich für die Außenmärkte bestimmten Erzeugung abgezweigt werden. Schließlich sind noch der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der Soja gegenüber anderen Kulturen (z. B. Zuckerrohr) und die starke Verschuldung des Sektors berücksichtigen, was einen Rückgang der im Jahr 2006 verzeichneten Ausfuhren erklären würde (TABELLE 4 – II). – b) Zuckerrohr und Ethanol Mit einer Anbaufläche von 7,2 Millionen ha und fast einem Drittel der Welterzeugung ist Brasilien mit großem Vorsprung der wichtigste Erzeuger von Zuckerrohr. Infolge einer explosionsartigen Entwicklung der Ausfuhren in den letzten Jahren (TABELLE 4 – II) und der hohen Preise, die sowohl bei Zucker als auch bei Bioethanol erzielt werden (die sich die Zuckerrohrerzeugung praktisch zur Hälfte teilen: 420 Millionen t. im Jahr 2005 – TABELLE 3 – VIII –, die im Jahr 2007 auf 515 Millionen angestiegen sind), ist das auch der Teilsektor mit dem schnellsten Wachstum innerhalb des brasilianischen „Agribusiness“ Obwohl nur ein Drittel der Erzeugung für die Außenmärkte bestimmt ist, liegt Brasilien auch an der Spitze der weltweiten Ausfuhr von Zucker und Bioethanol. Für die Kampagne 2006/07 wurde die Zuckererzeugung auf 30 Millionen t geschätzt, die bis zum Jahr 2013 bereits auf 40 Millionen ansteigen könnten. Größter Zielmarkt ist Russland, wohin praktisch 30 % der Ströme gehen. Mit Blick auf die Zukunft ist mittelfristig mit einer günstigen Auswirkung der letzten Reform der Gemeinsamen Marktordnung für Zucker auf den

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Warenaustausch zu rechnen, die übrigens Ergebnis des Erfolgs der von Brasilien und anderen Ländern beantragten Panels gegen die EU-Exportsubventionen war (13). In der Tat bestätigen die hohen Investitionen in den Sektor das entschlossene Engagement der brasilianischen Exporteure für eine beschleunigte Verstärkung ihres kommerziellen Potenzials. Was das Bioethanol anbelangt, so gilt es sich vor Augen zu halten, dass dieses seit 1975 durch die brasilianischen Behörden aktiv gefördert und schließlich 2006 zum strategischen Sektor erklärt wurde. Gegenwärtig können drei Viertel der Kraftfahrzeuge, die auf den Inlandsmarkt kommen, diesen Kraftstofftyp mit einem Beimischanteil zwischen 20 und 25 % verwenden. 2006/07 erreichte die Ethanolerzeugung 17 Milliarden Liter, von denen 2,6 in den Export gehen, was der Hälfte des Weltmarkts für dieses Produkt entspricht. Die wichtigsten Bestimmungsorte sind Indien, die USA und Korea. Japan und die EU könnten in Zukunft, vor allem wenn das zurzeit in Verhandlung befindliche neue Abkommen mit dem MERCOSUR zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht wird, ihrerseits zu wichtigen Käufern werden, wenn die obligatorischen Beimischanteile zum Benzin angehoben werden. – c) Obst Brasilien ist Nettoexporteur von Obst im Allgemeinen, hauptsächlich von Orangen, bei denen es mit ca. 18 Millionen Jahrestonnen (TABELLE 3 – IX) weltweit den ersten Platz einnimmt, gefolgt von den USA und Mexiko. Die Anbaufläche, die sich um Campinas im Staat São Paulo konzentriert, ist seit 1990 im Eifer der Zuckerexpansion fortschreitend kleiner geworden, doch hat die Verbesserung bei den Erträgen es ermöglicht, die Produktionsvolumen beizubehalten. 80 % der Orangenerzeugung werden zu Säften verarbeitet und auf den Weltmarkt geliefert, auf dem Brasilien einen Anteil von 80 % des Gesamtwerts innehat. 70 % dieser Ausfuhren gehen in die EU, gefolgt von den USA und Japan. Brasilien ist auch der weltweit größte Bananenerzeuger, doch werden diese kaum exportiert, sondern praktisch die gesamte Produktion auf den nationalen Binnenmarkt geliefert. – d) Sonstige Pflanzenproduktion Weitere wichtige Kulturen sind Kaffee, Mais und Baumwolle. Brasilien ist mit 2,2 Millionen t im Jahr 2007 der Haupterzeuger von Kaffee in der Welt, gefolgt von Vietnam, Indonesien und Kolumbien. Mit 1,4 Millionen t bzw. 30 % des Welthandels ist es zugleich der größte Exporteur. Die Hauptproduktionsregion ist der Südosten (Espirito Santo und vor allem Minas Gerais). Der lateinamerikanische Riese ist der drittgrößte Maiserzeuger der Welt nach den USA und China, wobei die Erträge in Abhängigkeit von den Kampagnen sehr unterschiedlich ausfallen, jedoch 2003 einen Umfang von 48 Millionen t erreichten (TABELLE 3 – VI). Obwohl der größte Teil der im Süden und Mittelwesten konzentrierten Erzeugung für die Tierernährung in Brasilien selbst eingesetzt wird, gibt es seit dem Jahr 2000 einen Handelsüberschuss, der den Ausfuhren geschuldet ist. In der Folge entwickelte sich das Land 2003/04 zum viertgrößten Maisexporteur der Welt, und die Erwartungen für die Zukunft sind klar auf Anstieg gerichtet.

13 WT/DS265/AB/R, WT/DS266/AB/R und WT/DS283/AB/R vom 28.4.2005.

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Schließlich ist Brasilien mit einer Anbaufläche von 1,1 Millionen ha auch der fünftgrößte Baumwollerzeuger nach China, den USA, Indien und Pakistan. Die Erzeugung (3,8 Millionen t im Jahr 2007) konzentriert sich im Mittelwesten (Mato Grosso) und befindet sich in voller Expansion mit starken Ertragssteigerungen, was die Vorhersage erlaubt, dass angesichts des derzeitigen Verkaufs von ca. 40 % der Erzeugung ins Ausland der Handel mittelfristig beträchtlich zunehmen und Brasilien sich folglich als einer der weltweit wichtigsten Exporteure etablieren dürfte. Das günstige Ergebnis des WHO-Panels gegen die Baumwollbeihilfen in den USA (14), das von Brasilien angestrengt und von anderen Ländern unterstützt wurde, war Ausdruck des entschiedenen Willens der brasilianischen Exporteure zur Erhöhung ihres Marktanteils. 3.3. Produktionsstruktur (II): Hauptsektoren der Viehwirtschaft – a) Rinder Mit 207 Millionen Tieren und 9,1 Millionen t Schlachtgewicht (TABELLE 3 – X) besitzt Brasilien die zweitgrößte Rinderherde der Welt (nach Indien) und ist der zweitgrößte Fleischexporteur der Erde (nach den USA). Drei Viertel dieser Produktion sind in modernen, stark spezialisierten Farmen mit mehr als 500 Tieren in extensiver Haltung angesiedelt. Sie ist im Mittelwesten konzentriert, einer Region mit viel Weideland, und in geringerem Maße im Süden und Südosten. Die natürlichen oder ausgesäten Weiden, zu geringeren Teilen ergänzt durch die erheblichen Umfang aufweisende Erzeugung von Soja, Mais und Sorghumhirse, stützen Erzeugnisse von anerkannter Qualität zu sehr wettbewerbsfähigen Preisen, bei denen Futtermittel ausschließlich pflanzlichen Ursprungs eingesetzt werden. Außerdem untersagte die brasilianische Regierung 1996 die Verwendung von tierischen Proteinen und Tiermehlen zur Fütterung von Rindern und sicherte damit nach dem BSE-Skandal die Exporte. Durch den Wechselkurs und die fortschreitende Reduzierung der Gebiete mit Maul- und Klauenseuche (Foot and Mouth Disease - FMD), die sich heute auf São Paulo, Mato Grosso do Sul und Paraná beschränkt, sind wir seit 2002 Zeugen eines spektakulären Anstiegs der Exporte, die insbesondere als Frischfleisch vorwiegend nach Russland und in die EU gehen. Ca. 10 % der Schlachthöfe sind offiziell und mithin auch für Ausfuhren in die EU zugelassen. Es wird jedoch eingeschätzt, dass über die Hälfte der Schlachtproduktion nicht den gesundheitspolizeilichen Bestimmungen gerecht wird und in den eigenen Binnenmarkt geht. Dies verleitet zu dem Gedanken, dass womöglich ein Teil dieser Erzeugnisse für den Export abgezweigt werden könnte, sofern die Kontrollsysteme nicht wirksam sind. Auf diesen Punkt werden wir im Abschnitt 3.5 noch zurückkommen. Der Rindfleischverbrauch ist sehr hoch (rund 25 kg pro Kopf), wenngleich mit großen Unterschieden nach Regionen und Einkommensniveau. – b) Geflügel Die Geflügelindustrie ist seit 1990 mit einer jährlichen Wachstumsrate von mindestens 13 % außerordentlich angestiegen. Das Ergebnis ist, dass Brasilien heute mit 8,4 Millionen t der

14 WT/DS267/AB/R vom 3.3.2005.

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weltweit drittgrößte Erzeuger von Geflügelfleisch ist; eine Position, die in den kommenden zehn Jahren mit einer Erhöhung der Produktion von bis zu 50 % noch gesteigert werden soll. Der Sektor hat einem hohen vertikalen Integrationsgrad, ist modern und sehr wettbewerbsfähig und verbraucht fast 65 % der Inlandserzeugung an Soja. Obwohl 70 % des Fleisches auf dem heimischen Markt verkauft werden, wachsen die Ausfuhren ständig weiter an und erreichten 2004 2,8 Millionen t, was 40 % des Weltmarkts entspricht. 30 % dieser Ausfuhren sind ganze Hähnchen, die in den Nahen Osten exportiert werden. Doch setzt sich immer mehr filetiertes Geflügelfleisch durch und übersteigt gegenwärtig bereits 60 % der Ausfuhren in Richtung EU, Asien und Russland als Hauptabnehmer. – c) Schweine Schweinefleisch stellt den drittgrößten Fleischsektor Brasiliens und verschafft diesem mit fast 33,2 Millionen Tieren und 3 Millionen t Schlachtfleisch jährlich den vierten Platz in der Welt nach China, der EU und den USA (TABELLE 3 – X). Gleichzeitig ist es das viertgrößte Exportland nach der EU, den USA und Kanada, obwohl 2 Millionen Tonnen in den Inlandsverbrauch gehen. Russland ist mit 60 % der Gesamtmenge der Hauptbestimmungsmarkt. Es besteht ein außerordentlich großes Produktionspotenzial unter der Voraussetzung, dass die gesundheitspolizeilichen Probleme gelöst werden können, unter denen dieser Bereich der Viehwirtschaft in Brasilien noch leidet. 3.4. Der Agrarhandel im Rahmen des Multilateralismus und der lateinamerikanischen Regionalintegration Häufig wird vergessen, dass der größte Teil der brasilianischen Agrarerzeugung in den Binnenmarkt fließt und nur ein Viertel in den Export geht. Auf jeden Fall erhöht Brasilien weiter sein Gewicht im Welthandel mit Agrar- und Ernährungsprodukten und ist derzeit mit 32,2 Milliarden Dollar (2005) der weltweit drittgrößte Exporteur (TABELLE 3 – XII). Nach Rubriken belegen Soja und Sojaerzeugnisse den ersten Platz mit 37 % der Gesamtausfuhren von Agrar- und Ernährungsprodukten (19 % des „Agribusiness“-Sektors insgesamt) (TABELLE 4 – II). An zweiter Stelle folgt Fleisch im Allgemeinen, insbesondere Geflügelfleisch (10 % der Gesamtausfuhren von Agrar- und Ernährungsprodukten) und Rindfleisch (7%). Die dritte große Rubrik sind Zucker und Bioethanol, die einen starken Anstieg aufweisen (16 % der Gesamtausfuhren des „Agribusiness“-Sektors) (TABELLE 4 – II).

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TABELLE 4. AGRAREXPORTE BRASILIENS (2005 und 2006) (*) (In Milliarden US-Dollar. Jährliche Gesamtwerte und unterteilt nach Abnehmern und Produkten)

2005 2006 VERÄNDERUNG VON JAHR ZU

JAHR

ANTEIL AM GESAMTEXPORT

EXPORTE INSGESAMT 43,6 49,2 -- 100 I. Hauptbestimmungsmärkte EU-15 USA China Russland Japan

14,2 6,0 3,1 2,7 1,7

15,2 7,0 3,8 3,1 1,5

+7,0 % +16,7 % +22,6 % +15,4 % -11,8 %

30,9 % 14,2 % 7,7 % 6,3 % 3,0 %

II. Hauptprodukte Soja Fleisch Zucker und Alkohol Papier und Zellulose Häute und Felle

9,5 8,0 4,7 7,2 3,1

9,3 8,6 7,8 7,9 3,5

-2,1 % +7,5 % +66,0 % +9,7 % +12,9 %

18,9 % 17,5 % 15,9 % 16,1 % 7,1 %

(*) Die „Agrarexporte“ betreffen die Handelsströme des gesamten brasilianischen „Agribusiness“, das neben den Grundprodukten auch verarbeitete Nahrungsmittel, Zucker, Alkohol, Papier und Zellulose, Häute und Felle sowie Holzerzeugnisse umfasst.

Quelle: Associação Brasileira de Agribusiness (ABAG). Die gegenwärtige Struktur der Exporte hat sich in den letzten Jahren radikal verändert. Während sie sich in der Vergangenheit auf die tropischen Produkte (Kaffee, Orangensaft, Zucker) beschränkte, hat sie sich allmählich diversifiziert und schließt derzeit praktisch alle Bereiche der Agrar- und Ernährungswirtschaft außer Weizen ein (bei dem Brasilien weiterhin ein Nettoeinfuhrland mit dem benachbarten Argentinien als Hauptlieferant ist). Der Hauptabnehmer von Agrarprodukten ist mit weitem Abstand die EU (35 % für die EU-25 im Jahr 2005). Die USA haben parallel zum Eintritt Chinas und Russlands in die Weltmärkte allmählich an Bedeutung verloren. Während im Jahr 2000 die USA 10 % der gesamten Agrarexporte, China und Russland dagegen jeweils nur 3 % aufnahmen, rangierte Russland 2005 bereits an zweiter Stelle nach der EU-25, gefolgt von den USA und China mit jeweils 7 %. Als Nettoexporteur von Nahrungsmitteln ist Brasilien Teil der so genannten Cairns-Gruppe (15) und fördert aktiv die vollständige Liberalisierung des Agrarhandels im Rahmen des Multilateralismus. Die vor dem Streitschlichtungsorgan der WHO eingebrachten erfolgreichen Beschwerden gegen die EU (Zucker) und die USA (Baumwolle, Fruchtsäfte) (s. Fußnoten (13) und (14)) belegen das brasilianische Interesse an einer maximalen Nutzung des kommerziellen Potenzials seines Agrar- und Ernährungssektors im Zeitalter der Globalisierung. Obwohl es auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ist Brasilien auch Gründungsmitglied der so genannten G-20 (16), eines konfliktgeladenen Konglomerats aus Schwellenländern, die zum Schutz ihrer gerade entstehenden Verarbeitungs- und Dienstleistungssektoren den Cancun- 15 Auch wenn den Mitgliedern der Cairns-Gruppe gemeinsam ist, dass es sich um große Agrarexporteure handelt,

bestehen in ihrem Innern doch einige Unterschiede. Einige von ihnen sind entwickelte Länder (Australien, Kanada, Neuseeland), andere Schwellenländer mit mittlerem Einkommen (Südafrika, Argentinien, Brasilien, Chile) und weitere schließlich eindeutig noch Entwicklungsländer (Bolivien, Kolumbien, Costa Rica, Phillipinen, Guatemala, Indonesien, Malaysia, Paraguay, Thailand und Uruguay).

16 Obwohl es sich um eine Gruppe mit sehr variabler Geometrie handelt, weshalb sie als G-20+ bekannt ist, kann man folgende Staaten als Mitglieder ansehen: Südafrika, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, China, Kuba, Ägypten, Phillipinen, Indien, Indonesien, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Paraguay, Thailand, Tansania, Venezuela und Simbabwe.

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Gipfel mit Geschick zum Scheitern brachten und die noch heute die europäischen und nordamerikanischen Forderungen nach Öffnung und Liberalisierung ihrer Binnenmärkte ablehnen. Die Beteiligung Brasiliens ist eindeutig Ausdruck der derzeitigen Diversifizierung seiner Wirtschaft und des schwierigen Gleichgewichts, das es in der Doha-Runde finden muss, um sowohl seinen Agrarexporteuren als auch seinen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Außerdem spielt Brasilien eine zunehmend größere Rolle als regionale Führungskraft und ist zum wichtigsten Vorkämpfer für die Erneuerung des Abkommens EU-MERCOSUR geworden. Damit strebt es offensichtlich ein wirtschaftliches Ziel an: die Festigung und Steigerung seines Anteils an einem der Hauptmärkte der Welt. Doch dahinter verbirgt sich auch ein politisches Ziel: die engere Gestaltung weitreichender Beziehungen zu dem weltweit bedeutendsten Integrationsprojekt, der EU, die Brasilien die Übernahme der Führungsposition in der lateinamerikanischen Integration erleichtert und ihm die Möglichkeit gibt, sich dem Druck der USA zugunsten von zweiseitigen Freihandelsabkommen mit seinen südlichen Nachbarn mit besseren Sicherheiten zu widersetzen. 3.5. Die Differenzen zwischen der EU und Brasilien aus Anlass der gesundheitspolizeilichen

Bestimmungen für Rindfleischimporte In den letzten Monaten führte der europäische Rindfleischsektor Klage über die nach seinen Angaben wiederholte Nichteinhaltung der gesundheitspolizeilichen und Veterinärbestimmungen der Gemeinschaft durch die brasilianischen Erzeuger und Exporteure im Zusammenhang mit dem in der EU auf den Markt gebrachten Fleisch. Als Antwort auf diese Beschwerden führte die Europäische Kommission (DG SANCO) im März und November 2007 zwei Inspektionen vor Ort durch, bei denen die Effizienz der zuständigen brasilianischen Behörden einer grundsätzlichen Prüfung unterzogen werden sollte. Bei den Besuchen gelangte man zu der Einschätzung, dass zwar ein Teil der bei vorangegangenen Inspektionen vorgeschlagenen Empfehlungen zufriedenstellend umgesetzt worden war, die gesundheitspolizeilichen Kontrollsysteme sowohl auf der Ebene der Staaten als auch des Bundes jedoch lückenhaft waren; dass es an wirksamen Überwachungsprogrammen gegen Maul- und Klauenseuche bei Rindern mangelte und keine Garantien für Sperrmaßnahmen für Tiere in den als nicht-MKS-frei deklarierten Gebieten bestanden; dass die Registrierung und Kennzeichnung der Tiere in den Betrieben und bei den Tiertransporten unzureichend war; dass die Laboruntersuchungen zu lange dauerten; dass der Datenschutz für Angaben auf den Ausfuhrzertifikaten aufgrund der Möglichkeit einer betrügerischen Verwendung der Dokumentation mangelhaft war und dass letztlich keine ausreichenden Fortschritte bei der für 2009 vorgesehenen Errichtung eines geschlossenen Systems für das in die EU exportierte Fleisch festzustellen waren. Im Ergebnis der von den Inspektoren vorgelegten Empfehlungen beschloss die Kommission, die Importe von rotem Fleisch einzuschränken, wenn die im Gemeinschaftsrecht festgelegten Voraussetzungen, insbesondere die landesweite Kennzeichnung und Registrierung der Rinder und die wirksame Kontrolle, angefangen im Haltungsbetrieb der Tiere über die Schlachtung bis hin zur späteren Ausfuhr ihres Fleisches, nicht eingehalten werden. Dieser Beschluss sollte ab dem 31. Januar 2008 allgemein und ab dem 15. März 2008 für das vor dem 31. Januar versendete Fleisch in Kraft treten.

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Wie zu erwarten war, bestand die Reaktion der brasilianischen Behörden in völliger Ablehnung, und es ist möglich, dass diese, sollte es nicht zu einem Kompromiss kommen, eine Beschwerde vor dem Streitschlichtungsorgan der WHO einreichen. 3.6. Die brasilianische Agrarpolitik Nach Angaben der OECD ist die Unterstützung der brasilianischen Landwirte relativ schwach (6 % der Produktion, gemessen in Produzentensubventionsäquivalent), vor allem verglichen mit den Werten der am stärksten entwickelten Länder, die Mitglieder der OECD sind (30 % im Durchschnitt im Zeitraum 2003/2005). Für den Zeitraum 2003/2005 entsprach diese Unterstützung im Durchschnitt 0,7 % des BIP, was niedriger ist als der entsprechende Prozentsatz in den reichen Ländern insgesamt (OECD: 1,1 %), obwohl die Landwirtschaft in Brasilien eindeutig höhere Bedeutung besitzt. Jedoch ist hervorzuheben, dass die öffentliche Unterstützung für die brasilianische Landwirtschaft seit 2004 eindeutig im Anstieg begriffen ist. Zwei Drittel der Unterstützung erfolgen in Form zinsverbilligter Kredite, das verbleibende Drittel bilden die Garantiepreise. Diese letztgenannte Position hat sich in letzter Zeit am stärksten entwickelt (+ 65 %) und im Jahr 2005 2,9 Milliarden Real erreicht. Diese Tatsache hat ihre Erklärung in der Beibehaltung der Garantiepreise trotz des in diesem Haushaltsjahr eingetretenen Preisverfalls auf den Märkten für pflanzliche Erzeugnisse (TABELLE 3 – IV) und im Anstieg des Wechselkurses. 2005 wurden auch die Zahlungen für Einsatzmittel (+ 58 %) auf 7,5 Milliarden Real angehoben, ebenso wie die Zinszuschüsse für Investitionen und den Kauf von Ausrüstungen, auch kam es zur Neuverhandlung über die Rückzahlung landwirtschaftlicher Schulden. Nach Sektoren profitieren Reis, Mais, Baumwolle und Weizen am meisten von den öffentlichen Interventionen. In struktureller Hinsicht gehört die Beseitigung der Armut zu den vorrangigen Zielen der derzeitigen brasilianischen Regierung, was konkrete Maßnahmen der Agrarpolitik und Politik für den ländlichen Raum einschließt. Wie wir bereits gesehen haben (3.1), ist Brasilien weltweit eines der Länder mit den größten strukturellen Ungleichheiten und einer sehr ungleichen Verteilung des Bodens. Im Ergebnis des Drucks der landlosen Bauern („Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“) wird derzeit das zweite Nationale Agrarreformprogramm (Programa Nacional de Reforma Agraria) aufgelegt, das Maßnahmen wie die Ansiedlung von Bauern auf enteigneten, käuflich erworbenen oder vom Staat zur Verfügung gestellten Ländereien, das Angebot zinsverbilligter Darlehen für den Erwerb von Boden und die Finanzierung der Investitionen in Infrastrukturen und kommunale Unterstützung enthält. Parallel dazu wird zugunsten der Kleineigentümer ein Programm zur Stärkung der Familienlandwirtschaft (PRONAF) mit Vorzugskrediten für Investitionen, Verarbeitung und Vermarktung, Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen umgesetzt.

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WICHTIGE BIBLIOGRAPHISCHE REFERENZEN

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