Fall 99 X - m.thieme.de · korpuskuläre Bestandteile Zielwert nach Beendigung der Therapie:...

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| 17.12.13 - 10:51 X Zusatzthemen für Lerngruppen Schmerzskalen Dosierung, Indikationen und Kontraindikatio- nen von Analgetika 99 Polytrauma 99.1 Welche standardisierten Versorgungs- konzepte gibt es zur Behandlung von Polytraumapatienten im Schockraum? ATLS: Advanced Trauma Life Support ETC: European Trauma Course 99.2 Erläutern Sie in Kürze Ihre unmittel- baren Ziele im Schockraum! Grundregel: Prioritäten-orientierte Versorgung (Treat first what kills first) A Airway: Atemwegssicherung und Stabilisie- rung der Halswirbelsäule B Breathing: Atmungskontrolle und Ventilati- on C Circulation: Kreislauferhalt unter Blutungs- kontrolle D Disability: neurologische Statuskontrolle E Exposure: Entkleidung unter Wärmeerhalt 99.3 Mit welchen Komplikationen müssen Sie generell während der Schockraum- phase rechnen? A: Atemwegsverlegung, nicht-sichererAtem- weg, Blutungen aus Mund, Nase und Gesicht B: Beatmungsprobleme, (Spannungs-)Pneumo- thorax C: Hypotension, Kreislaufstillstand, weiterer Blutverlust, Koagulopathie D: Querschnitt, Frakturen E: Hypothermie (Gerinnungsstörung) 99.4 Wie verbessern Sie die Gerinnungs- situation weiter? Therapie der Gerinnungsstörung (Tab. 99.1): Rahmenbedingungen optimieren: Patient wär- men, ggf. pH-Wert und Ca 2+ korrigieren weitere Transfusion von EK, FFP und ggf. TK Tranexamsäure 2 g i. v., danach weiter über Per- fusor falls erforderlich, Einzelfaktorsubstitution, PPSB und Fibrinogen, ggf. Desmopressin und rFVIIa ggf. Rotations-Thrombelastometrie (s. Kommen- tar) 99.5 Sollte vorher noch ein CT durchgeführt werden? Ja: Nach initialer Stabilisierung sind jetzt die weitere Diagnostik und die Identifikation le- bensbedrohlicher Verletzungen in diesem Fall wichtiger als die Versorgung der Oberschenkel- verletzung (aktuell keine vital bedrohliche Blu- tung). Das Ganzkörper-CT gehört in der Polytrauma- versorgung zum Standard. Nach der CT-Diagnostik sollte der Patient un- mittelbar in den OP gebracht werden; dabei hängt die Versorgungsreihenfolge von den ggf. identifizierten weiteren Verletzungen ab. Kommentar Schockraumtherapie. Die Aufnahme von schwerkranken Patienten mit lebensbedrohli- chen Mehrfachverletzungen (Polytrauma) erfolgt meist über einen speziell eingerichteten Raum (Schockraum) im Krankenhaus (Abb. 99.1). Die Schockraumversorgung ist in der Regel interdis- ziplinär organisiert, d. h. es arbeiten ärztliche Kol- legen (Facharztstandard) und Pflegekräfte ver- schiedener Abteilungen zusammen, um eine koor- dinierte Patientenversorgung zu gewährleisten. Die Leitung des Teams übernimmt dabei meistens ein erfahrener Anästhesist oder Unfallchirurg. Das Schockraumteam umfasst die notwendigen Fach- abteilungen (Anästhesie, Unfallchirurgie, All- gemeinchirurgie, ggf. Neurochirurgie, Radiologie, aber auch Kinderchirurgie/Pädiatrie, HNO usw.) sowie Pflegekräfte und Mitarbeiter der Funk- tionsdienste. Wichtig ist im Schockraum rasches und koor- diniertes Handeln, um eine optimale Patientenver- sorgung zu erreichen. Das Vorgehen soll sich an klaren Prioritäten orientieren und ist daher meist standardisiert gemäß etablierten Konzepten (s.u.). In Abhängigkeit von der Erkrankung bzw. Verlet- zung des Patienten sollte die Dauer der Schock- raumphase auf wenige Minuten begrenzt sein (zeitkritische Versorgung, Golden Hour of Shock). Die AWMF S 3-Leitlinie Polytrauma/Schwerver- letzten-Behandlungist die derzeit aktuellste deutschsprachige Empfehlung. Fall 99 358 Fall 99 Seite 114

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XZusatzthemen für Lerngruppen

● Schmerzskalen● Dosierung, Indikationen und Kontraindikatio-nen von Analgetika

99 Polytrauma

99.1 Welche standardisierten Versorgungs-konzepte gibt es zur Behandlung von

Polytraumapatienten im Schockraum?

● ATLS: Advanced Trauma Life Support● ETC: European Trauma Course

99.2 Erläutern Sie in Kürze Ihre unmittel-baren Ziele im Schockraum!

● Grundregel: Prioritäten-orientierte Versorgung(„Treat first what kills first“)

● A – Airway: Atemwegssicherung und Stabilisie-rung der Halswirbelsäule

● B – Breathing: Atmungskontrolle und Ventilati-on

● C – Circulation: Kreislauferhalt unter Blutungs-kontrolle

● D – Disability: neurologische Statuskontrolle● E – Exposure: Entkleidung unter Wärmeerhalt

99.3 Mit welchen Komplikationen müssenSie generell während der Schockraum-

phase rechnen?

● A: Atemwegsverlegung, „nicht-sicherer“Atem-weg, Blutungen aus Mund, Nase und Gesicht

● B: Beatmungsprobleme, (Spannungs-)Pneumo-thorax

● C: Hypotension, Kreislaufstillstand, weitererBlutverlust, Koagulopathie

● D: Querschnitt, Frakturen● E: Hypothermie (→ Gerinnungsstörung)

99.4 Wie verbessern Sie die Gerinnungs-situation weiter?

Therapie der Gerinnungsstörung (▶Tab. 99.1):● Rahmenbedingungen optimieren: Patient wär-men, ggf. pH-Wert und Ca2+ korrigieren

● weitere Transfusion von EK, FFP und ggf. TK● Tranexamsäure 2 g i. v., danach weiter über Per-fusor

● falls erforderlich, Einzelfaktorsubstitution, PPSBund Fibrinogen, ggf. Desmopressin und rFVIIa

● ggf. Rotations-Thrombelastometrie (s. Kommen-tar)

99.5 Sollte vorher noch ein CT durchgeführtwerden?

● Ja: Nach initialer Stabilisierung sind jetzt dieweitere Diagnostik und die Identifikation le-bensbedrohlicher Verletzungen in diesem Fallwichtiger als die Versorgung der Oberschenkel-verletzung (aktuell keine vital bedrohliche Blu-tung).

● Das Ganzkörper-CT gehört in der Polytrauma-versorgung zum Standard.

● Nach der CT-Diagnostik sollte der Patient un-mittelbar in den OP gebracht werden; dabeihängt die Versorgungsreihenfolge von den ggf.identifizierten weiteren Verletzungen ab.

Kommentar▶ Schockraumtherapie. Die Aufnahme vonschwerkranken Patienten mit lebensbedrohli-chen Mehrfachverletzungen (Polytrauma) erfolgtmeist über einen speziell eingerichteten Raum(„Schockraum“) im Krankenhaus (▶Abb. 99.1). DieSchockraumversorgung ist in der Regel interdis-ziplinär organisiert, d. h. es arbeiten ärztliche Kol-legen (Facharztstandard) und Pflegekräfte ver-schiedener Abteilungen zusammen, um eine koor-dinierte Patientenversorgung zu gewährleisten.Die Leitung des Teams übernimmt dabei meistensein erfahrener Anästhesist oder Unfallchirurg. DasSchockraumteam umfasst die notwendigen Fach-abteilungen (Anästhesie, Unfallchirurgie, All-gemeinchirurgie, ggf. Neurochirurgie, Radiologie,aber auch Kinderchirurgie/Pädiatrie, HNO usw.)sowie Pflegekräfte und Mitarbeiter der Funk-tionsdienste.

Wichtig ist im Schockraum rasches und koor-diniertes Handeln, um eine optimale Patientenver-sorgung zu erreichen. Das Vorgehen soll sich anklaren Prioritäten orientieren und ist daher meiststandardisiert gemäß etablierten Konzepten (s. u.).In Abhängigkeit von der Erkrankung bzw. Verlet-zung des Patienten sollte die Dauer der Schock-raumphase auf wenige Minuten begrenzt sein(zeitkritische Versorgung, „Golden Hour of Shock“).

Die AWMF S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerver-letzten-Behandlung“ ist die derzeit aktuellstedeutschsprachige Empfehlung.

Fall 99

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Abb. 99.1 Schockraum in einem Klinikum der Maxi-malversorgung. Im Vordergrund (links) sind Röntgen-und Ultraschallgerät zu erkennen. Am Kopf des Patien-ten steht ein Narkosegerät, im Hintergrund ein Schrankmit Medikamenten und weiterem Material.

▶ Standardisierte Kurskonzepte für den Schock-raum. Bei der Umlagerung des Patienten von derRettungsdiensttrage auf die Schockraumtrage er-folgt eine Übergabe durch den Notarzt. Dabei istes wichtig, dass alle Mitglieder des Schockraum-teams aufmerksam zuhören.

Die weitere Versorgung sollte nach einem defi-nierten Konzept (z. B. ETC, ATLS) durchgeführtwerden. Das ATLS (Advanced Trauma Life Support)ist ein US-amerikanisches Konzept, das auf derganzen Welt seit etlichen Jahren verbreitet ist. Al-lerdings sind die Versorgungsstrukturen inDeutschland und Europa oftmals anders auf-gebaut. Daher hat sich in den letzten 10–15 Jahrenin Europa der European Trauma Course (ETC)etabliert, der besser auf die Situation in Deutsch-land zugeschnitten ist. Letztlich ist es von unterge-ordneter Relevanz, welches Konzept verwendetwird. Wichtig ist allerdings, dass für die Schock-raumversorgung überhaupt ein standardisiertesKonzept vorhanden ist und vom Schockraumteamgelebt wird.

Der Anästhesist prüft zuerst Atmung (A - Air-way) und Ventilation (B - Breathing). Zeitgleichbeurteilt der Unfall- oder Neurochirurg die Pupil-lenfunktion und den Bewusstseinszustand. Zu-sätzlich muss die Stabilisierung der Halswirbel-säule überprüft und ggf. optimiert oder durch-geführt werden. Ist die Lunge beim beatmeten Pa-tienten seitengleich ventiliert, wird die Herz-Kreislauf-Funktion geprüft (C - Circulation) undggf. weitere periphervenöse oder zentralvenöseZugänge gelegt. Dabei soll eine frühzeitige Blut-abnahme (z. B. BGA, Elektrolyte, Blutbild, Gerin-

nungsparameter, Blutzucker, Kreuzblut) erfolgen.Parallel hierzu kann im Bedarfsfall auch eine arte-rielle Blutdruckmessung etabliert werden. Zeit-gleich werden vom Allgemein- oder Unfallchirur-gen Thorax, Abdomen und Becken beurteilt undrelevante intraabdominelle Blutungen identifi-ziert oder ausgeschlossen. Danach sollten Verlet-zungen der Extremitäten (D - Disability) und dieKörpertemperatur (E - Environment) kontrolliertwerden.

Vom Thorax sollte rasch eine a. p.-Röntgenauf-nahme angefertigt werden. Bei Hinweisen auf eineVerletzung des Beckens sollte auch dieses frühzei-tig geröntgt werden (Alternative: Bildgebung imRahmen einer zeitnahen CT-Diagnostik). Eintransurethraler Dauerkatheter wird meist wäh-rend der Untersuchung von Pflegekräften gelegt(cave: Beckenverletzungen mit Schädigung derHarnröhre). Nach der Primärdiagnostik schließtsich ein CT von Schädel bis Becken an. Anschlie-ßend erfolgt – sofern indiziert – entsprechend dererhobenen Befunde die sofortige operative Thera-pie.

▶ Trauma-induzierte Koagulopathie (TIK). EineGerinnungsstörung durch eine schwere Verletzungbzw. ein Polytrauma wird als eigenständiges, mul-tifaktorielles Krankheitsbild betrachtet („Trauma-induzierte Koagulopathie“). Unkontrollierte Blu-tungen nach einem Polytrauma sind für etwa 40%der frühen Sterblichkeit im Krankenhaus verant-wortlich. Bis zu einem Drittel der schwerverletztenPatienten leidet bereits bei Ankunft in der Notauf-nahme bzw. im Schockraum an einer erheblichenGerinnungsstörung. Der Begriff „Koagulopathie“wird als Störung des „Organsystems“ angesehen.Entscheidend ist dabei die Kombination vonSchock und adäquat massiver Gewebeschädigung.Messbare Veränderungen des Gerinnungssystemslassen sich bereits 15 Minuten nach einem Trau-ma feststellen. Pathophysiologisch scheint dabeiein erhöhter Spiegel von aktiviertem Protein C(aPC) entscheidend zu sein, der sowohl eine redu-zierte plasmatische Gerinnung, als auch eine durchGewebe-Plasminogenaktivator (t-PA) bedingte Hy-perfibrinolyse bewirkt. Die Effekte von t-PA lassensich auch bei Operationen an bzw. Verletzungenvieler Organen (Lunge, Prostata, Plazenta, Pankre-as, Gehirn, Leber) nachweisen.

▶ Gerinnungsmanagement. Der Erhalt allgemei-ner Rahmenbedingungen der Gerinnung (Tem-

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peratur ≥34 °C, pH ≥7,2, ionisiertes Kalzi-um>0,9mmol/l bzw. 3,6mg/dl und Hämato-krit ≥30%, ▶ Tab. 99.1) ist sowohl zur Prophylaxeals auch zur Therapie jeglicher Blutung essenziell.Daher haben z. B. der Wärmeerhalt und eine ad-äquate Wärmezufuhr eine große Bedeutung. Au-ßerdem sind pharmakologische Faktorenkonzen-trate ein wichtiger Bestandteil eines multimodalenTherapiekonzeptes.

Wird die Gerinnungstherapie im Rahmen einerMassivtransfusion mit gefrorenen Frischplasmen(FFP) durchgeführt, so soll gemäß S3-Leitlinie zurPolytraumaversorgung in der Initialphase ein Ver-hältnis zu den Erythrozytenkonzentraten von1 : 1 angestrebt werden. Problematisch ist jedochdie rasche Verfügbarkeit der Frischplasmen, dieerst aufgetaut werden müssen. Zusätzlich mussbeachtet werden, dass die rasche Transfusion, be-sonders von FFP, aufgrund des als Antikoagulansbenutzten Zitrats zu einer Abnahme des Ca2+-Spiegels führt. Auch aufgrund weiterer Nebenwir-kungen wie der transfusionsbedingten Lungen-schädigung (TRALI, Transfusion Related AcuteLung Injury), der Gefahr einer erheblichen Volu-menüberlastung in Abhängigkeit von der kardi-alen Belastbarkeit (TACO, Transfusion AssociatedCardio-circulatory Overload), der transfusions-bedingten Immunbeeinflussung (TRIM, Trans-

fusion Related Immuno-Modulation) und des beiallen Blutprodukten möglichen Verwechslungsrisi-kos wird der Einsatz von FFP kontrovers dis-kutiert.

▶ Antifibrinolytika. Aufgrund der zentralen Rolleeiner (ggf. lokalen) Hyperfibrinolyse in der Patho-physiologie der TIK erscheint ein positiver Effektdurch Antifibrinolytika naheliegend. Tranexam-säure (TxA) ist ein synthetisches Derivat der Ami-nosäure Lysin. Die effektive Plasmakonzentrationliegt zwischen 5 und 15mg/l; eine einmalige i. v.-Gabe von 1 g erzielt eine Plasmakonzentrati-on ≥10mg/l für 5–6 Stunden. Eine Reduktion vonBlutverlust und Transfusionsbedarf wurde bisherfür eine Vielzahl von operativen Eingriffen nach-gewiesen (Kardiochirurgie, Orthopädie, spinale/hepatische/urologische/kraniale Eingriffe, Gynäko-logie und Geburtshilfe). Die frühe Gabe bei Poly-trauma wird empfohlen, weshalb mittlerweileauch der Einsatz bereits durch den Notarzt erwo-gen werden soll.

▶ Fibrinogen. Fibrinogen (Faktor I der Gerinnung,FI) wird in der Leber gebildet, ist das Substrat derGerinnungskaskade und hat eine normale Plas-makonzentration von 1,5–3,5 g/l. Zudem ist es ein„Akut-Phase-Protein“, der mit steigenden Kon-

Tab. 99.1 Gerinnungsmanagement bei Massivblutungen und Koagulopathie (aus: Anästh Intensivmed 2013;54:147–157).

Zielwerte bzw. therapeutische Maßnahmen

Rahmenbedingungen ● Körperkerntemperatur ≥ 34 °C● pH-Wert ≥ 7,2● ionisiertes Kalzium≥ 3,6mg/dl (≥ 0,9mmol/l)

korpuskuläre Bestandteile ● Zielwert nach Beendigung der Therapie: Hämoglobin ≥ 7–9 g/dl (≥ 4,34–5,59mmol/l)● Zielwert Thrombozyten

○ ≥ 100 000/µl (bei Massivblutungen und SHT)○ ≥ 50 000/µl (bei mäßigem Blutverlust)

antifibrinolytische Therapie ● 15–20mg/kg KG (1–2 g) Tranexamsäure als Bolus● danach ggf. kontinuierliche Infusion von 1–5mg/kg KG/h bei diffuser Blutung sowiebei Verdacht auf oder nachgewiesener Hyperfibrinolyse (ROTEM®)

Frischplasma ● 15–20ml/kg KG (ggf. 30ml/kg KG) nach klinischer Notwendigkeit

Gerinnungsfaktoren ● Fibrinogenkonzentrat: Zielwert 150–200mg/dl (1,2–2 g/l); i. d. R. 30–60mg/kg KGFibrinogen

● PPSB: 20–25 IE/kg KG (zur Therapie ohne vorbestehende Kumarin-Therapie;Antagonisierung einer Kumarin-Therapie nach INR bzw. Quick titrieren)

● ggf. Desmopressin: 0,3 µg/kg KG über 30min (in Erwägung zu ziehen bei Verdachtauf Thrombozytopathie, Einnahme eines Thrombozytenaggregationshemmers und/oder ADP-Rezeptorantagonisten)

rekombinante Gerinnungsfak-toren („Last Rescue Therapy“)

● 90 µg/kg KG rFVIIa (bei persistierender Blutung, die nicht mit anderen konventio-nellen Maßnahmen zu beherrschen ist); Ultima Ratio - cave: „Off-Label-Use“,Rahmenbedingungen beachten!

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zentrationen nach einer Verletzung immunmodu-latorisch wirkt. Die effektive Substitution von FIbei perioperativen Blutungen ist bei einer Vielzahlvon Indikationen untersucht worden. Die Indika-tion zur i. v.-Substitution wird bei einer Konzent-ration≤1,5–2 g/l (150–200mg/dl) gesehen. Eineinitiale Dosierung von 2–4g (30–60mg/kg KG) istmeist ausreichend.

▶ PPSB (Prothrombinkonzentrat). PPSB enthältin inaktiver Form die Vitamin K-abhängigen, pro-koagulatorischen Proenzyme des Prothrombin-komplexes (FII = Prothrombin, FVII = Proconvertin,FIX = Stuart-Faktor und FX= antihämophiler FaktorB) sowie Protein C, Protein S (beide inhibitorisch)und Protein Z (Kofaktor für die Inaktivierung vonFX). Bei Polytrauma muss die Indikation kritischgestellt werden. Eine initiale i. v.-Dosis von 20–25 IE/kg KG wird seitens der Bundesärztekammerempfohlen. Deutliche individuelle Schwankungender Wirksamkeit müssen beachtet werden.

▶ Desmopressin. DDAVP (1-Desamino-8-D-Argi-nin-Vasopressin) ist ein synthetisches Analogondes körpereigenen Arginin-Vasopressins(ADH=antidiuretisches Hormon). Als Antihämor-rhagikum bewirkt es eine unspezifische Thrombo-zytenaktivierung (vermehrte Expression desthrombozytären GPIb-Rezeptors), eine verstärkteThrombozytenadhäsion an das Endothel, eineThrombozytenfreisetzung aus dem Knochenmarkund die Freisetzung des Komplexes aus dem „vonWillebrand Faktor“ und FVIII aus den Lebersinusoi-den. Aus pathophysiologischer Überlegung herausund aufgrund einiger Fallberichte kann bei diffusblutenden Patienten mit Verdacht auf Hypother-mie- oder medikamentös bedingte Thrombozy-topathie ein Therapieversuch in einer i. v.-Dosie-rung von 0,3 μg/kg KG (Faustregel: 1 Ampulle pro10 kg Körpergewicht) über 30 Minuten in Erwä-gung gezogen werden.

▶ rFVIIa. Der rekombinanter Faktor VIIa (rFVIIa)bindet an durch eine Gefäßverletzung aktivierteThrombozyten und führt zur Bildung eines äußerststabilen Fibringerinnsels. Die Gabe sollte nur imEinzelfall und bei Erfolglosigkeit aller anderenTherapieoptionen erwogen werden. Die Effektivi-tät von rFVIIa bzw. der dadurch induzierten Gerin-nungsabläufe ist von verschiedenen Parameternabhängig, die beachtet werden müssen: Fibrino-genwert ≥1g/dl, Hb ≥7g/dl, Thrombozytenzahl

≥50 000 (besser≥100 000)/µl), Ca2+ ≥0,9mmol/l,Kerntemperatur ≥34 °C, pH-Wert ≥7,2. Meist wirdeine initiale i. v.-Dosis von 90µg/kg KG gegeben.

▶ Rotations-Thrombelastometrie(ROTEM®). MitVollblut können bei diesem diagnostischen Ver-fahren die Gerinnungseigenschaften (Hämostase)untersucht werden. Die Interaktionen von Gerin-nungsfaktoren, Inhibitoren und Zellkomponentenwerden gemessen, während sich das Gerinnsel bil-det und anschließend lysiert. Das Verfahren wirdeingesetzt, um die Veränderungen der Gerinnungbesser abschätzen zu können, als dies über INR/Quick und PPT möglich ist. Es steht allerdings beiweitem nicht flächendeckend zur Verfügung undbedarf weiterer Evaluation.

XZusatzthemen für Lerngruppen

● S 3-Leitlinie Polytrauma● ETC- und ATLS-Kurskonzepte● Gerinnungskaskade

100 Latex-Allergie undTUR-Syndrom

100.1 Welche Anästhesie-Materialien kön-nen Latex enthalten?

● Gummi- und Einmalhandschuhe● Beatmungsbeutel und Gesichtsmasken● alte Guedel- und Wendeltuben (rotes Plastik/Gummi)

● Neue Einmalartikel enthalten fast nie Latex, son-dern eher Silikon (Kennzeichnung beachten).

100.2 Ist es ein Problem, dass der Patient andritter Stelle im OP operiert wird?

● Die Planung von Patienten mit Latexallergie anerster Stelle im betreffenden OP-Saal ist weitverbreitet, um eine möglichst niedrige Konzent-ration von Latex-Partikeln zu erreichen.

● Da heute latexhaltige Medizinprodukte eher dieAusnahme sind, muss diese Vorsichtsmaßnahmeim Einzelfall abgewogenwerden; ein Absetzendes Patienten ist nicht erforderlich.

● Generell sollte auf alle latexhaltigen Produkteverzichtet werden, um der Entstehung von Aller-gien (auch beim Personal) vorzubeugen.

Fall 100

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