FÜR MEINE ELTERN - · Sie bestehen aus: Rubor (Rötung durch Vasodilatation), Tumor...
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Aus der
Klinik für Strahlentherapie und Radio-Onkologie
im Marienhospital Herne
-Universitätsklinik-
der Ruhr-Universität Bochum
Direktor: Prof. Dr. med. Irenäus Adamietz
Radiotherapie entzündlicher Veränderungen des Ohres
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung des Doktorgrades der Medizin
einer
Hohen Medizinischen Fakultät
der Ruhr – Universität – Bochum
vorgelegt von
Svenja Yvonne Twiehaus
aus Herten
2011
Dekan: Prof. Dr. med. Klaus Überla
Referent: Prof. Dr. med. Irenäus Adamietz
Koreferent: Prof. Dr. med. Holger Sudhoff
Tag der mündlichen Prüfung: 17.01.2012
Abstract
Twiehaus, Svenja Yvonne
Radiotherapie entzündlicher Veränderungen des Ohres
Ziel: Die Behandlung entzündlicher Veränderungen mit ionisierenden Strahlen
hat eine lange Tradition. Die Wirkungsmechanismen wurden in den letzten
Jahren weitgehend aufgeklärt. Die Wirksamkeit der Strahlenbehandlung bei
chronischen inflammatorischen Veränderungen ist hoch. Sie kann lokal
alternativ zum Cortison eingesetzt werden. In der vorliegenden Arbeit werden
Ergebnisse einer low-dose-Bestrahlung entzündlicher Veränderungen am Ohr
analysiert.
Material und Methode: Aus dem Patientengut der Klinik für Strahlentherapie
und Radio-Onkologie am Marienhospital Herne wurde retrospektiv ein
Kollektiv von 41 Patienten analysiert, bei welchem die Bestrahlung chronisch
entzündlicher, mit Tinnitus assoziierter Veränderungen am Ohr, erfolgte. Alle
Patienten erhielten vorher eine Cortisonbehandlung, die auf Grund von
Nebenwirkungen nicht fortgesetzt werden konnte. Mit Strahlendosen von 0,15
Gy wurden insgesamt 1,5 Gy eingestrahlt. Die Ergebnisse der Bestrahlung
wurden ermittelt und anschließend die prognostischen Faktoren errechnet.
Ergebnisse: Es zeigte sich, dass 6 Wochen nach Therapieende 36,6 % der
Patienten ein Ansprechen auf die Strahlentherapie zeigten. In den nächsten
Wochen erhöhte sich die Ansprechrate auf 63,4 % (14/26). Akute
Nebenwirkungen (2/41) bestanden aus passagerer Aggravation der
Symptomatik (verstärktes Druckgefühl, Zunahme des Tinnitus). Manifeste
Nebenerkrankungen hatten einen signifikanten prognostischen Einfluss auf
das Ergebnis der Bestrahlung (p=0,047).
Schlussfolgerung: Die Bestrahlung mit sehr geringen Strahlendosen zeigt
nützliche klinische Wirkung bei symptomatischen chronisch entzündlichen
Veränderungen am Ohr. Dank der niedrigen Strahlenbelastung kann dieses
Verfahren als Alternative zur Cortisonbehandlung in Erwägung gezogen
werden
1
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ................................................................................................................................................................. 3
2. Tabellenverzeichnis ........................................................................................................................................... 4
3. Abbildungsverzeichnis ..................................................................................................................................... 7
4. Entzündung ............................................................................................................................................................. 9
4.1 Definition der Entzündung .................................................................................................................... 9
4.2 Pathophysiologie der Entzündung ............................................................................................... 12
5. Das Ohr ................................................................................................................................................................... 19
5.1 Anatomie und Mikroanatomie des Ohres ................................................................................. 19
5.2 Pathophysiologie Des Hörens ......................................................................................................... 30
5.3 Entzündungen Des Ohres .................................................................................................................. 32
6. Tinnitus .................................................................................................................................................................. 46
6.1 Definition und Geschichte ......................................................................................................................... 46
6.2 Ätiologie und Pathogenese ............................................................................................................... 47
6.3 Symptomatik / Klinik .............................................................................................................................. 49
6.4 Therapien Des Tinnitus ........................................................................................................................ 52
7. Therapie entzündlicher Erkrankungen mit Cortison ................................................................... 56
8. Strahlentherapie der entzündlichen Erkrankungen .................................................................... 62
9. Fragestellung ....................................................................................................................................................... 68
10. Patientengut und Methoden .................................................................................................................... 69
10.1 Patientengut ............................................................................................................................................. 69
10.2 Statistische Auswertung .................................................................................................................. 75
11. Ergebnisse .......................................................................................................................................................... 77
11.1 Ansprechen auf die Therapie ........................................................................................................ 77
11.2 Ansprechen in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren ...................................... 79
11.3 Analyse prognostischer Faktoren .............................................................................................. 89
2
12. Diskussion .......................................................................................................................................................... 92
13. Literaturverzeichnis .................................................................................................................................... 96
3
1. EINLEITUNG
Die Wirksamkeit der Bestrahlung mit ionisierenden Strahlen bei
Entzündungsreaktionen ist weitreichend belegt. Die Vorteile liegen hauptsächlich
in der Regionalität dieses nicht-invasiven Therapieverfahrens, das ähnlich wie
Steroide, antiinflammatorisch wirkt.
Für Entzündungen gibt es in der modernen Medizin verschiedene sehr wirksame
spezifische und unspezifische Behandlungsmethoden. Deshalb bleibt der
Strahlentherapie eine sekundäre Rolle überlassen. Zu den gängigen Verfahren
zählen Antibiotika und nicht-steroidale, anti-inflammatorische Mittel. Sie können
aber nicht endlos angewandt werden, was insbesondere bei langen
Krankheitsverläufen erkennbar wird. Der Grund dafür sind die steigenden
Resistenzen bei Antibiotika und Toxizitäten bei allen anderen erwähnten
Substanzgruppen.
Demzufolge gibt es bei längeren Krankheitsverläufen immer wieder Indikationen
zur Strahlentherapie entzündlicher Veränderungen, die chronische und
subchronische Verläufe aufweisen und subjektiv eine Behandlungsnotwendigkeit
erfordern. Deshalb gibt es verständlicherweise nur wenige Daten zu diesem
Thema. Aus diesem Grunde beschäftigt sich diese Arbeit mit dem Thema der
Bestrahlung mit ionisierenden Strahlen bei Patienten mit chronischen,
symptomatischen Entzündungen in der Region des Hörorgans, die vom Tinnitus
begleitet werden. Untersucht wurden retrospektiv die Behandlungsverläufe von 41
Patienten, die in den letzten 10 Jahren in oben genannter Weise bestrahlt wurden.
4
2. TABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1: Gruppiertes Zeitintervall zwischen Erstdiagnose und Radiatiobeginn
in Monaten in Patienten mit bestrahlten chronischen
entzündlichen Ohrveränderungen 71
Tabelle 2: Anzahl der Patienten vs aufklärende Ärzte 73
Tabelle 3: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Geschlecht 80
Tabelle 4: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Geschlecht 80
Tabelle 5: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Familienstatus 81
Tabelle 6: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Familienstatus 81
Tabelle 7: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der ED 82
5
Tabelle 8: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der ED 82
Tabelle 9: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Alter zum
Beginn der Radiotherapie 83
Tabelle 10: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Alter zum
Beginn der Radiotherapie 83
Tabelle11: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von Nebenerkrankungen 84
Tabelle12: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von Nebenerkrankungen 85
Tabelle13: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von der Symptomatik 86
6
Tabelle14: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von der Symptomatik 86
Tabelle15: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom aufklärenden Arzt 87
Tabelle16: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom aufklärenden Arzt 88
Tabelle 17: Univariate logistische Regression der unabhängigen
Variabeln 90
Tabelle 18: Multivariate logistische Regression der unabhängigen
Variablen 91
7
3. ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Ablauf der akuten und chronischen Entzündung 11
Abbildung 2: Übersicht über das Hörorgan 20
Abbildung 3: Linke Ohrmuschel, Auricula sinistra 21
Abbildung 4: Gehörknöchelchenreihe des rechten Mittelohrs von
medial gesehen 25
Abbildung 5: Übersicht über das Organum spirale, Corti-Organ 28
Abbildung 6: Verteilung des Alters zum Zeitpunkt des
Bestrahlungsbeginns im untersuchten Patientengut
mit entzündlichen Veränderungen des Ohres 70
Abbildung 7: Gruppiertes Intervall zwischen Erstdiagnose und
Radiatiobeginn in Monaten in Patienten mit bestrahlten
chronisch entzündlichen Ohrveränderungen. 72
8
Abbildung 8: Ansprechen der Patienten auf eine perkutane low dose
Strahlentherapie unmittelbar nach Beendigung
der Bestrahlung 77
Abbildung 9: Ansprechen der Patienten auf eine perkutane low dose
Bestrahlung 6 Wochen nach Beendigung der Bestrahlung 78
Abbildung 10: Ansprechen der Patienten auf eine perkutane low
dose Bestrahlung am Ende sowie 6 und 10 Wochen nach
Beendigung der Strahlentherapie 79
9
4. ENTZÜNDUNG
4.1 DEFINITION DER ENTZÜNDUNG
Die Entzündung ist ein intravitaler, örtlich begrenzter Abwehrprozess auf eine
Gewebsschädigung. Er besteht aus einer komplexen Reaktion des
gefäßführenden Bindegewebes, der Blutzellen und Bestandteilen des Blutplasmas
(entzündliche Reaktionen) (Böcker et al., 2006).
Als Auslöser oder Noxe kann jeder, das physiologische Maß übersteigernde Reiz
fungieren.
Man unterscheidet folgende Reize (Noxen):
- Physikalische Reize: mechanisch (z.B. Druck, Reibung), thermische
(z.B. Wärme, Kälte), Strahlung (z.B. UV, Infrarot, radioaktiv (α, β, γ))
- Chemische Reize (z.B. Säuren, Laugen, endogene Substanzen)
- Biologische Reize (z.B. Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten)
- Immunreaktionen
Durch ihre Einwirkung entsteht eine Gewebeschädigung (Alteration) mit
konsekutiver Freisetzung chemischer Substanzen (Entzündungsmediatoren) aus
den geschädigten Zellen. Die Entzündungsmediatoren lösen die eigentliche
Entzündungsreaktion aus (Schmidt et al., 2005).
Die ersten Beschreibungen der klassischen Kardinalsymptome der Entzündung
findet man bereits bei Celsus (30 vor bis 38 nach Christus) und Galen (130-200)
(Eckart, 2009).
Sie bestehen aus: Rubor (Rötung durch Vasodilatation), Tumor
(Gewebsschwellung durch entzündliches Exsudat), Calor (Erwärmung aufgrund
einer vermehrten Gewebsdurchblutung) und Dolor (Schmerz durch
Nervenreizung) (Psychrembel, 2011).
10
Im Laufe der Jahre wurde durch Virchow (1821-1902) ein fünftes Symptom, die
Functio laesa (gestörte Funktion) hinzugefügt (Grundmann et al., 2008).
Unabhängig von der schädigenden Noxe läuft das folgende Reaktionsmuster ab:
Aktive Hyperämie, hierunter versteht man eine vermehrte Durchblutung des
geschädigten Gewebes. Bildung eines Ödems, welches durch den Durchtritt von
Plasmabestandteilen durch die Gefäßwand entsteht (flüssiges Exsudat). Sowie
das Auswandern von neutrophilen Granulozyten (zelluläres Exsudat). Die
Entzündungsreaktion hat das Ziel das schädigende Agens zu beseitigen. Im
optimalen Fall kommt es im Verlauf zu einer Auflösung der Entzündung mit
Wiederherstellung des Parenchyms und Heilung (Restitutio ad integrum). Eine
weitere Option wäre bei zu starker Gewebsschädigung und / oder ausgeprägter
Exsudation eine Narbenbildung (Defektheilung). Wird die schädigende Noxe nicht
beseitigt, kommt es aufgrund des persistierenden Reizes zu einer chronischen
Entzündung. Abhängig vom Verlauf unterscheidet man die akuten von den
chronischen Entzündungen (Abbildung 1) (Böcker et al., 2006).
Von einer akuten Entzündung spricht man, wenn die Entzündung rasch auftritt und
heftig über nur wenige Stunden oder Tage verläuft. Bei einer chronischen
Entzündung handelt es sich um eine über Wochen oder gar Jahre persistierende
oder immer wieder auftretende Entzündung. Entwickelt sich diese Entzündung
allmählich mit schleichendem Beginn, bezeichnet man die Entzündung als primär
chronisch. Von einer sekundär chronischen Entzündung spricht man, wenn sich
diese aus einer akuten Entzündung entwickelt (Blum und Siegenthaler, 2006).
Bei einer chronischen Entzündung besteht die zelluläre Infiltration vorwiegend aus
Makrophagen, Lymphozyten und Plasmazellen. Dadurch, dass das schädigende
Agens persistiert und somit die Entzündungsreaktion aufrechterhält, kommt es zu
einem zunehmenden Gewebsuntergang mit Proliferation von Fibroblasten und
Kapillarsprossen (Granulationsgewebe) und letztendlich zur Bildung von
kollagenem Bindegewebe (Fibrose) (Riede et. al., 2004).
Die Folge einer chronischen Entzündung ist somit eine Defektheilung (Narbe).
11
Abbildung 1: Ablauf der akuten und chronischen Entzündung (kopiert aus Böcker
et al., 2006, S.66).
Die Einteilung der Entzündung kann nicht nur durch den zeitlichen Ablauf in akut
und chronisch, sondern auch nach dem Maß der Ausdehnung in lokal (nur auf
eine Stelle beschränkt) oder systemisch (gesamter Körper) erfolgen (Grundmann
et al., 2008).
Die Steigerung der Effektoraktivität durch die spezifische Abwehr äußert sich mit
den typischen Symptomen einer Infektionserkrankung, nämlich häufig mit lokalen
Entzündungszeichen (rubor, calor, tumor, dolor, functio laesa) sowie eine
12
Systemreaktion, welche durch die z.T. hormonelle (Fern-) Wirkung der Zytokine
ausgelöst wird und zur Bildung von Akutphasenproteine, Fieber und Müdigkeit
führt (Blum und Siegenthaler,2008).
4.2 PATHOPHYSIOLOGIE DER ENTZÜNDUNG
„Die vaskulären Veränderungen der Endstrombahn des geschädigten Gewebes
stehen am Beginn einer akuten Entzündungsreaktion. Sie werden hervorgerufen
durch lokal entstehende chemische Substanzen (sog. Vaskuläre
Entzündungsmediatoren). Die wichtigsten Folgen sind eine Vasodilatation mit
vermehrter Gewebsdurchblutung und eine Permeabilitätsstörung der Gefäßwand
mit Ausbildung eines Ödems. Die vaskulären Reaktionen lassen sich in zwei
Phasen unterteilen: 1. Störung der Mikrozirkulation 2. Permeabilitätsstörungen der
Endstrombahn“ (Böcker et a., 2006).
Im Rahmen der Störung der Mikrozirkulation werden mehrere Stufen durchlaufen.
Zuerst kommt es direkt im Anschluss auf einen Reiz zu einer kurzfristigen
Kontraktion der Arteriolen. Dadurch blasst das geschädigte Gewebe ab. Nach
einigen Minuten werden die Arteriolen durch den Einfluss verschiedener
Entzündungsmediatoren erweitert. Aus dieser Dilatation der kapillären
Endstrombahn resultiert eine aktive Hyperämie. Diese Hyperämie bedingt die
klassischen Entzündungszeichen, Rubor (tiefrote Verfärbung) und Calor
(Erwärmung) des Entzündungsherdes. Die aktive Hyperämie ist ursächlich für eine
Erhöhung des hydrostatischen Drucks, welcher zu einem vermehrten
Flüssigkeitsausstrom in das interstitielle Gewebe führt. Das durch diesen Prozess
entstehende Ödem, ein weiteres Entzündungszeichen, bedingt im Verlauf die
Ausbildung der Schwellung des geschädigten Gewebes (Tumor) (Riede et al.,
2004).
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Das Ödem ist zunächst eiweißarm, man spricht von einem Transsudat (=
Flüssigkeit mit einem spezifischen Gewicht unter 1018g/l). Durch die zunehmende
Permeabilitätsstörung entsteht bald das entzündliche Exsudat, eine proteinreiche
Flüssigkeit (= Flüssigkeit mit einem spezifischen Gewicht über 1018g/l) (Klinke
und Silbernagel, 2005).
In der letzten Phase etwa 1-2 Stunden nach Beginn der Reaktion tritt durch die
zunehmende Permeabilitätssteigerung der Endstrombahn Blutplasma in das
Interstitium. Die Viskosität des Blutes steigt, was zu einer erheblichen
Verlangsamung der Blutströmung (Prästase) führt (Siegenthaler und Blum, 2006).
Bei starken Entzündungsreizen kann es zu einem kompletten Stillstand des
Blutflusses in einem beteiligten Bereich kommen (Stase). Die Erythrozyten lagern
sich teilweise geldrollenförmig aneinander und die Thrombozyten können an den
durch Endothelkontraktionen freigelegten Basalmembran Plättchenthromben
bilden. Diese letzte Reaktion setzt 1-2 Stunden nach der Reizeinwirkung ein und
dauert mehrere Stunden (Dargel, 1995).
Durch jegliche Form der Reizeinwirkung kommt es zu einer funktionellen oder
strukturellen Veränderung des Endothels mit Permabilitätssteigerung der
Gefäßwände. Die endothelialen Schädigungen lassen sich in zwei verschiedene
Muster unterscheiden (Krams et al., 2009).
Die Endothelkontraktionen werden durch eine Reihe von Mediatoren bedingt,
welche vom geschädigten Gewebe freigesetzt werden. Es bilden sich
interzelluläre Endothellücken (gap formations) die eine erhöhte Durchlässigkeit mit
Ausstrom einer proteinreichen Flüssigkeit (Exsudat) aus dem Blut ins Interstitium
bewirken (Garcia und Schaphorst, 1995).
Man unterscheidet nach dem zeitlichen Verlauf die sofort einsetzende, kurzfristige
(ca. 30 Min. dauernde) von einer verzögert einsetzenden, langanhaltenden
(Stunden bis Tage) Permeabilitätssteigerung. Während die sofort einsetzende,
kurzfristige Permeabilitätssteigerung vorwiegend durch Histamin ausgelöst wird,
wird die verzögert einsetzende, langanhaltende Permeabilitätssteigerung durch
Leukotriene oder durch toxische Wirkungen hervorgerufene Endothelkontraktionen
vermittelt (Böcker et al., 2006).
14
Von den Endothelkontraktionen zu unterscheiden sind die strukturellen
Endothelschädigungen. Diese werden durch starke zytotoxische Noxen (z.B.
Verbrennungen, chemische und bakterielle Toxine) ausgelöst und gehen meist mit
ausgeprägter Permeabilitätssteigerung der gesamten Endstrombahn einher
(Riede et al., 2004).
Morphologisch findet sich eine erhebliche degenerative Veränderung des
Endothels. Es kommt zur Ablösung der Endothelzellen von der Basalmembran
und zu subendothelialen Blasenbildung bis hin zu Endothelnekrosen. Aus dieser
Schädigung resultiert eine sofort einsetzende, langanhaltende
Permeabilitätsstörung. Diese Reaktion bedingt neben der Exsudation von
hochmolekularen Eiweißen (Immunglobulinen und Fibrinogen) auch einen
passiven Austritt von Erythrozyten (Diapedese). Durch die Aktivierung der
Gerinnungskaskade kann auch eine intravitale Gerinnung (Thrombose) ausgelöst
werden. Weitere Komplikationen wären eine nachfolgende Ischämie und
Gewebsnekrose (Böcker et al., 2006).
Das entzündliche Exsudat kann in Abhängigkeit von der Schädigung eine
unterschiedliche Zusammensetzung und ein unterschiedliches Aussehen
annehmen. Das seröse Exsudat entsteht bei leichteren Schäden und ist durch
eine hellgelbe Farbe gekennzeichnet. Es ist reich an niedermolekularem Albumin.
Bei stärkeren Noxen entsteht ein fibrinöses Exsudat, welches neben
niedermolekularem Albumin zusätzlich Immunglobuline und Fibrinogen enthält.
Durch den Kontakt mit der geschädigten Basalmembran und mit extravaskulären
Substanzen entsteht durch Polymerisation aus Fibrinogen das graufarbene Fibrin.
Ein hämorrhagisches Exsudat entsteht bei schwerer Schädigung der
Endstrombahn. Durch Gefäßnekrosen kommt es zum Erythrozytenaustritt
(Diapedese). Zu guter Letzt unterscheidet man noch das eitrige Exsudat. Dieses
enthält durch die Permeabilitätssteigerung ausgetretene neutrophile Granulozyten
und ist durch eine gelbe, rahmige Beschaffenheit gekennzeichnet (Gute et al.,
1998).
Neben dieser beschriebenen vaskulären Reaktion läuft auch eine zelluläre
Reaktion ab, in deren Mittelpunkt die Auswanderung von neutrophilen
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Granulozyten und Monozyten aus der Blutbahn ins geschädigte Gewebe stehen
(Murphy et al., 2002).
Die wichtigste Aufgabe des neutrophilen Granulozyten ist die Abwehr bakterieller
Infektionen durch Phagozytose und Elimination von Bakterien. Dadurch, dass die
neutrophilen Granulozyten schnell und in großer Zahl verfügbar sind, zählen sie zu
den wichtigsten Abwehrzellen (Grundmann et al., 2006).
Die Abwehr wird durch zwei Arten von Granula vermittelt. Die primäre oder
azurophile Granula besteht aus Myeloperoxidase, lysosomale Enzyme und
kationischen Proteinen. Die häufigere sekundäre oder B-Granula besteht aus
alkalische Phosphatase, Laktoferrin, Lysozym und anderen (Sompayrac 2008).
Die neutrophilen Granulozyten werden über Membranrezeptoren durch
Komplementfragmente, plättchenaktivierenden Faktor (PAF), chemotaktische
Pepetide und Lipide aktiviert. Durch die Aktivierung kommt es zu einer vermehrten
Expression von oberflächlichen Adhäsionsmolekülen. Diese bedingen eine
Verstärkung der Migration (aktive amöboide Bewegung) und Phagozytose
(Fressfähigkeit) (Schütt und Bröker, 2009).
Weiterhin werden wiederum Entzündungsmediatoren freigesetzt, wie z.B.
Arachidonsäuremetaboliten (z.B. Leukotrien B4) und den plättchenaktivierendem
Faktor (PAF), durch welche die vaskulären Reaktionen und der „Nachschub“ von
Abwehrzellen verstärkt werden (Abbas et al., 1997).
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der zellulären Reaktion sind die Makrophagen,
Bestandteile des mononukleären Phagozytosesystem (MPS). Die Makrophagen
verlassen als Monozyten das Knochenmark und wandern bei Entzündungen in
das geschädigte Gewebe (Exsudatmakrophagen) (Hahn et al., 2008).
Die zelluläre Reaktion läuft in drei Schritten ab. Man unterscheidet die
Margination, die endothelial-leukozytäre Interaktion und die positive Chemotaxis
(Schmetzer, 2009).
Bei der Margination gelangen die Leukozyten durch Mikrozirkulationsstörungen
(Prästase und Stase) in den Randbereich der Strömung. Dadurch kommt es zu
vermehrten Kontakt mit den Endothelzellen (endothelial-leukozytäre
16
Interaktionen). Die erste initiale (primäre) Adhäsion erfolgt durch
Adhäsionsmoleküle, welche normalerweise auf neutrophilen Granulozyten und
Endothelien vorhanden sind. Es kommt zu einer lockeren Bindung zwischen
diesen beiden Zellen. In der folgenden Aktivierungsphase kommt es durch die
Entzündungsmediatoren zu einer Aktivierung der neutrophilen Granulozyten und
Endothelien. Die Aktivierung bedingt eine Vermehrung von Adhäsionsmolekülen
(sog. Up-Regulation) und eine Vermehrung verschiedener Integrine (Gabay et
Kushner, 1999).
Die neutrophilen Granulozyten sind durch die zusätzlichen
Rezeptorligandenbindungen fest am Endothel gebunden. Man spricht von
„aktivierungsabhängiger stabiler Adhäsion“ oder auch „Leukozytensticking“. Durch
gleichzeitiges Abflachen der neutrophilen Granulozyten werden sie von den
mechanischen Kräften des Blutstroms verschont. Es liegt ein sogenanntes
„pavementing“ vor, bei dem die Venolenendothelien pflasterartig mit Leukozyten
besetzt sind. Durch aktive amöboide Bewegung wird die Emigration des
neutrophilen Granulozyten eingeleitet (Murphy, 2009).
Der nächste Abschnitt der akuten Entzündungsreaktion ist durch zelluläre
Emigration geprägt. Es kommt zu einem aktiven Auswanderungsprozeß von
Leukozyten durch die venöse Gefäßwand. Nachdem der neutrophile Granulozyt
sich angelagert hat, gelangt er durch amöboide Bewegung zum nächsten
interendothelialen Spalt. Um von dort in das interstitielle Gewebe auszuwandern,
muss die Basalmembran überwunden werden. Dieses geschieht durch kurzfristige
lokale Degradation verursacht durch lysosomale Enzyme (Kollagenose, Elastase).
Durch Chemotaxis gelangt der Granulozyt zum Ort der Schädigung. Bei der
Chemotaxis wird die Bewegungsrichtung durch den chemischen Gradienten
bestimmt, wobei der Granulozyt sich zur höchsten Konzentration von
Chemotaxinen bewegt. Die Chemotaxine bilden mit den Rezeptoren der
Zelloberfläche neutrophiler Granulozyten einen Liganden-Rezeptor-Komplex.
Durch Aktivierung der kontraktilen Proteine des Zytoskeletts ist eine gezielte
Bewegung des neutrophilen Granulozyten zum Ort der Schädigung möglich
(Siegenthaler und Blum, 2006).
17
Die neutrophilen Granulozyten stellen die erste Linie der unspezifischen zellulären
Abwehr der Entzündung dar. Ihre Emigration beginnt ca. 15 min. nach der
Gewebeschädigung und erreicht ihren Höhepunkt nach 6 bis 24 Stunden. Die
Hauptaufgabe der neutrophilen Granulozyten besteht im phagozytieren und
abtöten von Bakterien bevor sie selbst zugrunde gehen (Dargel, 1995).
Eine zeitlich versetzte zweite Abwehrwelle der unspezifischen zellulären Abwehr
bilden die Blutmonozyten, welche ebenfalls durch interzelluläre Endothellücken ins
Gewebe gelangen. Sie stellen als Exsudatmakrophagen nach 24 bis 48 Stunden
die Spätphase der zellulären Reaktion der akuten Entzündung dar, sind jedoch
zahlenmäßig deutlich weniger präsent (Abbas et al., 1997).
Das Fremdmaterial (Bakterien, nekrotische Zellen, etc.) wird durch Phagozytose
(Fresstätigkeit der Zelle) aufgenommen. Die verantwortlichen Zellen (Phagozyten)
werden in Mikrophagen (neutrophile Granulozyten), die kleine partikuläre
Substanzen aufnehmen und Makrophagen (Histiozyten), die auch größere
korpuskuläre Elemente aufnehmen können, unterteilt. Durch die unspezifische und
spezifische humorale Abwehr wird die Phagozytose erheblich begünstigt
(Sompayrac, 2008).
Allerdings ist bisher der biochemische Mechanismus nur teilweise geklärt. Zum
Teil spielen sogenannte Opsonine eine Rolle. Dabei handelt es sich um eine
Substanz, die an Partikel binden und damit die Phagozytose erleichtern oder gar
erst ermöglichen (Dargel, 1995, Löffler et al., 2006).
Bei der endozytotischen Invagination wird im Bereich der Haftungsstelle an der
Zellmembran eine digestive Tasche gebildet. Im nächsten Schritt setzt sich diese
Tasche als Phagosom von der Oberfläche ab. Durch Fusion von azurophiler
(primärer) Granula (saure Hydronasen, neutrale Proteasen, kationische Proteine,
Myeloperoxidase und Lysozym) und spezifischer (sekundärer) Granula (Lysozym
und Laktoferrin) bildet sich das Phagolysosom. Die neutrophilen Granulozyten
werden hierbei degranuliert (Schütt und Bröcker, 2009)
Im Phagozyten stehen verschiedene Abtötungsmechanismen zur Verfügung.
Hochaktive Sauerstoffverbindungen, die bei der Phagozytose entstehen, spielen
dabei eine wichtige Rolle (Böcker et al., 2006).
18
Die neutrophilen Granulozyten können einen großen Teil der Bakterien effektiv
bekämpfen. Wenn dieses nicht möglich ist, gelingt eine effektive Infektabwehr
durch Mitwirkung des Immunsystems (Ganten und Ruckpaul, 1999).
19
5. DAS OHR
5.1 ANATOMIE UND MIKROANATOMIE DES OHRES
Das Organum vestibulocochlearis besteht aus 2 Sinnesorganen, die durch ihre
gemeinsame Entwicklung räumlich miteinander verbunden sind. Das die
Schallwellen verarbeitende Hörorgan (Schallaufnahmeapparat), und das die Lage
und Bewegung des Kopfes registrierende Gleichgewichtsorgan (Keidel, 1975).
Die beiden Sinnesorgane werden auch zusammen als „Innenohr“ bezeichnet und
liegen gut geschützt im knöchernen Labyrinth der Felsenbeinpyramide des
Schläfenbeins (Schiebler und Korf, 2007).
Die Leitung des Schalls erfolgt über den sog. Schalleitungsapparat des äußeren
Ohrs (Auris externa) und des Mittelohrs (Auris media) bis zum
Schallaufnahmeapparat des Innenohrs (Auris interna) (Platting, 1975).
Für das Gleichgewichtsorgan ist keine Verbindung zur Außenwelt nötig.
Anatomischer Aufbau (Abbildung 2):
Äusseres Ohr: Ohrmuschel, Auricula, äußerer Gehörgang, Meatus aucusticus
externus, Trommelfell, Membrana tympanica
Mittelohr: Paukenhöhle, Cavum tympani, Gehörknöchelchen, Ossicula
tympani, die eine Knochenkette in der Paukenhöhle bilden,
Ohrtrompete, Tuba auditiva, Nebenräume der Paukenhöhle,
Celullae mastoideae
Innenohr: knöchernes Labyrinth, das in dem besonders festen
Geflechtknochen der Felsenbeinpyramide liegt und aus
miteinander verbundenen Knochenkanälchen besteht,
membranöses Labyrinth, dass sich im knöchernen Labyrinth
befindet, ein allseits geschlossenes Gangsystem aus
miteinander kommunizierenden Röhren und Bläschen. Es ist
außen von Perilymphe umgeben und mit Endolymphe gefüllt.
20
Knöchernes und membranöses Labyrinth bestehen aus:
Anteilen des Gleichgewichtsorgans: Sacculus, Utriculus, 3 Bogengänge,
Schneckengang des Hörorgans: Ductus cochlearis, dessen Sinnesepithel
akustische Reize aufnimmt.
Abbildung 2: Übersicht über das Hörorgan (kopiert aus Sobotta et al, 2007, S.703)
Auris externa (äußeres Ohr): Auricula (Abbildung 3)
Die Ohrmuschel ist eine trichterförmige Hautfalte, die durch ein Skelett aus
elastischem Knorpel in ihrer Form stabil gehalten wird. Sie umschließt den
äußeren Gehörgang. Der Ohrknorpel geht kontinuierlich in den
Gehörgangsknorpel über.
21
Abbildung 3: Linke Ohrmuschel, Auricula sinistra (kopiert aus Sobotta et al., 2007,
S. 706)
Meatus acusticus externus:
Dieser Gang ist beim Erwachsenen etwa 36mm lang. Seine Wand ist im lateralen
Drittel vorn und unten durch eine knorpelige Rinne verstärkt, welche in das
Knorpelskelett der Ohrmuschel übergeht. Die inneren 2/3 liegen im Knochen des
Schläfenbeins (Schiebler und Korf, 2007).
Der knorpelige Teil des Gehörgangs verläuft unmittelbar unter dem Kiefergelenk
und wird beim Schließen des Mundes eingeengt und beim Öffnen des Mundes
erweitert (Behrbom et al., 2009).
Mikroskopische Anatomie des Gehörgangs
Das Epithel des äußeren Gehörgangs ist ein mehrschichtiges verhornendes
Plattenepithel mit Haaren, besonders am äußeren Eingang. Das Ohrschmalz
(Cerumen) wird durch Talgdrüsen und apokrine tubulöse Knäueldrüsen (Gll.
Ceruminosae), die beim Erwachsenen frei von den Haarbälgen münden,
produziert (Kühnel, 2002).
22
Membrana tympanica
Durch das Trommelfell wird der äußere Gehörgang gegen die Paukenhöhle
abgegrenzt. Diese ovale grau-schimmernde Membran hat einen Durchmesser von
ca. 1cm und ist 0,1mm dick. Sie ist über einen fibrokartilagenösen Ring in einer
Rinne der Pars tympanica des Os temporale eingelassen und gespannt. Auf dem
Trommelfell unterscheidet man einen kleinen spannungslosen Teil, die Pars
flaccida (Shrapnell-Membran) und einen größeren gespannten Teil, die Pars
tensa. Das gesunde Trommelfell ist meist durchsichtig (Boenninghaus und Lenarz,
2001).
Bei der Pars flaccida unterscheidet man zwischen äußerem und inneren Epithel.
Trotz kaum ausgeprägter Lamina propria kommt es bei Mittelohrentzündungen
nicht zur Perforation. Die Pars flaccida wird durch 2 leicht durchschimmernde
Schleimhautfalten der Trommelfellinnenseite (Plica mallearis anterior und
posterior) von der Pars tensa abgegrenzt (Junqueira und Gratzl, 2005).
Die Pars tensa tympani kann durch zwei senkrecht zueinander stehende Linien in
4 Quadranten eingeteilt werden. Eine Linie zieht von vorne oben nach hinten
unten durch die sogenannten Striae mallearis. An dieser Stelle ist der
Hammerhandgriff fest mit dem Trommelfell verwachsen. Die zweite Linie steht
senkrecht zur ersten und geht durch den Trommelfellnabel (Umbo), hier ist das
Trommelfell am tiefsten eingezogen (Benninghoff, 2004).
Anders als die Pars flaccida hat die Pars tensa ein derbe faser- und gefäßreiche
Lamina propria. Das Trommelfell ist etwas schräg gestellt (Kühnel, 2002).
Auris media (Mittelohr)
Der zentrale Raum ist die Paukenhöhle (Cavitas tympanica). Sie ist etwa 20mm
hoch, 10mm lang und an ihrer schmalsten Stelle zwischen Umbo des
Trommelfells und Promontorium der medialen Wand ca. 2mm breit. Die
Paukenhöhle kann in drei Ebenen unterteilt werden. Die unterste ist das
Hypotympnanon unter dem Niveau des Trommelfells. Auf Höhe des Trommelfells
das Mesotympanon, der engste Teil der Paukenhöhle. Sowie als dritte Etage das
23
Epitympanon (Attikus) mit dem Recessus epitympanicus, welcher den
Hammerkopf und Ambosskörper aufnimmt. Die Paukenhöhle wird durch 6 Wände
begrenzt, eine laterale, eine mediale, eine obere und eine untere, sowie eine
vordere und hintere Wand. Laterale Wand (Pars membranaceus): weitgehend
vom Trommelfell gebildet, zum kleineren Teil auch knöchern vom Felsenbein.
Mediale Wand (Pars labyrinthicus): bildet die Abgrenzung zum Innenohr. An ihr
erkennt man das Promontorium, eine breite Vorwölbung, bedingt durch die basale
Schneckenwindung (Zilles und Tillmann, 2010).
Das Fenestra vestibuli, ovales oder Vorhoffenster, welches hinter oder oberhalb
des Promontoriums in das Vestibulum führt und durch die Steigbügelplatte
verschlossen ist. Das Fenestra cochleae, rundes Fenster, welches durch die
Membrana tympani secundaria verschlossen ist. Die beiden Fenestrae
entsprechen Öffnungen des perilymphatischen Raumes gegen die Paukenhöhle
(Sobotta et al., 2007).
Weiterhin die Prominentia canalis facialis über und hinter dem Vorhoffenster,
sowie darüber die Prominentia canalis semicircularis lateralis. Diese beiden
Prominentiae engen den Zugang zum Antrum mastoideum ein. Das Tegmen
tympani bildet die obere Wand und trennt als dünne Knochenwand die
Paukenhöhle von der mittleren Schädelgrube. Die untere Wand, oder Paries
jugularis bildet den Boden der Paukenhöhle. Eine dünne Knochenwand mit
kleineren Vertiefungen (Cellulae tympanicae) trennt hier die Paukenhöhle vom
Bulbus jugularis (Thurnher et al., 2010).
Die Paries caroticus ist die vordere Wand, welche vom Canalis caroticus gebildet
wird. Hier münden auch die Canalis musculotubaris in die Paukenhöhle. Die
hintere Wand wird als Paries mastoideus bezeichnet, welche die Paukenhöhle
gegen den Warzenfortsatz des Schläfenbeins abgrenzt, nach oben grenzt sie sich
zum Antrum mastoideum ab (Doerr et al., 1973).
Eine Kette von drei Gehörknöcheln (Ossicula auditus) (Abbildung 4) überträgt die
Schwingungen des Trommelfells auf den perilymphatischen Raum des Labyrinths
(Klinke und Silbernagel, 1996).
24
Die Verbindung der Knöchelchen funktioniert über Syndesmosen, gelegentlich
kann zwischen Hammer und Amboß ein richtiger Gelenkspalt ausgebildet sein
(Netter, 2008).
Als Hammer (Malleus) wird ein keulenförmiger Knochen bezeichnet, welcher mit
seinem Handgriff (Manubrium mallei) in das Trommelfell eingebettet ist (Striae
mallearis). Der kurze Processus lateralis ist eine Fortsetzung des Manubrium,
welcher am Trommelfell seinen Abdruck hinterlässt (Prominentia mallearis). Der
Processus anterior ist beim Erwachsenen zurückgebildet und dient dem Ansatz
des Lig. mallei anterius. Das Hammerköpfchen steht hinten und medial mit der
entsprechenden Fläche des Amboß in Verbindung. Durch eine straffe
Gelenkkapsel in diesem Gelenk sind nur geringe Bewegungen möglich (Zilles und
Tillmann, 2010).
Der Amboß (Incus) könnte mit einem Backenzahn mit zwei Wurzeln verglichen
werden. Der Corpus incudis ist über das Hammer-Amboß-Gelenk mit dem
Hammer verbunden. Die längere Wurzel (Crus longum) artikuliert über ein
winziges Zwischenstück (Processus lenticularis) mit dem Steigbügel. Die kürzere
Wurzel (Crus breve) ist mit der lateralen Paukenhöhlenwand durch das Lig.
incudis posterior verbunden (Schünke et al., 2010).
Der Steigbügel (Stapes) ist über die Basalplatte (Basis stapedis) in das ovale
Fenster eingehangen. Die Membrana stapedialis ist zwischen den beiden
Steigbügelschenkeln gespannt.
25
Abbildung 4: Gehörknöchelchenreihe des rechten Mittelohrs von medial gesehen
(kopiert aus Sobotta et al., 2007, S. 710)
Die Muskeln des Mittelohrs sind quergestreift und werden M. tensor tympani und
M. stapedius genannt. Der M. tensor tympani ist ein doppelt gefiederter Muskel
durch dessen Kontraktion das Trommelfell eingezogen wird und damit die
Stapesplatte eindrückt. Er liegt oben im Canalis musculotubarius und zieht mit
seiner zentralen Sehne rechtwinklig um den Processus cochleariformis nach
lateral und setzt am Hammerhals an. Die Innervation erfolgt durch den N.
trigeminus (Ulfig, 2008).
Der M. stapedius zieht mit seiner aus der Pyramidenspitze nach vorne zum
Steigbügelkopf und liegt in der Eminentia pyramidalis der hinteren
Paukenhöhlenwand. Bei seiner Kontraktion wird der Stapeskopf nach hinten
gezogen und die Stapesplatte entsprechend verkantet. Anders als der M. tensor
tympani wird der M. stapedius durch den N. facialis innerviert (Berlit, 2007).
Die Funktion dieser beiden Mittelohrmuskeln ist bisher nicht hinreichend geklärt.
Man beobachtet jedoch nach Lähmung dieser Muskeln eine krankhafte
Feinhörigkeit (Hypakusis) (Keidel, 1975).
Betrachtet man die Schleimhaut der Paukenhöhle unter einem Mikroskop findet
sich ein einschichtiges plattes bis isoprismatisches Epithel. In Nachbarschaft der
Tubenmündung ist dieses mit Kinozilien besetzt. Unter dieser Schicht befindet sich
26
eine zarte, jedoch sehr gefäßreiche Lamina propria. Die Raumaufteilung der
Paukenhöhle wirkt sehr unübersichtlich da der Schleimhautüberzug, welcher sich
über die Wand, die Gehörknöchelchen und ihre Haltebänder erstreckt, Falten und
Nischen aufwirft (Lüllmann-Rauch, 2009).
Die arterielle Versorgung der Paukenhöhle erfolgt durch die Äste der A. carotis
externa. Der venöse Abfluss erfolgt zum Plexus pharyngeus, zur V. meningea
media und in den Sinus durae matris. Dieser Abfluss kann bei einer
Mittelohrinfektion auch einen möglichen Infektionsweg darstellen. Die
Lymphgefäße ziehen mit denen des äußeren Ohres zu den retroaurikulären
Lymphknoten (Moll, 2006).
Für die nervale Innervation des Mittelohrs sind der N. tympanicus, Plexus
tympanicus, die Chorda tympani, der N. petrosus und der N.stapedius n. facialis
verantwortlich. Der Plexus tympanicus führt die sensiblen Fasern des N.
glossopharyngeus, die parasympathischen Fasern des N. glossopharyngeus, die
parasympathische Fasern des Intermediusanteil des N. facialis und die
sympathischen Fasern des periarteriellen Plexus caroticus (internus). Während
der N. tympanicus die Schleimhaut der Paukenhöhle innerviert, ist der Plexus
tympanicus eine Austausch- und Durchgangsstation, die nur zum geringen Teil
der Innervation der Schleimhaut der Paukenhöhle dient. Die Chorda tympani und
der N. petrosus major haben nur topographische Beziehung zu Paukenhöhle. Die
Chorda tympani gehört zum N. intermedius, dem nicht-motorischen Anteil des N.
facialis. Sie führt (afferente) Geschmacksfasern sowie sensible Fasern und
(efferente) präganglionäre parasympathische Fasern zum Ganglion
submandibulare. Der N. petrosus major gehört zum N. facialis ohne direkte
funktionelle und topographische Bezüge zur Paukenhöhle, abgesehen von
Verbindungen zum Plexus tympanicus. Der N. stapedius n. facialis dient der
Innervation des gleichnamigen Muskels (Trepel, 2008).
Das Labyrinth liegt in der Felsenbeinpyramide. Man unterscheidet zwischen einem
knöchernen und einem membranösen Labyrinth (Netter, 2008).
27
Das Hörorgan oder auch der Schallaufnahmeapparat besteht aus:
Cochlea (Schnecke), Ductus cochlearis und Organum spirale (Corti-Organ)
(Abbildung 5) (Behrbohm et al., 2009).
Die Cochlea ist ein Knochenkanal, welche den vorderen Abschnitt des knöchernen
Labyrinths bildet. Der Ductus cochlearis ist der Endolymphgang der Cochlea
(Schnecke). Die Endolymphe wird durch ein Blutgefässgeflecht, die Stria
vascularis gebildet und entspricht in ihrer Zusammensetzung der intrazellulären
Flüssigkeit (Waschke, 2008).
Das Corti-Organ ist der Rezeptor für akustische Signale und befindet sich im
Ductus cochlearis. Es wird auch Organum spirale bezeichnet und besteht aus
Sinnes- und Stützzellen am Boden des Ductus cochlearis. Bei den Sinneszellen
handelt es sich um sekundäre Sinnesepithelzellen. Es werden äußere von inneren
Haarzellen unterschieden (Lehnhardt, 1987).
Die inneren Haarzellen tragen an ihrer Oberfläche zwischen 50 und 60
Sinneshärchen (Stereovilli), die V- oder W-förmig in der Längsachse des Corti-
Organs angeordnet sind. Die äußeren Haarzellen tragen 60 bis 120 Stereozillien,
die genauso angeordnet sind wie bei den inneren Haarzellen. Beide sind
korbgeflechtartig von Nervenendigungen umscheidet. Für die Weiterleitung von
akustischen Signalen sind die inneren Haarzellen verantwortlich, welche
Synapsen mit afferenten Fasern tragen (Klinke und Silbernagel, 2005).
28
Abbildung 5: Übersicht über das Organum spirale, Corti-Organ (Nach Schiebler
und Schneider 1991) (kopiert aus Sobotta et al., 2007, S. 715)
Vestibularapparat, Gleichgewichtsorgan
Das Gleichgewichtsorgan besteht aus Sacculus, Utriculus und den 3
Bogengängen, den Ductus semicircularis, welche vom Utriculus ausgehen. Die
der Bogengänge liegen in jeder Hinsicht schräg zur vertikalen, horizontalen und
frontalen Ebenen. Alle drei liegen leicht exzentrisch im Perilymphraum des
knöchernen Labyrinths. Im Gegensatz zum Vestibulum und zur Cochlea ist der
Perilymphraum hier mit lockerem Bindegewebe ausgefüllt (Schiebler und Korf,
2007).
Beim Sacculus und beim Utriculus findet man die Macula, welche ein 2-3 mm2
großes Sinnesfeld darstellt (Netter, 2010).
29
Das Ganglion vestibulare entsteht nach der Vereinigung dreier Nervenäste, dem
N. utriculoampullaris, dem N. sacculus und dem N. ampullaris posterior und liegt
am Boden des inneren Gehörganges. Die abgehenden Nervenzellen des Ganglion
vestibulare sind bipolar und verbinden sich mit denen des Ganglion spirale
cochleae im Meatus acusticus zum 8. Hirnnerven, dem N. vestibulocochlearis
(Gertz et al., 2003).
Meatus acusticus internus, auch als innerer Gehörgang bezeichnet, ist etwa 1 cm
lang und beinhaltet den 8. Hirnnerven und das Ganglion vestibulare, den N.
fascialis, sowie die A. und Vv. Labyrinthi (Drenckhahn und Waschke, 2008).
Auditives System des Gehirns
Das erstes Neuron oder primär afferentes Neuron der Hörbahn bildet das auditive
oder auch akustische System. Es befindet sich im Ganglion cochleae des Corti-
Organs. Seine Axone verlaufen im N. vestibulocochlearis (N. VIII). Die Axone
verzweigen sich nach dem Eingang in den Hirnstamm und erreichen mit einem Ast
den Nucleus cochlearis anterior und mit dem anderen den Nucleus cochlearis
posterior. In diesen beiden Kernen beginnt das 2. Neuron der Hörbahn. Die von
dort abgehenden Axone werden teils ipsilateral, teils kontralateral, teilweise mit
und teilweise ohne Unterbrechungen weitergeleitet zu den Colliculi inferiores.
Umschaltungen erfolgen über den oberen Olivenkomplex. Die Kreuzung zur
Gegenseite findet für die Axone N. cochlearis posterior vor allem in den Striae
cochlearis posterior statt und für die des N. cochlearis anterior im Corpus
trapezoideum statt. Die Neurone, die im Colliculus inferior die Signale aus dem
Gehörgang übernehmen, enden mit ihren Axonen im Corpus geniculatum mediale.
Nach erneuter Umschaltung passieren die Fasern der Hörbahn den
retrolentikulären Teil der Capsula interna und gelangen in der Radiatio acustica
zur primären Hörrinde. Die primäre Hörrinde nimmt hauptsächlichen den medialen
Teil des Gyrus temporalis transversus des Temporallappens ein. Hier erfolgt die
Verarbeitung auditiver Signale. Hörmuster werden bereits in den Nuclei
cochleares (Trepel, 2008).
30
5.2 PATHOPHYSIOLOGIE DES HÖRENS
Die ankommenden Schallwellen werden durch den sogenannten
Schalleitungsapparat des äußeren Ohres, Auris externa, und des Mittelohrs, Auris
media, zum Schallwellenapparat des Innenohrs, Auris interna, geleitet. Die dort
ankommenden Schallwellen führen zu Schwingungen der Steigbügelplatte. Diese
Schwingunge breiten sich wellenförmig im gesamten Perilymphraum aus. Die
Schwingungen erfahren in unterschiedlicher Entfernung vom Fenestra ovale in
Abhängigkeit von der Tonfrequenz ihr Amplitudenmaximum und damit den
Abbruch der Welle (Lehnhardt, 1987). Nach Békésy führt ein Abbruch der Welle
zu einem Abdruck auf der Reißner-Membran (Békésy, 1936).
Die mit der Membrana tectoria verklebten Stereovilli der äußeren Haarzellen
werden an der Stelle des Amplitudenmaximums durch Zug in ihrer Ausrichtung
verändert. Diese Richtungsänderungen lösen Erregungen aus, die sich in einer
Kontraktion der Aktinfilament-haltigen Stereovilli der äußeren Haarzellen äußern.
Dadurch entsteht im Sinne einer aktiven Verstärkung des Eingangsreizes vor Ort
die sogenannte otoakustische Emission. Dabei handelt es sich um einen Schall
den das Ohr selbst herstellt. Dieser Schall wirkt auf die Stereovilli der inneren
Haarzellen, die dadurch erregt werden. Die Erregung erfolgt entweder unmittelbar
über die Membrana tectoria als lokale Schwingung oder direkt über die visköse
Endolymphe des Sulcus spiralis internus. Die inneren Haarzellen sind einzeln und
zu über 90% afferent innerviert, so dass die tonotopische Frequenzanalyse des
Corti-Organs unvermischt das ZNS erreicht. Durch vorwiegend efferente
Innervation über den Tractus olivocochlearis werden die äußeren Haarzellen zu
größeren Funktionseinheiten verbunden. Die Verarbeitung auditiver Signale erfolgt
im Bereich des Gyrus temporalis transversus (Heschl-Querwindungen). Erste
Hörmuster werden bereits in den Nuclei cochleares erkannt. Dort reagieren
Nervenzellen durch gegenseitige kollaterale Hemmung und Erregung differenziert
auf Schallreize. Dieses Prinzip setzt sich in den verschiedenen Stationen der
Hörbahn fort und führt dazu, dass im Kortex bestimmte Neuronentypen nur auf
bestimmte Eigenschaften des Schallreizes ansprechen (Schmidt et al., 2007).
31
Man unterscheidet eine primäre von einer sekundären Hörrinde. Die primäre
Hörrinde befindet sich vorwiegend im vorderen Gyrus temporalis transversus und
ist tonotop gegliedert. Darunter versteht man, dass verschiedene
Frequenzbereiche in der Hörrinde auch verschiedenen, nebeneinander
zugeordneten Neuronenpopulationen zugeleitet werden, welche als funktionelle
Einheiten nachweisbar sind. Man unterscheidet in den anterolateralen Abschnitten
der primären Hörrinde ein Gebiet für den Empfang von niedrigen Frequenzen und
in den posteromedialen Abschnitten ein Gebiet für den Empfang von hohen
Frequenzen. Weiterhin findet man in der primären Hörrinde isofrequente Säulen,
welche dem Empfang nur einer umschriebenen Tonfrequenz dienen. Die Säulen
zum Empfang von Signalen aus korrespondierenden Gebieten beider
Gehörorgane liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Diese anatomische
Anordnung ist wichtig für das Richtungshören, da hierdurch ein Vergleich des
Input der Signale aus beiden Ohren möglich ist und somit eine Lokalisation der
Schallquelle möglich gemacht wird (Keidel, 1975).
Die sekundäre Hörrinde umrandet hufeisenförmig die primäre Hörrinde und hat vor
allem assoziative Aufgaben. Sie erhält vor allem Signale aus der primären
Hörrinde und direkte Signale aus dem Corpus geniculatum mediale. Aufgabe der
sekundären Hörrinde ist es Tonfrequenzen zu verbinden und sie mit auditiven
Erinnerungen zu vergleichen. Sie trägt somit dazu bei, die Bedeutung von
Geräuschen, Tönen, Melodien, Worten, Sätzen usw. aufzuklären (Keidel, 1975).
Sie ist eng mit dem hinteren Abschnitt des Gyrus temporalis superior und somit
dem Wernicke-Zentrum für das Sprachverständnis verbunden. Innerhalb des
Kortex steht die Hörrinde mit zahlreichen anderen Arealen in synaptischer
Verbindung. Dies gewährleistet, dass auditive Signale komplexe Reaktionen
auslösen können, wie zum Beispiel das „Hinhören“ (Klinke und Silbernagel, 2005).
Es bestehen Verbindungen zum frontalen Augenfeld, den Gyri pre- und
postcentralis sowie mit temporalen und okzipitalen Gebieten, sowie Verbindungen
zwischen den Hörrinden beider Hemisphären. Die weitere Modulation der
auditiven Signale erfolgt durch absteigende Fasersysteme. Die absteigenden
auditiven Fasern wirken vorwiegend hemmend, beginnen in der primären Hörrinde
und erreichen den Hirnstamm. Von dort zieht der Tractus olivocochlearis (Verlauf
im N. cochlearis) zum Corti-Organ. Im Corti-Organ treten die Fasern entweder
32
direkt an die äußeren Haarzellen oder an die afferenten Strecken der
Nervenzellen des Ganglion cochleare heran. Das efferente System ist in der Lage,
die Lautstärkeempfindlichkeit des Corti-Organs und die Übertragung der auditiven
Signale auf den Kortex erheblich zu modifizieren (Sobotta et al. 2007).
5.3 ENTZÜNDUNGEN DES OHRES
Phänomenologie der Entzündung
„Die Reaktion vollzieht sich nach Gesetzmäßigkeiten, die in der Regel nicht von
der Art des schädigenden Agens abhängig sind. Damit steht sie im Gegensatz zu
den spezifischen Reaktionen des Immunsystems. Beide ergänzen sich aber.“
(Grundmann, 2008)
Entzündungen des Ohres
„Entzündungen des Gehörganges werden durch Ausfälle der physiologischen
Schutzmechanismen begünstigt (Behrbohm et al., 2009). Mögliche Ursachen sind:
übermäßige Entfernung des Zerumenbelags durch intensive Reinigung und
Wassereinwirkung
wiederholte Traumatisierung des Gehörgangsepithels durch unzweckmäßige
Reinigung
Missbrauch von Ohrmedikamenten (Tropfen, Salben)
Tragen von Gehörgangsverschlüssen (Gehörgangsstopfen, Ohrhörer, etc.)
Hohe Staubbelastung und andere Luftverschmutzung
Klimatische Einflüsse (feuchtwarmes Klima)
33
Zusätzlich begünstigen Schwächen der Immunabwehr oder ein Diabetes mellitus
Erkrankungen am äußeren Ohr.“ (Behrbohm et. al. 2009).
Die Entzündungen des Ohres werden nach ihrer anatomischen Lokalisation
unterschieden (Boenninghaus und Lenarz, 2001).
Entzündungen des äußeren Ohres
Zu den Entzündungen des äußeren Ohres gehören:
Ohrekzem
Ohrfurunkel
Erysipel
Perichondritis
Otitis externa maligna
Otomykosen
Ohrekzeme
Ohrekzeme werden unter dem Begriff diffuse Otitis externa zusammengefasst.
Hierunter werden alle externen Einflüsse auf die Gehörgangshaut bezeichnet. Das
Ohrekzem entsteht als Folge einer Besiedelung der Gehörganghaut mit Bakterien,
Viren oder Pilzen. Die Erkrankung verläuft in der Regel schmerzhaft (Thurnher et
al., 2011).
Je nach klinischem Erscheinungsbild kann man ein akut nässendes Ekzem von
einem chronisch, trockenem, schuppendem Ekzem unterscheiden. Das akut
nässende Ekzem zeichnet sich durch eine starke Sekretion, Erosionen und
Rhagaden aus. Außerdem kommt es häufig zu einer bakteriellen Superinfektion.
Beim chronisch, trockenem, schuppendem Ekzem liegt häufig eine ausgeprägte
Infiltration mit starkem Juckreiz vor (Probst et al., 2008). Durch das Sekret einer
sezernierenden Mittelohrentzündung kann es ebenfalls zu einer diffusen Otitis
34
externa kommen. Bei einer begleitenden Mastoiditis kommt es zu einer
Schwellung hinter dem Ohr. Durch einfache Untersuchungsmechanismen kann
man das Ohrekzem von der Otitis media unterscheiden. Bei einer
Gehörgangsentzündung kommt es typischerweise zu einem starken
Schmerzereignis wenn man an der Ohrmuschel zieht oder auf den Tragus drückt.
Die Behandlung erfolgt primär durch lokale Maßnahmen. Bevor kortison- oder
antibiotikahaltige Salben oder eine antimykotische Therapie aufgetragen wird,
muss eine gründliche Reinigung und Desinfektion des Gehörganges erfolgen. Bei
ausgeprägtem Lokalbefund mit systemischer Symptomatik und bei bekannter
Immunschwäche muss nach vorheriger Keimbestimmung eine systemische
Therapie eingeleitet werden (Grevers, 1997).
Ohrfurunkel
Das Ohrfurunkel ist eine lokalisierte bakterielle Entzündung. Sie entwickelt sich
aus einer Follikulitis mit eitriger Einschmelzung. Bei Druck auf den Tragus und bei
Zug an der Ohrmuschel kommt es zu starken Schmerzen. In der Regel kommt es
zu keiner Hörminderung. Je nach Lokalisation des Furunkels kann es zu einer
schmerzhaften Bewegungseinschränkung des Unterkiefers kommen (Nagel und
Gürkov, 2009).
Bei der Otoskopie findet man neben einem Eiterpfropf auch eine umschriebene
Schwellung im Gehörgang. Differentialdiagnostisch muss eine Otitis externa
maligna, ein Gehörgangstumor und ein Fremdkörper ausgeschlossen werden.
Therapie der Wahl ist auch in diesem Fall eine lokale Therapie. Dabei wird ein
alkoholhaltiger Streifen in den Gehörgang eingelegt. Eine ausreichende
analgetische Therapie sollte ebenfalls eingeleitet werden. Bei multiplen Furunkeln
und bei schweren Verläufen sollte man eine systemische antibiotische Therapie
durchführen. Eine operative Sanierung mittels Stichinzision ist nur selten und bei
fluktuierenden Abszessen notwendig (Thurnher et al., 2011).
35
Erysipel
Durch Eindringen von Streptokokken (Str. pyogenes) in Hautlymphbahnen
entsteht eine akute, phlegmonöse Entzündung der Kutis. Meist geschieht dies
über Rhagaden oder kleinere Hautläsionen. Der Erkrankungsbeginn ist häufig akut
mit hohem Fieber und Schüttelfrost. Klinisch zeigt sich eine leicht erhabene, scharf
begrenzte Rötung der Ohrmuschel und evtl. auch ihrer Umgebung. In der Regel
wird ein kombiniertes Therapiekonzept auch hochdosierter Penicillin i.v.-Gabe und
antiseptischen Salbenverbänden (Behrbom et al., 2009).
Perichondritis
Unter einer Perichondritis versteht man die Entzündung der Knorpelhaut des
äußeren Ohres. Bei der Perichondritis bleibt im Gegensatz zum Erysipel das
Ohrläppchen frei von Entzündung. Auslöser einer Perichondritis ist meist die
Entzündung der Ohrmuschel, sowie Verletzungen oder durch Infektionen eines
Ohrhämatoms. Auch äußere Einflüsse wie Sonnenstrahlen, Wärme und Kälte
können als Auslöser fungieren. Neben Rötung und Schwellung kann auch eine
Fluktuation im Ohrmuschelbereich als Hinweis auf eine Abszedierung auftreten.
Die Perichondritis sollte durch eine intensive lokale und systemische
Antibiotikatherapie behandelt werden. Antibiotika der Wahl sind Penicillin oder
Gyrasehemmer. Im Falle einer Abszedierung ist eine operative Drainage
notwendig. Durch Knorpelnekrosen bei unzureichender Behandlung kann es zu
einer Ohrmuscheldeformierung kommen (Grevers, 1997).
Herpes zoster oticus
Durch eine Reaktivierung von Varizellen-Zoster-Viren im Ggl. trigeminale kommt
es zu einem Herpes zoster oticus. Die Entzündung betrifft die Ohrmuschel, den
Gehörgang und angrenzende Hautareale. Symptome der Erkrankung sind starke
neuralgiforme Schmerzen, sowie punktuell oder in Grüppchen angeordnete
Bläschen, häufig mit typischem Erythem. In einigen Fällen kann es zu Nystagmus
und Schwindel kommen, als Hinweis auf eine Beteiligung des
36
Gleichgewichtsorganes. Eine Beteiligung von Hirnnerven mit peripherer
Faszialisparese (N. facialis) mit Schallempfindungsschwerhörigkeit (N.
vestibulocochlearis) kann ebenfalls auftreten (Gehlen und Delank, 2010). Zur
Diagnosesicherung wird der Antikörpernachweis gegen das Varizellen-zoster-
Virus erbracht. Neben einer analgetischen Therapie in der Akutphase wird eine
Hemmung der Virusreplikation angestrebt. Die wichtigsten Therapieziele sind in
einer Begrenzung der Hautveränderung und der Verhinderung von
Komplikationen, wie der postzosterischen Neuralgie, zu sehen. Als Therapieoption
steht eine lokale Dermatotherapie mit Nukleosidanaloga, die mit einer suffizienten
Schmerzbehandlung kombiniert wird, zur Verfügung (Naumann und Scherer,
1998).
Otitis externa maligna
Die Otitis externa maligna ist eine seltene, lebensbedrohliche Infektion des
Felsenbeins, welche v.a. bei älteren Diabetikern auftritt. Bei dieser Erkrankung
kommt es zu einer rasch progredienten, nekrotisierenden Otitis und Osteomyelitis
der seitlichen Schädelbasis (Boeninnghaus und Lenarz, 2001). Als auslösender
Keim fungiert meist Pseudomonas aeruginosa (Hahn et al., 2008). Die Symptome
dieser Erkrankung sind eine schmerzhafte Schwellung der Weichteile rund um das
Ohr, eine fötide Ohrsekretion, sowie eine granulierende Entzündung im
Gehörgang. Die Therapie der Wahl ist eine hochdosierte antibiotische mit breit
wirksamen Gyrasehemmern, sowie eine konsequente Einstellung des Diabetes
mellitus. Bei einem protrahierten Verlauf ist eine operative Ausräumung des
Entzündungsherdes mit Drainage indiziert (Weerda, 2007).
Otomykosen
Damit eine Pilzinfektion am Ohr ablaufen kann, muss die gesunde intakte Haut
vorgeschädigt sein. Pilzinfektionen treten meist als Folge eines Epitheldefektes
oder durch Mazerationen der intakten Haut (feuchtes Milieu, z.B. nässende
Ekzeme, Tragen von Hörgeräten, Schwimmer) auf. Als Nebenwirkung einer
systemischen Kortikoid- und Antibiotikatherapie könne Pilze das Stratum
spinosum der Haut erreichen und somit Entzündungen hervorrufen. Klinische
37
Symptome sind weißliche Beläge, die wie Puderstaub aussehen oder graue bis
grün-schwarze Membranen mit watteähnlicher Konsistenz, die den Gehörgang
ausfüllen, sowie starker Juckreiz. Die Diagnosesicherung erfolgt durch
mikroskopischen Befund und mykologischen Abstrich. Die Therapie besteht in
einer lokalen antimykotischen Therapie, sowie einer sorgfältigen Säuberung und
Trocknung des Gehörganges (Nagel und Gürkov, 2009)
Entzündungen des Mittelohres
Akute Otitis media
Bei der akuten Otitis media handelt es sich um eine eitrige, fieberhafte
Entzündung des Mittelohres. Nach einem viralen Beginn kommt es meist durch
Superinfektion mit Streptokokken und Staphylokokken zu einem komplizierten
Verlauf. Die Entzündung betrifft vorwiegend die Schleimhaut. Durch die Tube
gelangen die Erreger ins Mittelohr. In den häufigsten Fällen kommt es durch
Infektionen der oberen Atemwege, Schleimhautschwellungen im Nasen-Rachen-
Raum sowie bei vergrößerten Adenoiden, Trommelfelldefekten oder durch
hämatogene Streuung bei bestimmten Infektionskrankheiten (Grippe, Masern,
Scharlach) als Begleitinfektion zu einer akuten Otitis media. Die Entzündungen
des Trommelfells (Myringitis) werden ebenfalls zu den akuten
Mittelohrentzündungen gezählt. Hierbei unterscheidet man eine bullöse Form
(viraler Genese), von der eher seltenen granulierenden Form (ausgeprägte,
bakterielle Entzündung). Die Entzündung des Trommelfells ist in der Regel
langfristig und erfordert lokale konservative und operative Maßnahmen. Man
unterscheidet verschiedene Verlaufsformen der akuten Otitis media, welche durch
das klinische Erscheinungsbild geprägt werden (Behrbohm et al. 2009).
38
Otitis media catarrhalis
Diese Form ist durch einen milden Verlauf mit wenigen Allgemeinsymptomen und
selten Fieber gekennzeichnet. Neben einer leichten Hörminderung kann es zu
einem Druckgefühl und mäßigen Schmerzen kommen. Bei der otoskopischen
Untersuchung zeigt sich das Trommelfell gefäßinjiziert bis leicht gerötet.
Gelegentlich kann ein Erguss vorliegen, welcher das Trommelfell prominent
erscheinen lässt. Eine Perforation liegt in der Regel nicht vor. Liegt eine bakterielle
Infektion als Ursache vor kommt eine antibiotische Therapie zum Einsatz
(Thurnher et al., 2011). Bei allergischer Genese sollte der Patient Antihistaminika
und kortisonhaltige Nasensprays erhalten. Bei einem vorliegenden Erguss kann
eine Absaugung mittels Parazentese durchgeführt werden. Der Patient sollte
Bettruhe und ggf. eine analgetische Therapie erhalten. Innerhalb von wenigen
Tagen kommt es meist von selbst zur Remission. Bei vergrößerten
Rachenmandeln kann es zu häufigen Rezidiven kommen. Hier sollte eine
chirurgische Sanierung erwogen werden (Weerda, 2007).
Otitis media purulenta
Der Verlauf der Otitis media purulenta ist durch drei Stadien gekennzeichnet. Das
erste Stadium ist durch eine diffuse Entzündung mit akutem Beginn und schweren
Allgemeinerscheinungen und Fieber gekennzeichnet. In diesem Anfangsstadium
kommt es häufig zu einem pulsierendem Ohrenschmerz und häufig auch
Mastoiddruckschmerz, mit erheblicher Hörminderung (Probst et al., 2008). Neben
einer starken Hyperämie findet man bei der otoskopischen Untersuchung eine
zunehmende Infiltration mit Vorwölbung des Trommelfells v.a. im hinteren
Abschnitt. Die Gehörgangswand und der Hammergriff sind häufig nicht mehr
sicher voneinander abzugrenzen. Ein weißlich bis blau-grauer schuppiger Belag
überzieht das Trommelfell. Innerhalb der ersten 24-48h kann es zu einer
Spontanperforation kommen, in dessen Folge sich pulsierend hämorrhagisches
und später eitriges Sekret entleert. Dieses Stadium ist zugleich das 1.
Gefahrenstadium (1. - 4. Tag). Es kann zu besonders schwer verlaufenden
labyrinthären und intrakraniellen Frühkomplikationen kommen. Begünstigt wird
dies durch die noch fehlende Abgrenzung der Entzündung. Das zweite Stadium
39
wird durch die noch fehlende Abgrenzung der Entzündung definiert und als
Exsudationsstadium bezeichnet. In diesem liegt eine lokal begrenzte Entzündung
vor. Häufig bildet sich ein Empyem in der Paukenhöhle. Bleibt in diesem Stadium
eine Spontanperforation aus, kommt es zu schweren Allgemeinsymptomen
(Boenninghaus und Lenarz, 2001). Je nach Ausmaß der Pneumatisation der
Mittelohrräume entleert sich eitriges Exsudat. Die klinischen Allgemeinsymptome
bessern sich mit dem Abfluss des Sekrets. In der Regel ist dieses Sekret
geruchlos, bei fötider Absonderung muss immer an einen begleitenden
Knochenprozess oder eine nekrotisierende Entzündung gedacht werden. Das
letzte Stadium kann sich meist bis zu 3 Wochen hin ziehen. In diesem
Ausheilungsstadium kommt es zu einer sukzessiven Abnahme und zu einer
Änderung der Konsistenz des Ergusses. Das Sekret ist eher schleimig, das
Trommelfell blasst ab und die Perforationen verschließen sich. Das Hörvermögen
wird in der Regel wieder vollständig hergestellt. In einigen Fällen kann jedoch
auch eine Trommelfellperforation mit Schallleitungsschwerhörigkeit bestehen
bleiben. Im Rahmen der Diagnostik wird neben einer Otoskopie, der
Stimmgabeltest nach Weber, ein Tonschwellenaudiogramm, eine Tympanometrie,
sowie eine mikrobiologische Abstrichuntersuchung durchgeführt (Grevers, 1997).
Hierdurch kann eine Schallempfindungsschwerhörigkeit ausgeschlossen werden.
Bei Verdacht auf einen komplizierten Verlauf sind bildgebende Verfahren
notwendig. Hierzu gehören das Felsenbein-CT bei V.a. eine eitrige Mastoiditis
sowie eine Röntgenuntersuchung nach Schüller. Durch diese kann eine mögliche
Einschmelzung von Zellsepten im Mastoid nachgewiesen werden. Die Therapie
richtet sich nach dem jeweiligen Stadium. Eine antibiotische Therapie ist nicht
obligat, da es sich häufig um einen viralen Infekt handelt. Eine systemische
antibiotische ist nur bei schweren Verläufen indiziert. Durch abschwellende
Nasentropfen soll die Tubenbelüftung verbessert werden, daneben sollte eine
körperliche Schonung und ausreichende Analgesie durchgeführt werden. Eine
Parazentese sollte durchgeführt werden, wenn sich das Trommelfell stark
vorwölbt, das Fieber persistiert, starke Schmerzen vorliegen und bei
ausbleibender oder ungenügender Spontanperforation. Vom zeitlichen Verlauf her
sollte die Parazentese frühestens 24 – 48h nach Beginn der akuten
Allgemeinsymptome durchgeführt werden. Das 2. Gefahrenstadium ist durch
40
Komplikationen wie die Knocheneinschmelzung (Mastoidits) gekennzeichnet. Es
tritt auf, wenn die Otitis media bis zur 3. Woche nicht abheilt (Nagel und Gürkov,
2009).
Otitis media chronica
Die häufigsten Symptome der Otitis media chronica sind ständige oder häufig
rezidivierende Absonderungen aus dem Ohr, eine permanente
Trommelfellperforation, narbige Veränderungen am Trommelfell und der
Paukenhöhle (Trommelfellverdickung, Kalkherde und Narben) sowie andauende
Funktionseinbußen (Berendes et al., 1980).
Als mögliche Ursachen gelten:
- uneingeschränkte Abwehrfunktion der Schleimhaut (v.a. nach
frühkindlicher Otitis media)
- eingeschränkte Mastoidpneumatisation
- Art der Erreger und der Entzündung (häufig Pseudomonas aeruginosa,
Staph. aureus, Proteus ssp.)
- Reduzierter Allgemeinzustand (chronische Infektionskrankheit, Diabetes
mellitus, Immunabwehrschwäche)
- Primäre Cholesteatombildung im Epitympanon
(Behrbohm et al.2009).
Man unterscheidet eine Otitis media chronica mesotympanalis von einer Otitis
media chronica epitympanalis. Das wichtigste klinische Zeichen beider
Erkrankungen ist die Trommelfellperforation. Man unterscheidet je nach
Lokalisation eine zentrale von einer randständigen Perforation. Die zentrale
Perforation ist eine sehr kleine bis große, meist nierenförmige oder fast das ganze
Trommelfell einnehmende Perforation. Im Gegensatz zur randständigen
Perforation bleiben der Anulus fibrosus und die Shrapnell-Membran intakt. Die
randständige Perforation liegt im hinteren oberen Trommelfellbereich. Der Defekt
41
kann unterschiedlich groß sein und auf der Pars tensa oder Pars flaccida liegen.
Es liegt immer ein Anulus-fibrosus-Defekt vor. Weiterhin findet sich meist ein
umschriebener ostitischer Herd, der die Ursache der fötiden Sekretion (Zöllner et
al., 1980).
Otitis media chronica mesotympanalis
Auslöser dieser Form der Otitis ist eine chronische Tubenfunktionsstörung und
häufig eine zusätzlich gehemmte Pneumatisation des Felsenbeins (Naumann und
Scherer, 1998).
Klinische Erscheinungen sind:
- meist geruchloses, schleimig-eitriges Sekret; ständige, zeitweise auch
sistierende Absonderung
- zentraler Trommelfelldefekt mit epithelialisiertem Defektrand
- Schallleitungsschwerhörigkeit unterschiedlichen Grades (in Abhängigkeit
von Narbenbildung und Defekten)
- Schmerzen und pulsierende Sekretion nur bei akuter Exazerbation
- Ggf. Schleimhautpolypen, die in den äußeren Gehörgang prolabieren“
(Behrbohm et al. 2009).
In der otoskopischen Untersuchung sieht man einen Trommelfelldefekt und den
epithelialisierten Defektrand. Als weitere diagnostische Maßnahmen kann man
ein Tonschwellenaudiogramm zum Nachweis einer Schallleitungsschwerhörigkeit
durchführen. Den Trommelfelldefekt kann man durch Valsalva-Versuch und in der
Tympanometrie mit objektiver Toynbee Untersuchung bestätigen. Durch ein
Felsenbein-CT und die Röntgenuntersuchung nach Schüller kann man eine
gehemmte Mastoidpneumatisation diagnostizieren (Thurnher, 2011). Das primäre
therapeutische Ziel ist der Verschluss der Trommelfellperforation mit
Wiederherstellung der Schallleitungskette. Hierfür muss eine keimarme, trockene
Paukenhöhle vorliegen. Eine Vorab-Behandlung mit desinfizierenden
42
Gehörgangsspülungen bei akuter Exazerbation und persistierend starker
Sekretion sollte durchgeführt werden. Eine gezielte antibiotische Therapie bei
Besiedelung mit Problemkeimen sollte durchgeführt werden. Hierzu sollte vorab
eine Erregerbestimmung mit Antibiogramm durchgeführt werden. Vor einer
Tympanoplastik sollte ggf. eine Sanierung der Nase, der Nasennebenhöhlen und
des Nasen-Rachen-Raumes durchgeführt werden (Weerda, 2007).
Otitis media chronica epitympanalis
Bei dieser Otitisform handelt es sich um eine chronische Knocheneiterung des
Mittelohrs. Da sie fast immer mit einer Cholesteatombildung einhergeht, wird sie
auch als Perlgeschwulst bezeichnet. Neben dieser Knochendestruktion findet sich
eine randständige Trommelfellperforation. Das Cholesteatom bildet sich durch
Einwachsen von verhornendem Plattenepithel in die Paukenhöhle und in die
benachbarten pneumatisierten Zellen. Schwerwiegende Komplikationen entstehen
durch einen lokalen enzymatischen und osteoklastischen Knochenabbau. Die
Entstehung eines Cholesteatoms ist von zwei verschiedenen pathogenetischen
Faktoren abhängig (Probst et al., 2008):
Funktionsstörung der Tuba auditiva:
Durch eine langandauernde Einziehung der Shrapnell-Membran kann es zu einer
druckbedingten Arrosion des umgebenden Knochens kommen und somit eine
Otitis ausgelöst werden. Zunächst besteht keine Eiteransammlung in den
entstehenden Retraktionstaschen. Im weiteren Verlauf kann es vom Gehörgang
aus zu Infektionen der Epidermisschuppen kommen (Behrbohm et al., 2009).
Trommelfellperforation:
Durch eine randständige Trommelfellperforation steht die Gehörgangshaut mit der
Mittelohrschleimhaut in direktem Kontakt (Grevers, 1997).
Das Plattenepithel des Gehörgangs hat die größere Wachstumstendenz, sodass
es durch den direkten Kontakt zu einem Vorwachsen in das Mittelohr kommt.
43
Man unterscheidet drei Formen des Cholesteatoms:
- Primäres Cholesteatom (syn. Flaccidacholesteatom)
Die Trommelfellperforation liegt bei dieser häufigsten Form im Bereich der
Shrapnell-Membran.
- Genuines Cholesteatom (syn. echtes Cholesteatom)
Diese eher seltene Form entsteht durch embryonale Keimversprengung im
Sinne eines Epidermoids. Eine Trommelfellperforation liegt nicht vor.
- Sekundäres Cholesteatom (syn. Tensa-Cholesteatom)
Die Trommelfellperforation liegt hierbei im Bereich der Pars tensa und geht
mit einer Läsion des Anulus fibrocartilagineus einher (Boenninghaus und
Lenarz, 2001).
Durch ein unbehandeltes Cholesteatom kommt es immer zu schweren
Komplikationen. Hierzu gehören die Infiltration der Dura mater mit der Folge einer
Meningitis oder eines Hirnabszesses, sowie die Infektion des Sinus sigmoideus
mit Thrombophlebitis oder septischen Verlauf. Neben einer Labyrinthitis kann es
zu einer Schädigung des N. facialis kommen. Eine Zerstörung der
Gehörknöchelchenkette, beginnend am langen Ambosschenkel, sowie Arrosionen
des knöchernen lateralen Bogenganges, wodurch häufig eine Labyrinthfistel
entsteht. Klinisch zeigt sich häufig eine eitrig-fötide Ohrsekretion als Folge der
Knocheneiterung. Bei der Otoskopie findet sich ein randständiger
Trommelfelldefekt mit Epidermisschuppen. Das übrige Trommelfell ist meist
gerötet oder verdickt, in wenigen Fällen erscheint es normal (Thurnher, 2011). Im
Falle einer Zerstörung der Gehörknöchelchenkette liegt eine
Schallleitungsschwerhörigkeit vor. Bei Arrosionen des knöchernen Labyrinths
kommt es zu vestibulären Symptomen. Neben der Otoskopie zum Nachweis der
weißlichen Hornschuppen, müssen eine Tonschwellenaudiometrie und eine
Untersuchung auf eine mögliche Fistelbildung erfolgen. Mittels Dünnschicht-CT
des Felsenbeins kann man ossäre Destruktionen im Bereich des Mastoids, des
Epitympanons, der Bogengänge und des N. facialis feststellen. Die Therapie der
Wahl besteht in einer vollständigen Entfernung des Cholesteatoms. Die
44
wichtigsten Strukturen wie das Labyrinth, Cochlea, N. facialis, Duraschale und der
Sinus sigmoideus sollten erhalten werden. Eine operative Entfernung der
Gehörknöchelchenkette kann je nach Ausmaß des Cholesteatoms notwendig sein
(Naumann und Scherer, 1998).
Entzündungen des Innenohrs
Die Entzündung des Innenohrs führt in der Regel zu einer
Schallempfindungsschwerhörigkeit. Diese Erkrankung wird aus diesem Grund
auch als sensorineurale Schwerhörigkeit bezeichnet. Die akute Otitis media gilt als
häufigste Ursache der Entzündung des Innenohrs. In seltenen Fällen erfolgt die
Infektion hämatogen oder über den Liquor (Grevers, 1997).
Labyrinthitis
Die Labyrinthitis entsteht durch einen Übertritt der Entzündung auf das Labyrinth.
Dies geschieht meist über das runde oder ovale Fenster, über eine
Bogengangsfistel oder hämatogen fortgeleitet sein. In seltenen Fällen kann es zu
einer Infektion des N. vestibulocochlearis kommen. Die Labyrinthitis wird nach
ihrem Verlauf in verschiedene Stadien unterteilt.
Seröse Labyrinthitis:
Diese Verlaufsform wird auch als toxische Labyrinthitis bezeichnet. Durch
Toxineinschwemmung kommt es zu in den Perilymphräumen zu zellulären
Reaktionen, die zu gestörten Druckverhältnissen und biochemischen Reaktionen
führen. Die klinischen Symptome in diesem Stadium sind Drehschwindel, Übelkeit,
Erbrechen, Nystagmus und beginnende Hörminderung.
45
Eitrige Labyrinthitis:
Hierbei handelt es sich um eine seltene, aber sehr gefährliche Verlaufsform der
Labyrinthitis. Durch massiven Einbruch von Erregern in die Labyrinthräume kommt
es zu einer Zerstörung der Haarzellen. Die Schädigung ist irreversibel. Im weiteren
Verlauf kommt es zu einer knöchernen Obliteration der Labyrinthräume. Die
Erkrankung weist ein ausgeprägtes klinisches Erscheinungsbild mit Schwindel,
Ausfallnystagmus und Hörverlust auf. Bei einer eitrigen Labyrinthitis können
zudem intrakranielle Komplikationen auftreten (Nagel und Gürkov, 2009).
Durch eine Audiometrie kann eine Schallempfindungsschwerhörigkeit
nachgewiesen werden. Labyrinthfisteln können mittels Computertomographie
nachgewiesen werden. Eine Liquorpunktion sollte bei Verdacht auf meningeale
Beteiligung durchgeführt werden. Neben einer symptomatischen Therapie mit
Antiemetika und Antiverginosa sollte ein liquorgängiges Breitspektrumantibiotikum
gegeben werden. Die Betroffenen sollten Bettruhe einhalten. Im Falle einer viralen
Entzündung sollte eine systemische Virustatikatherapie eingeleitet werden. Eine
operative Intervention sollte bei einer Otitis media zur Entlastung des Mittelohrs
z.B. durch Paukendrainage und in jedem Fall bei einer Labyrinthfistel erfolgen
(Probst et al., 2009).
46
6. TINNITUS
6.1 DEFINITION UND GESCHICHTE
Der Begriff Tinnitus steht für ein Symptom, bei dem der Betroffene Geräusche
wahrnimmt, die für andere Personen nicht wahrnehmbar sind und keine äußere
Geräuschquelle besitzen (Feldmann, 2002).
Der Begriff stammt aus dem lateinischen, Tinnitus aurium bedeutet „das Klingeln
der Ohren“.
Dass der Tinnitus kein Problem der Neuzeit darstellt, beweisen alte medizinische
Aufzeichnungen. Bereits 1500 v. Chr. Finden sich in Schriften aus dem Babylon
Hinweise auf ein „Singen im Ohr“ für welches es mehr als 20 verschiedene
Verordnungen aufgelistet wurden. Auch die Assyrer und Ägypter versuchten, den
Ursachen der Ohrgeräusche auf die Spur zu kommen. Dabei entstand der
volkstümliche Aberglaube, dass jemand Gutes oder Böses über einen spricht,
wenn es im Ohr klingelt. Etwa 500 v. Chr. Berichtet Hippokrates über das
Ohrensausen als Folge einer krankhaften Störung der inneren Harmonie und des
biologischen Gleichgewichts. Man vermutete als Ursache Geräusche in den
Blutgefäßen (Eckart et a., 2009).
Aristoteles (384-322 v. Chr.) bemerkte zu seiner Zeit, dass das Summen im Ohr
bei Meeresrauschen nachließ. In seiner „Problemata physica“ notierte er einen
sehr interessanten Befund: „Warum hört das Summen in den Ohren auf, wenn
jemand ein Geräusch macht? Doch wohl deshalb, weil das größere Geräusch das
kleinere vertreibt.“ (Flashar, 1991).
Durch den römischen Enzyklopädisten Plinius der Ältere (23-79 n. Chr.) etwa 50 n.
Chr. wurde wohl der Ausdruck Tinnitus geprägt (Möller und Vogel 2007).
Etwa 80 n. Chr. wurde über den römischen Kaiser Titus (39-81 n. Chr.) berichtet,
dass „ein Wurm in seinem Kopfe bohre und brumme.“ (Eckart, 2009).
47
Paracelsus war der erste, der um 1500 beschrieb, dass Lärm Tinnitus
verursachen kann. Alessandro Achillini entdeckte die Gehörknöchelchen Hammer,
Amboss und Steigbügel (Schott, 1996).
1543 war es Andreas Vesalius der vollständige und in ihren Grundzügen gültige
Anatomie des menschlichen Körpers festlegte. In ihr findet sich auch die erste
Dokumentation des Aufbaus des menschlichen Ohrs mit seiner Dreiteilung Außen-
, Mittel- und Innenohr (Cunningham, 2003).
Durch den Franzosen Duverney (1648-1730) wurde um 1700 vermutlich erstmalig
die These aufgestellt, dass Hörempfindungen sowohl durch äußere (Schall) als
auch durch innere (nervöse) Reize ausgelöst werden kann (Gerabek et al., 2004).
Um 1800 versuchte der Graf Alessandro Volta (1745-1827), der Erfinder der
Batterie, den Tinnitus elektrisch zu behandeln. Er hatte sich Elektroden in die
Ohren gesteckt und dabei „einen Krach vernommen, als sei etwas zerrissen.“
(Eckart, 2009).
6.2 ÄTIOLOGIE UND PATHOGENESE
Jede Altersgruppe kann vom Tinnitus betroffen sein. Nach Angaben der
Deutschen Tinnitus-Liga sind in Deutschland etwa 8% aller Erwachsenen
betroffen. Durch die stetig zunehmende Lärmbelästigung (z.B.: Diskotheken)
nimmt aber die Häufigkeit bereits im jugendlichen Alter zu. Bis zum 29. Lebensjahr
sind über 5% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen vom Tinnitus betroffen.
Knapp 40% der Bevölkerung bemerken zumindest einmal im Leben einen
Tinnitus, etwa 10-20% sind dauerhaft betroffen. Bei den älteren Menschen gibt ein
Drittel aller befragten ein permanentes Ohrgeräusch an (Forsa-Umfrage, 2009).
Der Erkrankungsbeginn liegt in der Regel zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr,
Frauen und Männer sind hierbei gleichermaßen betroffen (Biesinger, 2005).
48
Dabei sind die Ursache der Tinnitus und das Entstehen keinesfalls hinreichend
geklärt (Tyler, 2000).
Es wird häufig der Fehler begannen, dass der Tinnitus als eigenständige Krankheit
angesehen wird. Dabei handelt es sich beim Tinnitus vielmehr um ein Symptom
einer anderen Krankheit. Von einigen Wissenschaftlern wird die Einordnung des
Tinnitus als Syndrom favorisiert, wegen der Vielfältigkeit der Ursachen und der
verschiedenen Formen des Auftretens. In einer Studie konnte nachgewiesen
werden, dass 93,75% aller teilnehmenden, hörgesunden Probanden in einem
schallisolierten Raum nach 5 Minuten einen Tinnitus beklagen (Heller und
Bergmann, 1953).
Es bestehen Theorien wonach der Tinnitus, ähnlich dem Hörsturz auf Grund von
Durchblutungsstörungen der kleinsten Innenohrgefäße (Mikrozirkulationsstörung)
ausgelöst wird (Feldmann, 2002).
Hinreichend bekannt ist jedoch eine Reihe von Ursachen, die einen Tinnitus
auslösen können (Biesinger, 2005).
Hierzu gehören:
- Mittelohrerkrankungen mit Störung der Schallüberleitung
- Knalltraumata
- Sauerstoffmangelversorgung des Innenohrs selber, aber auch infolge von :
- Schlafapnoe
- Verspannung der Hals- und Nackenmuskulatur
- Virusinfektionen
- Autoimmunerkrankungen
- Entzündungen des Ohrs: - Otitis media
- Otitis externa
- Ohrenschmalz (Cerumen)
49
- Tauchunfälle (Dekompressionskrankheit oder Barotrauma)
- Vergiftungen
- Nikotin- und Alkoholabusus
- Medikamente
- starker Lärm (z.B. in Diskotheken)
- Stress- und Psychosomatik
- Infekte der oberen und unteren Atemwege
- Tumor der Gehörnerven (Akustikusneurinom)
- Borreliose
Die häufigsten Tinnitusfälle treten jedoch ohne medizinisch erkennbare Ursache
auf (Feldmann, 2002).
6.3 SYMPTOMATIK / KLINIK
Das scheinbar wahrgenommene Geräusch beim Tinnitus kann sich äußerst
vielfältig darstellen. Man fasst unter anderen folgende akustische Eindrücke unter
dem Begriff Tinnitus zusammen:
ein oder mehrere Brumm- oder Pfeifftöne
Zischen
Rauschen
Donnern
Zwitschern
Stimmengewirr
50
Man unterscheidet zwischen Tinnitus aurius, der einseitig gehört wir und Tinnitus
aurium der beidseitig gehört wird. In 70 – 90 % von Hörsturzfällen kann er
begleitend auftreten oder dem Hörsturz vorausgehen (Biesinger, 2005).
Klassifikation
In den AWMF HNO-Leitlinien erfolgt eine Einteilung des Tinnitus nach dem
Entstehungsmechanismus, dem Ort der Verursachung, dem Zeitverlauf und der
Auswirkungen der Ohrgeräusche (AWMF HNO-Leitlinien, 1998).
Eine Klassifikation ist sinnvoll, wenn sie Einfluss auf Diagnostik und Therapie hat.
Die AWMF HNO-Leitlinien bedienen sich daher folgender Einteilung:
Entstehungsmechanismus: objektiv vs. Subjektiv
objektiv: Es existiert eine körpereigene physikalische Schallquelle in der
Nähe des Ohres, deren Schallaussendungen gehört werden.
(z. B.: gefäß- oder muskelbedingte Schallgeräusche)
subjektiv: Es liegt eine fehlerhafte Informationsbildung im auditorischen
System ohne Einwirkung eines akustischen Reizes vor.
Ort der Entstehung: äußeres Ohr – Mittelohr – Innenohr – Hörnerv -
zentrales auditorisches System
Zeitverlauf: akut – subakut – chronisch
- akut: besteht weniger als 3 Monate
- subakut: besteht zwischen 3 Monaten und 1 Jahr
- chronisch: besteht länger als 1 Jahr
51
sekundäre Symptomatik: kompensiert – dekompensiert
- kompensiert: Der Patient registriert das Ohrgeräusch, kann jedoch so damit
umgehen, dass zusätzliche Symptome nicht auftreten. Es
besteht kein oder nur geringer Leidensdruck. Die
Lebensqualität ist nicht wesentlich beeinträchtigt.
- dekompensiert: Das Ohrgeräusch hat massive Auswirkungen auf sämtliche
Lebensbereiche und führt zur Entwicklung einer
Sekundärsymptomatik (Angstzustände, Schlafstörungen,
Konzentrationsstörungen, Depressionen). Es besteht hoher
Leidensdruck. Die Lebensqualität ist wesentlich beeinträchtigt.
Weiterhin erfolgt eine Einteilung in Schweregrade, die die Auswirkungen der
Ohrgeräusche auf den privaten und beruflichen Alltag berücksichtigen und unter
anderem für die Auswahl der erforderlichen Therapieform hilfreich sein können
(AWMF HNO-Leitlinien, 1998).
Grad 1: kompensiertes Ohrgeräusch, kein Leidensdruck
Grad 2: Der Tinnitus tritt hauptsächlich in Stille in Erscheinung und wirkt
stören bei Stress und psychisch-physischen Belastungen.
Grad 3: Der Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung, im privaten
und beruflichen Bereich. Es treten Störungen im emotionalen,
kognitiven und körperlichen Bereich auf.
Grad 4: Der Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten Bereich.
(AWMF Leitlinien Tinnitus, 1998)
52
6.4 THERAPIEN DES TINNITUS
Zur Behandlung des Tinnitus sind verschiedene Methoden bekannt, bisher konnte
jedoch für keine Therapie wissenschaftlich eine Wirksamkeit nachgewiesen
werden. Da über die Verarbeitung von Höreindrücken wenig bekannt ist, kann
keine der Therapien in der Theorie maßgeblich gestützt oder widerlegt werden
(Howard, 2001).
Konventionelle Medizin
Die häufigste Behandlungsmethode des Tinnitus ist die medikamentöse
Behandlung des Tinnitus mit Vitamin-E-Präparaten, Magnesium, Glukokortikoiden
(z.B. Kortison), Lokalanästhetika (z.B. Procain), durchblutungsfördernde Mittel
(z.B. Pentoxifyllin, HES) oder pflanzliche Präparate wie Gingko. Abhängig von der
Ausprägung und der vermuteten Ursache des Tinnitus kann eine orale oder
intravenöse Therapie durchgeführt werden. Bislang gibt es jedoch keine qualitativ
hochwertige Vergleichsstudien, welche die Überlegenheit eines Medikamentes
gegenüber einem Placebo erzielt (Lockwood et al., 2002).
Auch der Einsatz von Substanzen, die in den Neurotransmitter-Haushalt eingreifen
(z.B. Caroverin, Flupiritin, Glutaminsäure, Glutaminsäurediethylester und
Memantin) wird von den Wissenschaftlern in Frage gestellt (Domeisen et al., 1998,
Salembier et al., 2006, McIlwain 1987, Figueiredo et al., 1987).
Durch hohe Dosen des lokalen Anästhetikums Lidocain konnte bei intravenöser
Anwendung eine signifikante Therapieüberlegenheit gegenüber Placebo erreicht
werden. Die Wirkung hielt jedoch nur kurz an und war von einer hohen Rate an
Nebenwirkungen geprägt (Martin and Colman, 1980).
Auch eine operative Durchtrennung des Hörnervens, welche als Therapieoption
bei schwerem chronischem Tinnitus durchgeführt wurde, ist aufgrund der
niedrigen Erfolgswahrscheinlichkeit heute obsolet (Baguley et al., 2005).
Neben den oben genannten Therapieoptionen konnten auch durch
Therapieansätze wie der Tinnitus-Retraining-Therapie und der Einsatz von
53
Antidepressiva keine signifikante Verbesserung des Tinnitus im Vergleich zum
Placebo erreicht werden (Kröner-Herwig et al., 2000, Zachriat and Kröner-Herwig
2004, Baldo et al., 2006).
Alternative Behandlungsmethoden
Die Möglichkeiten an alternativen Behandlungsmethoden sind vielfältig aber
umstritten. Durch Stellatum-Blockade kommt es zur Erweiterung der Blutgefäße im
Kopf- und Halsbereich. Bei der hyperbaren Sauerstofftherapie konnte
nachgewiesen werden, dass Patienten mit einer positiven Einstellung zur
hyperbaren Sauerstofftherapie eine deutliche Verbesserung des Tinnitus erhalten,
als Patienten mit neutraler oder negativer Einstellung (Bennett et al., 2007,
Stiegler et al. ,2006). Hierbei wird der Sauerstoffpartialdruck im Innenohr um bis
zu 500% gegenüber normobarer Luftatmung gesteigert. Die starke antiödematöse
Wirkung und die Verhinderung von Reperfusionsschäden sind die wesentlichen
Gesichtspunkte der therapeutischen Anwendung.
Bei der Hypnotherapie wird eine Unterdrückung des störenden Reizes durch
Suggestion angestrebt. Ziel der Therapie ist eine Habituation (Ross et al. ,2007).
Entspannungsübungen wie autogenes Training oder progressive
Muskelentspannung können die Chance auf Linderung eventuell ebenfalls
verbessern. Auch hier fehlen bislang eindeutige Daten aus qualitativ hochwertigen
Studien (Martinez et al., 2007).
Auch Gingko, welches in mehreren Testreihen intensiv untersucht wurde, erzielt
bei chronischen Tinnituspatienten keine bessere Wirkung als Placebo. Die
Wirkung auf akute Ohrgeräusche durch eine Gingko-Therapie konnte ebenfalls in
Studien nicht bewiesen werden (Burschka et al., 2001).
Im Rahmen der Neuraltherapie wird eine Behandlung der Störfelder versucht. Dies
wird über Procain- und Lidocain-Einspritzung in sogenannte „Triggerzonen“
erreicht. Auch für diese Therapieform konnte bisher jedoch keine langfristige in
Wirkung in wissenschaftlichen Studien belegt werden (Sauer, 1990).
54
Bei der Kieferkorrektions-Therapie geht man von einer craniomandibulären
Dysfunktion (CMD) als Ursache für einen Tinnitus aus. Die Kieferkorrektur wird mit
Hilfe einer Distraktionsschiene und einem beidseitigem dorsalem Hypomochlion
durchgeführt (Linsen et al., 2006). Für diese Therapieoptionen gibt es jedoch
weder qualitativ ausreichende Studien, welche einen kausalen Zusammenhang
zwischen CMD und Tinnitus belegen, noch Studien die eine Wirksamkeit der
Therapie belegen.
Die Unwirksamkeit der Softlasertherapie, bei der das Ohr mit einem Laser
bestrahlt wird, wurde durch zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien belegt
(Plewka et al., 2004, Nakashima et al., 2002, Mirz et al., 1999).
Allgemeine Regeln zum Umgang mit Tinnitus
Patienten, die an einem Tinnitus leiden sollten möglichst Stress vermeiden und
sich keiner zu starken akustischen Belastung aussetzen. Damit man sich nicht zu
stark auf das Ohrgeräusch konzentriert, sollte man akustische Ablenkung in Form
von zum Beispiel leiser rhythmischer Musik nutzen. Hierdurch können besonders
gut Einschlafstörungen, welche häufig mit starkem Tinnitus vergesellschaftet sind
behandelt werden. Der Leidensdruck wächst je mehr sich das gesamte Denken
und Fühlen des Patienten um die Krankheit dreht. Durch absolute Stille kommt es
meist zu einem vermehrter Konzentration auf das Ohrgeräusch und damit zu einer
subjektiven Verstärkung (Kellerhals und Zogg, 2004).
Psychologische Hilfen und Selbsthilfegruppen können den Patienten unterstützen
mit sich an das Ohrgeräusch zu gewöhnen (siehe Tinnitus-Retraining-Therapie
und kognitive Verhaltenstherapie Zachriat und Kröner-Herwig, 2004).
Die kognitive Verhaltenstherapie kann laut einer systemischen
Studienbegutachtung aus dem Jahr 2007 bei Patienten, die erheblich an einem
Tinnitus leiden, die Lebensqualität signifikant verbessern. Die Behandlung scheint
jedoch keinen Einfluss auf die Lautstärke des Ohrgeräusches oder mit ihm
verbundene Depressionen zu haben (Martinez Devesa et al, 2007).
55
Eine ernährungswissenschaftliche Grundlage für die These, dass das Vermeiden
von koffeinhaltigen Getränken zu einer Besserung des Tinnitus führt, gibt es nicht
(Claire et al., 2010).
56
7. THERAPIE ENTZÜNDLICHER ERKRANKUNGEN MIT CORTISON
Die Entdeckung des Cortisons, seine Wirkung und Nebenwirkungen, sowie die
synthetische Herstellung und therapeutische Anwendung reicht bis zum Beginn
des 20. Jahrhunderts zurück (Eckart, 2009).
Die entscheidende Weichenstellung erfolgte aufgrund der Forschungen Biedls im
Jahre 1905: lebenswichtiger Teil der Nebenniere ist die Rinde; die Physiologie der
Nebenniere musste aus ihrer Chemie erklärt werden. Es dauerte jedoch noch fast
20 Jahre, bis es zum ersten Mal gelang therapeutisch wirksame Substanzen aus
der Nebennierenrinde zu gewinnen (Gerabek, 2004).
Wiederum fast gleichzeitig in mehreren Laboratorien gelang es ab Oktober 1927,
verbesserte Extrakte aus der Rinde von Nebennieren herzustellen: “Interrenalin“
(Stewart und Rogoff, Harvey Cushing Laboratory der Western Reserve
University); „Cortin“ (Hartman und Mitarbeiter, University of Buffalo); „Eschatin“
(Swingle und Pfiffner, Princeton University, Cold Springs Harbor) (Schott 1996).
Das „Cortin“ von Frank A: Hartman (1883-1971) und Mitarbeiter war nahezu
adrenalinfrei. „Cortin“ bildete deshalb bis in die 40er Jahre hinein den Begriff für
die Wirksubstanz der Nebennierenrinde schlechthin, die als lebensnotwendig
(„essential to life“) galt. Injektionen dieses Extraktes führten zu einer
Lebensverlängerung nebennierenloser Tiere (Kaiser und Klinkenberg, 1988).
Die weitere Entwicklung und der große Schritt zur therapeutischen Anwendung
wurden maßgeblich durch die Mayo-Klinik in Rochester, Minnesota mitbestimmt.
Seit ihrer Einrichtung im Jahre 1914 wurde die Biochemische Abteilung der Mayo-
Klinik in Rochester, Minnesota von Edward C. Kendall (1886-1972) geleitet.
Kendall war 1914 als erstem die Reindarstellung und Kristallisation von des
Schilddrüsenhormons Thyroxin gelungen. Jedoch blieben die jahrelangen
Versuche, die chemische Struktur des Thyroxins aufzuklären, vergeblich. Die neue
Aufgabe, die Kendall sich und seinen Mitarbeitern stellte, lautet: die Wirksubstanz
Cortin zu isolieren, chemisch zu definieren und dann nach Möglichkeiten einer teil-
oder sogar vollsynthetischen Herstellung zu suchen (Kendall, 1919).
57
Es waren jedoch nicht nur Kendall et al., welche die Erforschung der
Nebennierenrindensubstanzen vorantrieben. Bis 1946 konnten 29 verschiedene
Steroide aus tierischen Nebennierenrinden isoliert und chemisch definiert werden.
Von der Isolierung dieser Stoffe, bis zu Ihrer Wirkung war jedoch noch ein weiter
Weg (Kaiser und Klinkenberg, 1988).
Das erste Steroid, welches mit dem heutigen therapeutisch eingesetzten Cortison
vergleichbar ist, war das „compound E“, wie es von der Arbeitsgruppe von Kendall
genannt wurde. Das „compound E“ wurde auch 17-Hydroy-11-
dehydrocorticosteron oder Cortisone genannt (Carlisle, 1950).
Von den in den 30er Jahren isolierten Steroiden erwiesen sich nur sechs als
wirkungsvoll. „Wirkungsvoll“ hieß beim damaligen Stand der Dinge, dass sie mehr
oder weniger über eine dem Cortin ähnliche Wirkung verfügten und zumindest
experimentell einige der Erscheinungen der Niereninsuffizienz beheben konnten
(Eckart, 2009).
Wesentliche Beiträge für das Verständnis der physiologischen Rolle der
Nebennierenhormone im Organismus beruhten auf der Arbeit Hans Selyes (1907-
1982). Die Nebennierenrinde war demnach nur ein Teil der sogenannten
Hypophysen-Nebennieren-Achse unter Steuerung des Adrenocorticotropen
Hormons (ACTH). Die historische Bedeutung Selyes für die
Forschungsgeschichte, die schließlich zum Cortison führen sollte, lag in dem
Hinweis auf dieses Regelkreissystem als zentralem, für das innere Gleichgewicht
des Organismus verantwortlichem Organsystem (Selye, 1987).
Die ersten therapeutischen Einsätze und Erfolge sind am besten an der
Geschichte der „Mrs. G“ dokumentiert. Am 21. September 1948 wurde compound
E zum ersten Mal einer Patientin mit rheumatoider Arthritis injiziert und zwar in
den Gesäßmuskel 2mal 50mg täglich. Die Patientin, deren Gelenke teils
geschwollen, steif oder nur unter Schmerzen beweglich waren, konnte sich bereits
nach zwei Tagen mit Leichtigkeit in ihrem Bett bewegen. Am 25. September
konnte sie ihre Hand wieder über den Kopf heben. Sie fühlte sich gestärkt und
entwickelte kräftigen Appetit. Nach sechs Tagen war sämtliche Steifheit
verschwunden, die Schmerzhaftigkeit der Gelenke deutlich verringert. Am 28.
September ging sie für drei Stunden in der Stadt einkaufen. Die Patientin empfand
58
gewisse Euphorie: In ihrem ganzen Leben habe sie sich nicht besser gefühlt. Im
Anschluss an diesen Therapieerfolg kam es zu einem breiten Einsatz des
Cortisons bei verschiedenen Erkrankungen (Kaiser et al., 2010).
Der wesentliche Erfolg des Cortisons lag in seiner starken und prompten Wirkung
(„Beneficial Effect Often Dramatic“) und in seinem außerordentlich breiten
Anwendungsspektrum. Mit Cortison ließen sich entzündliche Augenkrankheiten
bekämpfen. Rheumatiker konnten sich wieder beschwerdefrei bewegen.
Hautkrankheiten wurde „behoben“ und die Todesgefahr bösartiger Krankheiten
abgewendet. Bei einigen der damaligen Indikationen gelten die Kortikosteroide
heute nicht mehr (Bechterewsche Krankheit, chronische Gelenkentzündungen bei
Schuppenflechte) oder nicht mehr allein als Mittel der ersten Wahl (geschwürige
Dickdarmentzündungen, akute Leukämie usw.) (Kaiser und Kley, 2002).
Andrerseits sind aber auch Krankheiten, für die Carlisle noch eine
Kortisontherapie ablehnte, wieder in Betracht gezogen worden, z.B. Myasthenia
gravis, die progressive Muskeldystrophie und die Multiple Sklerose, bei der die
Steroide überhaupt die meistdiskutierte Therapie dieser Erkrankung gewesen sind
(Gehlen und Delank, 2010).
Mit Carlisle fand sich der erste kritische Ansatz im breiten Einsatz des Cortisons,
im Hinblick auf Neben- und Folgewirkungen, die die damals noch unselektionierte
Steroidtherapie mit sich brachte. Carlisle forderte spezielle Vorsichtsmaßnahmen,
um unerwünschte Wirkungen der Therapie zu vermeiden: 1. die vorherige
Abklärung relativer Kontraindikationen, wie z.B. Neigung zu Psychosen oder
Diabetes mellitus; 2. eine kochsalzarme Diät; 3. Überwachung und gegebenenfalls
Korrektur einer Hypokaliämie; 4. ständige Kontrolle des Blutzuckers; 5.
aufmerksame Beobachtung hinsichtlich auftretender psychischer Störungen sowie
6. eine strenge Überwachung des Patienten nach Absetzen der Cortisontherapie
(Carlisle, 1950).
Die „Entdeckung“ des Cortisons ist nicht eine geradlinige Einzelleistung genialer
Forscher. Sie ist das Ergebnis einer langwierigen Forschungsgeschichte, in der
zweifellos auch Zufälle eine Rolle spielen. Stärker als durch solche Zufälle wurde
diese Forschungsgeschichte aber durch umfassendere Entwicklungen in Medizin
und Gesellschaft bestimmt und geprägt (Gerabek et al., 2004).
59
Nach anfänglicher Euphorie der Cortisonwirkung mehrte sich im Laufe der Zeit die
Anzahl der Kritiker. Man sprach von einem sogenannten „Cortisonpendel“,
welches zunehmend umschwang (Auer-Gumbach, 1998).
War nun Cortison wirklich das Wundermittel gegen den entzündlichen
Rheumatismus?
Schon Philip Hench musste nach den ersten Behandlungen feststellen, dass eine
Heilung der chronischen Polyarthritis nicht erreichbar ist; unmittelbar nach
Beendigung der Therapie kam es zum Wiederauftreten aller Symptome der
Krankheit. Das bedeutet, dass Cortison nur ein Symptomatikum ist, das die
Erscheinungen der Krankheit unterdrückt, solange man es verabreicht. Eine
langfristige Anwendung des neuen Hormons führte aber zu unerwünschten
Wirkungen (Kaiser und Kley, 2002).
Es kann deshalb nicht verwundern, wenn sich nach dieser Explosion der
Indikationen eine Explosion der Nebenwirkungen ergab. 10 Jahre nach Einführung
des Cortisons sprach man weniger von positiven Wirkungen als vielmehr von den
verheerenden Folgen dieser Therapie (Auer-Gumbach, 1998).
Da Wissenschaftler und Kliniker dennoch vom hohen therapeutischen Wert des
Cortisons überzeugt waren, musste versucht werden, ein vernünftiges Verhältnis
zwischen erwünschten und unerwünschten Wirkungen zu erreichen.
Dazu wurden drei Wege beschritten:
Strengere Indikationsstellung
Suche nach geeigneteren Anwendungsformen
Entwicklung von Abwandlungen des Cortisons, die bei erhaltener erwünschter
Wirkung zu weniger unerwünschten Effekten führen.
(Kaiser und Klinkenberg,1988)
Philip Hench hatte bereits in seiner ersten Publikation 1949 darauf hingewiesen,
dass die (damals nur kurzfristige) Anwendung von Cortison bei Patienten mit
chronischer Polyarthritis zu Magenbeschwerden, vorübergehenden
Wasseransammlungen, Gesichtsbehaarung bei Frauen und
60
Menstruationsstörungen. Der ständige Hormonüberschuss im Organismus führt
zwangsläufig zu dem klinischen Bild der Nebennierenrinden-Überfunktion, wie es
Cushing beschrieben hat. Man spricht von iatrogenem Cushing oder besser von
exogenem Hyperkortizismus. Dazu gehören neben dem typischen äußeren Bild
mit Vollmondgesicht, Stammfettsucht, Büffelnacken, Muskelschwäche sowie
Hautveränderungen wie Akne, Dehnungssteifen und Blutungen auch
Stoffwechselstörungen im Zucker-, Fett-, Eiweiß- und Elektrolythaushalt. Weiter
muss mit Osteoporose, Erschwerung der Wundheilung und bei Kindern mit
Wachstumsstörungen gerechnet werden (Kaiser, 2003).
Schließlich gibt es noch eine dritte Gruppe von unerwünschten Wirkungen, die
sich aus dem Wirkungsmechanismus der Kortikoide ableiten, d.h. unerwünschte
Auswirkungen der gewünschten Gewebswirkung. Hierzu gehören in erster Linie
Behinderung der Infektionsabwehr, Verhinderung der Abheilung eines
Magengeschwürs und damit Förderung von Komplikationen, erhöhtes
Arterioskleroserisiko und Entwicklung von lokalisierten Fettablagerungen (Kaiser
und Kley, 2002).
Die unerwünschten Wirkungen konnten erst nach breiter Anwendung des
Cortisons an klinischen Beispielen dokumentierte werden, da die Wirkung des
Cortisons auf die einzelnen Organsysteme nicht erforscht worden war.
Die Aufklärung des Wirkmechanismus hinkt der therapeutischen Anwendung
hinterher und ist auch heute trotz einer nicht mehr überschaubaren Menge von
Einzeluntersuchungen noch nicht völlig abgeschlossen (Stryer et al., 2003).
Auf welchen Molekularbiologischen Mechanismen beruht die Wirkung des
Cortisons im Einzelnen?
Schon 1944 erkannte man, dass die Nebennierenrinden-Wirkstoffe zur
Rückbildung der Lymphozyten führen.
Anfang der 50er Jahre war bewiesen, dass die verschiedenen
Stoffwechselwirkungen der Glukokortikoide durch eine Beeinflussung der Aktivität
verschiedener Enzyme (speziell Tyrosinaminotransferase und
Tryptophanoxygenase) zustande kommt. Mitte der 60er Jahre ergab sich ein
großer Fortschritt, als erkannte wurde, dass die Kortikoid-induzierte Blockade der
61
Eiweiß- und Ribonukleinsäure-Synthese Folge einer Hemmung der
Enzyminduktion ist. 1970 wurden die strukturellen Voraussetzungen für die
Enzyminduktion geklärt: Steroide beeinflussen unmittelbar die Enzyme (Kaiser
und Klinkenberg, 1988).
Kortikoide beeinflussen die Entzündung auf verschiedenem Wege, wobei der
Mechanismus noch nicht in allen Punkten geklärt ist. Am Ort der Entzündung
haben sie einen Einfluss auf verschiedene Blutzellen (Granulozyten und
mononukleäre Phagozyten) (Dargel, 1995).
Die immunsuppressive Wirkung der Kortikoide beruht in erster Linie auf dem
Einfluss auf die Lymphozyten, wobei die durch T-Lymphozyten vermittelten
zellgebundenen Reaktionen stärker beeinflusst werden, als die von B-
Lymphozyten abhängigen humoralen Reaktionen (Abbas et al., 1997).
Auch heute noch ist die Wirkungsweise des Cortisons im Einzelnen nicht
vollständig erklärt. Durch die Anwendung und Verlaufsbeobachtung in den letzten
fast 100 Jahren und die Weiterentwicklung anderer therapeutischen Maßnahmen,
kann das Cortison jedoch gezielt und weitestgehend unter Vermeidung von
unerwünschten Wirkungen eingesetzt werden (Löffler et al., 2006).
Cortison ist heute bei kontrolliertem und gezieltem Einsatz in der Therapie von
chronischen Lungenerkrankungen, rheumatischen Erkrankungen,
dermatologischer Erkrankungen, chronisch entzündlicher Darmerkrankungen und
noch vielen anderen Erkrankungen von essentieller Bedeutung.
62
8. STRAHLENTHERAPIE DER ENTZÜNDLICHEN ERKRANKUNGEN
Wirkungsweise der Strahlentherapie gutartiger Erkrankungen
Die zugrundeliegenden biologischen Mechanismen der Wirkungsweise der
Strahlentherapie sind noch weitgehend unbekannt. Trotz eindrucksvoller und
belegter klinischer Ergebnisse der Wirkungsweise von Strahlentherapie bei
entzündlich-degenerativen Prozessen bedarf es molekular-biologischer Forschung
zur Aufklärung.
Die bisher gewonnen Erkenntnisse vermitteln ein sehr komplexes Zusammenspiel
von verschiedenen Faktoren.
Die antiproliferative Beeinflussung hypertrophischer Prozesse auf der einen Seit
und die antientzündliche Wirkung auf akute oder chronische
Entzündungsprozesse auf der anderen Seite, werden als die zwei wesentlichen
Effekte angesehen (Seegenschmiedt et al., 2007).
Die antientzündliche Wirkung im Bereich niedriger Strahlendosen konnten erst in
den letzten 20 Jahren durch experimentelle Forschung belegt werden.
Die Wirkung einer niedrig dosierten Radiotherapie auf artifiziell induzierten
Gelenkentzündungen ist in mehreren Tierversuchsserien nachgewiesen worden.
Hierdurch konnte ein antientzündlicher Effekt auf die Gelenksveränderungen
durch ionisierende Strahlen nachgewiesen werden. Im Bereich der Synovia konnte
eine deutliche Reduktion der entzündlich bedingten Zellproliferation, sowie eine
geringe Bildung von Synovialflüssigkeit erreicht werden. Weiterhin kam es zu einer
deutlich geringeren Gelenkschwellung und einer damit verbundenen Reduktion
des Gelenkdurchmessers. Die antiinflammatorische Wirkung der Strahlentherapie
konnte jedoch nur bei Gesamtdosen zwischen 4,0 und 7,5 Gy beobachtet werden
(Schneider et al., 2001; Budras et al., 1999; Fischer et al., 1994; Steffen et al.,
1982; Trott et al., 1995).
Die Strahlentherapie maligner Erkrankung mit ionisierender Strahlung
unterscheidet sich durch die Wirkmechanismen, die Gesamtdosis (GD) und die
63
Fraktionierung deutlich von der Strahlentherapie gutartiger Erkrankungen. Die
Gesamtdosis (GD) bei einer Strahlentherapie einer gutartigen Erkrankung liegt um
ca. eine Zehnerpotenz niedriger (Herrmann, 2006; Budra, 1986).
Ionisierende Strahlungen mit geringer Dosis haben grundsätzlich verschiedene
Wirkung:
eine Beeinflussung von Entzündungsvorgängen
eine Beeinflussung des Schmerzes
eine Beeinflussung des vegetativen Nervensystems
Seit langer Zeit werden in der Literatur verschiedene Theorien diskutiert, welche
die Wirkungsweise der Radiatio bei gutartigen Erkrankungen in einer Schmerz-
und Entzündungsbestrahlung sehen (Hornykiewytsch, 1952; Reichel, 1949;
Reichel, 1961; Scherer, 1996; Heilmann, 1974).
Bei einer degenerativen Gelenkveränderung ist die akute Entzündung die
Hauptursache der Schmerzen. Die akute Entzündung im Gelenk ist durch eine
Änderung der physikalische-chemischen Eigenschaften der Gewebsflüssigkeit,
eine lokale Azidose, die Änderung des osmotischen Zustandes, durch die
Änderung des osmotischen Zustandes und zu guter Letzt durch Veränderung der
elektrischen Ladung und der Oberflächenspannung der Zellgrenzen mit der
Auflockerung des Zellverbandes gekennzeichnet. Zur Entstehung des
sogenannten Entzündungsschmerzes tragen die Azidose und die osmotische
Hypertonie bei (Reichel, 1949).
Historische Theorien:
Im Wesentlichen liegen drei Theorien zur Wirkungsweise der Radiatio vor.
Zellulär - fermentative Theorie nach Pordes, modifiziert nach Holzknecht und
Holthusen
64
Diese Theorie besagt, dass Exsudatzellen vorwiegend die strahlensensiblen
Lymphozyten durch kleine Dosen von Röntgenstrahlung zerstört werden.
Durch ihren Zerfall werden proteolytische Enzyme freigesetzt, die örtlich und
systemisch wirken. Sie führen zu einer Verringerung der Schmerz- und
Entzündungssymptomatik. Welchen Einfluss die Theorie wirklich bei der Wirkung
der Strahlentherapie bei gutartigen Erkrankungen hat, ist noch nicht abschließend
geklärt. Da bei einer Arthrose keine größeren entzündlichen Infiltrate auffindbar
sind, in denen dieser Mechanismus ablaufen könnte, wird ihre Wirkung als eher
gering (Reichel, 1961).
Neuroregulatorische Theorie nach Pape
Nach dieser Theorie dient das Terminalretikulum des Gefäßnervensystems, der
Grenzstrang des Sympathikus und das neuroendokrine System als Angriffspunkt
der Bestrahlungstherapie.
Man nimmt hierbei an, dass es zu einer Freisetzung der sogenannten H-Substanz
kommt. Diese stellt wahrscheinlich eine Acetylcholin dar, welches durch den
direkten Strahlenreiz aus Lecithin bzw. Cholin und Essigsäure durch eine
gewebseigene Esterase entsteht. Durch das gebildete Acetylcholin kommt es an
der Synapse zu einer Änderung der Erregbarkeit (Reichel, 1961).
Elektrochemische Theorie nach Lange
In dieser Theorie vermutet man eine durch kleine Röntgenstrahlen ausgelöste
Verschiebung der H-OH Ionenkonzentration. Infolge der Bestrahlung kommt es zu
einer zweiphasigen Reaktion. Die Sofortreaktion beinhaltet eine Verstärkung der
entzündlichen Azidose als unmittelbare Ursache der Bestrahlung. Diese erklärt die
zunächst deutliche Verstärkung der Schmerzen bei Beginn einer Strahlentherapie.
Die gewünschte Schmerzreduktion tritt nach sechs bis acht Stunden ein. Es
kommt zu einer allmählich einsetzenden Alkalose. Diese kann über Tage
anhaltenden und ist teilweise noch nach acht bis sechzehn Tagen nachweisbar.
Durch die Wiederholung der Bestrahlung in mehrtägigen Abständen über zwei
65
oder mehr Wochen führt zu einem Anhalten der Alkalose. Diese wirkt der
Entzündungsazidose entgegen und führt so zu einer anhaltenden
Schmerzreduktion. Durch diesen Mechanismus wird das durch den
Entzündungsreiz gestörte Donnan´sche Elektrolytgleichgewicht wieder hergestellt.
Es wirkt sich weiterhin normalisierend auf die Zellpermeabiliät und die osmotischer
Hypertonie aus (Herrmann et al., 2006).
Für die Auslösung dieses Vorganges ist bei einer einzeitigen Bestrahlung ein
Schwellenwert zwischen 20 und 30 R (0,2 und 0,3 Gy) ermittelt worden (Heilmann,
1974). Dies ist von Reichel (1970) durch experimentelle Untersuchungenam
Meerschweinchen ermittelt werden. (Heilmann, 1974).
Die grundlegenden Mechanismen für die Wirkung der Radiatio im Hinblick auf die
Schmerz- und Entzündungsbestrahlung sind die induzierten Veränderungen an
den neuralen Strukturen und die Ausbildung der Alkalose (Reichel, 1961).
Bei Dosen zwischen 2 und 6 Gy wird eine Hemmung der Entzündung beobachtet.
Zu funktionellen Effekten kommt es bei Dosen bis zu 2 Gy. Bei diesen geringen
Dosen kann bereits eine Veränderung in der zellulären Gen- und
Proteinexpression kommen. (Dörr et al., 2001; Trott et al., 1999).
Antiproliferativer Effekt
Der antiproliferative Effekt der Radiatio wird bei der Prävention von Restenosen
nach PTCA und Stentimplantation, bei der Ossifikationsprophylaxe und der
Therapie von Kelloiden ausgenutzt. Es kommt hierbei zu einer Hemmung von
Fibroblasten. Um diesen Effekt zu erreichen werden in der Regel Dosen um 10 Gy
benötigt (Dörr et al., 2001).
66
Neuere Theorien:
Zelluläre und immunologische Aspekte
Im Rahmen neuerer Theorien geht man von einer antientzündlichen
Strahlenwirkung aus. Nach Trott et al (1994) wird die positive Beeinflussung der
Bestrahlung einer Arthrose auf eine Enzyminduktion und Enzymaktivierung
zurückgeführt.
Eine strahleninduzierte Apoptose differenzierter Lymphozyten, welche zu einer
Immunsuppression führt, wird von Herbst et al. (1986) und Strober et al. (1983) als
Wirkursache postuliert.
Spezifischen Entzündungszellen wie Monozyten und Lymphozyten (PBMC) sind
durch ihre Migration maßgeblich am Entzündungsprozess beteiligt. Die ansonsten
frei im Blut treibenden PBMC heften sich an die Oberfläche der
Endothelzellschicht. Dieses Initialereignis wird als Adhäsion bezeichnet. Diese
Adhäsion wird sowohl zeitlich als auch örtlich exakt gesteuert und läuft nach
einem bestimmten Stufenschema ab. Es kommt zu einer zytokininduzierten
Expression von Selektinen, z.B. auf den Endothelzellen (E-Selektin). Das PBMC
geht anschließend eine lockere Bindung mit dem Endothel der Kapillarwand ein.
Durch diese lockere Bindung kommt es zu einer rollenden Bewegung der PBMC
entlang der Endothelzellschicht, wodurch eine genauere Erkundung der lokalen
Situation ermöglicht wird. Nach Aktivierung und zytokininduzierter Expression von
Oberflächenmolekülen der Ig-Superfamilie (z. B. ICAM-1/VCAM-1) bzw. eines
ihrer Liganden (z. B. Integrin LFA-1) kommt es zu einer festen Bindung der PBMC
an das Endothel (Dargel, 1995).
Dies ist die entscheidende Voraussetzung für eine nachfolgende Migration der
PBMC durch die Basalmembran in das Gewebe und an den Ort der Entzündung.
Zum Verständnis der Wirkung einer niedrig dosierten Bestrahlung eines
entzündlichen Prozesses ist die Expression von Adhäsionsmolekülen und die
Interaktion von PBMC an Endothelzellen in mehreren Studien untersucht worden
(Rodel et al., 2007).
Es konnte gezeigt werden, dass eine Bestrahlung auch im Niedrigdosisbereich
eine Veränderung der Expression insbesondere von Selektinen bewirken kann
67
(Gaugler et al., 1997; Hallahan et al., 1996; Hallahan et al., 1996).Im Bereich von
Einzeldosen zwischen 0,5 und 50 Gy konnte eine verstärkte Adhäsion und
Expression von Selektinen nachgewiesen werden. Hierdurch konnte auch
nachgewiesen werden, dass vor allem bei höheren Einzeldosen sogar eine
Entzündung ausgelöst werden kann (Hallahan et al., 1997; Panes et al., 1995). Im
Dosisbereich von 0,1 bis 10,0 Gy konnte eine Erlanger Arbeitsgruppe eine
diskontinuierliche Zunahme der Adhäsionsereignisse mit einem reproduzierbaren
Minimum zwischen 0,1 und 0,5 Gy (Abnahme bis auf 30%) im Vergleich zu einer
unbestrahlten Kontrollgruppe nachweisen (Kiefer, 1989).
Die Desensibilisierung von Schmerzrezeptoren durch eine Induktion der NO-
Synthase-Aktivität ist ein weiterer Bestrahlungseffekt. Diese Hypothese ist jedoch
experimentell noch nicht hinreichend belegt. Es gibt Hinweise am autonomen
Nervensystem auf einen Effekt niedriger Strahlendosen (Goldie et al., 1970;
Hildebrandt et a., 1998).
Es wird noch einige Jahre dauern wird, bis die oben skizzierte Wirkungskaskade
abschließend geklärt ist.
Zusammenfassend kann für den praktischen Gebrauch festgehalten werden, dass
Entzündungs- und Erholungsabläufe durch eine Bestrahlungstherapie auf einen
kürzeren Zeitraum zusammengedrängt werden. Dies gelingt durch eine
Steigerung der Durchblutung, die Freisetzung von Zytokinen und die Änderung
des Stoffwechselmilieus, sodass anstelle einer Azidose eine Alkalose vorliegt
(Hildebrandt et al., 1998).
68
9. FRAGESTELLUNG
Die Literaturdaten deuten auf eine klinisch vergleichbare Wirkung von Steroiden
und niedrig dosierter Bestrahlung mit ionisierenden Strahlen. Das Ziel der Arbeit
war die Prüfung anhand der retrospektiver Datenanalyse, ob nach der Bestrahlung
des entzündlich veränderten Innenohres mit manifestem Tinnitus mittels
fraktionierter niedrig dosierter perkutaner Bestrahlung, ein messbarer klinischer
Effekt beobachtet werden kann.
69
10. PATIENTENGUT UND METHODEN
10.1 PATIENTENGUT
Das retrospektiv untersuchte Patientengut bestand aus 61 Patienten, die zwischen
1.1.2003 und 31.12.2005 in der Klinik für Strahlentherapie und Radio-Onkologie
der Ruhr-Universität Bochum wegen chronischer entzündlicher Veränderungen mit
begleitendem Tinnitus in der Felsenbeinregion bestrahlt wurden.
Die Einschlusskriterien für die Aufnahme in die Auswertung waren:
Bestrahlung des Felsenbeines aufgrund entzündlicher Veränderungen der Ohren
Behandlung zwischen 1.1.2003 und 31.12.2005
Vollständige Dokumentation
Applizierte Strahlengesamtdosis nicht höher als 1,5 Gy
Die Ausschlusskriterien waren:
Weitere Erkrankungen am Ohr
Bewertung der Strahlenwirkung retrospektiv möglich
Den oben genannten Kriterien genügten 41 Patienten. Das Kollektiv umfasste 19
Frauen (46,3 %) und 22 Männer (53,7 %). 33 (80,5 %) Patienten waren
verheiratet, 4 (9,8 %) waren ledig, und 4 (9,8 %) waren verwitwet.
Das Alter zum Zeitpunkt der Erstdiagnose der entzündlichen Veränderung am Ohr
betrug im Durchschnitt (Mittelwert 46,6 Jahre; 17 – 66 Jahre). Die Analyse der
Altersverteilung zeigte die meisten Patienten zwischen 40 und 50 Jahren (n=20).
Das Alter des Kollektivs betrug zum Zeitpunkt der Vorstellung zur Strahlentherapie
durchschnittlich 53,2 Jahre (median 57 Jahre). Der jüngste Patient war zum
Zeitpunkt des Bestrahlungsbeginns 22 Jahre, der älteste 69 Jahre alt.
70
Die Verteilung des Alters zum Zeitpunkt der Bestrahlung war bimodal mit einer
kleinen Spitze zwischen 40 und 50 Jahren und einer weiteren stärker
ausgeprägten Spitze zwischen dem 60igsten und 70igsten Lebensjahr (Abbildung
6).
Abbildung 6: Verteilung des Alters zum Zeitpunkt des Bestrahlungsbeginns im
untersuchten Patientengut mit entzündlichen Veränderungen des Ohres
Das Intervall zwischen der Erstdiagnose und der Radiatio betrug in Monaten im
Durchschnitt 200,3 plus / minus 161,7 Monate (mw +- SD) (Abbildung 7). Das
kürzeste Intervall betrug 13,6 Monate, das längste 631,6 Monate (Tabelle 1).
71
Tabelle 1: Gruppiertes Zeitintervall zwischen Erstdiagnose und Radiatiobeginn in
Monaten in Patienten mit bestrahlten chronischen entzündlichen
Ohrveränderungen.
Zeitintervall zwischen Erstdiagnose
und Radiotherapie
Häufigkeit Prozent
0 - 24 Mon. 3 7,3
24 - 72 Mon. 9 22,0
72 - 120 Mon. 6 14,6
120 - 180 Mon. 4 9,8
180 - 240 Mon. 2 4,9
240 - 300 Mon. 6 14,6
300 -360 Mon. 5 12,2
360 - 420 Mon. 2 4,9
Gesamt 41 100,0
72
Abbildung 7: Gruppiertes Intervall zwischen Erstdiagnose und Radiatiobeginn in
Monaten in Patienten mit bestrahlten chronischen entzündlichen
Ohrveränderungen.
16 Patienten (39 %) waren deutscher Abstammung. Die übrigen Patienten hatten
ein Migrationshintergrund, die meisten davon waren Türken (n=18, 43,9 %). 3
Patienten waren polnischer, 2 italienischer Nationalität. In zwei Fällen war der
Migrationshintergrund vorhanden, jedoch ließ sich die Nationalität nicht
bestimmen.
Eine grobe Einteilung der Berufe der Patienten ergab 21 Arbeiter (51,2 %), 6
Hausfrauen (14,6 %), 5 Beamte (12,2 %), 4 Akademiker (9,8 %), 3 Arbeitslose
(7,3 %) und 2 Patienten mit sonstigen Berufen (4,9 %).
13 der behandelten Patienten hatten keine weiteren Erkrankungen (31,7 %). Bei
19,5 % der Patienten (n=8) waren mehrere Erkrankungen festzustellen. Bei den
übrigen Patienten wurden noch HNO-Erkrankungen, Herzerkrankungen,
Nierenerkrankungen, Diabetes mellitus, neurologische Erkrankungen und sonstige
Krankheiten angegeben. Die Angaben der Patienten zu eingenommener
Medikation während der Bestrahlung waren unterschiedlich. 22 Patienten (53,7 %)
nahmen mehrere Medikamente ein, ansonsten verteilten sich die verwendeten
73
Substanzen auf mehrere Medikamentengruppen. Eine genauere Zuordnung der
angewandten Substanzen und Wirkstoffe war nicht möglich.
32 (78 %) Patienten spürten die Beschwerden (Druck, Geräusche) in beiden
Ohren, 6 auf der linken Seiten (14,6 %), bei 7,3 % der bestrahlten Patienten (n=3)
waren die Beschwerden rechts lokalisiert.
Die Patienten wurden vor der Bestrahlung von 7 verschiedenen Ärztinnen und
Ärzten der Klinik untersucht und aufgeklärt (Tabelle 2).
Tabelle 2: Anzahl der Patienten vs aufklärende Ärzte
Arzt Häufigkeit Prozent
1 11 26,8
2 6 14,6
3 1 2,4
4 1 2,4
5 9 22,0
6 8 19,5
7 5 12,2
Gesamt 41 100,0
Die Begleitsymptome wurden von Patienten unterschiedlich definiert. Am
häufigsten (n=20, 48,8 %) wurde ein Pfeifton wahrgenommen. Das zweithäufigste
Symptom war Rauschen (n=11, 26,8 %). 12,2 % der behandelten Patienten hatten
zeitgleich mehrere Symptome, in 4 Fällen (4,8 %) war nur ein Zischen
wahrzunehmen und ein Patient konnte seine Beschwerden nicht näher definieren.
74
Alle Patienten wurden vor der Überweisung zur Strahlentherapie mehrere
Behandlungen, die sich nur passager erfolgreich zeigten. Der unmittelbare Grund
war der medizinisch nicht vertretbare Einsatz von Steroiden.
Alle Patienten erhielten eine Bestrahlung der Felsenbeinregion beidseits. Dabei
wurde von jeder Seite über ein jeweils 5° nach ventral und cranial gekipptes
Stehfeld eine Strahlendosis über ein 4x5 cm großes Strahleneintrittsfeld appliziert.
Der Referenzpunkt befand sich in der medianen Ebene des Körpers. Die
Einzeldosis im Referenzpunkt betrug 0,15 Gy. Insgesamt wurden 1,5 Gy in 10
Fraktionen appliziert. Die Bestrahlung erfolgte 3-5mal in der Woche, an den
Werktagen. Auf eine individuelle 3D-Bestrahlungsplanung wurde verzichtet. Im
Vorfeld wurde eine exemplarische Dosisverteilung errechnet. Es konnte eine
homogene Dosisverteilung erzielt werden (95-103%).
Während der Bestrahlung, die drei Wochen dauerte wurden die Patienten einmal
pro Woche vom behandelnden Arzt gesehen. Es wurde eine Anamnese erhoben
und eine klinische Untersuchung des Ohres durchgeführt (Inspektion und
Perkussion der Mastoidzellen)
Eine Unterbrechung der Therapie (< 3 Tage) wurde bei 33 Patienten festgestellt
(80,5 %), eine Unterbrechung länger als 3 Tage war bei 8 Patienten festzustellen
(19,5 %). In einem Falle wurde die Therapie vorzeitig abgebrochen (die Dosis
betrug 0,75 Gy), es erfolgte auf Wunsch des Patienten.
Die Bestrahlung dauerte durchschnittlich 21,6 Tage +/- 2,1 Tag. Der
Schwankungsbereich betrug 14 – 31 Tage. Die Verteilung des Intervalls
Erstdiagnose – Radiatiobeginn war bimodal. Die erste große Spitze war zwischen
dem 24. und 72. Monat zu finden, die 2. zwischen 240 und 300 Monaten.
75
10.2 STATISTISCHE AUSWERTUNG
Pro Patient konnten mehrere Variabeln bestimmt werden:
Name
Vorname
Geburtsdatum
Geschlecht
Alter
Datum der Diagnosestellung
Datum der ersten Bestrahlung
Art der Beschwerden
Lokalisation der Beschwerden im Ohr
Anamnestisch bekannte therapeutische Maßnahmen vor Beginn der
Radiotherapie
Datum der ersten Bestrahlung
Einzeldosis
Gesamtdosis
Länge und Höhe des Zielvolumens
Bestrahlungstechnik
Unterbrechung der Radiotherapie durch Bestrahlungspausen
Datum des Endes der Bestrahlungstherapie
Datum des Kontrolltermins der Endvariablen
Nationalität
76
Beruf
Sozialer Status
Als Endvariable (abhängige Variable) wurde das Ansprechen auf die
Radiotherapie festgelegt. Die Ausprägungsstufen dieser Variable waren „nein“
oder „ja“. Sie beruhten auf den Akteneinträgen in der Klinik für Strahlentherapie
sowie beim behandelnden HNO-Arzt. Betrachtet wurde die subjektive
Wahrnehmung einer andauernden Reduktion der Beschwerden (Druck und
Tinnitus) umfasste. Eine intermittierende oder passagere Rückbildung der
Beschwerden wurde als Versagen der Therapie gewertet.
Nach Erhebung der Daten wurde eine Tabelle angelegt, wofür das Programm
Excel von Microsoft verwendet wurde. Alle Variablen wurden in dieser Tabelle
erfasst und numerisch kodiert, so dass anschließend eine Auswertung mit dem
Programm SPSS, Version 17 durchgeführt werden konnte. Im Rahmen dieser
Auswertung kamen diverse statistische Tests zur Anwendung, im Detail waren
dies: klassische deskriptive Verfahren, Chi-Quadrat-Test, um die Verteilung der
Variablen zu analysieren sowie univariate und multivariarte logistische
Regression, um die prognostische Relevanz der unabhängigen Variablen zu
bestimmen.
77
11. ERGEBNISSE
11.1 ANSPRECHEN AUF DIE THERAPIE
Unmittelbar nach der Therapie berichteten 25 Patienten (61 %) über wechselnde
Symptomatik oder über keine spürbare Wirkung (Abbildung 8). Mehrere hatten
intermittierende Phasen der Besserung und gaben subjektiv eine Besserung an.
Allerdings konstante Besserung, die als Kriterium für das Ansprechen definiert
wurde, konnte nur bei 14 Patienten (34,1 %) festgestellt werden. In 2 Fällen war
unmittelbar nach der Therapie eine leichte Verschlechterung festzustellen (4,9 %).
Abbildung 8: Ansprechen der Patienten auf eine perkutane low dose
Strahlentherapie unmittelbar nach Beendigung der Bestrahlung
6 Wochen nach Ende der Therapie berichteten 15 Patienten (36,6 %) über eine
kontinuierliche Besserung, bei 63,4 % der Patienten konnte dagegen keine
78
Wirkung festgestellt werden (n=26) (Abbildung 9).
Abbildung 9: Ansprechen der Patienten auf eine perkutane low dose Bestrahlung
6 Wochen nach Beendigung der Bestrahlung
Bei einem Anteil der Patienten (n=26, 63,4 %) konnte auf eine Befunderhebung
zwischen der 12. und 18. Woche zurückgegriffen werden. Dabei berichteten 14
Patienten über eine Besserung (53,8%), die restlichen über fehlende Wirkung der
Bestrahlung.
79
Abbildung 10: Ansprechen der Patienten auf eine perkutane low dose
Bestrahlung am Ende sowie 6 und 10 Wochen nach Beendigung der
Strahlentherapie
11.2 ANSPRECHEN IN ABHÄNGIGKEIT VON VERSCHIEDENEN FAKTOREN
Die genaue Betrachtung des Ansprechens unmittelbar nach der Strahlentherapie
zeigte ein differentes Ansprechen bei Männern und Frauen. Tendenziell war das
Ansprechen bei Frauen besser als bei Männern (P=0,139) (Tabelle 3). Dieser
Unterschied verstärkte sich sechs Wochen später nach dem
Strahlentherapieende. Das Ansprechen bei Frauen betrug 51,5 % gegenüber 22%
(5/22) bei Männern. Dieser Unterschied war signifikant (P=0,047) (Tabelle 4).
0
10
20
30
40
50
60
0 5 10 15
80
Tabelle 3: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Geschlecht
Geschlecht keine Wirkung Besserung Verschlechterung Gesamt
weiblich 10 9 0 19
männlich 15 5 2 22
Gesamt 25 14 2 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 3,944, p=0,139
Tabelle 4: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Geschlecht
Geschlecht keine Wirkung Besserung Gesamt
weiblich 9 10 19
männlich 17 5 22
Gesamt 26 15 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 3,930, p=0,047
Unterschiede im Ansprechen waren auch in Abhängigkeit vom Familienstatus zu
beobachten (Tabelle 5). Die Unterschiede verstärkten sich auch hier nach Ablauf
von sechs Wochen postradiationem Tabelle 6).
81
Tabelle 5: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Familienstatus
Familienstatus keine Wirkung Besserung Verschlechterung Gesamt
verheiratet 21 10 2 33
ledig 2 2 0 4
verwitwet 2 2 0 4
Gesamt 25 14 2 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 1,413, p=0, 842
Tabelle 6: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Familienstatus
Familienstatus keine Wirkung Besserung Gesamt
verheiratet 22 11 33
ledig 2 2 4
verwitwet 2 2 4
Gesamt 26 15 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 0,771, p=0,680
Die Betrachtung des Ansprechens bei Patienten in verschiedenem Alter zeigte
auch erhebliche Unterschiede. Die zwei Fälle, die sich unter der Bestrahlung
verschlechterten waren jünger als 60 Jahre. Ansonsten ergab der Vergleich eine
dichotome Aufteilung der bis 60-jährigen und der über 60-jährigen, eine deutlich
bessere Ansprechrate bei älteren Patienten. Dieser Unterschied wurde sechs
Wochen später nahezu signifikant (P=0,093). Einer der Patienten mit
82
Verschlechterung am Ende der Therapie zeigte sechs Wochen später eine
Besserung, einer sprach nicht an.
Offensichtlich bestanden Unterschiede bei Betrachtung des Alters der Patienten
zum Zeitpunkt der Diagnose (Tabelle 7 und Tabelle 8) und zum Zeitpunkt des
Beginns der Radiotherapie (Tabelle 9 und Tabelle 10). Die gleiche dichotome
Verteilung der Population (0-60 Jahre vs Größer 60 Jahre) zeigte, auch nicht im
Trend einen Verteilungsunterschied (P=0,923).
Tabelle 7: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Alter zum Zeitpunkt der Erstdiagnose
Alter keine Wirkung Besserung Verschlechterung Gesamt
0-60J 24 11 2 37
>60 J 1 3 0 4
Gesamt 25 14 2 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 3,324, p=0, 190
Tabelle 8: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Alter zum Zeitpunkt der Erstdiagnose
Alter keine Wirkung Besserung Gesamt
0-60J 25 12 37
>60 J 1 3 4
Gesamt 26 15 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 2,819, p=0,093
83
Tabelle 9: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Alter zum Beginn der Radiotherapie
Alter zum Beginn
der RT
keine Wirkung Besserung Verschlechterung Gesamt
0-60J 16 8 1 25
>60 J 9 6 1 16
Gesamt 25 14 2 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 0,284, p=0, 868
Tabelle 10: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom Alter zum Beginn der Radiotherapie
Alter zum Beginn
der RT
keine Wirkung Besserung Gesamt
0-60J 16 9 25
>60 J 10 6 16
Gesamt 26 15 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 0,009, p=0,923
Die Analyse der Verteilung der Ansprecher in Abhängigkeit von
Nebenerkrankungen ergab bei Patienten ohne Nebenerkrankungen eine
Ansprechrate die höher lag als die Gesamtansprechrate der Population (7/13). Bei
Patienten mit mehreren Erkrankungen betrug die Ansprechrate 28% (3/5). Bei
anderen Erkrankungen war die Verteilung schwer zu interpretieren, weil nur
wenige Fälle vorlagen. Der Chi-Quadrat-Test ergab bei dieser Verteilung eine
Signifikanz (P=0,032) (Abbildung 11).
84
Tabelle 11: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von Nebenerkrankungen
Nebenerkrankungen keine Wirkung Besserung Verschlechterung Gesamt
Herzerkrankungen 2 1 0 3
Nierenerkrankungen 1 0 1 2
Diabetes mellitus 2 0 0 2
neurologische
Erkrankungen
0 1 0 1
HNO-Erkrankungen 3 2 0 5
Allergien 1 0 1 2
mehrere
Erkrankungen
5 3 0 8
sonstige
Erkrankungen
5 0 0 5
keine Erkrankungen 6 7 0 13
Gesamt 25 14 2 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 28,006, p=0,032
Sechs Wochen nach dem Strahlentherapie Ende war die Verteilung ähnlich, der
Chi-Quadrat-Test zeigte jedoch die Unterschiede als nicht signifikant (P=0,205).
85
Tabelle 12: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von Nebenerkrankungen
Nebenerkrankungen keine Wirkung Besserung Gesamt
Herzerkrankungen 2 1 3
Nierenerkrankungen 2 0 2
Diabetes mellitus 2 0 2
neurologische
Erkrankungen
0 1 1
HNO-Erkrankungen 2 3 5
Allergien 2 0 2
mehrere Erkrankungen 5 3 8
sonstige Erkrankungen 5 0 5
keine Erkrankungen 6 7 13
Gesamt 26 15 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 10,947, p=0, 205
Die Analyse des Ansprechens auf die Strahlentherapie in Abhängigkeit von der
Symptomatik zeigte keine signifikanten Unterschiede, weder unmittelbar nach dem
Ende (P=0,356) (Abbildung 13) noch sechs Wochen später (P=0,644) (Abbildung
14).
86
Tabelle 13: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von der Symptomatik
Symptome keine Wirkung Besserung Verschlechterung Gesamt
Pfeifton 12 7 1 20
Zischen 1 2 1 4
Rauschen 9 2 0 11
Mehrere 3 2 0 5
Sonstige 0 1 0 1
Gesamt 25 14 2 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 8,836 , p=0,356
Tabelle 14: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit von der Symptomatik
Symptome keine Wirkung Besserung Gesamt
ein Pfeifton 13 7 20
Zischen 2 2 4
Rauschen 8 3 11
Mehrere 3 2 5
Sonstige 0 1 1
Gesamt 26 15 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 2,502 , p=0, 644
87
Völlig unterschiedliche Ergebnisse ergaben sich bei Betrachtung der
Ansprechraten in Abhängigkeit vom aufklärenden und betreuenden Arzt. Beim
Arzt Nr. 5 war die Ansprechrate lediglich nur 12,5% (1/7) beim Arzt Nr. 6 war die
Ansprechrate 50% (4/4), beim Arzt Nr. 1 war die Ansprechrate 54,5%(5/6) (Tabelle
15). Diese Unterschiede verstärkten sich sechs Wochen später (Tabelle 16).
Unmittelbar nach Ende der Strahlentherapie waren die Patienten mit einer
Verschlechterung bei denen vorwiegend zu finden die eine schlechte
Ansprechrate ihrer Patienten hatten.
Tabelle 15: Wirksamkeit der Behandlung unmittelbar nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom aufklärenden Arzt
Aufklärender Arzt keine
Wirkung
Besserung Verschlechterung Gesamt
1 5 6 0 11
2 3 2 1 6
3 1 0 0 1
4 1 0 0 1
5 7 1 1 9
6 4 4 0 8
7 4 1 0 5
Gesamt 25 14 2 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 9,924, p=0,623
88
Tabelle 16: Wirksamkeit der Behandlung 6 Wochen nach dem
Strahlentherapieende in Abhängigkeit vom aufklärenden Arzt
Aufklärender Arzt keine Wirkung Besserung Gesamt
1 4 7 11
2 4 2 6
3 1 0 1
4 1 0 1
5 8 1 9
6 4 4 8
7 4 1 5
Gesamt 26 15 41
Chi-Quadrat-Test nach Pearson: 8,381, p=0, 211
89
11.3 ANALYSE PROGNOSTISCHER FAKTOREN
Mittels logistischer Regression wurde die prognostische Bedeutung mehrerer
unabhängiger Variablen getestet (Tabelle 17). In der Univariatenanalyse zeigten
sich das Geschlecht, das Alter > 60 Jahre, keine Nebenerkrankungen sowie
Arztwahl als prognostisch signifikant. In der Multivariatenanalyse (Tabelle 18) hat
sich nur das Fehlen von Nebenerkrankungen als signifikant herausgestellt.
Nahezu signifikant war die Wahl des Arztes.
Prognostisch wurden in der univariaten Regressionsanalyse Frauen bevorzugt.
Auch die älteren Patienten, längeres Intervall zwischen Erstdiagnose und der
Radiatio. Für die Behandlung lagen prognostisch die besser, die nicht
verheirateten, verwitweten und ledigen Patientin und Patienten. Prognostisch
günstiger erwiesen sich Patienten deutscher Nationalität gegenüber einem
Migrationshintergrund. Eine bessere Prognose des Ansprechens hatten Patienten
die sich nicht im Beruf befanden sowie keine Nebenerkrankungen hatten. Eine
höhere Wahrscheinlichkeit des Ansprechens hatten Patienten die mehrere
Medikamente eingenommen haben und über mehrere Symptome berichteten. Die
univariate Regressionsanalyse zeigte, dass bei einem der betreuenden Ärzte das
Ansprechen deutlich besser war. Dieses Ergebnis war statistisch signifikant.
In der multivariaten Analyse hat sich die bessere Prognose im Trend bei Frauen
und älteren Patienten bestätigt. Signifikant erschien die günstigere Prognose bei
Patienten die keine Nebenerkrankungen hatten. Nahezu signifikant war die
Aufklärung und Betreuung durch den Arzt 1.
90
Tabelle 17: Univariate logistische Regression der unabhängigen Variablen
Wald p OR 95% Konfidenzintervall
Geschlecht,
weiblich vs männlich
3,759 ,053 ,265 ,069-1,015
Alter,
0-60J vs >60 J
2,306 ,129 6,250 ,587-66,560
Intervall zwischen ED
und RT-beginn, 0 - 24
Mon. > 24 Mon
,015 ,903 1,167 ,097-14,062
Familienstatus
verh. vs andere
,755 ,385 2,000 ,419-9,551
Nationalität,
Deutsch vs andere
Nationalitäten
,009 ,923 ,938 ,255-3,442
Beruflicher Status,
Im Beruf vs arbeitslos
1,122 ,289 3,846 ,318-46,494
Nebenerkrankungen,
keine NE vs bek. NE
2,365 ,124 ,343 ,088-1,342
Medikationzum Beginn
der RT,
keine bis max. ein
Medikament vs mehrere
Medikamente
,381 ,537 1,500 ,414-5,436
91
Symptombild,
Einzelsymptom vs
mehrere Symptome
,029 ,866 1,179 ,174-7,998
Aufklärender Arzt
Arzt 1 vs andere Ärzte
4,383 ,036 ,208 ,048-,905
Tabelle 18: Multivariate logistische Regression der unabhängigen Variablen
Wald p OR 95% Konfidenzintervall
Geschlecht,
weiblich vs männlich
1,507 ,220 ,375 ,078-1,796
Alter,
0-60J vs >60 J
,724 ,395 3,180 ,221-45,722
Nebenerkrankungen,
keine NE vs bek. NE
3,940 ,047 ,181 ,034-,979
Aufklärender Arzt
Arzt 1 vs andere Ärzte
2,960 ,085 ,201 ,032-1,250
92
12. DISKUSSION
Die Bestrahlung entzündlicher Reaktionen beim Menschen hat eine lange
Tradition (Schneider und Adamietz, 2001). Die Bewertung des Ansprechens ist in
der Regel recht einfach, da die einfachen Funktionsparameter oder Schmerzen als
Maßstab herangezogen wurden. So wird bei der Radiotherapie von
Fersenspornen der Schmerz beim Laufen oder Druckschmerz als Maßvariable
verwendet (Seegenschmiedt et al., 2007). Bei Bestrahlung der entzündlichen
Veränderungen im Ohr ist die Bewertung wesentlich schwieriger. Patienten, die
der strahlentherapeutischen Behandlung unterzogen wurden, waren zuvor
antientzündlichen mit Cortison behandelt worden. Das behandelte Symptom war
der Tinnitus, dessen Intensität als Maß für die Wirkung der Therapie galt (Koester
et al., 2004).
Alle Patienten wurden vorübergehend erfolgreich mit Steroiden behandelt. Die
Therapie konnte aber nicht fortgesetzt werden, in der Regel auf Grund der
Nebenwirkung der Steroide (Kaiser und Kley, 2002).
Die Bestrahlung diente als Nebenwirkungsersatz für das Cortison. Das
Zielvolumen wurde deshalb so gewählt, dass der gesamte Bereich des
Felsenbeines erfasst wurde. Auf Grund fehlender Vergleichsserien, kann nicht
festgestellt werden, ob diese Bestrahlungsanordnung von Bedeutung für das
Bestrahlungsergebnis war.
Die Erhebung der Daten erfolgte retrospektiv. Aus diesem Grunde kann eine
dokumentationsbedingte Inhomogenität der Ausprägung verschiedener Variable
nicht ausgeschlossen werden. Eines der Ausschlusskriterien war die
Vollständigkeit der Akteneinträge. Es bleibt ungeklärt, ob dieses Kriterium die
Ergebnisse der Untersuchung beeinflusste.
Um die Verlässlichkeit der abhängigen Variablen zu erhöhen, wurde das
Ansprechen als eine von Patienten spürbare, über mehrere Wochen bestehende
Reduktion der Tinnituswahrnehmung definiert. Es wurde keinerlei Versuch
unternommen, die Ausprägung der Aussage zu quantifizieren. Aus diesem Grunde
erscheint die abhängige Variable recht zuverlässig.
93
Die Anzahl der Patienten, die auf die Strahlentherapie angesprochen haben, ist
eher gering, wenn man dies mit dem Ansprechen entzündlicher degenerativer
Erkrankung auf die Strahlentherapie vergleicht (Order and Donaldson, 2003).
Die Dosierung der Strahlenapplikation bei gutartigen Erkrankungen beruht auf
Jahrzehnten klinischer Erfahrung. In den letzten Jahrzehnten konnten die
empirisch ermittelten Werte bestätigt werden. Die Erkenntnisse erlaubten auch
etwas genauer den Wirkmechanismus zu verstehen (Eng et al., 2006).
Es konnte festgestellt werden, dass eine Strahlendosis von 0,25 Gy nahezu alle
im Bestrahlungsvolumen befindlichen Lymphozyten beseitigt (Sultan et al., 1983).
Gewöhnlich werden zur Radiotherapie gutartiger Erkrankungen Einzeldosen
zwischen 3,5 und 8 Gy verwendet. Die in diesem Fall verwendete Gesamtdosis
von 1,5 Gy ist somit insgesamt geringer. Es lässt sich nicht ausschließen, dass
eine leichte Steigerung der Dosis die Wirksamkeit dieser Behandlung weiter
erhöhen kann (Eng et al., 2006).
Laut einer Untersuchung der deutschen Tinnitus-Liga kennt jeder vierte Deutsche
Ohrgeräusche wie ein voll aufgedrehter Wasserhahn, Meeresrauschen, Grillen
zirpen, Fernseher piepsen, Stromleitungen brummen, Züge bremsen oder Sägen
kreischen (Kellerhals, 2004). Die Geräusche entstehen aufgrund unterschiedlicher
Störungen innerhalb der Hörbahnen. Im Bereich des Außenohres können
Schmalzpfropfen, Furunkel und andere Entzündungen des Äußerengehörgangs
oder der Ohrmuscheln die Schallübertragung verändern. Tinnitus-Auslöser können
hier chronische Mittelohrentzündungen, Paukenergüsse, Belüftungsstörungen
oder entzündliche Umbauprozesse der Gehörknöchelchen sein (Keidel, 1975).
Innerhalb der Schnecke können die empfindlichen Haarzellen durch Lärm
schaden erleiden oder sogar abreißen auch virale Gifte, Sauerstoffmangel und
(selten) Durchblutungsstörungen können die Haarzellen schädigen (Nagel und
Gürkov, 2009).
Auch im Bereich des Gehirns wenn durch Gehörschäden akustische Signale
fehlen, können irritierte Nervenzellen offenbar Störtöne erzeugen die die Tinnitus
Symptomatik hervorrufen. Bei manchen Betroffenen kommt zusätzlich ein
94
Verstärkungsmechanismus in Gang, der mit dem Thalamus zusammen hängt
Gehlen und Delank, 2010).
Die Therapie erster Wahl ist bei Symptomen dieser Art eine Infusionsbehandlung
mit Blutverdünnern und Cortison. Diese Therapie hat zum Ziel, das das Innenohr
besser durchblutet wird und die angegriffenen Haarzellen sich erholen können
(Silverstein et al., 1996). Im Gegensatz zur Cortisonbehandlung konnte die
Wirksamkeit der Verdünner allerdings nicht sicher belegt werden. Die Wirksamkeit
des Cortisons hängt möglicher Weise mit Ursachen entzündlicher Natur
zusammen. Dennoch ist der Wirkungsmechanismus von Cortison noch nicht
abschließend geklärt (Löffler et al., 2006).
Eine klinische Wirkung, die dem Cortison ähnelt kann auch bei niedrig dosierter
Strahlentherapie beobachtet werden. Besonders wirksam ist die Strahlentherapie
bei chronischen Entzündungen (Rodel et al., 2006). Diese Veränderungen sind
pathophysiologisch dadurch gekennzeichnet, dass die Entzündungsherde von
einem lymphozytenreichen Randwall umgeben sind (Sultan et al., 1983). Die
Strahlentherapie beseitigt bereits bei sehr niedrigen Dosen die Lymphozyten in
diesem Randwall und hilft auf diese Weise beim „Wiederaufflammen“ und
„Ausbrennen“ der Entzündung. Die Wirkung der Strahlentherapie wurde
experimentell untersucht. Es zeigte sich, dass Dosen von 0,05 Gy bereits einen
messbaren Effekt auf eine Lymphozyten-Population besitzen (Hornykiewytsch,
1952).
Die gewonnenen Ergebnisse zeigen einen Effekt der Strahlenbehandlung. Dieser
Effekt ist offenbar einige Wochen nach Beendigung der Strahlentherapie besser
zu erkennen. Ähnliches Verhalten beobachtet man auch an schmerzhaften Stellen
bei Gelenken mit chronischen Entzündungen nach der Strahlentherapie (Fischer,
1994). Auch hier ist der Effekt der Strahlentherapie deutlich stärker nach Ablauf
von sechs und mehr Wochen. Die Betrachtung einer Subpopulation zeigte in
unserem Patientenkollektiv nach vierzehn bis sechzehn Wochen ein Ansprechen
von über 50%. Obwohl diese Daten nur eine Subpopulation betreffen und deshalb
eher vorsichtig betrachtet werden müssen, bleibt diese Besserungstendenz nach
Ablauf von zwei bis drei Monaten nicht ausgeschlossen. Ähnliche Effekte können
auch bei chronischen Veränderungen in Verbindungen mit degenerativen
95
Veränderungen des Knochens beobachtet werden (Scheider und Adamietz,
2001).
Bei Bestrahlungen gutartiger Erkrankungen wurden häufig die psychischen
Aspekte in den Vordergrund gestellt (Justesen, 1979). Die Betrachtung der
Ergebnisse der Strahlentherapie bei Subpopulation, die durch verschiedene Ärzte
betreut wurden, konnten erhebliche Unterschiede festgestellt werden. Diese
haben sogar eine prognostische Bedeutung. Aus diesem Grunde muss der
psychologische Effekt (Ausstrahlung des Arztes/ der Ärztin) berücksichtigt werden.
Da es sich jedoch um ein relativ kleines Patientenkollektiv handelt können diese
beobachteten Effekte zufällig sein.
Die Bedeutung des Alters für das Ansprechen konnte bei der Kalkulation
prognostische Faktoren nur bedingt gezeigt werden. Dagegen war das Fehlen von
Nebenerkrankungen prognostisch als unabhängiger Faktor signifikant. Bei
Betrachtung des Mechanismus des Tinnitus erscheint ein inflammatorischer
Hintergrund als möglich, aber auch eine multifaktorielle Ursache dieser
Symptomatik wäre durchaus denkbar (Koester et al., 2004). In diesem
Zusammenhang wäre es nachvollziehbar, dass manifeste Nebenerkrankungen
den Erfolg der Strahlentherapie in Frage stellen.
Zusammenfassend kann als Ergebnis dieser retrospektiven Auswertung der
Patienten nach Bestrahlung mit sehr niedrigen Dosen festgestellt werden, dass
eine Besserung der Tinnitus Symptomatik bei 30 – 50% der bestrahlten Patienten
zu erwarten ist. Die Strahlenbehandlung kann bei Patienten angeboten werden,
bei welchen die Cortison-Applikation aus medizinischen Gründen nicht möglich ist
(Kaiser, 2003). Die Risiken einer niedrig dosierten Bestrahlung, in diesem Falle
Applikation von 1,5 Gy sind zwar theoretisch vorhanden, in der Praxis fehlen
jedoch Nachweise einer somatischen Schädigung nach Applikation ionisierender
Strahlung in dieser Höhe (Kiefers, 1988). Als weiteres Risiko sollte noch die
Möglichkeit der Begünstigung der Ausbreitung verkapselter infektiöser Prozesse
erwähnt werden. Diese Gefahren sind jedoch auch bei Cortison gegeben und
stellen in der heutigen Zeit aufgrund der Möglichkeiten einer breiten antibiotischen
Abdeckung, ein eher geringes Risiko dar (Kaiser und Klinkenberg, 1989).
96
13. LITERATURVERZEICHNIS
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LEBENSLAUF
Svenja Yvonne Twiehaus
Geburtsdatum 22.04.1978
Geburtsort Herten
Familienstand ledig
Schulausbildung 1984-1988 Grundschule an der Schwalbenstraße,
Gelsenkirchen
1988-1997 Leibniz-Gymnasium, Gelsenkirchen
Abschluss: Allgemeine Hochschulreife
Studium 1997-2005 Ruhr-Universität Bochum
09/2000 Ärztliche Vorprüfung
04/2002 Erster Abschnitt der ärztlichen Prüfung
04/2004 Zweiter Abschnitt der ärztlichen Prüfung
04/2004 Praktisches Jahr,
-03/2005 Augusta Krankenanstalt, Bochum
04/2005 Dritter Abschnitt der ärztlichen Prüfung
Berufliche Tätigkeit
05/2005 Evangelisches Krankenhaus, Witten
-12/2008 Assistenzärztin Innere Medizin
Seit 01/09 Augusta Krankenanstalt, Bochum
Assistenzärztin Innere Medizin
Danksagung
Meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. I. Adamietz danke ich für die freundliche
Überlassung des Themas und den damit verbundenen Einblick in die
Strahlentherapie.
Der Abteilung für Strahlentherapie des Marienhospitals Herne und des
Evangelischen Krankenhauses in Witten danke ich für den Einblick in die Abläufe
und Organisation der strahlentherapeutischen Intervention. Mein besonderer
Dank gilt Frau K. Polz, die mich kontinuierlich betreut, unterstützt und
vorangetrieben hat.
Meinen Eltern Petra und Norbert Twiehaus, sowie meinem Bruder Christopher
und dem Rest meiner Familie danke ich für ihre Geduld, liebevolle Begleitung
und bedingungslose Unterstützung meiner beruflichen Selbstverwirklichung.
Schließlich danke ich auch meinen Freunden, dafür das sie meine
unberechenbaren Stimmungsschwankung zum Ende meiner Dissertationsarbeit
ertragen haben. Vor allem danke ich für das Befüllen meines Kühlschrankes,
seelischen Beistand und regelmäßige aufmunternde Telefonate.