Freitag, 14. Februar 2020 Lehre und Forschung Nummer 7 ...

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Freitag, 14. Februar 2020 Nummer 7 · Holz-Zentralblatt · Seite 145 Lehre und Forschung Von Josua Sickinger*, Rosenheim rüh morgens um 6 Uhr klingelt der Wecker, „Riders on the Storm“ rufen The Doors aus mei- nem Handylautsprecher, nachdem für einige Sekunden ein Regenplätschern und Gewittern den Song eingeleitet hat. Allerdings wache ich von diesem Intro nur selten auf, denn der Regen der un- aufhörlich auf das Blechdach nur weni- ge Meter über mir hämmert, übertönt das Plätschern aus meinen Handylaut- sprechern bei Weitem. Und warum soll- te das auch anders sein? Schließlich ist ein Dach dafür da, um Wind und Regen abzuhalten. Eine Dämmung, die glei- chermaßen die Wärme im Gebäude hält und das Prasseln des Regens auf dem Trapezblech dämpft, gehören nicht zu den Grund- sondern zu den Luxus- eigenschaften eines Daches. Hier liege ich also, in meinem Bett in Villarrica, einer kleinen 40 000-Ein- wohner-Stadt im Süden Chiles und in 1,5 Stunden fängt mein Arbeitstag bei der Schreinerei Tronconoble an. Villar- rica ist ebenfalls der Name des nahege- legenen Vulkans und des Sees, der sich malerisch schön vor dem Vulkan aus- breitet, so zumindest hatte ich die Land- schaft von meiner letzten Reise in Süd- amerika in Erinnerung. Diesmal bin ich allerdings schon im September nach Chile gekommen und die nächsten drei Monate herrscht Regenzeit, der graue Wolkenschleier über Villarrica wird sich nur selten lösen, um die Schönheit zu zeigen, die hier versteckt ist. Dafür ist es nass und kalt, draußen sind es am frühen Morgen etwa 5 °C. In meinem Zimmer auch. Ich schäle mich unter der warmen Bettdecke hervor und werfe ei- nen Blick aus dem einfach verglasten Fenster. Die regnerischen Tage werden über die Sommermonate von einem wolkenfreien Himmel und heißen Ta- F Holzbau in Chile und mehr Ein persönlicher Arbeits- und Erfahrungsbericht aus Villarica Atemberaubende Landschaften, „Mi casa es tu casa“ und ex- plodierende Molotowcocktails haben eines gemeinsam: Erstens werde ich sie ständig mit dem letzten Jahr in Chile in Verbin- dung bringen und zweitens haben alle nichts mit Holzbau zu tun. Ganz im Gegensatz zum Grund meines Aufenthaltes in diesem wunderschönen, von Kontrasten geprägten und sich über 4 000 km an der Westküste Südamerikas erstreckenden Land, denn ich studiere Holzbau und Ausbau an der Techni- schen Hochschule Rosenheim, ein Bachelorstudiengang des Bauingenieurwesens mit Spezialisierung auf das Bauen mit Holz. Die Absolventen dieses Studiengangs arbeiten im fünften Semester für 18 Wochen in einem Betrieb, um Erfahrungen in ihrem späteren Arbeitsfeld zu sammeln. Die Suche nach dieser Erfahrung war es, die mich nach Chile trieb. gen ersetzt, nicht so die morgendliche Frische. Denn auch im Sommer sind es in den Morgenstunden, bevor die Son- ne ohne Erbarmen auf die Erde strahlt, oftmals unter 10 °C. „Phasenverschie- bung, Wärmedurchgangskoeffizient, Glaser-Verfahren“, predigen meine Pro- fessoren in meinem Hinterkopf, wäh- rend ich unter meiner Fensterbank durch einen millimeterbreiten Schlitz hindurch nach draußen schiele. Warum Chile? Ich beginne meinen Tag mit ein biss- chen Bewegung, um warm und wach zu werden, gefolgt von einem Kaffee und Frühstück in voller Montur: Schuhe, Jeans, Pulli und Jacke. Ein gedämmtes Haus ist wirklich ein Segen. Danach le- se ich noch einige Seiten in einem Buch, bevor ich mich zu Fuß zur 500 m entfernten Firma aufmache. Spätestens wenn ich auf halber Strecke den Villar- rica sehe, kommt dieses Gefühl auf, das mich die nächsten Monate begleiten wird. Ich bin in Chile, rund 12 000 km entfernt von der DACH-Region, in wel- cher die Pioniere des Holzbaus täglich lang erprobte Techniken anwenden oder neue Produkte erfinden und tes- ten. Etwas verwunderlich mag es unter diesen Gesichtspunkten erscheinen, sich für sein Praxissemester aus dieser Region zu entfernen. Aber warum ist das eigentlich so verwunderlich? Über Jahrhunderte taten Handwerker aus Europa genau das, sie bereisten die Welt, um Erfahrungen auf ihrem Gebiet außerhalb ihres Heimatbereiches zu machen. Die Walz war lange Zeit die Voraussetzung für einen Handwerker, um im Anschluss eine Meisterprüfung ablegen zu dürfen. Und dabei ging es bei der Walz bei Weitem nicht nur da- rum, Erfahrung auf seinem Fachgebiet zu sammeln. Wer nach über drei Jahren und einem Tag nach Hause zurück- kehrte, hatte sich nicht nur als hand- werklich fähig, sondern auch als durch- setzungsfähig und zuverlässig erwiesen. Es ist kein Zufall, dass wir noch heute ein Wort wie „Schlitzohr“, welches aus eben dieser Tradition kommt, nutzen: Ein Wandergeselle bekam vor Reisean- tritt von seinem Exportgesellen mit Hammer und Nagel einen Ohrring ge- stochen. Verhielt sich der Wandergesel- le auf Reisen unehrenhaft, wurde ihm schlicht der Ohrring herausgerissen und für jeden war damit ersichtlich, dass diesem „Schlitzohr“ nicht zu trauen ist. Auch wenn dieser Brauch in unserer Zeit sicher keine Rechtfertigung mehr hat, scheint mir die Idee, Wissen und Erfahrungen außerhalb unseres ge- wohnten Umfeldes auszutauschen, alles andere als altmodisch oder überholt zu sein. Während meiner Ausbildung als Zimmerer dachte ich deswegen lange über die Tippelei nach, entschied mich dann aber letzten Endes doch für das Studium in Rosenheim. Bereits zwischen Ausbildung und Studium verbrachte ich ein Jahr arbei- tend als Geselle in Deutschland und rei- send in Südamerika. Als die Zeit kam, mich für ein Praxissemester zu bewer- ben, erinnerte ich mich an meinen Wunsch auch außerhalb Deutschlands zu arbeiten und andere Kulturen sowie Sprachen kennen zu lernen. Ich machte mich nach einiger Überlegung also auf die Suche nach einem Praxissemester im spanischsprachigen Raum, meine Reise vor dem Studium hatte mein Inte- resse geweckt. So fand ich zur Schreinerei Tronco- noble (spanisch: edler Stamm) in Villar- rica, in deren Werkstatt angekommen ich jetzt, wie jeden Tag, die Runde ma- che und nach und nach jedem der zehn Arbeiter der Werkstatt die Hand gebe. Eine zunächst ungewohnte, aber sehr angenehme Sitte, die mir das Gefühl gibt, Bestandteil eines Teams zu sein und mich daran erinnert, dass man an einem Arbeitsplatz nicht einfach nur ar- beitet, sondern auch einen großen Teil seiner Lebenszeit verbringt. Mit jedem Arbeiter hat sich so ein kleines Ritual ergeben, mit manchen ist es ein kurzer Augenkontakt, mit dem einen der Aus- tausch der Frage „Que tál?“ (= Wie geht’s?) worauf fast immer die Antwort „Muy bien! Y tú?“ (= Sehr gut! Und dir?) folgt und wieder ein anderer macht einen Witz, der sich alle paar Ta- ge wiederholt. Der Gedanke, wie Altgesellen und Meister in Deutschland reagieren wür- den, wenn der Praktikant jeden Tag aus dem Büro zu ihnen kommt, um schein- bar nichtssagende Floskeln auszutau- schen, lässt mich schmunzeln. Im Büro angekommen, wiederholt sich die Pro- zedur auch noch mit Andrés Gutierrez Maurer und seiner Frau Angelika Fritz, die sich ebenfalls für jeden einzelnen der Arbeiter diese eine Minute am Tag Zeit nehmen, um zu erfahren, wie es ih- nen geht, bevor ich mich an meinen Ar- beitsplatz setze und in meinen Notizen vom Vortag checke, was ich heute erle- digen will. Der Betrieb Tronconoble ist eine junge Schreine- rei, die sich auf Möbel und Innenaus- bau spezialisiert hat. Angelika und An- drés haben sie 2014, nachdem sie mit ihren vier Töchtern nach Chile gezogen sind, gegründet und begannen 2016 nach dem Aufschlagen und Einrichten der Halle mit der Produktion der ersten Möbel. Seither wird die Nachfrage nach den mit „deutscher Qualität“ beworbe- nen Produkten stetig mehr. Angelika ist Schreinerin aus Deutsch- land und Andrés ist Architekt. Er hat 15 Jahre in Deutschland, Österreich und der Schweiz studiert und gearbei- tet. Obwohl der in Chile aufgewachsene Sohn aus einer deutsch-chilenischen Ehe in Europa hauptsächlich in einer Ladenbaufirma tätig war, zog es ihn als Architekt und Absolvent des Holzbau- konstruktionsmasterstudiums in Lau- sanne, wieder in den Holzbau zurück. Bevor er die Heimreise nach Chile an- trat, füllte er vier Schiffscontainer mit Maschinen. Damit sollte später nicht nur die Schreinerei, sondern auch eine Zimmerei ausgestattet werden können. Während meiner Praktikumszeit ar- beiten wir zu viert im Büro und wir sind zwischen zehn und 14 Handwerker in der Werkstatt. Da viele Gesellen aus Frankreich, Deutschland, Österreich und der Schweiz nach Chile kommen, um für begrenzte Zeit bei Tronconoble zu arbeiten, gibt es stets einen regen Wechsel um die chilenische Stammbe- legschaft. Dies sorgt nicht nur für eine multikulturelle und gute Stimmung un- ter den Arbeitern verschiedener Natio- nalitäten, sondern stellt auch erhebliche Anforderungen an die betriebsinterne Kommunikation. Sämtliche Maschi- nen, Werkzeuge und Besprechungen werden mindestens zweisprachig ausge- führt. Es ist auch keine Seltenheit, in- nerhalb eines Rundgangs mit Spanisch, Deutsch, Englisch und Französisch konfrontiert zu werden, denn jede Per- sonenkonstellation hat ihre eigene, bes- te gemeinsame Sprache. Die Werkstatt ist mit einer Fläche von rund 900 m² sehr groß für chilenische Verhältnisse, und der Maschinenpark ähnelt deutschen Schreinereien. Auch wenn die Schreinerei und die junge Stammbelegschaft noch einige Zeit brauchen, bis ein routinierter, fließen- der Arbeitsablauf eintritt, geht es für Andrés mit dem Projekt „Zimmerei für den vorgefertigten Holzrahmenbau“ schon wieder weiter. Zunächst soll die Schreinerei vergrößert werden und der Zimmerei in der bestehenden Halle ei- nen Platz von rund 180 m² einräumen. Zusammen mit dem Hallenanbau und konkreten Projekten sollten im chileni- schen Sommer 2018/19 die ersten Ide- en in die Tat umgesetzt werden. Und an genau dieser Stelle kam ich als Zimme- rer und zukünftiger Holzbauer mit mei- nem Praxissemester ins Spiel. Schreinerei Tronconoble im chilenischen Villarica am Fuße des gleichnamigen Vul- kans (Foto unten). Im Bild oben zu sehen sind links die Produktionshalle mitsamt Ausstellungsraum im Erdgeschoss sowie Büro und Wohnraum im zweiten Stock, rechts das Spielhaus, das einige Wandergesellen bei ihrem Besuch bauten. Der Vil- larrica gilt als einer aktivsten Vulkane Chiles. Der „Wolkenstreifen“, der den Krater verlässt, kommt von Eisschollen, die in die Lava fallen. Fotos: Sickinger Josua Sickinger mit den Tronconoble-Gründern Andrés Gutierrez Maurer und sei- ner Frau Angelika Fritz sowie den vier gemeinsamen Kindern (von links): Ayme, Asiri, Aylén und Tiare (vgl. auch HZ Nr. 33 vom 19. August 2016, S. 816 ff) Weihnachts-Grillfest (spanisch: Asado) der gesam- ten Belegschaft bei strahlendem Sonnenschein auf dem Firmengelände von Tronconoble Die Besteigung des „Hausbergs“ Villarrica, um von oben einen Blick in die brodelnde Lava zu werfen, ist für viele Besucher der Region ein Highlight. Der ausgebildete Zimmerer Josua Si- ckinger, Autor dieses Berichts, studiert an der TH Rosenheim Holzbau und Ausbau. Sein Praxissemester verbrachte er in einer chilenischen Schreinerei. * Nach dem Abschluss meiner Zimmererlehre bei Holzbau Kirsten in Allmannsweier im Jahr 2015 verbrachte ich ein Jahr arbeitend als Geselle in Deutschland sowie teilwei- se reisend in Südamerika. Schon während der Ausbildung war mir klar, dass ich hinter- her in Rosenheim Holzbau studieren wollte. Erst später jedoch erkannte ich, dass ich auch die spanische Sprache noch besser kennen lernen will und so fand ich für mein Praxissemester den Weg nach Chile. Im Januar 2020 habe ich meine letzte Prüfung des Studiums abgelegt und mittlerweile steht fest, dass ich nach Ablegen des in Rosenheim traditionellen Holzer-Hutes auch für meine Bachelorarbeit noch einmal nach Chile ge- hen werde. Nach den Erfahrungen im Praxissemester soll die Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen Machbarkeit einer Zimmerei in Chile meine Zeit in Rosenheim und Villarrica weiter verbinden und abrunden. Fortsetzung auf Seite 146

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Freitag, 14. Februar 2020 Nummer 7 · Holz-Zentralblatt · Seite 145Lehre und Forschung

Von Josua Sickinger*, Rosenheim

rüh morgens um 6 Uhr klingeltder Wecker, „Riders on theStorm“ rufen The Doors aus mei-

nem Handylautsprecher, nachdem füreinige Sekunden ein Regenplätschernund Gewittern den Song eingeleitet hat.Allerdings wache ich von diesem Intronur selten auf, denn der Regen der un-aufhörlich auf das Blechdach nur weni-ge Meter über mir hämmert, übertöntdas Plätschern aus meinen Handylaut-sprechern bei Weitem. Und warum soll-te das auch anders sein? Schließlich istein Dach dafür da, um Wind und Regenabzuhalten. Eine Dämmung, die glei-chermaßen die Wärme im Gebäude hältund das Prasseln des Regens auf demTrapezblech dämpft, gehören nicht zuden Grund- sondern zu den Luxus-eigenschaften eines Daches.

Hier liege ich also, in meinem Bett inVillarrica, einer kleinen 40 000-Ein-wohner-Stadt im Süden Chiles und in1,5 Stunden fängt mein Arbeitstag beider Schreinerei Tronconoble an. Villar-rica ist ebenfalls der Name des nahege-legenen Vulkans und des Sees, der sichmalerisch schön vor dem Vulkan aus-breitet, so zumindest hatte ich die Land-schaft von meiner letzten Reise in Süd-amerika in Erinnerung. Diesmal bin ichallerdings schon im September nachChile gekommen und die nächsten dreiMonate herrscht Regenzeit, der graueWolkenschleier über Villarrica wirdsich nur selten lösen, um die Schönheitzu zeigen, die hier versteckt ist. Dafürist es nass und kalt, draußen sind es amfrühen Morgen etwa 5 °C. In meinemZimmer auch. Ich schäle mich unter derwarmen Bettdecke hervor und werfe ei-nen Blick aus dem einfach verglastenFenster. Die regnerischen Tage werdenüber die Sommermonate von einemwolkenfreien Himmel und heißen Ta-

F

Holzbau in Chile und mehrEin persönlicher Arbeits- und Erfahrungsbericht aus Villarica

Atemberaubende Landschaften, „Mi casa es tu casa“ und ex-plodierende Molotowcocktails haben eines gemeinsam: Erstenswerde ich sie ständig mit dem letzten Jahr in Chile in Verbin-dung bringen und zweitens haben alle nichts mit Holzbau zutun. Ganz im Gegensatz zum Grund meines Aufenthaltes indiesem wunderschönen, von Kontrasten geprägten und sichüber 4 000 km an der Westküste Südamerikas erstreckendenLand, denn ich studiere Holzbau und Ausbau an der Techni-schen Hochschule Rosenheim, ein Bachelorstudiengang desBauingenieurwesens mit Spezialisierung auf das Bauen mitHolz. Die Absolventen dieses Studiengangs arbeiten im fünftenSemester für 18 Wochen in einem Betrieb, um Erfahrungen inihrem späteren Arbeitsfeld zu sammeln. Die Suche nach dieserErfahrung war es, die mich nach Chile trieb.

gen ersetzt, nicht so die morgendlicheFrische. Denn auch im Sommer sind esin den Morgenstunden, bevor die Son-ne ohne Erbarmen auf die Erde strahlt,oftmals unter 10 °C. „Phasenverschie-bung, Wärmedurchgangskoeffizient,Glaser-Verfahren“, predigen meine Pro-fessoren in meinem Hinterkopf, wäh-rend ich unter meiner Fensterbankdurch einen millimeterbreiten Schlitzhindurch nach draußen schiele.

Warum Chile?

Ich beginne meinen Tag mit ein biss-chen Bewegung, um warm und wach zuwerden, gefolgt von einem Kaffee undFrühstück in voller Montur: Schuhe,Jeans, Pulli und Jacke. Ein gedämmtesHaus ist wirklich ein Segen. Danach le-se ich noch einige Seiten in einemBuch, bevor ich mich zu Fuß zur 500 mentfernten Firma aufmache. Spätestenswenn ich auf halber Strecke den Villar-rica sehe, kommt dieses Gefühl auf, dasmich die nächsten Monate begleitenwird. Ich bin in Chile, rund 12 000 kmentfernt von der DACH-Region, in wel-cher die Pioniere des Holzbaus täglichlang erprobte Techniken anwendenoder neue Produkte erfinden und tes-ten. Etwas verwunderlich mag es unterdiesen Gesichtspunkten erscheinen,sich für sein Praxissemester aus dieserRegion zu entfernen. Aber warum istdas eigentlich so verwunderlich? ÜberJahrhunderte taten Handwerker ausEuropa genau das, sie bereisten dieWelt, um Erfahrungen auf ihrem Gebietaußerhalb ihres Heimatbereiches zumachen. Die Walz war lange Zeit dieVoraussetzung für einen Handwerker,um im Anschluss eine Meisterprüfungablegen zu dürfen. Und dabei ging esbei der Walz bei Weitem nicht nur da-

rum, Erfahrung auf seinem Fachgebietzu sammeln. Wer nach über drei Jahrenund einem Tag nach Hause zurück-kehrte, hatte sich nicht nur als hand-werklich fähig, sondern auch als durch-setzungsfähig und zuverlässig erwiesen.

Es ist kein Zufall, dass wir noch heuteein Wort wie „Schlitzohr“, welches auseben dieser Tradition kommt, nutzen:Ein Wandergeselle bekam vor Reisean-tritt von seinem Exportgesellen mitHammer und Nagel einen Ohrring ge-stochen. Verhielt sich der Wandergesel-le auf Reisen unehrenhaft, wurde ihmschlicht der Ohrring herausgerissen undfür jeden war damit ersichtlich, dassdiesem „Schlitzohr“ nicht zu trauen ist.Auch wenn dieser Brauch in unsererZeit sicher keine Rechtfertigung mehrhat, scheint mir die Idee, Wissen undErfahrungen außerhalb unseres ge-wohnten Umfeldes auszutauschen, allesandere als altmodisch oder überholt zusein. Während meiner Ausbildung alsZimmerer dachte ich deswegen langeüber die Tippelei nach, entschied michdann aber letzten Endes doch für dasStudium in Rosenheim.

Bereits zwischen Ausbildung undStudium verbrachte ich ein Jahr arbei-tend als Geselle in Deutschland und rei-send in Südamerika. Als die Zeit kam,mich für ein Praxissemester zu bewer-ben, erinnerte ich mich an meinenWunsch auch außerhalb Deutschlandszu arbeiten und andere Kulturen sowieSprachen kennen zu lernen. Ich machtemich nach einiger Überlegung also aufdie Suche nach einem Praxissemesterim spanischsprachigen Raum, meineReise vor dem Studium hatte mein Inte-resse geweckt.

So fand ich zur Schreinerei Tronco-noble (spanisch: edler Stamm) in Villar-rica, in deren Werkstatt angekommenich jetzt, wie jeden Tag, die Runde ma-che und nach und nach jedem der zehnArbeiter der Werkstatt die Hand gebe.Eine zunächst ungewohnte, aber sehrangenehme Sitte, die mir das Gefühlgibt, Bestandteil eines Teams zu seinund mich daran erinnert, dass man an

einem Arbeitsplatz nicht einfach nur ar-beitet, sondern auch einen großen Teilseiner Lebenszeit verbringt. Mit jedemArbeiter hat sich so ein kleines Ritualergeben, mit manchen ist es ein kurzerAugenkontakt, mit dem einen der Aus-tausch der Frage „Que tál?“ (= Wiegeht’s?) worauf fast immer die Antwort„Muy bien! Y tú?“ (= Sehr gut! Unddir?) folgt und wieder ein anderermacht einen Witz, der sich alle paar Ta-ge wiederholt.

Der Gedanke, wie Altgesellen undMeister in Deutschland reagieren wür-den, wenn der Praktikant jeden Tag ausdem Büro zu ihnen kommt, um schein-bar nichtssagende Floskeln auszutau-schen, lässt mich schmunzeln. Im Büroangekommen, wiederholt sich die Pro-zedur auch noch mit Andrés GutierrezMaurer und seiner Frau Angelika Fritz,die sich ebenfalls für jeden einzelnender Arbeiter diese eine Minute am TagZeit nehmen, um zu erfahren, wie es ih-nen geht, bevor ich mich an meinen Ar-beitsplatz setze und in meinen Notizenvom Vortag checke, was ich heute erle-digen will.

Der Betrieb

Tronconoble ist eine junge Schreine-rei, die sich auf Möbel und Innenaus-bau spezialisiert hat. Angelika und An-drés haben sie 2014, nachdem sie mitihren vier Töchtern nach Chile gezogensind, gegründet und begannen 2016nach dem Aufschlagen und Einrichtender Halle mit der Produktion der erstenMöbel. Seither wird die Nachfrage nachden mit „deutscher Qualität“ beworbe-nen Produkten stetig mehr.

Angelika ist Schreinerin aus Deutsch-land und Andrés ist Architekt. Er hat15 Jahre in Deutschland, Österreichund der Schweiz studiert und gearbei-tet. Obwohl der in Chile aufgewachseneSohn aus einer deutsch-chilenischenEhe in Europa hauptsächlich in einerLadenbaufirma tätig war, zog es ihn alsArchitekt und Absolvent des Holzbau-konstruktionsmasterstudiums in Lau-

sanne, wieder in den Holzbau zurück.Bevor er die Heimreise nach Chile an-trat, füllte er vier Schiffscontainer mitMaschinen. Damit sollte später nichtnur die Schreinerei, sondern auch eineZimmerei ausgestattet werden können.

Während meiner Praktikumszeit ar-beiten wir zu viert im Büro und wir sindzwischen zehn und 14 Handwerker inder Werkstatt. Da viele Gesellen ausFrankreich, Deutschland, Österreichund der Schweiz nach Chile kommen,um für begrenzte Zeit bei Tronconoblezu arbeiten, gibt es stets einen regenWechsel um die chilenische Stammbe-legschaft. Dies sorgt nicht nur für einemultikulturelle und gute Stimmung un-ter den Arbeitern verschiedener Natio-nalitäten, sondern stellt auch erheblicheAnforderungen an die betriebsinterneKommunikation. Sämtliche Maschi-nen, Werkzeuge und Besprechungenwerden mindestens zweisprachig ausge-führt. Es ist auch keine Seltenheit, in-nerhalb eines Rundgangs mit Spanisch,Deutsch, Englisch und Französischkonfrontiert zu werden, denn jede Per-sonenkonstellation hat ihre eigene, bes-te gemeinsame Sprache.

Die Werkstatt ist mit einer Fläche vonrund 900 m² sehr groß für chilenischeVerhältnisse, und der Maschinenparkähnelt deutschen Schreinereien. Auchwenn die Schreinerei und die jungeStammbelegschaft noch einige Zeitbrauchen, bis ein routinierter, fließen-der Arbeitsablauf eintritt, geht es fürAndrés mit dem Projekt „Zimmerei fürden vorgefertigten Holzrahmenbau“schon wieder weiter. Zunächst soll dieSchreinerei vergrößert werden und derZimmerei in der bestehenden Halle ei-nen Platz von rund 180 m² einräumen.Zusammen mit dem Hallenanbau undkonkreten Projekten sollten im chileni-schen Sommer 2018/19 die ersten Ide-en in die Tat umgesetzt werden. Und angenau dieser Stelle kam ich als Zimme-rer und zukünftiger Holzbauer mit mei-nem Praxissemester ins Spiel.

Schreinerei Tronconoble im chilenischen Villarica am Fuße des gleichnamigen Vul-kans (Foto unten). Im Bild oben zu sehen sind links die Produktionshalle mitsamtAusstellungsraum im Erdgeschoss sowie Büro und Wohnraum im zweiten Stock,rechts das Spielhaus, das einige Wandergesellen bei ihrem Besuch bauten. Der Vil-larrica gilt als einer aktivsten Vulkane Chiles. Der „Wolkenstreifen“, der den Kraterverlässt, kommt von Eisschollen, die in die Lava fallen. Fotos: Sickinger

Josua Sickinger mit den Tronconoble-Gründern Andrés Gutierrez Maurer und sei-ner Frau Angelika Fritz sowie den vier gemeinsamen Kindern (von links): Ayme,Asiri, Aylén und Tiare (vgl. auch HZ Nr. 33 vom 19. August 2016, S. 816 ff)

Weihnachts-Grillfest (spanisch: Asado) der gesam-ten Belegschaft bei strahlendem Sonnenschein aufdem Firmengelände von Tronconoble

Die Besteigung des „Hausbergs“ Villarrica, um von oben einen Blick indie brodelnde Lava zu werfen, ist für viele Besucher der Region einHighlight.

Der ausgebildete Zimmerer Josua Si-ckinger, Autor dieses Berichts, studiertan der TH Rosenheim Holzbau undAusbau. Sein Praxissemester verbrachteer in einer chilenischen Schreinerei.

* Nach dem Abschluss meiner Zimmererlehre bei Holzbau Kirsten in Allmannsweierim Jahr 2015 verbrachte ich ein Jahr arbeitend als Geselle in Deutschland sowie teilwei-se reisend in Südamerika. Schon während der Ausbildung war mir klar, dass ich hinter-her in Rosenheim Holzbau studieren wollte. Erst später jedoch erkannte ich, dass ichauch die spanische Sprache noch besser kennen lernen will und so fand ich für meinPraxissemester den Weg nach Chile. Im Januar 2020 habe ich meine letzte Prüfung desStudiums abgelegt und mittlerweile steht fest, dass ich nach Ablegen des in Rosenheimtraditionellen Holzer-Hutes auch für meine Bachelorarbeit noch einmal nach Chile ge-hen werde. Nach den Erfahrungen im Praxissemester soll die Auseinandersetzung mitder wirtschaftlichen Machbarkeit einer Zimmerei in Chile meine Zeit in Rosenheimund Villarrica weiter verbinden und abrunden. Fortsetzung auf Seite 146

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Seite 146 · Nummer 7 · Holz-Zentralblatt Freitag, 14. Februar 2020Lehre und Forschung

Holzbau in Chile

Zu Beginn setze ich mich erst einmalmit der Bauweise auseinander, wie siein Chile momentan vorzufinden ist. Dadie Holzbauweise im Süden Chiles dieam weitesten verbreitete ist, sollte ichmich hier an anderen Unternehmenund Bauten orientieren können, dachteich. Dieser Gedanke erwies sich aberöfter als falsch denn als richtig. Mehr-fach war ich überrascht, wie selbstver-ständlich und logisch manche Dinge fürmich geworden sind, die schlicht undergreifend einer privilegierten Bildungin Ausbildung und Studium geschuldetsind. Es macht einem auch klar, welchlanger Prozess an „Try and Error“ zudem hohen Qualitätsstandard geführthaben muss, welchen wir heute inDeutschland genießen.

Innen dichter als außen, Herzseitedes Holzes nach außen, Hirnholz vorWitterung schützen, direkten Erdkon-takt vermeiden, Stauwasser am Holzvermeiden, Lüftung gewährleisten undvieles mehr – das sind alles Dinge, dieein Zimmerer nach seiner Ausbildungin Deutschland wohl schon intuitivrichtig macht. Auch Holztrocknung istein sehr spannendes Thema, das michin der Ausbildung nie beschäftigte,schließlich bekam ich das Holz in denkorrekten Abmessungen und mit derentsprechenden Holzfeuchte. Als ange-hende Ingenieure lernten wir an derHochschule viel über die Holztrock-nung, aber richtig zu schätzen weiß ichsie erst, seit ich etliche Trocknungsfeh-ler in Chile in die Hände gelegt bekom-men habe. Und als Zimmerer lässt esmich aufs Neue staunen, wie sich unserGewerk in den vergangenen Jahrzehn-ten geändert haben muss, welche Fähig-keiten verloren gegangen sind und wel-che andere dafür entstanden sind. DieAnforderungen an einen Zimmererheute sind ganz andere als noch vor we-nigen Jahrzehnten!

Eine duale Ausbildung und einen Ab-schluss für jede einzelne Spezialisierungeines Berufsfeldes zu haben, ist über-dies etwas sehr Deutsches. So gibt es inChile, wie in den meisten Ländern, keinAusbildungssystem mit dessen Ab-schluss man einen Gesellen- oder Meis-terbrief erlangt. Ein Arbeiter nennt sichnach einer gewissen Zeit und Erfahrungauf der Baustelle einfach Maestro (=Meister). Man braucht nicht so viele bü-rokratische Hürden zu überwinden undRegeln bzw. Vorschriften zu kennen,um sich selbstständig zu machen. Dasbringt gleichermaßen Vor- und Nach-teile. Beim Gang durch die Straßen Chi-les habe ich mich nicht selten vor einerkonstruktiven Ausführung wiederge-funden, die ich minutenlang zu verste-hen versuchte, bevor ich irgendwannungläubig aufgab und akzeptierte, dasssie vermutlich keinen versteckten Sinnhat, sondern die ausführenden Hand-werker es einfach nicht besser wussten.Ganze Baustellen stehen oftmals Mona-te lang still, bevor sie fertig gestellt oderdoch endgültig stillgelegt werden, weilsich der ausführende Handwerker ver-kalkuliert hat. Diese Maestros überneh-men in Kooperation mit anderen Maes-tros die Bauleitung, Kalkulation und dieAusführung, ohne jemals eine Schulungauf diesen Feldern bekommen zu ha-ben.

Es gilt also noch einen langen Weg zubestreiten, bis Tronconoble in ChileHolzrahmenbauten nach europäischem

Fortsetzung von Seite 145

Holzbau in Chileund mehr

Standard errichten kann. Der vorgefer-tigte Holzbau wird in Chile fast nie aus-geführt und egal ob vorgefertigt odernicht, ist ein mangelhaft diffusionsdich-ter Wandaufbau Stand der Technik. Eintypischer Wandaufbau besteht aus ei-nem 5 cm breiten Ständerwerk mit beid-seitiger OSB-Beplankung, oder nochschlimmer, mit Gipskarton auf der In-nenseite. Manche ungläubige Frage, dieich an Andrés richtete, beantwortete ermit der Erläuterung verschiedener Er-fahrungen mit den Umständen des Bil-dungssystems und der Schwierigkeiten,die er bis heute mit der Schreinerei hat,gutes oder auch nur lernwilliges Perso-nal zu finden.

Ich beginne also mit einem Wandauf-bau, genauer gesagt mit der Suche nachMaterialien für einen diffusionsoffenenWandaufbau. Wenn Holzfaserplattenwegfallen, weil sie am Markt nicht er-hältlich sind, dann findet man sichschnell im deutschen Normen-Dschun-gel wieder, um Anhaltspunkte dafür zufinden, wie man denn einen Wandauf-bau alternativ ausführen könnte. DerVergleich vom diffusionsdichten Wand-aufbau mit Außenbeplankungen ausHolzschalung, leichten MDF oderschlicht einer Unterspannbahn bringtdabei allerhand bauphysikalische, aberauch kalkulatorische Herausforderun-gen mit sich, wozu es in spanischspra-chigen, an chilenischen Normen orien-tierten Datenblättern nicht immer ein-fach ist, eine Lösung zu finden.

Ich verstehe nur Spanisch

Generell war die sprachliche Kompo-nente während meines Praxissemestersein nicht zu vernachlässigender Faktorfür die Erfahrungen, die ich in dieserZeit gesammelt habe. So war mir zuvornicht klar, wie stark unsere Kultur undunsere Art zu denken mit unserer Spra-che verstrickt sind. Zum Beispiel hatteEmiliano, mein Arbeitskollege, immereine große Freude daran, sich über dendeutschen Neologismus lustig zu ma-chen, in dem wir wahrlich Meister sind!Des Öfteren ergaben einzelne deutscheWorte in der Übersetzung eine Wort-konstruktion von drei oder mehr Wor-ten. Klassische Beispiele: Holzbau =Construccion en madera oder der per-sönliche Favorit von Emiliano: Wasser-dampfdurchgangswiderstand = Trans-mission de vapor de agua. Vom Prinzipher machen beide Sprachen das Glei-che, allerdings sparen wir uns im Deut-schen einige Atemzüge durch die direk-te Verknüpfung der Worte. Und da imDeutschen auch gerne Wortkonstella-tionen entstehen, die so kompliziert

werden, dass die wiederholte Nutzungwertvolle Arbeitszeit kostet, wandelnwir die wasserdampfdiffusionsäquiva-lente Luftschichtdicke schlicht in denSd-Wert um. Ein Prozess der im Spani-schen bisher weder beim Sd-Wert nochbeim U-Wert stattgefunden hat.

Eine ganz normale Woche

Nachdem ich bereits über zwei Mo-nate in der Schreinerei arbeitete, schlugmir Andrés vor, ich könnte Mitte No-vember die „Comad“ in Concepción be-suchen. Sie ist die größte HolzbaumesseChiles und sie ist nur vier Stunden wegvon Villarrica. Da zeitgleich in derHauptstadt Santiago eine weitere Messestattfindet, bei der er neue Kunden fürdie Schreinerei zu gewinnen hofft, kannAndrés selbst nicht dorthin. Die Ideegefällt mir sehr gut, wo sonst, wennnicht auf dieser Messe, treffe ich Leute,die Materialien und Möglichkeiten fürden Holzbau in Chile kennen. Gesagtgetan, ich buche einen Bus und wappnemich mit sämtlichen Details zu den ver-schiedenen Wand-/Decken-/Dachauf-bauten und Konstruktionen, die ich inden letzten Monaten gezeichnet habe,und mache mich auf den Weg in diezweitgrößte Stadt Chiles.

Das alles findet in einer Zeit statt, inder Tronconoble Kopf steht, die Pro-duktion für einen japanischen Gartenläuft auf Hochtouren, die Planung desersten Projektes der Zimmerei geht vo-ran und die Messe in Santiago fordertebenfalls viel Aufmerksamkeit. Dennganz nach dem Motto „Zuerst habenwir kein Glück und dann kommt auchnoch Pech dazu“, wirft das SchicksalAndrés einen Stein nach dem anderenin den Weg. Als ob es nicht genug wäre,dass ein Lieferant bezahltes Holz an ei-nen anderen Kunden wiederverkauft,fällt in der ganzen Stadt der Strom aus,als gerade wieder Holz zur Verarbei-tung bereit steht. Aber damit nicht ge-nug, ein Unwetter überschwemmt diekomplette Messe in Santiago, wo es umdiese Zeit „normalerweise“ nicht reg-net. Auch wenn viele Möbel nass wer-den und manche Spielzeuge kaputt ge-hen, erwischt es andere Händler auf derMesse noch schlimmer als das Unter-nehmen aus Villarica – der Veranstalterder Messe übernimmt keine Haftung.All diese Probleme kommen zu den He-rausforderungen hinzu, die die Führungeines Unternehmens ohnehin schon mitsich bringt. Wie Andrés hierbei die Ru-he bewahrt, schiefgelaufene Dinge ab-hakt und mit Blick nach vorne uner-schütterlich weitermacht, hat michnachhaltig beeindruckt.

Ein kleiner Exkurs

Angekommen in Concepción ent-täuscht auch das zweitgrößte Ballungs-gebiet Chiles nicht mit Langeweile. DieStadt ist eine beliebte Studentenstadtnicht nur für Chilenen, sondern auchfür internationale Studenten und zufäl-lig kann ich bei zwei Bekannten ausDeutschland unterkommen, die dortfürs Auslandssemester sind.

Gleich zu Beginn erzählen sie mirvon einer Demonstration, gegen soge-nannte „zonas de sacrificios“, von wel-cher sie gerade kommen und einemKonzert, zu dem sie gleich aufbrechen.Etwas überrascht über das unvermuteteStudentenleben mitten in meinem Ar-beitsalltag und mit der Aussicht desMessebesuches am nächsten Tag, ent-scheide ich mich gegen das Konzert undmache mich zu Fuß auf den Weg inRichtung Zentrum, um mir die Innen-stadt anzuschauen. Die Innenstadt ge-fällt mir, sie ist vergleichsweise grünund hat ein schönes Studentenviertelmit Bars und Imbissen. Ohne es zu mer-ken, verfalle ich in ein unverfänglichesSpazieren und bin in Gedanken schonbei der Messe des Folgetages. Erst alsich schon mitten auf dem zentralenPlatz der Stadt stehe, fällt mir auf, dassetwas nicht ganz normal ist.

Eine Gruppe vermummter Personenkommt mir entgegen und der komplettePlatz ist wie leergefegt. Keine anderenMenschen halten sich auf dem Platzauf, obwohl es der Hauptplatz der Stadtund die Dämmerung gerade erst vor-über ist, eine seltsame Stille liegt darü-ber. Jetzt merke ich, dass sich mir derHals zuschnürt und mir das Atmenschwerfällt. Die Gruppe kommt mir nä-

her, einer zieht sich die Kapuze tieferins Gesicht und legt sich den Schal hö-her über die Nase. Auf die nun kürzereEntfernung erkenne ich, dass es fünfjunge Leute in meinem Alter sind, siekommen näher und beschleunigennoch einmal ihre Schritte. Ich selbst,mittlerweile aus meiner Trance aufge-wacht, bleibe wie angewurzelt stehenund schaue mich um, alles ist nass undich stehe mitten in einer Pfütze, und dasobwohl es den ganzen Tag nicht gereg-net hat, mir kommen die Tränen. Ichfrage mich, was mit mir los ist. Etwahundert Meter entfernt sehe ich eine an-dere Gruppe über den Platz huschenund mit einem Mal verstehe ich alles.Ich mache auf dem Punkt kehrt undlaufe mit hektischen Schritten in dieRichtung, aus der ich gekommen bin.Weg von der Gruppe, die mich aus derTrance geweckt hat, aber noch vielwichtiger, raus aus der Pfütze voller inWasser gelöstem Tränengas.

Die Demonstration, von der mir mei-ne Bekannten erzählt hatten, richtetesich gegen die stillschweigende politi-sche Akzeptanz schwerer Umweltver-schmutzungen, verursacht durch Pri-vatpersonen und Industrie. Das geht so-weit, dass nicht nur tonnenweise Müllin die Natur gekippt wird, sondern auchChemieabfälle das Grundwasser verun-reinigen und das Meer verschmutzen.Leider fehlen für eine baldige Änderungauf diesem Gebiet auch das ökologischeVerständnis und die Weitsicht großerBevölkerungsschichten. Selbstverständ-lichkeiten, wie keinen Müll aus demAuto zu werfen, und seinen Hausmüllnicht einfach in einen Graben zuschmeißen, sind in Chile leider Erste-Welt-Probleme.

Auch das Bauwesen spiegelt hier et-was ähnliches wider, Bauherren werdenin den meisten Fällen zum gleichenPreis eine größere Wohnfläche und teu-rere Innenausstattung einer besserenBauqualität inklusive besserer Wärme-dämmung vorziehen. Beim ersten Pro-jekt von Tronconoble mussten wir ge-nau das feststellen: Die Nachfrage nachHolzrahmenhäusern, gebaut nach euro-päischen Anforderungen, ist noch nichtgegeben. Ich sage „noch nicht“, weilviele Experten sich einig sind und esselbst für mich in der kurzen Zeit abseh-bar war, wie viel sich in dieser Richtungzurzeit tut. Ein Land mit viel Potenzial.

Allerdings eben auch ein Land mitvielen ungelösten Problemen. Zu einemspäteren Zeitpunkt des Aufenthaltes

bin ich wieder in Tränengas gelandet,diesmal habe ich früher erkannt was loswar, allerdings änderte es trotzdemnichts daran, dass ich aus etwas Entfer-nung gerade noch sah, wie die Polizei ingeschlossener Formation gegen die De-monstranten vorging, welche mit Molo-towcocktails antworteten. Am Endemeines Praxissemesters gab es wiedermehrere Tage Stromausfall, weil Mapu-che, die Ureinwohner Chiles, in ihremanhaltenden Streik gegen Ungerechtig-keiten, die ihnen bis heute widerfahren,Bäume gefällt und auf Hochspannungs-leitungen haben fallen lassen. Ein letz-tes Beispiel, das mich persönlich sehrtraurig macht, ist der See Villarrica.Noch immer als Touristenmagnet wir-kend, wird er nach Wasseruntersuchun-gen nun als contaminado (= kontami-niert) eingestuft und es wird vom Badendarin abgeraten: Grund soll die Überfi-schung und das jahrelange Einleitenvon Abwässern sein.

„Cooperacion Madera –Comad“

Jetzt aber zur Messe, schließlich binich nach Concepción gereist, um dortetwas über den chilenischen Holzbauzu lernen. Ich verlasse also am nächstenTag früh morgens die Wohnung undmache mich im völlig überfüllten Mini-bus auf den Weg zur „Comad“. Vielehalsbrecherische Manöver, eine igno-rierte rote Ampel und etwas Reggaemu-sik in Disco-Lautstärke später, kommeich auf dem Messegelände an. Aus ir-gendeinem Grund behalte ich dieseBusfahrten in sehr guter Erinnerung.

Auf der Messe treffen sich Vertreteraus Industrie und Forschungszentrender ganzen Welt, und es werden dieneuesten Fortschritte im Holzbau ausChile und der Welt vorgeführt. Ich be-ginne den Messetag mit dem Besuch ei-ner Vortragsreihe. Angekommen imVortragsraum, kommt gleich eine jungeFrau auf mich zu und begrüßt mich, siehat meinen Firmenpulli erkannt undkennt Andrés von verschiedenen Ko-operationen in der Vergangenheit. Be-vor ich mich versehe, bekomme ich ei-nen Platz und ein Headset mit Simul-tanübersetzung. Auch andere Unter-nehmer erkennen meinen Troncono-ble-Pulli wieder und ich bin überrascht,was für einen Ruf sich Andrés in den ge-rade einmal drei Jahren in Chile bereits

Gebäude in Holzrahmenbauweise in der Bauphase, aufgenommen in der Regen-zeit (oben), und ein Haus (unten), das sich augenscheinlich schon lange in derBauphase befindet.

Modell eines Dachaufbaus, gesehen auf der Fachmesse „Comad“ im Herbst 2018 Fortsetzung auf Seite 147

Lange, blonde Haare outen einen inChile schnell als „Gringo“. Arbeitskolle-ge Juan hat dazu eine ganze Liste anWitzen wie: „Schau mal Josua, ich ha-be die gleichen Haare wie du!“

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