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Ralf Gerkmann Mathematisches Institut Ludwig-Maximilians-Universität München Funktionentheorie, Lebesguetheorie und Gewöhnliche Differentialgleichungen (Mathematik IV für Lehramt Gymnasium) (Version 14. Juli 2018) Inhaltsverzeichnis § 1. Fortsetzung der Integrationstheorie .......................................... 3 § 2. Funktionentheorie ..................................................... 56 § 3. Gewöhnliche Differentialgleichungen ........................................ 106 Literaturverzeichnis ........................................................ 141

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Ralf Gerkmann

Mathematisches Institut

Ludwig-Maximilians-Universität München

Funktionentheorie, Lebesguetheorie undGewöhnliche Differentialgleichungen

(Mathematik IV für Lehramt Gymnasium)

(Version 14. Juli 2018)

Inhaltsverzeichnis

§ 1. Fortsetzung der Integrationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

§ 2. Funktionentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

§ 3. Gewöhnliche Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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Ausführliches Inhaltsverzeichnis

§ 1. Fortsetzung der Integrationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.1 Die mehrdimensionale Substitutionsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.2 Kurven- und Flächenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1.3 Vektoranalysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

1.4 Das Lebesgue-Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

§ 2. Funktionentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

2.1 Reelle und komplexe Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

2.2 Komplexe Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

2.3 Komplexe Kurvenintegrale und Cauchyscher Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

2.4 Die Cauchysche Integralformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

2.5 Anwendungen der Cauchyschen Integralformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

2.6 Isolierte Singularitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

2.7 Der Residuensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

§ 3. Gewöhnliche Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

3.1 Der Existenz- und Eindeutigkeitssatz für gewöhnliche DGL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

3.2 Elementare Lösungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

3.3 Systeme linearer Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

3.4 Exakte Differentialgleichungen und autonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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§ 1. Fortsetzung der Integrationstheorie

1.1 Die mehrdimensionale Substitutionsregel

Inhaltsübersicht

FF Wiederholung der Integrationstheorie aus dem vorherigen Semester:

Definition des Riemann-Integrals, Satz von Fubini, Jordan-Messbarkeit und Nullmengen,Cavalierisches Prinzip und Integration über Normalbereiche

FF Erhaltung von Jordanschen Nullmengen unter Lipschitz-stetigen Abbildungen

FF heuristische Herleitung der mehrdimensionalen Substitutionsregel

FF Anwendung: Integration über rotationssymmetrische Bereiche

FF formaler Beweis der Substitutionsregel

Wir beginnen mit der Wiederholung der Definition des Riemann-Integrals. Aus Gründen der Übersichtlichkeitgeben wir die Definitionen und Sätze nicht vollständig ausformuliert wieder. Die Kapitelangaben in Klammernermöglichen es aber, die genaue Fassung im Skript des Wintersemesters nachzulesen.

(i) Ein kompakter Quader im Rn ist eine Teilmenge der Form Q = [a1, b1] × ... × [an, bn] mitak, bk ∈ R und ak < bk für 1 ≤ k ≤ n. Stehen in der Definition an Stelle von der abgeschlos-senen offene Intervalle der Form ]ak, bk[, dann nennt man ihr kartesisches Produkt einenoffenen Quader (siehe Abschnitt 4.1).

(ii) Eine Zerlegung eines kompakten Quaders Q wie unter (i) ist ein Tupel Z = (Z1, ...,Zn),wobei Zk für 1 ≤ k ≤ n jeweils eine endliche Teilmenge von ]ak, bk[ bezeichnet. Jedemsolchen Z kann eine Menge Q(Z ) kompakter Teilquader zugeordnet werden, deren Ver-einigung Q ergibt, und die sich paarweise höchstens in den Seitenflächen schneiden, alsokeine gemeinsamen inneren Punkte besitzen (siehe Def. (4.1) und nachfolgender Text).

(iii) Für eine beschränkte Funktion f : Q→ R hatten wir die Unter- bzw. Obersumme definiertdurch

S −f (Z ) =∑

K∈Q(Z )

c−K,fv(K) bzw. S +f (Z ) =

∑K∈Q(Z )

c+K,fv(K)

wobei c−K,f = inf{f(x)∣∣ x ∈ K} und c+K,f = sup{f(x)

∣∣ x ∈ K} war (Def. (4.2)). DasSupremum über alle Untersummen hatten wir das Unterintegral genannt und das Infimumüber alle Obersummen als Oberintegral bezeichnet (Def. (4.5)).

(iv) Eine Funktion f wie unter (iii) ist Riemann-integrierbar, wenn ihr Unter- und Oberintegralübereinstimmen. Letzteres hatten wir in diesem Fall das Riemann-Integral genannt undmit dem Ausdruck

∫Qf(x) dx bezeichnet (Def. (4.5)).

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Für die Berechnung des Riemann-Integrals auf quaderförmigen Integrationsbereichen haben wir die folgendenHilfsmittel zur Verfügung.

(i) Das Riemann-Integral eindimensionaler Funktionen lässt sich mit dem Hauptsatz der Dif-ferential- und Integralrechnung ausrechnen (Mathe I, (7.18)): Ist f : [a, b]→ R stetig und Feine Stammfunktion von f , dann gilt

∫ baf(x) dx = F (b)− F (a).

(ii) Die Bestimmung eindimensionaler Integrale wird außerdem durch die Substitutionsregelund die Regel zur partiellen Integration erleichert. Es gilt∫ b

a

(f◦u)(t)u′(t) dt =

∫ u(b)

u(a)

f(x) dx und∫ b

a

f(x)g′(x) dx = [f(x)g(x)]ba−∫ b

a

f ′(x)g(x) dx.

Im Fall Substitutionsregel bezeichnet f : I → R eine stetige Funktion auf einem offenenIntervall I mit [a, b] ⊆ I und u : J → I eine stetig differenzierbare Funktion. Bei derpartiellen Integration sind f, g : I → R stetig differenzierbare Funktionen, auch hier aufeinem offenen Intervall I mit [a, b] ⊆ I (siehe Mathe I, (7.19) und (7.20)).

(iii) Die Berechnung mehrdimensionaler Riemann-Integrale kann mit dem Satz von Fubini aufden eindimensionalen Fall zurückgeführt werden (Satz (4.9)). Sind P ⊆ Rm und Q ⊆ Rn

kompakte Quader und ist f : P ×Q→ R eine stetige Funktion, dann gilt∫P×Q

f(x, y) d(x, y) =

∫P

(∫Q

f(x, y) dy

)dx.

Aufbauend auf dem Begriff des Riemann-Integrals haben wir das Jordan-Volumen für gewisse beschränkteTeilmengen des Rn definiert.

(i) Sind D ⊆ Rn eine beliebige Teilmenge und A ⊆ D, dann ist die charakteristische FunktionχA : D → {0, 1} definiert durch χA(x) = 1 für alle x ∈ A und χA(x) = 0 für alle x ∈ D \ A(Def. (4.16)).

(ii) Eine Teilmenge A ⊆ Rn wird Jordan-messbar genannt, wenn ein kompakter Quader Q mitQ◦ ⊇ A existiert und die charakteristische Funktion χA : Q→ {0, 1} Riemann-integrierbarist (wobei Q◦ das Innere des Quaders Q bezeichnet). Auf Grund der Bedingung A ⊆ Q◦

sind Jordan-messbare Mengen immer beschränkt (Def. (4.16)).

(iii) Im Falle der Jordan-Messbarkeit nennt man v(A) = vn(A) =∫QχA(x) dx das Jordan-

Volumen von A (Def. (4.16)).

(iv) Sind A,B ⊆ Rn Jordan-messbar mit A ⊆ B, dann gilt v(A) ≤ v(B). Für beliebige Jordan-messbare Teilmengen gelten die Rechenregeln v(A∪B) = v(A)+v(B)−v(A∩B) außerdemv(u+A) = v(A) und v(rA) = rnv(A) für alle u ∈ Rn und r ∈ R+ (Sätze (4.23) und (4.29)).

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(v) Eine Jordan-messbare Menge A mit v(A) = 0 wird Jordansche Nullmenge genannt (Def.(4.10) und Satz (4.28)). Eine Teilmenge N ⊆ Rn heißt (Lebesguesche) Nullmenge, wenn fürjedes ε ∈ R+ eine Folge (Qm)m∈N von Quadern mit

⋃m∈NQm ⊇ N und

∑∞m=1 v(Qm) < ε

existiert (Def. (4.10)).

(vi) Jede Jordansche Nullmenge ist eine Nullmenge, aber die Umkehrung ist im Allgemeinenfalsch. Allerdings sind kompakte Nullmengen auch Jordansche Nullmengen (Prop. (4.13)).

(vii) Im Gegensatz zu den Jordanschen Nullmengen können Nullmengen auch unbeschränktsein. Zum Beispiel sind abzählbare unbeschränkte Teilmengen, etwa N ⊆ R, zwar Null-mengen, aber keine Jordanschen Nullmengen (Prop. (4.11)(ii)).

(viii) Eine anschauliche Interpretation der Messbarkeit liefert folgendes Kriterium: Genau dannist eine beschränkte TeilmengeA ⊆ Rn Jordan-messbar, wenn ihr Rand ∂A eine Nullmengeist (Folgerung (4.21)).

Mit dem Konzept der Jordan-Messbarkeit konnten wir dann auch Riemann-integrierbare Funktionen auf all-gemeineren Definitionsbereichen betrachten.

(i) Eine beschränkte Funktion f : A → R auf einer Jordan-messbaren Teilmenge A ⊆ Rn

wird Riemann-integrierbar genannt, wenn die Nullfortsetzung fQ : Q → R von f aufeinen kompakten Quader Q mit Q◦ ⊇ A Riemann-integrierbar ist. Diese ist definiert durchfQ(x) = f(x) für alle x ∈ A und fQ(x) = 0 für alle x ∈ Q \ A. Das Riemann-Integral ist indiesem Fall definiert durch ∫

A

f(x) dx =

∫Q

fQ(x) dx.

(ii) Sind A,B ⊆ Rn Jordan-messbar und ist f : A ∪ B → R eine Funktion mit der Eigenschaft,dass die Einschränkungen f |A und f |B Riemann-integrierbar sind, dann ist f auch aufA ∪B und A ∩B Riemann-integrierbar, und nach (4.31) gilt∫

A∪Bf(x) dx =

∫A

f(x) dx+

∫B

f(x) dx−∫A∩B

f(x) dx.

(iii) Eine beschränkte Funktion f : A → R auf einer Jordan-messbaren Menge ist genau Rie-mann-integrierbar, wenn die Menge der Unstetigkeitsstellen von f eine Nullmenge ist. Dasist das Lebesguesche Integrabilitätskriterium (Sätze (4.15) und (4.25)).

(iv) Jordansche Nullmengen können bei der Riemannschen Integration vernachlässigt werden.Dies bedeutet, dass beliebige Änderungen einer Funktion auf einer Jordanschen Nullmen-ge weder an der Riemann-Integrierbarkeit noch am Wert des Riemann-Integrals etwas än-dern (Satz (4.32)).

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(v) Die Ordinatenmenge einer nicht-negativen Funktion f : A → R+ auf einer beliebigenTeilmenge A ⊆ Rn ist definiert durch Λ(f) = {(x, y) ∈ A × R

∣∣ 0 ≤ y ≤ f(x)}. Ist AJordan-messbar und f Riemann-integrierbar, dann besteht der wichtige Zusammenhang

vn+1(Λ(f)) =

∫A

f(x) dx

zwischen Riemann-integral und (n+ 1)-dimensionalem Jordan-Volumen (Satz (4.35)).

Außerdem hatten wir noch die Integration von Funktionen über Normalbereiche diskutiert. Eine TeilmengeA ⊆ R2 wurde Normalbereich bezüglich der x-Achse genannt, wenn stetige Funktionen ψ1, ψ2 : [a, b]→ R aufeinem abgeschlossenen Intervall [a, b] existieren, so dass ψ1 ≤ ψ2 und A = {(x, y) ∈ R2

∣∣ a ≤ x ≤ b , ψ1(x) ≤y ≤ ψ2(x)} erfüllt sind. Das Riemann-Integral einer stetigen Funktion f : A→ R kann dann durch die Formel∫

A

f(x, y) d(x, y) =

∫ b

a

(∫ ψ2(x)

ψ1

f(x, y) dy

)dx

berechnet werden. Eine Teilmenge B ⊆ R3 heißt Normalbereich bezüglich der xy-Ebene, wenn eine kompakteJordan-messbare Teilmenge A ⊆ R2 und stetige Funktionen ψ1, ψ2 : A → R mit ψ1 ≤ ψ2 existieren, so dassB = {(x, y, z) ∈ R3

∣∣ ψ1(x, y) ≤ z ≤ ψ2(x, y)} gilt. Das Riemann-Integral einer stetigen Funktion f : B → R

erhält man in diesem Fall durch∫B

f(x, y, z) d(x, y, z) =

∫A

(∫ ψ2(x,y)

ψ1(x,y)

f(x, y, z) dz

)d(x, y).

Auf naheliegende Weise lassen sich auch Normalbereiche bezüglich der y-Achse bzw. der xz- oder der yz-Ebene definieren, und es gelten dann entsprechende, durch Vertauschung der Koordinaten modifzierte Inte-grationsregeln.

Unser Ziel in diesem Kapitel besteht nun darin, die Substitutionsregel aus dem ersten Semester auf höhere Di-mension zu verallgemeinern. Dies wird sich vor allem bei der Integration von Funktionen als nützlich erwei-sen, die anhand krummliniger Koordinatensysteme definiert sind, etwa die häufig in der Physik verwendetenPolar-, Zylinder und Kugelkoordinaten. Um dies vorzubereiten, benötigen wir einen neuen Stetigkeitsbegriff.Im letzten Semester war die Stetigkeit und auch die gleichmäßige Stetigkeit für Abbildungen zwischen metri-schen Räumen definiert worden. Wir definieren nun einen weiteren, noch stärkeren Stetigkeitsbegriff.

(1.1) Definition Seien (X, dX) und (Y, dY ) metrische Räume. Eine Abbildung f : X → Y

heißt Lipschitz-stetig, wenn eine Konstante L ∈ R+ existiert, so dass

dY (f(p), f(q)) ≤ LdX(p, q) für alle p, q ∈ X erfüllt ist.

Dabei bezeichnet man L als eine Lipschitz-Konstante von f . Gibt es für jeden Punkt p ∈ Xjeweils eine Umgebung U mit der Eigenschaft, dass die Einschränkung f |U Lipschitz-stetigist, dann spricht man von einer lokal Lipschitz-stetigen Abbildung.

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Jede Lipschitz-stetige Abbildung f : X → Y ist auch gleichmäßig stetig, und damit erst recht stetig. Seinämlich ε ∈ R+ vorgegeben und L ∈ R+ eine Lipschitz-Konstante von f . Setzen wir δ = ε

L , dann gilt für allex, y ∈ X mit dX(p, q) < δ jeweils

dY (f(p), f(q)) ≤ LdX(p, q) < Lδ = Lε

L= ε ,

womit die gleichmäßige Stetigkeit nachgewiesen ist.

(1.2) Satz Jede stetig differenzierbare Abbildung f : U → Rm auf einer offenen TeilmengeU ⊆ Rn ist lokal Lipschitz-stetig.

Beweis: Hier ist das wesentliche Hilfsmittel der Mittelwertsatz für Richtungsableitungen (Mathe III, Satz(3.5)), den wir auf die Komponentenfunktionen fk : U → R (1 ≤ k ≤ m) der Abbildung f und ihre totalenAbleitungen f ′k(x) ∈ L (Rn,R) anwenden. Sei c ∈ U beliebig vorgegeben und K ⊆ U eine kompakte, konvexeUmgebung von c, zum Beispiel eine abgeschlossene Kreisscheibe. Außerdem sei ‖ · ‖ die Operatornorm aufL (Rn,R), wobei wir auf Rn die Maximums-Norm ‖ · ‖∞ zu Grunde legen. Da die Funktionen x 7→ ‖f ′k(x)‖auf Grund der stetigen Differenzierbarkeit von f auf K stetig sind, existiert nach dem Maximumsprinzip eineKonstante γ ∈ R+ mit ‖f ′k(x)‖ ≤ γ für alle x ∈ U und 1 ≤ k ≤ m.

Seien nun a, b ∈ K vorgegeben. Auf Grund der Konvexität ist die Verbindungsstrecke [a, b] ganz in K enthal-ten. Nach dem Mittelwertsatz gibt es ein für 1 ≤ k ≤ m jeweils ein pk ∈ ]a, b[ mit f ′k(pk)(v) = ∂vfk(pk) =

fk(b) − fk(a), wobei v = b − a ist. Es folgt |fk(b) − fk(a)| = |f ′k(pk)(v)| ≤ ‖f ′k(pk)‖‖v‖∞ ≤ γ‖b − a‖∞. Neh-men wir das Maximum über 1 ≤ k ≤ m, so erhalten wir ‖f(b) − f(a)‖∞ ≤ γ‖b − a‖∞. Also ist L = γ eineLipschitz-Konstante von f |K . Damit ist die lokale Lipschitz-Stetigkeit nachgewiesen. �

Wir werden nun zeigen, dass Jordansche Nullmengen unter Lipschitz-stetigen Abbildungen erhalten bleiben.Dazu müssen wir noch einige Vorbereitungen treffen. Einen kompakten Quader Q =

∏nk=1[ak, bk] im Rn

bezeichnen wir als Würfel, wenn sämtliche Kantenlängen gleich sind, also b1 − a1 = b2 − a2 = ... = bn − anerfüllt ist.

(1.3) Lemma Sei Q ⊆ Rn ein kompakter Quader. Dann gibt es für jedes ε ∈ R+ eineendliche Familie W1, ...,Wm von Würfeln, die Q überdecken, mit

∑ms=1 v(Ws) < v(Q) + ε.

Beweis: Sei Q =∏nk=1[ak, bk] und ` = min{bk − ak | 1 ≤ k ≤ n} die minimale Kantenlänge von Q. Die

naheliegende Idee besteht darin, für eine beliebig vorgegebene natürliche Zahl N den Quader Q durch einemöglichst geringe Anzahl von Würfeln der Kantenlänge `

N zu überdecken, wobei der „erste“ Quader in denEckpunkt (a1, ..., an) von Q gesetzt wird. Für beliebig vorgegebenes N ∈ N und 1 ≤ k ≤ n definieren wirdazu rk,N = dN(bk−ak)

` e. Wie wir sehen werden, ist dies die Anzahl der Würfel, die in Richtung der k-tenKoordinatenachse aneinandergesetzt werden müssen, um Q vollständig abzudecken. Diese Würfel könnendann durch SN = {s ∈ Zn | 0 ≤ sk < rk,N für 1 ≤ k ≤ n} indiziert werden, indem wir jedem s ∈ SN denWürfel

Ws =[a1 + s1

`N , a1 + (s1 + 1) `N

]× ... ×

[an + sn

`N , an + (sn + 1) `N

]zuordnen.

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Zunächst überprüfen wir, dass diese Würfel tatsächlich unseren Quader Q überdecken. Sei dazu ein x ∈ Q

vorgegeben und sk =⌊N(xk−ak)

`

⌋und für 1 ≤ k ≤ n. Wegen xk ≥ ak gilt einerseits sk ≥ 0, aus xk ≤ bk folgt

andererseits sk ≤ N(bk−ak)` ≤ rk,N , jeweils für 1 ≤ k ≤ n. Dies zeigt, dass s in SN enthalten ist. Nach Definition

der unteren Gaußklammer gilt außerdem

sk ≤ N(xk−ak)` < sk + 1 ⇒ sk

`N ≤ xk − ak < (sk + 1) `N ⇒ ak + sk

`N ≤ xk < ak + (sk + 1) `N

für 1 ≤ k ≤ n. Also ist x im Würfel Ws enthalten. Nun schätzen wir noch das Gesamtvolumen der Würfelnach oben ab. In der k-ten Komponente addieren wir die Kantenlängen der rk,N Würfel zu einer Gesamtlängevon

rk,N · `N ≤(N(bk − ak)

`+ 1

)· `N = bk − ak + `

N .

Für N → ∞ läuft diese Zahl offenbar gegen den Wert bk − ak. Der von den |SN | Würfeln gebildete Quaderhat also ein Gesamtvolumen von

∏nk=1(bk − ak + `

N ), das für N → ∞ gegen∏nk=1(bk − ak) = v(Q) läuft.

Wählen wir für vorgegebenes ε ∈ R+ unser N ∈ N also hinreiched groß, so kann immer erreicht werden, dass∑s∈SN v(Ws) < v(Q) + ε erfüllt ist. �

(1.4) Satz SeiN ⊆ Rn eine Jordansche Nullmenge und g : N → Rm eine Lipschitz-stetigeAbbildung, wobei m ≥ n ist. Dann ist g(N) eine Jordansche Nullmenge in Rm.

Beweis: Sei ε ∈ R+ vorgegeben und L ∈ R+ eine Lipschitz-Konstante von g bezüglich der Maximumsnormen‖ · ‖∞ auf Rn bzw. Rm. Nach Definition der Jordanschen Nullmengen gibt es eine endliche Familie Q1, ..., Qr

von Quadern im Rn mit⋃rk=1Qk ⊇ N und

∑rk=1 v(Qk) < ε. Auf Grund von (1.3) können die Quader durch

eine endliche Familie W1, ...,Ws von Würfeln ersetzt werden, so dass⋃s`=1W` ⊇ N und

∑s`=1 v(W`) < 2ε

erfüllt ist. An diesen Abschätzungen ändert sich auch nichts, wenn wir alle Würfel W` mit N ∩W` = ∅ ausder Familie entfernen.

Für jedes ` ∈ {1, ..., s} sei nun p` ein festgewählter Punkt in N ∩ W` und s` die Kantenlänge des Würfels.Nach eventuellem Übergang zu kleineren Würfeln können wir s` < 1 voraussetzen. Es gilt jeweils v(W`) = sn` ,und für jeden weiteren Punkt q ∈ N ∩W` ist der Abstand ‖q − p`‖∞ durch den Wert s` beschränkt. Es folgt‖g(q) − g(p`)‖∞ ≤ L‖q − p`‖∞ ≤ Ls` für alle q ∈ N ∩W`. Dies zeigt, dass g(N ∩W`) in einer ‖ · ‖∞-Kugelvom Radius Ls` enthalten ist; dies ist ein m-dimensionaler Würfel der Kantenlänge 2Ls` und dem Volumen2mLmsm` . Die Menge g(N) kann also durch Würfel mit einem Gesamtvolumen von

s∑`=1

2mLmsm` ≤ 2mLms∑`=1

sn` = 2mLmn∑`=1

v(W`) < 2m+1Lmε

überdeckt werden. Weil L und m Konstanten sind und ε beliebig klein gewählt werden kann, zeigt dies, dasses sich bei g(N) um eine Jordansche Nullmenge handelt. �

Ohne die Voraussetzung m ≥ n funktioniert der Beweis nicht, weil die Abschätzung sm` ≤ sn` im letztenBeweisschritt dann nicht gilt. Die Aussage des Satzes wird für m < n auch falsch: Beispielsweise überprüftman leicht, dass π : R2 → R, (x, y) 7→ x eine Lipschitz-stetige Abbildung mit Lipschitz-Konstante L = 1 ist,wenn wir aufR2 die ‖ · ‖∞-Norm zu Grunde legen. Die Menge N = [0, 1]×{0} ist eine Jordansche Nullmengein R2, aber π(N) = [0, 1] ist keine Jordansche Nullmenge in R. Statt dessen gilt v(π(N)) = 1.

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(1.5) Folgerung SeiU ⊆ Rn offen und g : U → Rm stetig differenzierbar, wobeim ≥ n ist.Ist N ⊆ U eine kompakte Jordansche Nullmenge, dann ist g(N) eine kompakte JordanscheNullmenge in Rm.

Beweis: Wir wissen bereits, dass das Bild einer kompakten Menge unter einer stetigen Abbildung kompakt ist(Mathe III, Satz (2.81)). Außerdem wissen wir aus (1.2), dass g zumindest lokal Lipschitz-stetig ist. Zu jedemPunkt x ∈ N gibt es also eine offene Umgebung Ux, so dass g|Ux Lipschitz-stetig mit einer Konstanten Lx ist,bezüglich beliebig gewählter Normen auf Rn und Rm. Da N kompakt ist, finden wir eine endliche Familiex1, ..., xr von Punkten, so dass N bereits von Ux1

, ..., Uxr überdeckt wird. Wegen (1.4) ist mit N ∩ Uxk auchg(N ∩ Uxk) eine Jordansche Nullmenge ist, für 1 ≤ k ≤ r. Also ist auch die endliche Vereinigung g(N) =⋃rk=1 g(N ∩ Uxk) eine Jordansche Nullmenge. �

Unser Ziel in diesem Abschnitt besteht nun darin, die aus der Mathe III bekannte Substitutionsregel für dieIntegration eindimensionaler Funktionen∫ b

a

(f ◦ ϕ)(x)ϕ′(x) dx =

∫ ϕ(b)

ϕ(a)

f(t) dt

auf höhere Dimension zu übertragen. Bei dieser Verallgemeinerung wird die Determinante linearer Abbildun-gen eine wichtige Rolle spielen. Erinnern wir uns zunächst daran, wie in der Linearen Algebra die Definitionder Determinantenfunktion det : Mn,R → R motiviert wurde. Gesucht war eine Funktion, die jeder MatrixA ∈Mn,R das Volumen des Parallelotops

P (A) =

{n∑k=1

λka•k

∣∣∣∣ λk ∈ [0, 1] für 1 ≤ k ≤ n

}

zuordnet, das von den Spaltenvektoren a•1, ..., a•n ∈ Rn der Matrix aufgespannt wird, zuzüglich eines Vorzei-chens, das von der Reihenfolge der Vektoren abhing. Betrachten wir nun zur Matrix A die lineare Abbildung

φA : Rn → Rn , v 7→ Av

und wenden wir diese auf den Einheitswürfel Q = [0, 1]n an, dann erhalten wir φA(Q) = P (A) als Bildmen-ge, wie man mit Hilfe der Linearität von φA unmittelbar überprüft. Unter der Voraussetzung, dass |det(A)|tatsächlich mit dem Jordanschen Volumen von P (A) übereinstimmt, gilt also

v(φA(Q)) = v(P (A)) = |det(A)| = |det(φA)|v(Q). (1.1)

Aus der mehrdimensionalen Substitutionsregel wird sich ergeben, dass v(φ(B)) = |det(φ)|v(B) für beliebigelineare Endomorphismen φ von Rn und Jordan-messbare Teilmengen B ⊆ Rn gültig ist. Hier aber gehenwir zunächst umgekehrt vor und setzen diese Gleichung voraus, um durch heuristische Überlegungen einenaheliegende, mehrdimensionale Verallgemeinerung der Substitutionsregel zu finden.

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Sei G ⊆ Rn offen und D eine Jordan-messbare Teilmenge von Rn mit D ⊆ G. Außerdem sei ϕ : G → Rn

eine stetig differenzierbare Funktion. Diese Funktion wird die Rolle der Substitutionsfunktion von oben über-nehmen. Unser Ziel besteht darin, einen einfachen Ausdruck für das Integral einer Funktion f integriert überdie Bildmenge ϕ(D) zu finden. Der Einfachheit halber gehen wir zunächst davon aus, dass D ein kompakterQuader ist. Für jede Zerlegung Z von D schneiden sich die Quader K ∈ Q(Z ) nur in einer JordanschenNullmenge, und wegen (1.5) gilt dasselbe für die Mengen ϕ(K) in der Vereinigung

ϕ(D) =⋃

K∈Q(Z )

ϕ(K).

Bezeichnet wir für jedesK ∈ Q(Z ) mit aK einen beliebig gewählten Punkt ausK. Wird die Zerlegung Z sehrfein gewählt, dann können wir davon ausgehen, dass die Funktion f in der Nähe des Punktes ϕ(aK) nahezukonstant ist, also auf der gesamten Bildmenge ϕ(K) fast genau den Wert (f ◦ϕ)(aK) annimmt. Dies liefert unsdie Näherung ∫

ϕ(D)

f(x) dx =∑

K∈Q(Z )

∫ϕ(K)

f(x) dx ≈∑

K∈Q(Z )

(f ◦ ϕ)(aK)v(ϕ(K)). (1.2)

Versuchen wir nun, dass Volumen von ϕ(K) zu approximieren. Weil ϕ (stetig) differenzierbar ist, kann es ineiner Umgebung von aK durch eine affin-lineare Funktion angenähert werden: Für alle t ∈ Rn mit hinreichendkleiner Norm ‖t‖∞ gilt ϕ(aK + t) ≈ ϕ(aK)+ϕ′(aK)(t). Ist der QuaderK(0) ⊆ Rn so gewählt, dass aK +K(0) =

K gilt, dann haben bei hinreichend fein gewählter Zerlegung alle Punkte t ∈ K(0) eine kleine Norm, und wirerhalten

v(ϕ(K)) ≈ v(ϕ(aK) + ϕ′(aK)(K(0))) = v(ϕ′(aK)(K(0)))

= |detϕ′(aK)|v(K(0)) = |detϕ′(aK)|v(K) ,

wobei im zweiten Schritt die Translationsinvarianz des Jordan-Volumens und im dritten Schritt (1.1) verwen-det wurde. Setzen wir dies nun in (1.2) ein, so erhalten wir∫

ϕ(D)

f(x) dx ≈∑

K∈Q(Z )

(f ◦ ϕ)(aK))|detϕ′(aK)|v(K) ≈∫D

(f ◦ ϕ)(t)|detϕ′(t)| dt.

Dies ist die gesuchte mehrdimensionale Verallgemeinerung der eindimensionalen Substitutionsregel. Da jedeJordan-messbare Teilmenge durch disjunkte Vereinigungen kompakter Quader beliebig angenähert werdenkann, ist zu erwarten, dass auch in der Gleichung der kompakte Quader D durch eine beliebige kompakteJordan-messbare Menge ersetzt werden kann.

(1.6) Satz (mehrdimensionale Substitutionsregel)

Sei G ⊆ Rn offen, und sei ϕ : G → Rn eine injektive, stetig differenzierbare Abbildung,wobei wir voraussetzen, dass detϕ′(t) entweder für alle t ∈ G positiv oder für alle t ∈ Gnegativ ist. Sei T ⊆ G eine Jordan-messbare, kompakte Teilmenge und f : ϕ(T ) → R einestetige Abbildung. Dann gilt

(i) Die Bildmenge ϕ(T ) ⊆ Rn ist Jordan-messbar.(ii) Die Funktion f ist auf ϕ(T ), die Funktion f ◦ ϕ auf T Riemann-

integrierbar.

(iii) Es gilt∫

ϕ(T )

f(x) dx =

∫T

(f ◦ ϕ)(t)|detϕ′(t)| dt. (S)

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Zusatz: Die Substitutionsregel ist auch dann noch gültig, wenn eine Jordansche Nullmenge N ⊆ T existiert,auf der die Funktion t 7→ detϕ′(t) möglicherweise Null wird. Ebenso genügt es, dass ϕ auf T \N injektiv ist.Die Funktion t 7→ detϕ′(t) darf aber weiterhin auf G nicht zugleich positive und negative Werte annehmen.

In der speziellen Situation, dass n = 1, G ⊆ R ein offenes und T ⊆ G ein kompaktes Intervall ist, folgt dieserSatz direkt aus der eindimensionalen Substitutionsregel der Mathe I-Vorlesung. In diesem Fall gilt detϕ′(t) =

ϕ′(t) für alle t ∈ G. Sei T = [a, b] mit a, b ∈ R und a < b, und setzen wir zunächst voraus, dass ϕ′(t) > 0

für alle t ∈ G gilt. Dann ist die Funktion ϕ auf ihrem gesamten Definitionsbereich streng monoton wachsend,insbesondere gilt ϕ(a) < ϕ(b) und ϕ(T ) = [ϕ(a), ϕ(b)]. Mit Hilfe der eindimensionalen Substitutionsregelerhalten wir∫

T

(f ◦ ϕ)(t)|detϕ′(t)| dt =

∫ b

a

(f ◦ ϕ)(t)ϕ′(t) dt =

∫ ϕ(b)

ϕ(a)

f(x) dx =

∫ϕ(T )

f(x) dx.

Im anderen Fall gilt ϕ′(t) < 0 für alle t ∈ G. Dann ist ϕ überall streng monoton fallend, es gilt ϕ(a) > ϕ(b) undϕ(T ) = [ϕ(b), ϕ(a)]. Auch diesmal erhalten wir, wenn auch auf einem leicht veränderten Rechenweg, wegen|detϕ′(t)| = |ϕ′(t)| = −ϕ′(t) das Resultat∫

T

(f ◦ ϕ)(t)|detϕ′(t)| dt = −∫ b

a

(f ◦ ϕ)(t)ϕ′(t) dt = −∫ ϕ(b)

ϕ(a)

f(x) dx

=

∫ ϕ(a)

ϕ(b)

f(x) dx =

∫ϕ(T )

f(x) dx.

Der Ausdruck detϕ′(t) unter dem Integralzeichen in der Gleichung (S) wird die Funktionaldeterminante vonϕ genannt. Wendet man die Gleichung auf die konstante Funktion f(x) = 1 an, so erhält man unter denangegebenen Voraussetzungen an G, ϕ und T die Gleichung

v(ϕ(T )) =

∫T

|detϕ′(t)| dt.

Ist ϕ darüber hinaus eine bijektive, lineare Abbildung, dann gilt ϕ′(t) = ϕ für alle t ∈ T , und wir erhalten dieGleichung v(ϕ(T )) = |detϕ|v(T ) zurück, die oben der Ausgangspunkt unserer Überlegungen gewesen war.Auch im Fall detϕ = 0 ist die Gleichung noch gültig, weil ϕ(T ) in diesem Fall in einer Hyperebene von Rn

liegt und damit eine Nullmenge ist (was wir uns im letzten Semester zumindest für die Hyperebene R × {0}im R2 klargemacht haben).

Der Beweis von Satz (1.6) ist sehr aufwändig und wird an das Ende dieses Kapitels verschoben. Hier schauenwir uns vorher noch einige Beispiele für häufig verwendet Transformationsfunktionen ϕ an, die in der Geo-metrie und der Physik eine wichtige Rolle spielen.

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Integration in Polar-, Zylinder- und Kugelkoordinaten

Im letzten Semester wurde die Polarkoordinaten-Abbildung ρpol : R+ ×R→ R2 gegeben durch

ρpol(r, ϕ) = (r cos(ϕ), r sin(ϕ))

eingeführt. Die Ableitung dieser Funktion in einem beliebigen Punkt ist gegeben durch

ρ′pol(r, ϕ) =

(cos(ϕ) −r sin(ϕ)

sin(ϕ) r cos(ϕ)

)

mit der Funktionaldeterminante det ρ′pol(r, ϕ) = r. Die Abbildung ρpol ist als Funktion auf ihrem Definiti-onsbereich R+ × R nicht injektiv, und erfüllt in den Punkten (0, ϕ) mit ϕ ∈ R auch nicht die Bedingungdet ρ′pol(0, t) 6= 0. Schränkt man die Abbildung jedoch auf den die offene Teilmenge U = R+ × ]0, 2π[ ein, soerhält man eine injektive Abbildung mit det ρ′pol(r, ϕ) 6= 0 für alle (r, ϕ) ∈ U . Definieren wir nun

N = (R+ × [0, 2π]) \ U = {0} × [0, 2π] ∪ R+ × {0, 2π} ,

dann ist N ∩ T für jede kompakte, Jordan-messbare Teilmenge T ⊆ R2 eine Jordansche Nullmenge in R2.Auf Grund des Zusatzes zu (1.6) gilt für jede solche Menge T ⊆ R+ × [0, 2π] und jede rellwertige und stetigeFunktion auf ρpol(T ) somit∫

ρpol(T )

f(x, y) d(x, y) =

∫T

(f ◦ ρpol)(r, ϕ) · r d(r, ϕ). (1.3)

Als einfache Anwendungsbeispiele für diese Formel berechnen wir ein weiteres Mal das Kegel- und das Halb-kugelvolumen. Für beliebige s, h ∈ R+ definieren wir

Ks,h = {(x, y, z) ∈ R3 | ‖(x, y)‖2 ≤ s , 0 ≤ z ≤ s− hs ‖(x, y)‖2}

Hs = {(x, y, z) ∈ R3 | ‖(x, y, z)‖2 ≤ s , z ≥ 0}.

Bei Ks,h handelt es sich um den Kegel der Höhe h über der Grundfläche Bs = {(x, y) ∈ R2 | ‖(x, y)‖2 ≤ s},dem Kreis vom Radius s um den Mittelpunkt (0, 0), und Hs ist die obere Hälfte der Kugel vom Radius s umden Ursprung (0, 0, 0). Definieren wir Funktionen f, g : Bs → R+ durch

f(x, y) = h− hs ‖(x, y)‖2 und g(x, y) =

√s2 − ‖(x, y)‖22 ,

dann sind Ks,h und Hs die Ordinatenmengen der Funktionen f und g, d.h. es gilt Ks,h = Λ(f) und Hs = Λ(g).Für den Kegel erhält man die Gleichung durch die Äquivalenzumformung

(x, y, z) ∈ Ks,h ⇔ ‖(x, y)‖2 ≤ s und 0 ≤ z ≤ s− hs ‖(x, y)‖2

⇔ (x, y) ∈ Bs und 0 ≤ z ≤ f(x, y) ⇔ (x, y, z) ∈ Λ(f).

Der entsprechende Beweis für die Halbkugel ist eine ebenso einfache Übungsaufgabe. Nach Satz (4.35) derMathe III-Vorlesung erhält man die Volumina von Ks,h und Hs als Integrale von f und g über Bs, es gilt also

v3(Ks,h) =

∫Bs

f(x, y) d(x, y) und v3(Hs) = g(x, y) d(x, y).

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Auf Grund der Wurzelausdrücke ist aber besonders die Auswertung des ersten Integrals in kartesischen Ko-ordinaten eine recht unangenehme Angelegenheit. Wir werden jetzt sehen, dass die Berechnung in Polarkoor-dinaten bedeutend einfacher ist. Ist allgemein (x, y) ∈ Bs und (r, ϕ) ∈ R+ ×Rmit ρpol(r, ϕ) = (x, y), dann giltwegen x = r cos(ϕ) und y = r sin(ϕ) jeweils

‖(x, y)‖2 =√

(r cos(ϕ))2 + (r sin(ϕ))2 =√r2(cos(ϕ)2 + sin(ϕ)2 =

√r2 = r

und somit (f ◦ρpol)(r, ϕ) = f(x, y) = h− hs ‖(x, y)‖2 = h− h

s r. Setzen wir nun T = [0, s]× [0, 2π], dann erhaltenwir mit (1.3) das Kegelvolumen∫

Bs

f(x, y) d(x, y) =

∫ρpol(T )

f(x, y) d(x, y) =

∫T

(f ◦ ρpol)(r, ϕ) r d(r, ϕ) =

∫T

(h− hs r) r d(r, ϕ) =

∫ s

0

(∫ 2π

0

(h− hs r) dϕ

)r dr =

∫ s

0

[(h− h

s r)ϕ]2π0

r dr =

∫ s

0

2π(hr − hs r

2) dr = 2πh[

12r

2 − 13sr

3]s0

= 2πh( 12s

2 − 13s

2) = 2πh · 16s

2 = 13hπs

2

in Übereinstimmung mit der bekannten Regel „Volumen des Halbkegels = 13 mal Grundfläche mal Höhe“. Für

die Halbkugel gilt entsprechend (g ◦ ρpol)(r, ϕ) =√s2 − r2. Wie beim Kegel erhalten wir für das Halbkugelvo-

lumen ∫Bs

g(x, y) d(x, y) =

∫ρpol(T )

g(x, y) d(x, y) =

∫T

(g ◦ ρpol)(r, ϕ) r d(r, ϕ) =∫T

√s2 − r2 r d(r, ϕ) =

∫ s

0

(∫ 2π

0

r√s2 − r2 dϕ

)dr =

∫ s

0

[r√s2 − r2

]2π0

dr =

∫ s

0

r√s2 − r2 dr = π

∫ s

0

(2r)√s2 − r2 dr

(∗)= π

∫ s2

0

√s2 − t dt =

(−π)

∫ s2

0

(−1)√s2 − t dt (∗)

= (−π)

∫ 0

s2t1/2 dt = π

∫ s2

0

t1/2 dt = π[

23 t

3/2]s2

0

= 23π(s2)3/2 = 2

3πs3

wobei an den mit (*) gekennzeichneten Stellen die eindimensionale Substitutionsregel angewendet wurde.Es fällt auf, dass im Gegensatz zu der Berechnung des Kugelvolumens, die wir in der Mathe III-Vorlesungdurchgeführt haben, hier die Integralformel

∫ 1

−1

√1− x2 dx = 1

2π nicht benötigt wurde. Dies kann als Hinweisgewertet werden, dass die Verwendung der Polarkoordinaten tatsächlich eine substantielle Vereinfachung dar-stellt.

In Analogie zu den Polarkoordinaten verwendet man zur Berechnung dreidimensionaler Integrale die aus derMathe III-Vorlesung ebenfalls bekannten Zylinderkoordinaten

ρzyl : R+ ×R2 → R3 , (r, h, ϕ) 7→ (r cos(ϕ), r sin(ϕ), h)

und die Kugelkoordinaten gegeben durch

ρkug : R+ ×R2 → R3 , (r, ϑ, ϕ) 7→ (r cos(ϑ) cos(ϕ), r cos(ϑ) sin(ϕ), r sin(ϑ)) ,

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deren Funktionaldeterminanten durch det ρ′zyl(r, h, ϕ) = r bzw. det ρ′kug(r, ϑ, ϕ) = −r2 cos(ϑ) gegeben sind.Für jede kompakte, Jordan-messbare Teilmenge T ⊆ R+ ×R× [0, 2π] gilt hier entsprechend∫

ρzyl(T )

f(x, y, z) d(x, y, z) =

∫T

(f ◦ ρzyl)(r, h, ϕ) · r d(r, h, ϕ).

Im Fall der Kugelkoordinaten erhalten wir für jede kompakte, Jordan-messbare Teilmenge T ⊆ R+× [−π2 ,π2 ]×

[0, 2π] die Gleichung∫ρkug(T )

f(x, y, z) d(x, y, z) =

∫T

(f ◦ ρkug)(r, ϑ, ϕ) · r2 cos(ϑ) d(r, ϑ, ϕ).

Hierbei ist zu beachten, dass in die mehrdimensionale Substitutionsregel der Betrag der Funktionaldetermi-ante det ρ′kug(r, ϑ, ϕ) eingeht, und dass cos(ϑ) ≥ 0 und somit |det ρ′kug(r, ϑ, ϕ)| = | − r2 cos(ϑ)| = r2 cos(ϑ) fürϑ ∈ [−π2 ,

π2 ] gilt. Anwendungen dieser Gleichungen für Zylinder- und Kugelkoordinaten behandeln wir in

den Übungen.

Beweis der mehrdimensionalen Substitutionsregel

Im Wesentlichen erfolgt der Beweis von (1.6) durch vollständige Induktion über die Dimension n. Für denInduktionsschritt benötigen wir einen Satz aus der mehrdimensionalen Differentialrechnung, den wir hier ausZeitgründen leider nicht beweisen können. Wir erinnern daran, dass eine stetig differenzierbare Abbildungauch als C 1-Abbildung bezeichnet wird.

(1.7) Satz (Satz über die lokale Umkehrbarkeit)

Sei n ∈ N, U ⊆ Rn offen und g : U → Rn eine C 1-Abbildung. Dann gibt es für jeden Punkta ∈ U mit det g′(a) 6= 0 eine offene Umgebung W ⊆ U und eine Abbildung h : g(W )→ W

derart, dass g(W ) ⊆ Rn offen und die Gleichungen

h ◦ g|W = idW und (g|W ) ◦ h = idg(W ) erfüllt sind.

(1.8) Folgerung Sei n ∈ N, U ⊆ Rn offen und g : U → Rn eine C 1-Abbildung.Dann ist auch die Bildmenge g(U) offen.

Beweis: Es genügt zu zeigen, dass für jedes a ∈ U eine offene Umgebung von g(a) in g(U) enthalten ist.Tatsächlich gibt es wegen nach (1.7) eine offene Umgebung W ⊆ U von a mit der Eigenschaft, dass g(W ) ⊆g(U) in Rn ebenfalls offen ist. �

(1.9) Lemma Sei U ⊆ Rn offen und Q ⊆ U ein kompakter Quader. Dann gibt es einenoffenen Quader Q mit Q ⊆ Q ⊆ U .

Beweis: Sei Q =∏nk=1[ak, bk] mit ak, bk ∈ R, ak < bk für 1 ≤ k ≤ n, und nehmen wir an, dass ein Quader Q

wie angegeben nicht existiert. Setzen wir für jedes ε ∈ R+ jeweils Qε =∏nk=1 ]ak − ε, ak + ε[, dann gilt also

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Qε 6⊆ U für alle ε ∈ R+. Insbesondere gibt es eine Folge (xm)m∈N von Punkten im Rn mit der Eigenschaftxm ∈ Q1/m \ U für alle m ∈ N. Nun ist die gesamte Folge in der kompakten Menge Q1 enthalten. Nach demSatz von Bolzano-Weierstrass enthält diese Folge eine konvergente Teilfolge. Bezeichnen wir den Grenzwertdieser Teilfolge mit x, dann ist x einerseits in Q =

⋂m∈NQ1/m, andererseits auf Grund der Abgeschlossenheit

von Rn \ U auch im Komplement von U enthalten. Aber dies steht zu Q ⊆ U im Widerspruch. �

Für die Ausführung des Induktionsschritts im Beweis von (1.6) ist nun die folgende Aussage entscheidend.

(1.10) Proposition (Zerlegungssatz)

Sei n ≥ 2, U ⊆ Rn offen und ϕ : U → Rn eine stetig differenzierbare Funktion mit derEigenschaft, dass detϕ′(x) 6= 0 für alle x ∈ U gilt. Dann gibt es für jeden Punkt a ∈ U

nach eventueller Umnummerierung der Koordinaten eine offene Umgebung W ⊆ U undFunktionen % : W → Rn, ψ : %(W )→ Rn, so dass folgende Bedingungen erfüllt sind.

(i) Die Bildmenge %(W ) ist offen in Rn.(ii) Die Abbildungen % und ψ sind beide injektiv und stetig differenzierbar.

(iii) Es gilt ϕ|W = ψ ◦ %.(iv) Die Abbildung ψ lässt die ersten n − 1, die Abbildung % die letzte Ko-

ordinate unverändert, d.h. für alle x ∈W und y ∈ %(W ) gilt

%(x) = (%1(x), ..., %n−1(x), xn) und ψ(y) = (y1, ..., yn−1, ψn(y)).

Beweis: Wegen detϕ′(a) 6= 0 ist die Ableitungsmatrix ϕ′(a) vom Rang n. Streichen wir die letzte Zeile, so istdie verbleibende Matrix vom Rang n− 1. Mindestens eine Spalte dieser Matrix kann gestrichen werden, ohnedass sich der Rang dadurch weiter verringert. Nach eventueller Umnummerierung der Koordinaten könnenwir davon ausgehen, dass dies auf die letzte Spalte zutrifft. Die linke obere (n − 1) × (n − 1)-Teilmatrix vonϕ′(a) ist dann vom Rang n− 1 und somit invertierbar.

Sei nun % : U → Rn definiert durch %(x) = (ϕ1(x), ..., ϕn−1(x), xn) für alle x ∈ U . Dann stimmt die linke obere(n − 1) × (n − 1)-Teilmatrix von %′(a) mit der von ϕ′(a) überein. Die letzte Zeile und Spalte von %′(a) hat alseinzigen Eintrag ungleich Null eine 1 in der letzten Komponente. Insgesamt folgt daraus det %′(a) 6= 0. Wirkönnen somit (1.7) anwenden und erhalten eine offene Umgebung W ⊆ U von a, so dass V = %(W ) offen inRn (also Bedingung (i) erfüllt) ist und eine Umkehrabbildung λ : V → W von % = %|W existiert. Insbesonderegilt λj(%(x)) = xj für 1 ≤ j ≤ n, für alle x ∈W .

Nun definieren wir ψ : V → Rn für alle y ∈ V durch ψ(y) = (y1, ..., yn−1, ϕn(λ1(y), ..., λn−1(y), yn)). Offenbarist auch die Abbildung ψ auf ihrem gesamten Definitionsbereich stetig differenzierbar (da alle ihre Kompo-nentenfunktionen stetig differenzierbar sind). Für alle x ∈W gilt

(ψ ◦ %)(x) = ψ(%1(x), ..., %n−1(x), xn) = (%1(x), ..., %n−1(x), ϕn(λ1(%(x)), ..., λn−1(%(x)), xn)) =

(ϕ1(x), ..., ϕn−1(x), ϕn(x1, ..., xn−1, xn)) = (ϕ1(x), ..., ϕn−1(x), ϕn(x)) = ϕ(x).

Dies zeigt, dass Bedingung (iii) erfüllt ist, und Bedingung (iv) ist auf Grund der Definition von % und ψ offen-sichtlich. Auf Grund der Injektivität von ϕ|W und der Gleichung ψ ◦ % = ϕ|W müssen auch % auf W und ψ auf%(W ) injektiv sein. Also ist auch Bedingung (ii) gültig. �

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Der Übersichtlichkeit halber teilen wir den Beweis von (1.6) in eine Reihe von Einzelschritten auf.

1© Beweis der Teilaussagen (i) und (ii)

2© Rückführung des Beweises von (S) auf den Fall, dass G→ R, t 7→ detϕ′(t) beschränkt ist

3© Für jeden QuaderQ ⊇ T gibt es eine Zerlegung Z , so dass entwederK ⊆ G oderK∩T = ∅für alle K ∈ Q(Z ) erfüllt ist.

4© Rückführung auf den Fall, dass T ein kompakter Quader und G ein offener Quader ist

5© Beweis von (S) für Dimension n = 1

6© Beweis von (S) für den Fall, dass die Substitutionsfunktion die spezielle Form ϕ(t, tn) =

(t, ψ(t, tn)) besitzt, mit einer Funktion ψ : G→ R

7© Gilt (1.6) in Dimension n− 1, dann ist (S) auch in Dimension n gültig (für n ∈ N, n ≥ 2).

8© Beweis des Zusatzes

Wir arbeiten diese Einzelschritte nun der Reihe nach ab.

1© Unter den in (1.6) angegebenen Voraussetzungen gelten die dort genannten Aussagen (i) und (ii).

Beweis: Da T Jordan-messbar ist, handelt es sich bei ∂T um eine Nullmenge. Die Menge T ist nach Voraus-setzung kompakt, und als abgeschlossene Teilmenge von T ist damit auch ∂T kompakt. Aus der Mathe IIIist bekannt, dass eine kompakte Nullmenge zugleich eine Jordansche Nullmenge ist. Auf Grund der stetigenDifferenzierbarkeit von ϕ ist nach (1.5) auch ϕ(∂T ) eine Jordansche Nullmenge. Da es sich bei ϕ wegen (1.7)um einen Homöomorphismus von G auf ϕ(G) handelt, gilt außerdem ϕ(∂T ) = ∂ϕ(T ). Dies zeigt, dass auch∂ϕ(T ) eine Jordansche Nullmenge und ϕ(T ) somit Jordan-messbar ist. Als stetige Funktion auf der Jordan-messbaren Menge ϕ(T ) ist f Riemann-integrierbar. Die Abbildung f ◦ ϕ ist auf T stetig und somit ebenfallsRiemann-integrierbar.

2© Ist die Gleichung (S) immer dann erfüllt, wenn die Funktion t 7→ detϕ′(t) auf G beschränkt ist, dann giltsie auch im allgemeinen Fall.

Beweis: Für jedes x ∈ Rn und r ∈ R+ bezeichnen wir mit Wr(x) den offenen Ball vom Radius r bezüglichder ‖ · ‖∞-Norm; dabei handelt es sich um einen Würfel der Kantenlänge 2r. Für jedes x ∈ G sei ε(x) ∈ R+

so gewählt, dass Wε(x)(x) ⊆ G gilt. Dann bilden auch die Würfel Wε(x)/3(x) ⊆ G mit x ∈ T bereits eine offeneÜberdeckung von T . Weil T kompakt ist, gibt es eine endliche Menge x1, ..., xm ∈ T , so dass T bereits von denWürfeln Wk = Wε(xk)/3(xk) überdeckt wird. Darüber hinaus gilt

T ⊆m⋃k=1

Wk ⊆m⋃k=1

Wk ⊆ G ,

wobei Wk jeweils den Abschluss von Wk bezeichnet. Weil die Menge V =⋃mk=1 Wk kompakt ist, ist die Abbil-

dung t 7→ detϕ′(t) auf V beschränkt, somit erst recht auf G =⋃mk=1Wk. Wegen T ⊆ G ⊆ G können wir in der

Gleichung (S) die Funktion ϕ durch die Einschränkung ϕ|G ersetzen, ohne dass sich die Integrale auf beidenSeiten der Gleichung ändern.

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3© Für jeden Quader Q ⊇ T gibt es eine Zerlegung Z , so dass entweder K ⊆ G oder K ∩ T = ∅ für alleK ∈ Q(Z ) erfüllt ist.

Beweis: Seien die Würfel Wk = Wε(xk)/3(x) wie im Beweis von Schritt 2© gewählt und rk = ε(xk) für 1 ≤k ≤ m. Mit Vk bezeichnen wir jeweils den Würfel mit demselben Mittelpunkt xk ∈ T wie Wk vom Radius rk,außerdem setzen wir r = min{r1, ..., rm}. Nach Konstruktion gilt

T ⊆m⋃k=1

Wk ⊆m⋃k=1

Vk ⊆ G.

Wir zeigen nun: Ist W ein kompakter Würfel vom ‖ · ‖∞-Radius ≤ 16r, der mindestens einen Punkt x0 ∈

T enthält, dann folgt W ⊆ G. Weil T von den Würfeln W1, ...,Wm überdeckt wird, können wir x0 ∈ Wk

annehmen. Sei nun x der Mittelpunkt von W und x ∈W beliegt. Zu zeigen ist x ∈ G. Es gilt

‖x− xk‖∞ ≤ ‖x− x‖∞ + ‖x− x0‖∞ + ‖x0 − xk‖∞ ≤ 16r + 1

6r + 13rk ≤ 2

3rk < rk ,

also x ∈ Vk und somit x ∈ G. Sei nun Q ⊆ Rn ein kompakter Würfel mit Q ⊆ T und Z eine Zerlegungvon Q bestehend aus Würfeln vom ‖ · ‖∞-Radius ≤ 1

6r. Wie soeben gezeigt, ist dann jeder Würfel R ∈ Q(Z )

entweder zu T disjunkt oder vollständig in G enthalten.

4© Setzt man die Gültigkeit von Satz (1.6) in der speziellen Situation voraus, dass G ein offener und T einkompakter Quader im Rn ist, dann gilt dieser Satz auch im allgemeinen Fall.

Beweis: Sei ε ∈ R+ vorgegeben und Q ⊆ Rn ein kompakter Quader mit Q◦ ⊇ T . Nach Schritt 3© gibt es eineZerlegung Z von Q, so dass für alle R ∈ Q(Z ) entweder R ∩ T = ∅ oder R ⊆ G gilt. Wir definieren nun dieQuadermengen

A = {R ∈ Q(Z ) | R ∩ ∂T 6= ∅} und B = {R ∈ Q(Z ) | R ⊆ T ◦}

und setzen A =⋃R∈A R sowie B =

⋃R∈B R. Da ∂T auf Grund der Jordan-Messbarkeit von T eine Null-

menge, wegen der Kompaktheit von ∂T sogar eine Jordansche Nullmenge ist, können wir nach eventuellerVerfeinerung von Z voraussetzen, dass v(A) < ε gilt. Jeder Punkt x ∈ T ist in einem Quader R ∈ Q(Z )

enthalten. Dieser liegt entweder im Inneren von T , oder er scheidet ∂T ; somit gilt x ∈ A ∪ B. Aus T ⊆ A ∪ Bfolgt T \B ⊆ A und v(T \B) ≤ v(A) < ε.

Nach (1.2) ist ϕ auf jedem Quader R ∈ A Lipschitz-stetig, mit Lipschitz-Konstante L = supt∈G ‖ϕ′(t)‖, wobei‖ · ‖ die Operatornorm auf L (Rn) bezüglich der Maximumsnorm auf Rn bezeichnet. Wie im Beweis von (1.4)folgt daraus v(ϕ(A)) < λε mit einer nur von ϕ abhängigen Konstanten λ ∈ R+. Aus ϕ(T ) ⊆ ϕ(A)∪ ϕ(B) folgtϕ(T ) \ ϕ(B) ⊆ ϕ(A) und v(ϕ(T ) \ ϕ(B)) ≤ v(ϕ(A)) < λε.

Zur Abkürzung setzen wir F (t) = (f ◦ ϕ)(t)|detϕ′(t)|. Es gilt ϕ(B) =⋃R∈B ϕ(R), und die Mengen ϕ(R)

schneiden sich nach (1.4) höchstens in Nullmengen. Für jedes R ∈ B gibt es wegen R ⊆ T ◦ nach (1.9) einenoffenen Quader R ⊇ R, der ebenfalls in T ◦ enthalten ist. Wir können unsere Voraussetzung auf die QuaderR, R anwenden und erhalten die Gleichung∫

ϕ(B)

f(x) dx =∑R∈B

∫ϕ(R)

f(x) dx =∑R∈B

∫R

F (t) dt =

∫B

F (t) dt.

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Auf Grund der Rechenregeln für das Riemann-Integral aus der Mathe III gilt∣∣∣∣∣∫ϕ(T )

f(x) dx−∫T

F (t) dt

∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∫ϕ(T )\ϕ(B)

f(x) dx+

∫ϕ(B)

f(x) dx−∫B

F (t) dt−∫T\B

F (t) dt

∣∣∣∣∣≤

∣∣∣∣∣∫ϕ(T )\ϕ(B)

f(x) dx

∣∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣∫T\B

F (t) dt

∣∣∣∣∣ .Sei γ = sup{ |f(x)| | x ∈ ϕ(T )} ∪ { |F (t)| | t ∈ T}. Dann gilt also∣∣∣∣∣

∫ϕ(T )

f(x) dx−∫T

F (t) dt

∣∣∣∣∣ ≤ γv(ϕ(T ) \ ϕ(B)) + γv(T \B) < γλε+ γε = γε(λ+ 1).

Da ε ∈ R+ beliebig klein gewählt werden kann, folgt daraus die Behauptung.

5© Die mehrdimensionale Substiutionsregel (1.6) gilt für Dimension n = 1.

Beweis: Die Aussagen (i) und (ii) wurden bereits in Schritt 1© gezeigt. Direkt im Anschluss an die Formulie-rung von (1.6) haben wir festgestellt, dass auch die Gleichung (S) gültig ist, falls es sich bei Q um ein offenesund bei Q um ein kompaktes (eindimensionales) Intervall handelt. Somit folgt die Behauptung unmittelbaraus Schritt 4©.

6© Gibt es eine Funktion ψ : G→ Rmit ϕ(t, tn) = (t, ψ(t, tn)) für alle (t, tn) ∈ G, dann ist (S) erfüllt.

Beweis: Nach Schritt 4© können wir voraussetzen, dass G ein offener und T ein kompakter Quader ist. Esgibt dann einen offenen Quader Q, ein offenes Intervall I , einen kompakten Quader Q und ein kompaktesIntervall I = [an, bn] mit an, bn ∈ R, an < bn, so dass Q ⊇ Q, I ⊇ I , G = Q × I und T = Q × I erfülltist. Da G zusammenhängend, die Funktion G → R, (t, tn) 7→ detϕ′(t, tn) stetig und detϕ′(t, tn) 6= 0 für alle(t, tn) ∈ G ist, gilt entweder überall detϕ′(t, tn) > 0 oder detϕ′(t, tn) < 0. Wir betrachten zunächst den Fall,dass detϕ′(t, tn) überall positiv ist. Wegen ϕ(t, tn) = (t, ψ(t, tn)) hat die Ableitungsmatrix vn ϕ die Form

ϕ′(t, tn) =

1

. . .

1

∂1ψ(t, tn) · · · ∂n−1ψ(t, tn) ∂nψ(t, tn)

Definiert man für jedes t ∈ Q eine Funktion τt : I → R, tn 7→ ψ(t, tn), dann gilt τ ′t(tn) = ∂nψ(t, tn) =

detϕ′(t, tn) > 0. Die Funktion τt ist also für jedes t ∈ Q auf I streng monoton wachsend. Insbesondere gilt

ψ(t, an) = τt(an) ≤ τt(tn) ≤ τt(bn) = ψ(t, bn)

und somit τt(I) ⊆ [ψ(t, an), ψ(t, bn)] für alle t ∈ Q. Auf Grund der Stetigkeit von τt folgt aus dem Zwi-schenwertsatz sogar τt(I) = [ψ(t, an), ψ(t, bn)], somit ϕ({t} × I) = {t} × ψ({t} × I) = {t} × τt(I) = {t} ×[ψ(t, an), ψ(t, bn)] für alle t ∈ Q und schließlich

ϕ(T ) = ϕ(Q× I) =⋃t∈Q

ϕ({t} × I) =⋃t∈Q

( {t} × [ψ(t, an), ψ(t, bn)] )

= {(t, v) ∈ Q×R | ψ(t, an) ≤ v ≤ ψ(t, bn)}.

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Die Menge ϕ(T ) ist also ein Normalbereich. Wir beweisen nun die Gleichun (S) durch Rückführung auf denFall n = 1, der durch Schritt 5© bereits abgedeckt ist. Für jedes t ∈ Q sei dazu die Funktion ft : I → R definiertdurch ft(tn) = f(t, tn) für alle tn ∈ I . Durch Anwendung der verallgemeinerten Version des Satzes von Fubini(Mathe III, Satz (4.36)) erhalten wir∫

ϕ(T )

f(x) dx =

∫Q

(∫ ψ(t,bn)

ψ(t,an)

f(t, tn) dtn

)dt =

∫Q

(∫τt(I)

ft(tn) dtn

)dt

(∗)=

∫Q

(∫I

(ft ◦ τt)(tn)|τ ′t(tn)| dtn)dt =

∫Q

(∫I

f(t, ψ(t, tn))|τ ′t(tn)| dtn)dt =

∫Q

(∫I

(f ◦ ϕ)(t, tn)|detϕ′(t, tn)| dtn)dt =

∫Q×I

(f ◦ ϕ)(t, tn)|detϕ′(t, tn)| d(t, tn)

=

∫T

(f ◦ ϕ)(t, tn)|detϕ′(t, tn)| d(t, tn)

wobei an der Stelle (*) die Formel (S) für n = 1 angewendet wurde. Nun betrachten wir noch den Fall, dassdetϕ′(t, tn) < 0 für alle (t, tn) ∈ G gilt. In diesem Fall ist τ ′t(tn) < 0 für alle (t, tn) ∈ T , die Funktion τt ist alsofür alle t ∈ Q streng monoton fallend. Wir erhalten

ϕ(T ) = {(t, v) ∈ Q×R | ψ(t, bp) ≤ v ≤ ψ(t, ap)}

und somit entsprechend∫ϕ(T )

f(x) dx =

∫Q

(∫ ψ(t,an)

ψ(t,bn)

f(t, tn) dtn

)dt = −

∫Q

(∫τt(I)

ft(tn) dtn

)dt

= −∫T

(f ◦ ϕ)(t, tn) detϕ′(t, tn) d(t, tn) =

∫T

(f ◦ ϕ)(t, tn)|detϕ′(t, tn)| d(t, tn). �

7© Sei n ∈ Nmit n ≥ 2, und setzen wir voraus, dass (1.6) in Dimension n− 1 gültig ist.Dann gilt die Gleichung (S) auch in Dimension n.

Beweis: Wiederum können wir nach Schritt 4© annehmen, dass G ein offener Quader und T ein kompakterQuader ist. Wie zuvor schreiben wir G = Q × I und T = Q × I mit geeigneten Quadern Q ⊆ Q ⊆ Rn−1 undgeeigneten Intervallen I ⊆ I ⊆ R, wobei I , Q offen und I,Q kompakt sind. Auf Grund des Zerlegungssatzes(1.10) gibt es Funktionen % : G→ Rn und ψ : %(G)→ Rn der Form

%(t) = (ϕ1(t), ..., ϕn−1(t), tn) und ψ(t) = (t1, ..., tn−1, ψn(t))

mit ϕ = ψ ◦ %, wobei %(G) in Rn offen ist. Für jedes tn ∈ I definieren wir eine Funktion htn : Q→ Rn−1 durchhtn(t) = (ϕ1(t, tn), ..., ϕn−1(t, tn)). Dann gilt %(t, tn) = (htn(t), tn) und somit deth′tn(t) = det %′(t, tn) 6= 0 füralle t ∈ Q und tn ∈ I . Nach (1.8) ist htn(Q) jeweils in Rn−1 offen. Auf Grund der Injektivität von % ist htninjektiv auf Q, für jedes tn ∈ I . Darüber hinaus gilt für jedes tn ∈ I und jede stetige Funktion F : htn(Q)→ R

nach Induktionsvoraussetzung∫htn (Q)

F (t) dt =

∫Q

(F ◦ htn)(t)|deth′tn(t)| dt.

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Definieren wir nun F : %(G)→ R durch F (s) = (f ◦ ψ)(s)|detψ′(s)|, dann kann die linke Seite der Gleichung(S) in der Form∫

ϕ(T )

f(x) dx =

∫ψ(%(T ))

f(x) dx(∗)=

∫%(T )

(f ◦ ψ)(s)|detψ′(s)| ds =

∫%(T )

F (s) ds

dargestellt werden, wobei an der Stelle (*) das Ergebnis aus Schritt 6© verwendet wurde. Für jedes tn ∈ I ist%(T )(tn) = htn(Q), denn für alle u ∈ Rn−1 gilt die Äquivalenz

u ∈ %(T )(tn) ⇔ (u, tn) ∈ %(T ) ⇔ %(t, tn) = (u, tn) für ein t ∈ Q ⇔

(htn(t), tn) = (u, tn) für ein t ∈ Q ⇔ u ∈ htn(Q).

Für alle (t, tn) ∈ %(G) sei Ftn(t) = F (t, tn). Durch Anwendung des verallgemeinerten Satzes von Fubini (MatheIII, Satz (4.36)) erhalten wir∫

ϕ(T )

f(x) dx =

∫%(T )

F (s) ds =

∫I

(∫%(T )(tn)

F (t, tn) dt

)dtn =

∫I

(∫htn (Q)

Ftn(t) dt

)dtn =

∫I

(∫Q

(Ftn ◦ htn)(t)|deth′tn(t)| dt)dtn

=

∫T

F (htn(t), tn)|deth′tn(t)| d(t, tn).

Wir betrachten nun die rechte Seite der Gleichung (S). Für alle (t, tn) ∈ Q × I gilt detϕ′(t, tn) = det(ψ ◦%)′(t, tn) = detψ′(%(t, tn)) · det %′(t, tn) det = ψ′(htn(t), tn) deth′tn(t) und somit

(f ◦ ϕ)(t, tn)|det(ϕ′(t, tn))| = (f ◦ ψ ◦ %)(t, tn)|detϕ′(t, tn)| =

(f ◦ ψ)(htn(t), tn)|detψ′(htn(t), tn)||deth′tn(t)| = F (htn(t), tn)|deth′tn(t)|.

Damit erhalten wir∫T

(f ◦ ϕ)(t, tn)|detϕ′(t, tn)| d(t, tn) =

∫T

F (htn(t), tn)|deth′tn(t)| d(t, tn) =

∫ϕ(T )

f(x) dx. �

Nach diesen Vorbereitungen erhält man nun Satz (1.6) durch vollständige Induktion über n, wobei Schritt 5©für den Induktionsanfang und Schritt 7© für den Induktionsschritt verwendet wird.

8© Beweis des Zusatzes

Sei N ⊆ T eine Jordansche Nullmenge mit der Eigenschaft, dass t 7→ detϕ′(t) auf T \ N nicht verschwindetund ϕ auf T \N injektiv ist. Für beliebig vorgegebenes ε ∈ R+ können wir offene Quader Q1, ..., Qm wählen,so dass

∑mk=1 v(Qk) < ε ist und N vollständig in der Vereinigungsmenge R =

⋃mj=1Qj liegt. Die Menge

S = T \R ist beschränkt und abgeschlossen, also ebenfalls kompakt, und auf Grund des bisher Bewiesenen istdie Substitutionsregel für S an Stelle von R gültig. Es gilt v(T \ S) ≤ v(N) < ε, und wie im Beweis von Schritt4© zeigt man, dass v(ϕ(T \ S)) < λε mit einer nur von ϕ abhängigen Konstanten λ ∈ R+ gilt. Genau wie in 4©

folgert man nun auch, dass die Gleichung (S) auch für T erfüllt ist.

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1.2 Kurven- und Flächenintegrale

Inhaltsübersicht

FF Wegen und Kurven

FF heuristisch Herleitung der Ausdrucks für Kurvenintegrale 1. Art, Definition

FF Normierung und Konkatenation von Kurven

FF Vektorfelder und Kurvenintegrale 2. Art

FF Flächenintegrale

Bereits in der Analysis mehrerer Variablen wurde der Begriff des Weges in einer Teilmenge T ⊆ Rn definiert.Dabei handelte es sich um eine stetige Abbildung γ : [a, b]→ T , wobei a, b reelle Zahlen mit a < b bezeichnen.Man nennt γ(a) den Start- und γ(b) den Endpunkt des Weges; fallen diese beiden Punkte zusammen, so sprichtman von einem geschlossenen Weg. Wir nennen einen Weg eine C 1-Kurve in T , wenn die Abbildung γ|]a,b[stetig differenzierbar ist. Als Kurve bezeichnen wir einen Weg, wenn er stückweise stetig differenzierbar ist.Dies bedeutet, dass eine Zerlegung Z = {x1, ..., xn−1} existiert, so dass γ|]xk−1,xk[ für 1 ≤ k ≤ n jeweils stetigdifferenzierbar ist, wobei wie immer x0 = a und xn = b gesetzt wird.

Kommen wir nun zur Definition der Kurvenintegrale. Aus der Analysis einer Variablen ist bekannt, dassdas Riemann-Integral f : [a, b] → R durch sog. Riemannsche Summen approximiert werden kann. Ist Z =

{x1, ..., xn} eine hinreichend feine Zerlegung des Intervalls [a, b] und sind zk ∈ ]xk−1, xk[ geeignet gewählteStützstellen, dann gilt ∫ b

a

f(x) dx ≈n∑k=1

f(zk)|xk − xk−1|.

Ist nun U ⊆ Rd offen, γ : [a, b] → U eine Kurve und f : U → R eine stetige Funktion, dann liegt es nahe, einKurvenintegral in der Form ∫

γ

f ds ≈n∑k=1

(f ◦ γ)(zk)‖γ(xk)− γ(xk−1)‖

anzusetzen, wobei ‖ · ‖ die euklidische Norm auf dem Rd bezeichnet. Die Kurve wird also durch den Po-lygonzug angenähert, der von den Punkten γ(xk) mit 0 ≤ k ≤ n gebildet wird, die jeweils den Abstand‖γ(xk)−γ(xk−1)‖ voneinander haben. Die Gesamtlänge des Polygonzugs beträgt also

∑nk=1 ‖γ(xk)−γ(xk−1)‖.

Um aus diesem Näherungsausdrücken wieder Integrale zu gewinnen, erinnern wir daran, dass die differen-zierbare Abbildung γ in der unmittelbaren Umgebung der Stützstellen zk durch die affin-lineare Funktion

γ(t) ≈ γ(zk) + (t− zk)γ′(zk)

approximiert wird. Bei hinreichend feiner Zerlegung gilt γ(xk−1) ≈ γ(zk) + (xk−1 − zk)γ′(zk) und γ(xk) ≈γ(zk) + (xk − zk)γ′(zk). Durch Bildung der Differenz erhalten wir also γ(xk) − γ(xk−1) ≈ (xk − xk−1)γ′(zk)

und somitn∑k=1

(f ◦ γ)(zk)‖γ′(zk)‖(xk − xk−1) ≈∫ b

a

(f ◦ γ)′(t)‖γ′(t)‖ dt.

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Für die Kurvenlänge L (γ) erhalten wir den Näherungsausdruck

L (γ) ≈n∑k=1

‖γ(xk)− γ(xk−1)‖ ≈∫ b

a

‖γ′(t)‖ dt.

Diese Überlegungen motivieren die folgende Definition.

(1.11) Definition Sei U ⊆ Rd eine beliebige Teilmenge, γ : [a, b]→ U eine Kurve in U undf : U → R eine stetige Funktion. Dann bezeichnet man∫

γ

f ds =

∫ b

a

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt

als das Kurvenintegral 1. Art von f über γ. Die Zahl L (γ) =∫γ

1 ds =∫ ba‖γ′(t)‖ dt be-

zeichnen wir als die Länge der Kurve γ.

Wir illustrieren die Definition der Kurvenlänge an einem Beispiel. Die Kurve γ gegeben durch

γ : [0, 2π] −→ R2 , t 7→ (r cos(t), r sin(t))

durchläuft den Kreis vom Radius r um den Koordinatenursprung in der Ebene, und zwar entgegen demUhrzeigersinn. Für alle t ∈ ]0, 2π[ gilt γ′(t) = (−r sin(t), r cos(t)) und somit ‖γ′(t)‖2 = r2 sin(t)2 + r2 cos(t)2 =

r2, also ‖γ′(t)‖ = r. Die Kurvenlänge ist also gegeben durch

L (γ) =

∫ 2π

0

‖γ′(t)‖ dt =

∫ 2π

0

r dt = 2πr.

Bekanntlich ist dies laut Schulmathematik der Umfang eines Kreises vom Radius r.

Für Kurven stehen eine Reihe von Rechenoperationen zur Verfügung, die sich in den Anwendungen als hilf-reich herausstellen werden. Zunächst kann jede Kurve γ : [a, b] → Rd auf natürliche Weise eine Kurve γ0 mitDefinitionsbereich [0, 1] zugeordnet werden. Dazu definiert man u : [0, 1] → R durch u(t) = (1 − t)a + tb =

a + t(b − a) und setzt γ0 = γ ◦ u. Wir bezeichnen den Übergang von γ zu γ0 als Normierung und eine Kurvemit Definitionsbereich [0, 1] als normiert. Integrale über γ ändern sich durch die Normierung nicht. Auf Grundder Kettenregel gilt nämlich γ′0(t) = (γ ◦ u)′(t) = γ′(u(t))u′(t) für alle t ∈ ]a, b[. Wir erhalten∫

γ0

f ds =

∫ 1

0

(f ◦ γ0)(t)‖γ′0(t)‖ dt =

∫ 1

0

(f ◦ γ ◦ u)(t)‖γ′(u(t))u′(t)‖ dt =

∫ 1

0

(f ◦ γ ◦ u)(t)‖γ′(u(t))‖u′(t) dt =

∫ u(1)

u(0)

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt =

∫ b

a

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt =

∫γ

f ds ,

wobei im vierten Schritt die Substitutionsregel aus der Analysis einer Variablen angewendet wurde. Außer-dem ist zu beachten, dass u′(t) = b− a > 0 für alle t ∈ ]a, b[ gilt, weshalb die Betragsstriche um u′(t) im drittenSchritt weggelassen werden können. Wir definieren noch zwei weitere Rechenoperationen für Kurven.

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(1.12) Definition Sei U ⊆ Rd offen, und seien γ, δ : [0, 1] → U zwei normierte Kurven,wobei γ(1) = δ(0) ist. Dies bedeutet, dass der Endpunkt von γ mit dem Startpunkt von δübereinstimmt. Wir definieren zwei neue Kurven γ− und δ ∗ γ durch

γ−(t) = γ(1− t) und (δ ∗ γ)(t) =

γ(t) falls 0 ≤ t ≤ 1

δ(t− 1) falls 1 ≤ t ≤ 2

und bezeichnen γ− als die Umkehrung von γ und δ ∗ γ als die Konkatenation der beidenKurven γ und δ.

Sind γ und δ nicht normiert, dann setzen wir δ∗γ = δ0∗γ0, wobei γ0, δ0 die Normierungen von γ, δ bezeichnen.Wir untersuchen, wie sich die Kurvenintegrale unter Umkehrung und Konkatenation verhalten.

(1.13) Proposition Sei U ⊆ Rd offen, γ, δ : [0, 1] → U zwei normierte Kurven mit γ(1) =

δ(0) und f : U → R eine stetige Funktion. Dann gilt∫γ−f ds =

∫γ

f ds und∫δ∗γ

f ds =

∫γ

f ds+

∫δ

f ds.

Beweis: Nach Definition gilt γ− = γ ◦ u mit u(t) = 1− t und u′(t) = −1. Die Anwendung der mehrdimensio-nalen Kettenregel liefert (γ−)′(t) = γ′(u(t))u′(t). Wir erhalten∫

γ−f ds =

∫ 1

0

(f ◦ γ−)(t)‖(γ−)′(t)‖ dt =

∫ 1

0

(f ◦ γ ◦ u)(t)‖γ′(u(t))u′(t)‖ dt =

−∫ 1

0

(f ◦ γ ◦ u)(t)‖γ′(u(t))‖u′(t) dt = −∫ u(1)

u(0)

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt =

−∫ 0

1

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt =

∫ 1

0

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt =

∫γ

f ds.

Beweisen wir nun die Rechenregel für die Konkatenation. Hier gilt∫δ∗γ

f ds =

∫ 2

0

(f ◦ (δ ∗ γ))(t)‖(δ ∗ γ)′(t)‖ dt =

∫ 1

0

(f ◦ (δ ∗ γ))(t)‖(δ ∗ γ)′(t)‖ dt+

∫ 2

1

(f ◦ (δ ∗ γ))(t)‖(δ ∗ γ)′(t)‖ dt =

∫ 1

0

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt+

∫ 2

1

(f ◦ δ)(t− 1)‖δ′(t− 1)‖ dt =

∫ 1

0

(f ◦ γ)(t)‖γ′(t)‖ dt+

∫ 1

0

(f ◦ δ)(t)‖δ′(t)‖ dt =

∫γ

f ds+

∫δ

f ds.

Bei dieser Rechnung wurde im vorletzten Schritt die eindimensionale Substitutionsregel auf die Substitutions-funktion t 7→ t− 1 angewendet. �

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Vor allem für Anwendungen in der Physik benötigt man ein weitere Version des Kurvenintegrals, die nichtauf reellwertige Funktionen, sondern auf Vektorfelder angewendet wird.

(1.14) Definition Sei d ∈ N. Als Vektorfeld auf einer Teilmenge D ⊆ Rd bezeichnen wireine Abbildung f : D → Rd.

Man spricht von einen stetigen, differenzierbaren, C 1-Vektorfeld usw. wenn die Abbildung f auf D stetig,differenzierbar, stetig differenzierbar usw. ist. In den letzten beiden Fällen setzt man dafür voraus, dass derDefinitionsbereich D von f offen im Rn ist.

(1.15) Definition Sei U ⊆ Rd eine beliebige Teilmenge, γ : [a, b]→ U eine Kurve in U undf : U → Rd ein stetiges Vektorfeld. Dann bezeichnet man∫

γ

〈f, ds〉 =

∫ b

a

〈(f ◦ γ)(t), γ′(t)〉 dt

als das Kurvenintegral 2. Art von f über γ, wobei 〈·, ·〉 das euklidische Standard-Skalarpro-dukt auf Rd bezeichnet.

Für Kurvenintegrale 2. Art gelten die Rechenregeln∫γ−〈f, ds〉 = −

∫γ

〈f, ds〉 und∫δ∗γ〈f, ds〉 =

∫γ

〈f, ds〉+

∫δ

〈f, ds〉.

Man beachte, dass die zweite Gleichung mit der entsprechenden Regel für Kurvenintegrale 1. Art überein-stimmt, während bei der ersten Gleichung ein Vorzeichenwechsel auftritt. Wir werden diese Rechenregelnhier nicht beweisen. Statt dessen schauen wir uns ein konkretes Beispiel für Kurvenintegrale 2. Art an, wiees es typischerweise in der Physik vorkommt. Bei den Vektorfeldern, die man dort betrachtet, handelt es sichhäufig um Kraftfelder, die also in jedem Punkt des dreidimensionalen Raums die Richtung und Stärke einerKraft angeben. Zum Beispiel beschreibt das konstante Vektorfeld

Fgrav : R3 → R3 , (x, y, z) 7→ (0, 0,−mg)

mit der Erdbeschleunigung g in der dritten Komponente die (nahezu) konstante Schwerkraft in der Nähe derErdoberfläche, die auf eine Masse m ausgeübt wird. Das Minuszeichen bedeutet, dass die Kraft nach untengerichtet ist. Beschreibt nun γ : [0, 1] → R3 den Weg einer Punktmasse m durch den Raum, dann gibt dasKurvenintegral

W =

∫γ

〈F, ds〉

die Arbeit an, die ein Kraftfeld F entlang des Weges an der Punktmasse verichtet. Ist W positiv, so bedeutetdies, dass m entlang des Weges γ kinetische Energie aufnimmt; die Punktmasse wird entlang des Weges vomKraftfeld beschleunigt. Hat W dagegen ein negatives Vorzeichen, so wird der Masse m Energie entzogen, siewird also von F verlangsamt. Soll die Geschwindigkeit von m entlang des Weges konstant bleiben, so gibt

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−W die Arbeit an, die aufgewendet werden muss, um m vom Punkt γ(0) nach γ(1) zu transportieren. Seibeispielsweise F = Fgrav wie oben, seien p, q ∈ R3 zwei Punkte mit einem Höhenunterscheid von h = q3 − p3,und sei γ : [0, 1] → R3, t 7→ (1 − t)p + tq der gradlinige Weg von p nach q. Für alle t ∈ [0, 1] gilt dann〈(F ◦ γ)(t), γ′(t)〉 = 〈 t(0, 0,−mg), t(q1 − p1, q2 − p2, q3 − p3)〉 = (−mg)(q3 − p3) = (−mg)(q3 − p3) = −mgh.Also muss für die Positionsänderung die Arbeit

W =

∫γ

〈F, ds〉 =

∫ 1

0

〈(F ◦ γ)(t), γ′(t)〉 dt =

∫ 1

0

(−mgh) dt = −mgh

an der Punktmasse verrichtet werden.

Als nächstes werden wir nun Integrale über Flächen im R3 definieren. Hierzu benötigen wird das bereits ausder Schulmathematik bekannte Kreuzprodukt zweier Vektoren.

(1.16) Definition Das Kreuzprodukt zweier Vektoren v = (v1, v2, v3) und w = (w1, w2, w3)

im R3 ist definiert durch

v × w =

v1

v2

v3

×w1

w2

w3

=

v2w3 − v3w2

v3w1 − v1w3

v1w2 − v2w1

.

Wie man unmittelbar nachrechnet, steht v × w immer senkrecht auf den Vektoren v und w, es gilt also

〈v, v × w〉 = 0 und 〈w, v × w〉 = 0.

Für die folgende Anwendung des Kreuzprodukts ist auch die Interpretation der Länge ‖v×w‖ des Kreuzpro-dukts interessant. Sei n der Vektor, den man durch Normierung von v × w erhält, also n = ‖v × w‖−1(v × w).Sei außerdemA ∈M3,R die Matrix mit den Spaltenvektoren v, w und n. Dann hat die Matrix tAA die Einträge

tAA =

〈v, v〉 〈v, w〉 〈v, n〉〈w, v〉 〈w,w〉 〈w, n〉〈n, v〉 〈n,w〉 〈n, n〉

=

〈v, v〉 〈v, w〉 0

〈w, v〉 〈w,w〉 0

0 0 1

Wie wir bereits im letzten Abschnitt wiederholt haben, kann |det(A)| als das Volumen des von v, w und n

aufgespannten Parallelotops interpretiert werden. Weil n Länge 1 hat und senkrecht auf v und w steht, stimmtder Flächeninhalt des von v und w aufgespannten Parallelogramms ebenfalls mit |det(A)| überein. Nun gilteinerseits

‖v × w‖2 = (v2w3 − v3w2)2 + (v3w1 − v1w3)2 + (v1w2 − v2w1)2 =(v2

2w23 − 2v2v3w2w3 + v2

3w22

)+(v2

3w21 − 2v1v3w1w3 + v2

1w23

)+(v2

1w22 − 2v1v2w1w2 + v2

2w21

),

—– 25 —–

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andererseits aber auch

det(A)2 = det( tAA) = 〈v, v〉〈w,w〉 − 〈v, w〉2 = (v21 + v2

2 + v23)(w2

1 + w22 + w2

3)

−(v1w1 + v2w2 + v3w3)2 =(v2

1w21 + v2

1w22 + v2

1w23 + v2

2w21 + v2

2w22 + v2

2w23 + v2

3w21 + v2

3w22 + v2

3w23

)−(v2

1w21 + v2

2w22 + v2

3w23 + 2v1v2w1w2 + 2v1v3w1w3 + 2v2v3w2w3

)=(

v22w

23 − 2v2v3w2w3 + v2

3w22

)+(v2

3w21 − 2v1v3w1w3 + v2

1w23

)+(v2

1w22 − 2v1v2w1w2 + v2

2w21

)woraus ‖v × w‖ = |det(A)| geschlossen werden kann. Die euklidische Länge von v × w ist also genau derFlächeninhalt des von v und w aufgespannten Parallelogramms.

(1.17) Definition Eine parametrisierte Fläche imR3 ist ein Paar (B,φ) bestehend aus einerkompakten, Jordan-messbaren Teilmenge B ⊆ R2 und einer C 1-Abbildung φ : G → R3,wobei der Definitionsbereich G von φ eine offene Teilmenge von R2 mit G ⊇ B ist.

Sei (B,ϕ) eine solche parametrisierte Fläche und f : φ(B)→ R eine stetige Funktion. Wie bei den Kurven sollf auf naheliegende Weise ein Integral

∫(B,φ)

f dA zugeordnet werden. Der Einfachheit halber nehmen wir an,dass es sich bei B um einen kompakten Quader handelt, und betrachten eine feine Zerlegung Z von B. InAnalogie zu den Kurven sollte ∫

(B,φ)

f dA ≈∑

K∈Q(Z )

(f ◦ φ)(aK)v2(φ(K))

gelten, wobei aK jeweils einen beliebig gewählten Punkt des Teilquaders K und v2(φ(K)) den Inhalt des Flä-chenstücks φ(K) imR3 bezeichnet. Weil φ stetig differenzierbar ist, und weil stetig differenzierbare Funktionendurch affin-lineare Funktionen approximiert werden können, gilt

φ(aK + t1e1 + t2e2) ≈ φ(aK) + φ′(aK)(t1e1 + t2e2) = φ(aK) + t1φ′(aK)(e1) + t2φ

′(aK)(e2)

für betragsmäßig kleine t1, t2 ∈ R. Bei geeigneter Wahl von aK können wir annehmen, dass K = aK + [0, u]×[0, v] mit geeigneten u, v ∈ R+ ist. Dann ist φ(K) in guter Näherung das Bild von [0, u]× [0, v] unter der Abbil-dung (t1, t2) 7→ φ(aK)+t1φ

′(aK)(e1)+t2φ′(aK)(e2). Dabei handelt es sich um das Parallelogramm aufgespannt

von den Vektoren uφ′(aK)(e1) und vφ′(aK)(e2). Weil der Flächeninhalt des Parallelogramms durch die Längedes Kreuzprodukts dieser Vektoren gegeben ist, erhalten wir

v2(φ(K)) ≈ ‖uφ′(aK)(e1)× vφ′(aK)(e2)‖

= uv‖φ′(aK)(e1)× φ′(aK)(e2)‖ = ‖φ′(aK)(e1)× φ′(aK)(e2)‖v2(K).

Durch Einsetzen erhalten wir∫(B,φ)

f dA ≈∑

K∈Q(Z )

(f ◦ φ)(aK)‖φ′(aK)(e1)× φ′(aK)(e2)‖v2(K)

≈∫B

(f ◦ φ)(x, y)‖φ′(x, y)(e1)× φ′(x, y)(e2)‖ d(x, y).

Dies motiviert die folgende Definition.

—– 26 —–

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(1.18) Definition Sei (B,φ) eine parametrisierte Fläche im R3 und f : φ(B) → R einestetige Funktion. Dann ist das Flächenintegral von f über (B,φ) definiert durch∫

(B,φ)

f dA =

∫B

(f ◦ φ)(x, y)‖φ′(x, y)(e1)× φ′(x, y)(e2)‖ d(x, y).

Das Integral der konstanten Funktion 1 über (B,φ) bezeichnen wir als Inhalt der parame-trisierten Fläche.

Als Anwendungsbeispiel berechnen wir die Oberfläche der Kugel vom Radius r. Diese wird parametrisiertdurch

φ : [−π2 ,π2 ]× [0, 2π] −→ R3 , (ϑ, ϕ) 7→ (r cos(ϑ) cos(ϕ), r cos(ϑ) sin(ϕ), r sin(ϑ)).

In jedem Punkt (ϑ, ϕ) des Definitionsbereichs ist die Ableitungsmatrix gegeben durch

φ′(ϑ, ϕ) =

−r sin(ϑ) cos(ϕ) −r cos(ϑ) sin(ϕ)

−r sin(ϑ) sin(ϕ) r cos(ϑ) cos(ϕ)

r cos(ϑ) 0

,

die beiden Ableitungsvektoren sind also

φ′(ϑ, ϕ)(e1) =

−r sin(ϑ) cos(ϕ)

−r sin(ϑ) sin(ϕ)

r cos(ϑ)

und φ′(ϑ, ϕ)(e2) =

−r cos(ϑ) sin(ϕ)

r cos(ϑ) cos(ϕ)

0

mit dem Kreuzprodukt

φ′(ϑ, ϕ)(e1)× φ′(ϑ, ϕ)(e2) = r2

− cos(ϑ)2 cos(ϕ)

cos(ϑ)2 sin(ϕ)

− cos(ϑ) sin(ϑ)

.

Es gilt

‖φ′(ϑ, ϕ)(e1)× φ′(ϑ, ϕ)(e2)‖2 =

r4(cos(ϑ)4 cos(ϕ)2 + cos(ϑ)4 sin(ϕ)2 + cos(ϑ)2 sin(ϑ)2

)= r4

(cos(ϑ)4 + cos(ϑ)2 sin(ϑ)2

)=

r4 cos(ϑ)2(cos(ϑ)2 + sin(ϑ)2

)= r4 cos(ϑ)2

und somit ‖φ′(ϑ, ϕ)(e1)× φ′(ϑ, ϕ)(e2)‖ = r2 cos(ϑ). Setzen wir Q = [−π2 ,π2 ]× [0, 2π], dann ist φ(Q) die Kugel-

oberfläche, und wir erhalten∫(Q,φ)

1 dA =

∫Q

‖φ′(ϑ, ϕ)(e1)× φ′(ϑ, ϕ)(e2)‖ d(ϑ, ϕ) =

∫Q

r2 cos(ϑ) d(ϑ, ϕ)

=

∫ π/2

−π/2

(∫ 2π

0

r2 cos(ϑ) dϕ

)dϑ = 2πr2

∫ π/2

−π/2cos(ϑ) dϑ = 2πr2 [ sin(ϑ) ]

ϑ=π/2ϑ=−π/2 = 4πr2.

—– 27 —–

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1.3 Vektoranalysis

Inhaltsübersicht

FF Gradient einer Funktion, Divergenz und Rotation eines Vektorfelds

FF Übertragung dieser Operationen auf krummlinige Koordinaten

FF Integralsätze von Green, Stokes und Gauß

Wir betrachten eine Reihe von Operationen auf skalaren Funktion und Vektorfeldern, die häufig in der mathe-matischen Physik Verwendung finden.

(1.19) Definition Sei d ∈ N, U ⊆ Rd offen, f : U → R eine stetig differenzierbare Funktionund F : U → Rd ein C 1-Vektorfeld auf U .

(i) Das stetige Vektorfeld ∇f : U → Rd gegeben durch

(∇f)(x) =

∂1f(x)

...∂nf(x)

wird Gradient von f genannt.

(ii) Die Divergenz von F ist die stetige, reellwertige Funktion div(F ) auf U gege-ben durch

div(F )(x) = 〈∇, F 〉(x) =∂F1

∂x1(x) + ...+

∂Fd∂xd

(x).

(iii) Im Fall d = 3 definieren wir die Rotation von F als das Vektorfeldrot(F ) : U → R3 gegeben durch

rot(F )(x, y, z) = (∇× F )(x, y, z) =

∂F3

∂y(x, y, z)− ∂F2

∂z(x, y, z)

∂F1

∂z(x, y, z)− ∂F3

∂x(x, y, z)

∂F2

∂x(x, y, z)− ∂F1

∂y(x, y, z)

.

Die Ausdrücke 〈∇, F 〉 und ∇× F in der Definition sind als Merkregeln für die Divergenz und Rotation einesVektorfelds zu verstehen. Kürzen wir die Definition von ∇ durch ∇ = t(∂/∂x1, ..., ∂/∂xn) ab, so erhalten wirrein formal für die Divergenz den Ausdruck

〈∇, F 〉 =

⟨∂

∂x1...∂

∂xn

,

F1

...Fn

=

n∑k=1

∂Fk∂xk

—– 28 —–

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und ebenso für die Rotation

∇× F =

∂x

∂y

∂z

×

F1

F2

F3

=

∂F3

∂y− ∂F2

∂z

∂F1

∂z− ∂F3

∂x

∂F2

∂x− ∂F1

∂y

.

Der Gradient (∇f)(x) hat eine einfache geometrische Interpretation: Für jeden Punkt x ∈ U zeigt er in dieRichtung des stärksten Anstiegs der Funktion f , und seine euklidische Länge ‖(∇f)(x)‖2 gibt den Wert desAnstiegs an. Ist nämlich v ∈ Rn ein beliebiger Vektor mit ‖v‖2 = 1, dann ist der Anstieg von f in Richtung vgegeben durch die Richtungsableitung, also durch

∂vf(x) = f ′(x)(v) =(∂f∂x1

(x) ... ∂f∂xn

(x))

v1

...vn

=

n∑k=1

∂f

∂xk(x)vk = 〈(∇f)(x), v〉.

Auf Grund der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung |〈v, w〉| ≤ ‖v‖2‖w‖2 wird dieser Wert maximal, wenn v

mit der Normierung w = ‖(∇f)(x)‖−12 (∇f)(x) von (∇f)(x) übereinstimmt, und hat dann den (positiven)

Wert ‖(∇f)(x)‖2.

Die Divergenz div(F )(x) eines Vektorfelds F wird als „Quellenstärke“ des Feldes im Punkt x interpretiert.Stellt man sich etwa vor, dass es sich bei div(F ) um das Geschwindigkeitsfeld einer Strömung handelt, undist B ⊆ U ein kleiner Raumbereich, dann ist das Integral

∫B

div(F )(x) dx ein Maß für die Flüssigkeitsmenge,die aus dem Raumbereich B innerhalb eines kurzen Zeitintervalls heraustritt. Ist das Vorzeichen des Integralsnegativ, dann interpretiert man statt dessen alsB als „Senke“, die Flüssigkeit aufnimmt. Die Rotation rot(F )(x)

wird als „Wirbelstärke“ von F interpretiert, die angibt, mit welcher Geschwindigkeit die Flüssigkeit um einkleines Flächenstück herumströmt. Beide Interpretationen werden wir weiter unten mit Hilfe der Integralsätzegenauer formulieren können.

Für konkrete physikalische Anwendungen ist es häufig notwendig, die Operationen Gradient, Rotation undDivergenz statt durch kartesische Koordinaten durch krummlinige Koordinaten auszudrücken. Wir führendies hier für die Dimension d = 2 und die Polarkoordinaten

ρpol : R+ ×R→ R2 , (r, ϕ) 7→ (r cos(ϕ), r sin(ϕ))

genauer aus, da es sich um wichtige Anwendungen der mehrdimensionalen Kettenregel handelt. Ist f : R2 →R eine R-wertige Funktion, dann bezeichnen wir fpol = f ◦ ρpol als entsprechende Funktion „in Polarkoordi-naten“. Sei nun F : R2 → R2 ein Vektorfeld. Definieren wir die Einheitsvektoren ex = t(1, 0) und ey = t(0, 1)

und bezeichnen wir die x- bzw. y-Komponente von F mit Fx bzw. Fy , dann gilt

F = Fxex + Fyey.

Es wird dann entsprechend Fpol = F ◦ ρpol das Vektorfeld „in Polarkoordinaten“ genannt. Bei der Zerle-gung von Fpol in Komponenten ist es nun zweckmässig, das Feld in jedem Punkt (r cos(ϕ), r sin(ϕ)) nicht als

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Linearkombination von ex(r cos(ϕ), r sin(ϕ)) = t(1, 0) und ey(r cos(ϕ), r sin(ϕ)) = t(0, 1), sondern als Linear-kombination der Vektoren

er(r, ϕ) =

(cos(ϕ)

sin(ϕ)

)und eϕ(r, ϕ) =

(− sin(ϕ)

cos(ϕ)

)darzustellen. Es handelt sich dabei um die normierten Tangentialvektoren entlang der Koordinatenlinien, diedurch eine konstante ϕ- bzw. r-Koordinate gegeben sind, zeigen in Richtung einer Zunahme von r bzw. ϕ,und stehen in jedem Punkt senkrecht aufeinander. Die Komponenten können leicht ineinander umgerechnetwerden: Für alle (r, ϕ) ∈ R+ ×R gilt(

(Fpol)x(r, ϕ)

(Fpol)y(r, ϕ)

)=

(Fx(r cos(ϕ), r sin(ϕ))

Fy(r cos(ϕ), r sin(ϕ))

)= F (r cos(ϕ), r sin(ϕ)) =

(Fpol)r(r, ϕ)er(r, ϕ) + (Fpol)ϕ(r, ϕ)eϕ(r, ϕ) =

(cos(ϕ)(Fpol)r(r, ϕ)− sin(ϕ)(Fpol)ϕ(r, ϕ)

sin(ϕ)(Fpol)r(r, ϕ) + cos(ϕ)(Fpol)ϕ(r, ϕ)

),

durch Vergleich der Komponenten erhalten wir also

(Fpol)x(r, ϕ) = cos(ϕ)(Fpol)r(r, ϕ)− sin(ϕ)(Fpol)ϕ(r, ϕ)

(Fpol)y(r, ϕ) = sin(ϕ)(Fpol)r(r, ϕ) + cos(ϕ)(Fpol)ϕ(r, ϕ).

Um den Gradienten einer reellwertigen C 1-Funktion f : R2 → R in Polarkoordinaten darzustellen, benötigenwir die totale Ableitung von ρpol und ihre Inverse in jedem Punkt, also

ρ′pol(r, ϕ) =

(cos(ϕ) −r sin(ϕ)

sin(ϕ) r cos(ϕ)

)und ρ′pol(r, ϕ)−1 =

(cos(ϕ) sin(ϕ)

− 1r sin(ϕ) 1

r cos(ϕ)

).

Zur Abkürzung setzen wir g = fpol = f ◦ ρpol. Sei außerdem (x, y) ∈ R2 und (r, ϕ) ∈ R+ × R mit (x, y) =

(r cos(ϕ, r sin(ϕ)). Nach Definition gilt

(∇f)pol(r, ϕ) = (∇f)(r cos(ϕ), r sin(ϕ)) = (∇f)(x, y)

(∂f∂x (x, y)∂f∂y (x, y)

)= tf ′(x, y).

Wenden wir die mehrdimensionale Kettenregel auf f = g ◦ ρ−1pol und anschließend die mehrdimensionale

Umkehrregel an, so erhalten wir

f ′(x, y) = g′(ρ−1pol(x, y))(ρ−1

pol)′(x, y) = g′(r, ϕ)ρ′pol(r, ϕ)−1 =

(∂g∂r (r, ϕ) ∂g

∂ϕ (r, ϕ))( cos(ϕ) sin(ϕ)

− 1r sin(ϕ) 1

r cos(ϕ)

)=

(cos(ϕ)∂g∂r (r, ϕ)− 1

r sin(ϕ) ∂g∂ϕ (r, ϕ) sin(ϕ)∂g∂r (r, ϕ) + 1r cos(ϕ) ∂g∂ϕ (r, ϕ)

)Wir erhalten als Ergebnis

(∇f)pol(r, ϕ) =

cos(ϕ)∂g∂r (r, ϕ)− 1r sin(ϕ) ∂g∂ϕ (r, ϕ)

sin(ϕ)∂g∂r (r, ϕ) + 1r cos(ϕ) ∂g∂ϕ (r, ϕ)

=

∂g∂r (r, ϕ)

(cos(ϕ)

sin(ϕ)

)+ 1

r∂g∂ϕ (r, ϕ)

(− sin(ϕ)

cos(ϕ)

)=

fpol

∂r (r, ϕ) er(r, ϕ) + 1rfpol

∂r (r, ϕ) eϕ(r, ϕ).

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Sei nun F : R2 → R2 ein C 1-Vektorfeld. Um die Divergenz div(F ) in Polarkoordinaten darzustellen, setzenwir G = Fpol = F ◦ ρpol. Wie oben sei (x, y) ∈ R2 beliebig vorgegeben und (r, ϕ) ∈ R+ × R mit (x, y) =

ρpol(r, ϕ) = (r cos(ϕ), r sin(ϕ)). Nach Definition der Divergenz gilt

div(F )pol(r, ϕ) = div(F )(r cos(ϕ), r sin(ϕ)) =∂Fx∂x

(r cos(ϕ), r sin(ϕ)) +∂Fy∂y

(r cos(ϕ), r sin(ϕ)).

Der erste Summand ist die erste Komponente des Gradienten von Fx, der zweite Summand die zweite Kom-ponente des Gradienten von Fy . Weil wir die Gradienten bereits in Polarkoordinaten ausgerechnet haben,können wir schreiben

∂Fx∂x (r cos(ϕ), r sin(ϕ)) = cos(ϕ)∂Gx∂r (r, ϕ)− 1

r sin(ϕ)∂Gx∂ϕ (r, ϕ)

∂Fy∂y (r cos(ϕ), r sin(ϕ)) = sin(ϕ)

∂Gy∂r (r, ϕ) + 1

r cos(ϕ)∂Gy∂ϕ (r, ϕ)

Wir haben oben gesehen, wie man die kartesischen Komponenten eines Vektorfelds in Polarkomponentenumrechnet. Es gilt

Gx(r, ϕ) = cos(ϕ)Gr(r, ϕ)− sin(ϕ)Gϕ(r, ϕ)

Gy(r, ϕ) = sin(ϕ)Gr(r, ϕ) + cos(ϕ)Gϕ(r, ϕ).

Mit Hilfe der Produktregel erhalten wir

∂Gx∂r

(r, ϕ) = cos(ϕ)∂Gr∂r

(r, ϕ)− sin(ϕ)∂Gϕ∂r

(r, ϕ)

∂Gx∂ϕ

(r, ϕ) = − sin(ϕ)Gr(r, ϕ) + cos(ϕ)∂Gr∂ϕ

(r, ϕ)− cos(ϕ)Gϕ(r, ϕ)− sin(ϕ)∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ)

∂Gy∂r

(r, ϕ) = sin(ϕ)∂Gr∂r

(r, ϕ) + cos(ϕ)∂Gϕ∂r

(r, ϕ)

∂Gy∂ϕ

(r, ϕ) = cos(ϕ)Gr(r, ϕ) + sin(ϕ)∂Gr∂ϕ

(r, ϕ)− sin(ϕ)Gϕ(r, ϕ) + cos(ϕ)∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ).

Setzen wir dies in den Ausdruck von oben ein, so erhalten wir

div(F )pol(r, ϕ) = cos(ϕ)∂Gx∂r

(r, ϕ)− 1r sin(ϕ)

∂Gx∂ϕ

(r, ϕ) + sin(ϕ)∂Gy∂r

(r, ϕ) + 1r cos(ϕ)

∂Gy∂ϕ

(r, ϕ) =

cos(ϕ)

(cos(ϕ)

∂Gr∂r

(r, ϕ)− sin(ϕ)∂Gϕ∂r

(r, ϕ)

)− 1r sin(ϕ)

(− sin(ϕ)Gr(r, ϕ) + cos(ϕ)

∂Gr∂ϕ

(r, ϕ)− cos(ϕ)Gϕ(r, ϕ)− sin(ϕ)∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ)

)+ sin(ϕ)

(sin(ϕ)

∂Gr∂r

(r, ϕ) + cos(ϕ)∂Gϕ∂r

(r, ϕ)

)+ 1r cos(ϕ)

(cos(ϕ)Gr(r, ϕ) + sin(ϕ)

∂Gr∂ϕ

(r, ϕ)− sin(ϕ)Gϕ(r, ϕ) + cos(ϕ)∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ)

)=

cos(ϕ)2 ∂Gr∂r

(r, ϕ)− sin(ϕ) cos(ϕ)∂Gϕ∂r

(r, ϕ) + 1r sin(ϕ)2Gr(r, ϕ)

− 1r sin(ϕ) cos(ϕ)

∂Gr∂ϕ

(r, ϕ) + 1r sin(ϕ) cos(ϕ)Gϕ(r, ϕ) + 1

r sin(ϕ)2 ∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ)

+ sin(ϕ)2 ∂Gr∂r

(r, ϕ) + sin(ϕ) cos(ϕ)∂Gϕ∂r

(r, ϕ) + 1r cos(ϕ)2Gr(r, ϕ)

+ 1r sin(ϕ) cos(ϕ)

∂Gr∂ϕ

(r, ϕ)− 1r sin(ϕ) cos(ϕ)Gϕ(r, ϕ) + 1

r cos(ϕ)2 ∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ)

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=∂Gr∂r

(r, ϕ) + 1rGr(r, ϕ) + 1

r

∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ) = 1r

∂(rGr)

∂r+ 1

r

∂Gϕ∂ϕ

(r, ϕ).

Insgesamt lautet der Ausdruck für die Divergenz in Polarkoordinaten also

div(F )pol(r, ϕ) = 1r

∂(r(Fpol)r)

∂r+ 1

r

∂(Fpol)ϕ∂ϕ

(r, ϕ).

Unter einem Normalbereich im R2 verstehen wir im folgenden eine Teilmenge B ⊆ R2, die Normalbereichsowohl bezüglich der x-Achse als auch der y-Achse ist, wobei die Begrenzungsfunktionen für diese Normal-bereiche außerdem stückweise stetig differenzierbar sein sollen. Es gibt also a, b, c, d ∈ R mit a < b und c < d

und stückweise C 1-Funktionen ϕ1, ϕ2 : [a, b]→ R und ψ1, ψ2 : [c, d]→ R, so dass

B = {(x, y) ∈ [a, b]×R | ϕ1(x) ≤ y ≤ ϕ2(x)} = {(x, y) ∈ R× [c, d] | ψ1(y) ≤ x ≤ ψ2(y)} gilt.

Eine Kurve γ : [u, v] → R2 bezeichnen wir als Randkurve von B, wenn sie geschlossen (γ(u) = γ(v)) und auf]u, v[ injektiv ist und außerdem γ([u, v]) = ∂B gilt, die Kurve γ also genau die Punkte des topologischen Rands∂B von B durchläuft. Bezeichnet f : ∂B → R eine stetige Funktion, die in allen bis auf endlich vielen Punktenvon ∂B definiert ist, dann setzen wir ∫

∂B

f ds =

∫γ

f ds.

Man kann zeigen, dass diese Definition von der Wahl der Randkurve unabhängig ist, worauf wir aber ausZeitgründen verzichten (siehe [He], §180, S. 375). Für unsere Anwendungen weiter unten arbeiten wir vorallem mit den beiden speziellen zusammengesetzten Randkurven δ− ∗ γ− ∗ β ∗ α und δ− ∗ γ ∗ β ∗ α−, derenTeilstücke (bzw. deren Umkehrungen) folgendermaßen definiert sind.

α : [a, b]→ R2 , t 7→ (t, ϕ1(t))

β : [0, 1]→ R2 , t 7→ (1− t)(b, ϕ1(b)) + t(b, ϕ2(b))

γ : [a, b]→ R2 , t 7→ (t, ϕ2(t))

δ : [0, 1]→ R2 , t 7→ (1− t)(a, ϕ1(a)) + t(a, ϕ2(a))

α : [c, d]→ R2 , t 7→ (ψ1(t), t)

β : [0, 1]→ R2 , t 7→ (1− t)(ψ1(c), c) + t(ψ2(c), c)

γ : [c, d]→ R2 , t 7→ (ψ2(t), t)

δ : [0, 1]→ R2 , t 7→ (1− t)(ψ1(d), d) + t(ψ2(d), d)

Man überprüft leicht, dass das Bild dieser beiden Kurven tatsächlich jeweils der Rand ∂B ist, und dass auchalle übrigen Bedingungen erfüllt sind.

(1.20) Definition Sei B ⊆ R2 ein Normalbereich wie oben angegeben. Ein Punkt p ∈ ∂Bwird regulärer Randpunkt genannt, wenn eine offene Umgebung U von p und eine C 1-Funktion q : U → R existieren, so dass U ∩B = {x ∈ U | q(x) ≤ 0} und q′(p) 6= 0 erfüllt ist.Ansonsten nennen wir p einen singulären Randpunkt.

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Offenbar besitzt jeder Normalbereich nur endlich viele singuläre Randpunkte, nämlich die vier „Ecken“ desNormalbereichs gegeben durch (a, ϕ1(a)), (b, ϕ1(b)), (b, ϕ2(b)) und (a, ϕ2(a)) sowie die endlich vielen Punkte(t, ϕ1(t)) bzw. (t, ϕ2(t)), bei denen ϕ1 bzw. ϕ2 in t nicht stetig differenzierbar ist.

Ist p ein regulärer Randpunkt und q : U → R eine C 1-Funktion wie in der Definition, dann bezeichnet man

n(p) =1

‖(∇q)(p)‖(∇q)(p)

als äußeren Einheitsnormalenvektor vonB im Randpunkt p. Diese Bezeichnung ist gerechtfertigt, da n(p) stetsvom NormalbereichB nach außen weist. Der Vektor−n(p) ist entsprechend auf das Innere vonB gerichtet. Istγ : [a, b]→ R2 eine Kurve mit γ([a, b]) ⊆ ∂B, c ∈ ]a, b[ und p = γ(c), dann gilt stets eine der beiden Gleichungen

n(p) = ± 1

‖v(p)‖v(p) mit v(p) =

(γ′2(c)

−γ′1(c)

).

Dabei ist der Vektor v(p) so definiert, dass er relativ zum Tangentialvektor γ′(c) = (γ′1(c), γ′2(c)) stets orthogo-nal nach rechts weist. Zum Beweis der Gleichung schränken wir γ auf ein offenes Intervall I ⊆ [a, b] mit c ∈ Iein, so dass γ(I) ⊆ U erfüllt ist. Wegen γ(I) ⊆ ∂B gilt dann (q ◦ γ)(t) = 0 und somit nach der Kettelregel auchq′(γ(t)) · γ′(t) = 0 für alle t ∈ I . Insbesondere gilt 〈(∇q)(p), γ′(c)〉 = 〈(∇q)(γ(c)), γ′(c)〉 = 0. Dies zeigt, dassnicht nur v(p), sondern auch ∇(q)(p) auf γ′(c) senkrecht steht; die Vektoren v(p) und ∇(q)(p) sind sind alsoskalare Vielfache voneinander. Folglich sind die normierten Vektoren v(p)/‖v(p)‖ und n(p) entweder entwedergleich oder entgegengesetzt.

(1.21) Definition Man bezeichnet eine Kurve γ : [a, b] → R2 von B mit γ([a, b]) ⊆ ∂B alspositiv orientiert, wenn für alle bis auf endlich viele t ∈ ]a, b[ die Gleichung

n(γ(t)) =1

‖γ′(t)‖

(γ′2(t)

−γ′1(t)

)erfüllt ist,

wenn also der Einheitsnormalenvektor n(γ(t)) stets vom Tangentialvektor γ′(t) aus ortho-gonal nach rechts zeigt.

Ist γ positiv orientiert, dann ist die entgegengesetzte Kurven γ− offenbar negativ orientiert, denn die Tangen-tialvektoren γ′(t) und (γ−)′(t) sind entgegengesetzt.

Die oben definierte untere Randkurve α : [a, b]→ R2 unseres Normalbereichs ist positiv orientiert. Sei nämlicht ∈ ]a, b[ und q : [a, b]×R→ R definiert durch q(x, y) = ϕ1(x)−y. Für eine hinreichend kleine UmgebungU vonα(t) = (t, ϕ1(t)) hat dann q(x, y) für (x, y) im Inneren von B wegen y > ϕ1(x) einen negativen und für (x, y) /∈B einen positiven Wert, es gilt also U ∩B = {(x, y) ∈ B | q(x, y) ≤ 0}. Die Vektoren (∇q)(t, ϕ1(t)) = (ϕ′1(t),−1)

und (α′2(t),−α′1(t)) = (ϕ′1(t),−1) stimmen überein, also gilt dasselbe auch für die normierten Vektoren.

—– 33 —–

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Ebenso ist die rechte Randkurve β : [0, 1]→ R2 vonB positiv orientiert. Zum Beweis sei t ∈ ]0, 1[ und q : R2 →R definiert durch q(x, y) = x − b. Wählt man eine Umgebung U von p = β(t) = (1 − t)(b, ϕ1(b)) + t(b, ϕ2(b))

hinreichend klein, dann gilt für alle (x, y) ∈ U die Äquivalenz

(x, y) ∈ B ⇔ x ≤ b ⇔ q(x, y) ≤ 0 ,

also ist U ∩B = {(x, y) ∈ B | q(x, y) ≤ 0}. Die Vektoren (∇q)(p) = (1, 0) und (β′2(t),−β′1(t)) = (ϕ2(b)−ϕ1(b), 0)

unterscheiden sich nur um ein positives Vielfaches, also stimmen auch hier die entsprechenden normiertenVektoren überein. Genauso zeigt man, dass auch die Kurven γ−, δ−, α−, β, γ und δ− positiv orientiert sind.Insgesamt handelt es sich also bei den beiden oben angegebenen Randkurven von B um positiv orientierteKurven.

Wir kommen nun zum ersten wichtigen Satz der Vektoranalysis.

(1.22) Satz (Greenscher Integralsatz)Sei U ⊆ R2 offen, f : U → R2 ein C 1-Vektorfeld und B ⊆ U ein Normalbereich wie oben

angegeben. Dann gilt ∫B

div(f)(x, y) d(x, y) =

∫∂B

〈f, n〉 ds ,

wobei n das in allen regulären Randpunkten definierte äußere Einheitsnormalenfeld vonB bezeichnet.

Beweis: Wie bereits erwähnt, können wir für die Berechnung des Integrals über ∂B die beiden oben definiertenspeziellen Randkurven verwenden. Die dort eingeführten Bezeichnungen α, β, ..., δ behalten wir bei. Für jededieser Teilkurven ρ sei Iρ ⊆ R jeweils das Intervall, auf dem ρ definiert ist, beispielsweise Iα = [a, b] undIβ = [0, 1]. Nach Definition gilt∫

B

div(f)(x, y) d(x, y) =

∫B

∂f1

∂x(x, y) d(x, y) +

∫B

∂f2

∂y(x, y) d(x, y)

und∫∂B〈f, n〉 ds =

∫∂B

f1n1 ds+∫∂B

f2n2 ds, wobei n1, n2 die beiden Komponenten derR2-wertigen Funktionn bezeichnen. Unser Ziel ist der Beweis der beiden Gleichungen∫

B

∂f1

∂x(x, y) d(x, y) =

∫∂B

f1n1 ds und∫B

∂f2

∂x(x, y) d(x, y) =

∫∂B

f2n2 ds.

Auf Grund der Rechenregeln (1.13) für Kurvenintegrale ist∫∂B

f2n2 ds die Summe der Integrale über dieKurven α, β, γ− und δ−. Für jedes ρ ∈ {α, β, γ−, δ−} erhalten wir wegen n(ρ(t)) = ‖ρ′(t)‖−1(ρ′2(t),−ρ′1(t)) dieGleichung ∫

ρ

f2n2 ds =

∫ bρ

(f2 ◦ ρ)(t)(n2 ◦ ρ)(t)‖ρ′(t)‖ dt = −∫ bρ

(f2 ◦ ρ)(t)ρ′1(t) dt.

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Ersetzt man ρ durch die negativ orientierte Kurve ρ−, dann erhält man auf Grund der veränderten Gleichungn(ρ(t)) = ‖ρ′(t)‖−1(−ρ′2(t), ρ′1(t)) entsprechend

∫ρf2n2 ds =

∫ bρaρ

(f2 ◦ ρ)(t)ρ′1(t) dt. Es gilt nun

∫α

f2n2 ds+

∫γ−f2n2 ds =

∫α

f2n2 ds+

∫γ

f2n2 ds =

∫ b

a

(f2 ◦ γ)(t)γ′1(t) dt−∫ b

a

(f2 ◦ α)(t)α′1(t) dt

=

∫ b

a

f2(t, ϕ2(t)) · 1 dt−∫ b

a

f2(t, ϕ1(t)) · 1 dt =

∫ b

a

(f2(x, ϕ2(x))− f2(x, ϕ1(x))) dx

=

∫ b

a

(∫ ϕ2(x)

ϕ1(x)

∂f2

∂y(x, y) dy

)dx =

∫B

∂f2

∂y(x, y) d(x, y) ,

wobei im vorletzten Schritt der Haupsatz der Differential- und Integralrechnung angewendet wurde, und∫β

f2n2 ds+

∫δ−f2n2 ds =

∫β

f2n2 ds+

∫δ

f2n2 ds =

∫ 1

0

(f2 ◦ δ)(t)δ′1(t) dt−∫ 1

0

(f2 ◦ β)(t)β′1(t) dt

=

∫ 1

0

(f2 ◦ δ)(t) · 0 dt−∫ 1

0

(f2 ◦ β)(t) · 0 dt = 0 ,

insgesamt also∫∂B

f2n2 ds =∫B∂f2∂y (x, y) d(x, y).

Kommen wir nun zum Beweis der ersten Gleichung. Das Kurvenintegral∫∂B

f1n1 ds ist die Summe über diewir positiv orientierten Kurven α−, β, γ und δ−. Bezeichnet ρ einen dieser Wege, dann erhalten wir, wiederumauf Grund der Gleichung n(ρ(t)) = ‖ρ′(t)‖−1(ρ′2(t),−ρ′1(t)) für den Einheitsnormalenvektor, jeweils∫

ρ

f1n1 ds =

∫ bρ

(f1 ◦ ρ)(t)(n1 ◦ ρ)(t)‖ρ′(t)‖ dt =

∫ bρ

(f1 ◦ ρ)(t)ρ′2(t) dt

und für den negativ orientierten Weg entsprechend∫ρ−f1n1 ds = −

∫ bρaρ

(f1 ◦ ρ)(t)ρ′2(t) dt. Wir erhalten

∫α−

f1n1 ds+

∫γ

f1n1 ds =

∫α

f1n1 ds+

∫γ

f1n1 ds =

∫ d

c

(f1 ◦ γ)(t)γ′2(t) dt−∫ d

c

(f1 ◦ α)(t)α′2(t) dt

=

∫ d

c

f1(ψ2(t), t) · 1 dt−∫ d

c

f1(ψ1(t), t) · 1 dt =

∫ d

c

(f1(ψ2(y), y)− f1(ψ1(y), y)) dy

=

∫ d

c

(∫ ψ2(x)

ψ1(x)

∂f1

∂x(x, y) dx

)dy =

∫b

∂f1

∂x(x, y) d(x, y)

und∫β

f1n1 ds+

∫δ−f1n1 ds =

∫β

f1n1 ds+

∫δ

f1n1 ds =

∫ 1

0

(f1 ◦ β)(t)β′2(t) dt−∫ 1

0

(f1 ◦ δ)(t)δ′2(t) dt

=

∫ 1

0

(f1 ◦ β)(t) · 0 dt−∫ 1

0

(f1 ◦ δ)(t) · 0 dt = 0.

Insgesamt gilt also∫∂B

f1n1 ds =

∫B

∂f1

∂x(x, y) d(x, y). �

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Die Gleichung im Greenschen Integralsatz kann auch ohne Verwendung des Einheitsnormalenfelds n darge-stellt werden, wenn man statt dessen mit dem Konzept der Orientierung arbeitet: Ist γ : [a, b]→ R2 eine positivorientierte Kurve, die ∂B durchläuft, dann gilt wegen (n ◦ γ)(t) = 1/‖γ′(t)‖ · (γ′2(t),−γ′1(t)) die Gleichung∫

B

div(f)(x, y) d(x, y) =

∫∂B

〈f, n〉 ds =

∫ b

a

((f1 ◦ γ)(t)γ′2(t)− (f2 ◦ γ)(t)γ′1(t)) dt. (1.4)

Dies wird beim Beweis des Stokeschen Integralsatzes weiter unten eine wichtige Rolle spielen. Der GreenscheSatz ermöglicht die folgende geometrische Interpretation der Divergenz.

(1.23) Folgerung Sei U ⊆ R2 offen, f : U → R2 ein C 1-Vektorfeld, und p ∈ U . Fürjedes r ∈ R+ sei Br(p) die offene Kreisscheibe vom Radius r um den Punkt p bezüglich dereuklidischen Norm ‖ · ‖2. Dann gilt

div(f)(p) = limr→0

1

πr2

∫∂Br(p)

〈f, n〉 ds

wobei das Vektorfeld n : R2 \ {p} durch n(q) = ‖q − p‖−12 (q − p) gegeben ist.

Beweis: Sei r ∈ R+ so klein gewählt, dass die abgeschlossene Kreisscheibe Br(p) in U enthalten ist, außerdemm−(r) = min{div(f)(q) | q ∈ Br(p)} und m+(r) = max{div(f)(q) | q ∈ Br(p)}. Aus m−(r) ≤ div(f)(p) ≤m+(r) folgen durch Integration über die Menge Br(p) mit dem Flächeninhalt πr2 die Ungleichungen

m−(r)πr2 ≤∫Br(p)

div(f)(x, y) d(x, y) ≤ m+(r)πr2.

Offenbar ist n das äußere Einheitsnormalenfeld der Kurve ∂Br(p), denn für jeden Randpunkt q ∈ ∂Br(p) istn(q) = ‖q − p‖−1

2 (q − p) der eindeutig bestimmte, von der Kreislinie aus nach außen weisende, normierteVektor. Mit dem Greenschen Integralsatz erhalten wir also

m−(r) ≤ 1

πr2

∫∂Br(p)

〈f, n〉 ds ≤ m+(r).

Auf Grund der Stetigkeit von div(f) laufen m−(r) und m+(r) für r → 0 gegen div(f)(p). �

Interpretiert man f als Geschwindigkeitsfeld einer zweidimensionalen „Strömung“, dann ist für jeden Rand-punkt q ∈ ∂Br(p) der Wert 〈f(q), n(q)〉 ein Maß für die am Punkt q aus Br(p) ausströmende Flüssigkeits-menge. Sie hat den größten positiven Wert, wenn die Vektoren f(q) und n(q) gleichgerichtet sind. Die soebenbewiesene Folgerung zeigt, dass die Interpretation der Divergenz als „Quellenstärke“ eines Strömungsfeldsgerechtfertigt ist.

(1.24) Definition Sei γ : [a, b] → Rn eine Kurve. Ein Vektorfeld τ : γ([a, b]) → Rn

wird Einheitstangentialfeld von γ genannt, wenn für alle bis auf endlich viele t ∈ ]a, b[ dieGleichung

(τ ◦ γ)(t) =1

‖γ′(t)‖γ′(t) erfüllt ist.

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(1.25) Definition Sei (B,φ) eine parametrisierte Fläche im R3. Ein Vektorfeld ν : φ(B)→R3 heißt Einheitsnormalenfeld von (B,φ), wenn für alle (u, v) ∈ B die Gleichung

(ν ◦ φ)(u, v) =1

‖φ′(u, v)(e1)× φ′(u, v)(e2)‖φ′(u, v)(e1)× φ′(u, v)(e2) gilt.

Bevor wir den Stokeschen Integralsatz formulieren und beweisen, führen wir noch zwei Vereinfachungen ein.Ist (B,φ) eine parametrisierte Fläche, dann verwenden wir für die Integration die abkürzende Notation

dy ∧ dz = (∂1φ2(u, v) · ∂2φ3(u, v)− ∂1φ3(u, v) · ∂2φ2(u, v)) d(u, v)

dz ∧ dx = (∂1φ3(u, v) · ∂2φ1(u, v)− ∂1φ1(u, v) · ∂2φ3(u, v)) d(u, v)

dx ∧ dy = (∂1φ1(u, v) · ∂2φ2(u, v)− ∂1φ2(u, v) · ∂2φ1(u, v)) d(u, v).

Für uns sind dy ∧ dz usw. rein formale Ausdrücke, die ebenso wie d(u, v) für sich allein stehend keine Be-deutung haben. Sie besitzen eine mathematische Interpretation als sog. Differentialformen auf der Fläche (B,φ),deren Einführung allerdings über den Rahmen dieser Vorlesung hinausgehen würde.

(1.26) Satz (Stokescher Integralsatz)Sei G ⊆ R2 offen, φ : G → R3 eine C 2-Abbildung und B ⊆ G ein Normalbereich. SeiU ⊆ R3 offen mit U ⊇ φ(B) und f : U → R3 ein C 1-Vektorfeld. Schließlich sei γ einepositiv orientierte Kurve, die ∂B durchläuft, τ ein Einheitstagentialfeld der Kurve φ ◦ γ imR3 und ν ein Einheitsnormalenfeld der parametrisierten Fläche (B,φ). Dann gilt∫

φ◦γ〈f, τ〉 ds =

∫(B,φ)

〈rot(f), ν〉 dA.

Beweis: Zunächst betrachten wir die rechte Seite der Gleichung. Es gilt∫(B,φ)

〈rot(f), ν〉 dA =

∫B

〈(rot(f) ◦ φ)(u, v), (ν ◦ φ)(u, v)〉‖φ′(u, v)(e1)× φ′(u, v)(e2)‖ d(u, v)

=

∫B

〈(rot(f) ◦ φ)(u, v), φ′(u, v)(e1)× φ′(u, v)(e2)〉 d(u, v).

weil ν ein Einheitsnormalenfeld von (B,φ) ist. Für alle (u, v) ∈ B gilt

φ′(u, v)(e1)× φ′(u, v)(e2) =

∂1φ1(u, v)

∂1φ2(u, v)

∂1φ3(u, v)

×∂2φ1(u, v)

∂2φ2(u, v)

∂2φ3(u, v)

=

∂1φ2(u, v) · ∂2φ3(u, v)− ∂1φ3(u, v) · ∂2φ2(u, v)

∂1φ3(u, v) · ∂2φ1(u, v)− ∂1φ1(u, v) · ∂2φ3(u, v)

∂1φ1(u, v) · ∂2φ2(u, v)− ∂1φ2(u, v) · ∂2φ1(u, v)

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und Einsetzen sowie ein Ausschreiben des Standard-Skalarprodukts liefert∫(B,φ)

〈rot(f), ν〉 dA =

∫B

(rot(f) ◦ φ)1(u, v) dy ∧ dz+∫B

(rot(f) ◦ φ)2(u, v) dz ∧ dx+

∫B

(rot(f) ◦ φ)3(u, v) dx ∧ dy(1.5)

wobei(rot(f) ◦ φ)1(u, v) = ((∂2f3 − ∂3f2) ◦ φ) (u, v)

(rot(f) ◦ φ)2(u, v) = ((∂3f1 − ∂1f3) ◦ φ) (u, v)

(rot(f) ◦ φ)3(u, v) = ((∂1f2 − ∂2f1) ◦ φ) (u, v).

Wir zeigen nun, dass (1.5) mit der linken Seite der Stokeschen Integralgleichung übereinstimmt. Zur Abkür-zung setzen wir g = f ◦ φ. Es gilt dann∫

φ◦γ〈f, τ〉 ds =

∫ b

a

〈(g ◦ γ)(t), (τ ◦ φ ◦ γ)(t)〉‖(φ ◦ γ)′(t)‖ dt =

∫ b

a

〈(g ◦ γ)(t), (φ ◦ γ)′(t)〉 dt

=

w∑k=1

∫ b

a

(gk ◦ γ)(t)(φk ◦ γ)′(t) dt.

Setzen wir für k = 1, 2, 3 jeweils

F(k)1 (u, v) = gk(u, v)φ′k(u, v)(e2) = gk(u, v)∂2φk(u, v)

F(k)2 (u, v) = −gk(u, v)φ′k(u, v)(e1) = −gk(u, v)∂1φk(u, v)

so erhalten wir mit Hilfe der Greenschen Integralformel∫ b

a

(gk ◦ γ)(t)(φk ◦ γ)′(t) dt =

∫ b

a

(gk ◦ γ)(t) · (φ′k(γ(t)) ◦ γ′(t)) dt

=

∫ b

a

(gk ◦ γ)(t) · (φ′k(γ(t))(e1) · γ′1(t) + φ′k(γ(t))(e2) · γ′2(t)) dt

=

∫ b

a

((F

(k)1 ◦ γ)(t) · γ′2(t)− (F

(k)2 ◦ γ)(t)γ′1(t)

)dt

=

∫B

(div(F )(k)

)(u, v) d(u, v) =

∫B

(∂1F

(k)1 (u, v) + ∂2F

(k)2 (u, v)

)d(u, v).

Die partiellen Ableitungen von F (k)1 und F (k)

2 sind gegeben durch

∂1F(k)1 (u, v) = ∂1gk(u, v) · ∂2φk(u, v)− gk(u, v) · ∂12φk(u, v)

∂2F(k)2 (u, v) = −∂2gk(u, v) · ∂1φk(u, v)− gk(u, v) · ∂21φk(u, v).

Weil φ nach Voraussetzung zweimal stetig differenzierbar ist, gilt ∂12φk = ∂21φk nach dem Lemma von Schwarz.Daraus folgt

∂1F(k)1 (u, v) + ∂2F

(k)2 (u, v) = ∂1gk(u, v)∂2φk(u, v)− ∂2gk(u, v)∂1φk(u, v).

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Auf Grund der mehrdimensionalen Kettenregel gilt g′k(u, v) = (fk ◦ φ)′(u, v) = f ′k(φ(u, v)) · φ′(u, v). Für diepartiellen Ableitungen von gk erhalten wir so die Ausdrücke

∂1gk(u, v) = ∂1fk(φ(u, v)) · ∂1φ1(u, v) + ∂2fk(φ(u, v)) · ∂1φ2(u, v) + ∂3fk(φ(u, v)) · ∂1φ3(u, v)

∂2gk(u, v) = ∂1fk(φ(u, v)) · ∂2φ1(u, v) + ∂2fk(φ(u, v)) · ∂2φ2(u, v) + ∂3fk(φ(u, v)) · ∂2φ3(u, v)

Daraus folgt nun für k = 1 die Gleichung

∂1F(1)1 (u, v) + ∂2F

(1)2 (u, v) = ∂1g1(u, v) · ∂2φ1(u, v)− ∂2g1(u, v) · ∂1φ1(u, v) =

∂1f1(φ(u, v)) · ∂1φ1(u, v) · ∂2φ1(u, v) + ∂2f1(φ(u, v)) · ∂1φ2(u, v) · ∂2φ1(u, v)

+∂3f1(φ(u, v)) · ∂1φ3(u, v) · ∂2φ1(u, v)− ∂1f1(φ(u, v)) · ∂2φ1(u, v) · ∂1φ1(u, v)

−∂2f1(φ(u, v)) · ∂2φ2(u, v) · ∂1φ1(u, v)− ∂3f1(φ(u, v)) · ∂2φ3(u, v) · ∂1φ1(u, v)]

= ∂2f1(φ(u, v)) · (∂1φ2(u, v) · ∂2φ1(u, v)− ∂1φ1(u, v)∂2φ2(u, v))

+∂3f1(φ(u, v)) · (∂1φ3(u, v) · ∂2φ1(u, v)− ∂2φ3(u, v)∂1φ1(u, v))

= ∂3f1(φ(u, v)) · dz ∧ dx− ∂2f1(φ(u, v)) · dx ∧ dy.

Durch analoge Rechnungen erhält man für k = 2, 3 entsprechend

∂1F(2)1 (u, v) + ∂2F

(2)2 (u, v) = ∂1f2(φ(u, v)) · dx ∧ dy − ∂3f2(φ(u, v)) · dy ∧ dz

∂1F(3)1 (u, v) + ∂2F

(3)2 (u, v) = ∂2f3(φ(u, v)) · dy ∧ dz − ∂1f3(φ(u, v)) · dz ∧ dx.

Setzen wir dies ein, so erhalten wir∫(B,φ)

〈rot(f), ν〉 dA =

3∑k=1

∫B

(∂1F

(k)1 (u, v) + ∂2F

(k)2 (u, v)

)d(u, v) =

∫B

((∂2f3 − ∂3f2) ◦ φ)(u, v) dy ∧ dz +

∫B

((∂3f1 − ∂1f3) ◦ φ)(u, v) dz ∧ dx

+

∫B

((∂1f2 − ∂2f1) ◦ φ)(u, v) dx ∧ dy

=

∫B

(rot(f) ◦ φ)1(u, v) dy ∧ dz +

∫B

(rot(f) ◦ φ)2(u, v) dz ∧ dx+

∫B

(rot(f) ◦ φ)3(u, v) dx ∧ dy ,

was mit unserem Ergebnis für die linke Seite übereinstimmt. �

Der Stokesche Integralsatz ermöglicht die folgende anschauliche Interpretation der Rotation eines Vektorfelds.Sei f : U → R3 ein C 1-Vektorfeld auf einer offenen Teilmenge U ⊆ R3 und p ∈ U ein beliebiger Punkt. Weitersei n ∈ R3 ein normierter Vektor und E ⊆ R3 die eindeutig bestimmte affine Ebene durch p, die auf demVektor n senkrecht steht. Sind v, w ∈ R3 normierte, zueinander orthogonale Vektoren mit p+ v, p+w ∈ E undv × w = n, dann gilt E = φ(R2), wobei φ : R2 → R3 durch φ(s, t) = p+ sv + tw definiert ist.

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Für jedes r ∈ R+ sei Br ⊆ R2 die abgeschlossene Kreisscheibe vom Radius r um den Koordinatenursprung.Für hinreichend kleines r ist Kr = φ(Br) der Kreis vom Radius r mit Mittelpunkt p auf der Ebene E. Der Rand∂Br wird durch die positiv orientierte Kurve γr : [0, 2π] → R2, t 7→ (r cos(t), r sin(t)) durchlaufen. Die Kurveφ ◦ γr besitzt ein Einheitstangentialfeld, das in jedem Punkt p+ r cos(t)v + r sin(t)w von φ(∂Br) mit t ∈ [0, 2π]

durch τr(p) = − sin(t)v + cos(t)w gegeben ist. In Analogie zu (1.23) erhalten wir nun die folgende Aussage.

(1.27) Satz Mit den soeben eingeführten Bezeichungen gilt

〈rot(f)(p), n〉 = limr→0

1

πr2

∫φ◦γr

〈f, τr〉 ds.

Beweis: Für jedes r ∈ R+ mit φ(Br) ⊆ U sei m−(r) das Minimum und m+(r) das Maximum der Funktionx 7→ 〈rot(f)(x), n〉 auf der Kreisscheibe Br. Man rechnet unmittelbar nach, dass die parametrisierte Fläche(Kr, φ) den Flächeninhalt πr2 besitzt. Auf Grund der Monotonie des Riemann-Integrals folgt daraus die Ab-schätzung πr2m−(r) ≤

∫(Br,φ)

〈rot(f), n〉 dA ≤ πr2m+(r). Mit dem Stokeschen Integralsatz, angewendet aufdas konstante Einheitsnormalenfeld ν : E → R3 gegeben durch ν(x) = n, folgt

πr2m−(r) ≤∫φ◦γr〈f, τr〉 ds ≤ πr2m+(r) ⇔ m−(r) ≤ 1

πr2

∫φ◦γr〈f, τr〉 ds ≤ m+(r).

Auf Grund der stetigen Differenzierbarkeit von f sind rot(f) und auch die Funktion x 7→ 〈rot(f)(x), n〉 ste-tig. Daraus folgt lim

r→0m−(r) = lim

r→0m+(r) = 〈rot(f)(p), n〉. Durch Einsetzen in die Ungleichungen von oben

erhalten wir das gewünschte Ergebnis. �

Der soeben bewiesene Satz ermöglicht es, die Rotation eines Vektorfelds als „Wirbelstärke“ zu interpretieren:Ist das Vektorfeld f in der Nähe des Punktes p mit dem Einheitstangentialfeld τr der Kurve φ ◦ γr gleichge-richtet, dann nimmt die Funktion x 7→ 〈f(x), τr(x)〉 und somit auch das Integral hinter dem Limes positiveWerte an. Eine positive Rotation von f zeigt also einen „Wirbel“ des Vektorfelds um den Punkt p herum,und zwar gegen den Uhrzeigersinn an, wenn man die Ebene E von derjenigen Seite betrachtet, auf die derNormalenvektor n zeigt. Eine negativer Wert von rot(f) dagegen bedeutet einen Wirbel im Uhrzeigersinn.

Der Greensche Integralsatz lässt sich auf Normalbereiche im R3 und dreidimensionale Vektorfelder übertra-gen; man bezeichnet diese Aussage dann als Gaußschen Integralsatz. Allerdings ist die allgemeine Formu-lierung hier schon recht kompliziert (siehe [He], §210). Eine einfache und elegante Formulierung erhält man,wenn man Normalbereiche durch sog. glatt berandete Teilmengen des Rn ersetzt, was aber mit einem ho-hen technischen Aufwand vorbereitet werden muss. Aus diesen Gründen beschränken wir uns darauf, denGaußschen Integralsatz für Quader herzuleiten.

Seien a, b, c, d, r, s reelle Zahlen mit a < b, c < d und r < s, und sei Q ⊆ R3 der Quader gegeben durchQ = [a, b]× [c, d]× [r, s]. Die sechs Seitenflächen S1, ..., S6 vonQ lassen sich durch folgende Parametrisierungenbeschreiben. Für 1 ≤ i ≤ 6 definieren wir φi : R2 → R3 durch

φ1(u, v) = (a, u, v) φ2(u, v) = (b, u, v) φ3(u, v) = (u, c, v)

φ4(u, v) = (u, d, v) φ5(u, v) = (u, v, r) φ6(u, v) = (u, v, s)

—– 40 —–

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und Teilmengen Bi ⊆ R2 durch

B1 = [c, d]× [r, s] B2 = [c, d]× [r, s] B3 = [a, b]× [r, s]

B4 = [a, b]× [r, s] B5 = [a, b]× [c, d] B6 = [a, b]× [c, d]

Für jede Seitenfläche Si = φ(Bi) unsere Quaders gibt es einen eindeutig bestimmten normierten Vektor ni ∈R3, der auf Si senkrecht steht und aus dem Quader Q herauszeigt, nämlich

n1 = (−1, 0, 0) n2 = (1, 0, 0) n3 = (0,−1, 0)

n4 = (0, 1, 0) n5 = (0, 0,−1) n6 = (0, 0, 1).

Sei ν : ∂Q → R3 ein Vektorfeld mit der folgenden Eigenschaft: Für 1 ≤ i ≤ 6 gibt es jeweils eine JordanscheNullmenge Ni ⊆ Bi, so dass für alle (u, v) ∈ Bi \ Ni jeweils (ν ◦ φ)(u, v) = ni erfüllt ist. Wir bezeichnenein solches Vektorfeld als äußeres Einheitsnormalenfeld auf Q. (Diese Definition ist notwendig, da ∂Q nichtals parametrisierte Fläche dargestellt und Def. (1.25) somit nicht anwendbar ist.) Ist g : ∂Q → R eine stetigeFunktion, dann setzen wir ∫

∂Q

g dA =

6∑i=1

∫(Bi,φi)

g dA.

Ein Analogon für (1.22) in drei Dimensionen kann nun folgendermaßen ausgesprochen werden.

(1.28) Satz (Gaußscher Integralsatz)Sei U ⊆ R3 offen, f : U → R3 ein C 1-Vektorfeld, Q ⊆ U ein Quader wie oben angegebenund ν : ∂Q→ R3 ein Einheitsnormalenfeld. Dann gilt∫

∂Q

〈f, n〉 dA =

∫Q

div(f)(x, y, z) d(x, y, z).

Beweis: Ähnlich wie beim Greenschen Integralsatz wenden wir den Hauptsatz der Differential- und Inte-gralrechnung an, um die sechs Summanden, aus denen der Term auf der linken Seite gebildet wird, geeignetumzuformen. Für alle (u, v) ∈ B1 gilt φ′1(u, v)(e1) = (0, 1, 0) und φ′1(u, v)(e2) = (0, 0, 1), also φ′1(u, v)(e1) ×φ′1(u, v)(e2) = (0, 1, 0) × (0, 0, 1) = (1, 0, 0) und ‖φ′1(u, v)(e1) × φ′1(u, v)(e2)‖ = ‖(1, 0, 0)‖ = 1. Damit erhaltenwir ∫

(B1,φ1)

〈f, n〉 dA =

∫B1

〈(f ◦ φ1)(u, v), n1〉‖φ′1(u, v)(e1)× φ′1(u, v)(e2)‖ d(u, v) =

∫B1

⟨(f1 ◦ φ1)(u, v)

(f2 ◦ φ1)(u, v)

(f3 ◦ φ1)(u, v)

,

−1

0

0

⟩ d(u, v) = −∫B1

(f1 ◦ φ1)(u, v) d(u, v) = −∫B1

f1(a, u, v) d(u, v).

—– 41 —–

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Ebenso zeigt man∫

(B2,φ2)

〈f, n〉 dA =

∫B2

f2(b, u, v) d(u, v). Insgesamt erhalten wir dann

∫(B1,φ1)

〈f, n〉 dA+

∫(B2,φ2)

〈f, n〉 dA =

∫B2

f2(b, u, v) d(u, v)−∫B1

f1(a, u, v) d(u, v) =

∫[c,d]×[r,s]

(f1(b, u, v)− f1(a, u, v)) d(u, v) =

∫[c,d]×[r,s]

(∫ b

a

∂1f1(x, u, v) dx

)dx =

∫Q

∂1f1(x, y, z) d(x, y, z)

wobei im vorletzten Schritt der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung und im letzten Schritt derSatz von Fubini angewendet wurde. Genau nach demselben Muster beweist man die beiden Gleichungen∫

(B3,φ3)

〈f, n〉 dA +

∫(B4,φ4)

〈f, n〉 dA =

∫Q

∂2f2(x, y, z) d(x, y, z)

∫(B5,φ5)

〈f, n〉 dA +

∫(B6,φ6)

〈f, n〉 dA =

∫Q

∂3f3(x, y, z) d(x, y, z).

Addiert man nun diese drei Gleichungen auf, so erhält man∫∂Q

〈f, n〉 dA =

6∑i=1

∫(Bi,φi)

〈f, n〉 dA =

∫Q

∂1f1(x, y, z) d(x, y, z) +

∫Q

∂2f2(x, y, z) d(x, y, z) +

∫Q

∂3f3(x, y, z) d(x, y, z)

=

∫Q

(div(f))(x, y, z) d(x, y, z)

wie gewünscht. �

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1.4 Das Lebesgue-Integral

Inhaltsübersicht

FF Unzulänglichkeiten der Riemannschen Integraldefinition

FF Definition des Raums L (Rn) der Funktionen mit abzählbarer Obersumme mit der Halbnorm ‖ · ‖L

FF Definition des Raums L (Rn) der Lebesgue-integrierbaren Funktionen und des Lebesgue-Integrals

FF Abgeschlossenheits-Eigenschaften von L (Rn) und elementare Rechenregeln für das Lebesgue-Integral

FF Konvergenzsätze für das Lebesgue-Integral: Satz von Beppo-Levi über monotone und Satz von Lebesgue übermajorisierte Konvergenz

FF Stetigkeit des Lebesgue-Integrals und Differentiation unter dem Integralzeichen

In diesem Abschnitt werden wir neben einer Erweiterung des Integralbegriffs auch das Verhalten von Funk-tionen bei Grenzübergängen betrachten. Dabei unterscheidet man grundsätzlich zwei verschiedene Arten vonKonvergenz. Für jede Funktion f : X → R auf einem metrischen Raum X setzen wir

‖f‖∞ = sup{|f(x)|

∣∣ x ∈ X} ∈ R+ ∪ {+∞}.

Die Funktion f ist also genau dann beschränkt, wenn ‖f‖∞ ∈ R+ gilt. Man sagt, eine Folge (fn)n∈N vonFunktionen fn : X → R konvergiert punktweise gegen eine Funktion f : X → R, wenn

limn→∞

fn(x) = f(x) für alle x ∈ X

erfüllt ist. Gilt sogar limn ‖fn − f‖∞ = 0, dann spricht man von gleichmäßiger Konvergenz.

Das Riemann-Integral, das wir bisher betrachtet haben, weist zwei gravierende Mängel auf. Zum einen istes nur für Funktionen mit beschränktem Definitionsbereich definiert. Dagegen kann einer Funktion wie zumBeispiel f : [1,+∞[ → R, x 7→ 1

x2 bereits kein Riemann-Integral mehr zugeordnet werden. Für jedes a ∈ R,a > 1 gilt allerdings ∫ a

1

f(x) dx =

[− 1

x

]a1

= 1− 1

a

so dass im Prinzip nichts dagegen sprechen würde, dieser Funktion das Integral∫[1,+∞[

f(x) dx = lima→+∞

∫ a

1

f(x) dx = lima→+∞

(1− 1

a

)= 1 zuzuordnen.

Allerdings ist diese indirekte Definition über Grenzwerte besonders im Mehrdimensionalen sehr unhandlich.Beispielsweise muss man sicherstellen, dass die vielen verschiedenen Möglichkeiten, einen Grenzübergangdurchzuführen, alle denselben Grenzwert liefern.

Ein weiterer Nachteil des Riemann-Integrals besteht darin, dass es nur unter sehr starken Voraussetzungenmit Grenzübergängen vertauschbar ist, die in den Anwendungen nur selten vorliegen. Als Beispiel betrachtenwir die Dirichlet-Funktion χ : [0, 1]→ R gegeben durch

χ(x) =

1 falls x ∈ Q

0 sonst.

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die, wie wir bereits gesehen haben, nicht Riemann-integrierbar ist. Sei nun (xn)n∈N eine Folge, die alle Ele-mente aus N = [0, 1] ∩Q durchläuft. Definieren wir eine Funktionenfolge (χn)n∈N durch

χn(x) =

1 falls x ∈ {x1, ..., xn}

0 sonst,

dann konvergiert die Folge (χn)n∈N punktweise gegen χ, außerdem stimmt χ mit allen χn außerhalb derNullmenge N überein. Deshalb wäre es nur natürlich, der Funktion χ das Integral∫ 1

0

χ(x) dx = limn→∞

∫ 1

0

χn(x) dx = 0 zuzuordnen.

Wir werden nun sehen, wie die Klasse der integrierbaren Funktionen auf solche Fälle ausgedehnt werdenkann.

Für jede Funktion f : Rn → R bezeichnen wir den Abschluss der Menge {x ∈ Rn | f(x) 6= 0} als den Trägersupp(f) von f . Die Menge der stetigen Funktionen f : Rn → R mit kompaktem Träger bezeichnen wir mitCc(Rn). Für jede Funktion f ∈ Cc(Rn) wählen wir einen kompakten Quader Q mit Q ⊇ supp(f) und setzen

I(f) :=

∫Rnf(x) dx :=

∫Q

f(x) dx.

Wie wir bereits in der Analysis mehrerer Variablen gesehen haben, ist der Wert I(f) ∈ R unabhängig von derWahl dieses Quaders. Die Zuordnung I : Cc(Rn)→ R ist linear, es gilt also

I(f + g) = I(f) + I(g) und I(λf) = λI(f) für alle f, g ∈ C (Rn) und λ ∈ R ,

insbesondere sind mit f und g auch f + g und λf in Cc(Rn) enthalten. Außerdem ist I monoton, d.h. ausf ≤ g folgt I(f) ≤ I(g), für alle f, g ∈ Cc(Rn). Im weiteren Verlauf werden wir des öfteren verwenden, dassmit f, g ∈ Cc(Rn) auch die Funktionen |f |, f ∨ g = max{f, g} und f ∧ g = min{f, g} in Cc(Rn) liegen. DieTeilmenge aller Funktionen f ∈ Cc(Rn) mit f(x) ≥ 0 für alle x ∈ Rn bezeichnen wir mit C +

c (Rn).

(1.29) Definition Eine Reihe∑∞k=1 φk von Funktionen φk ∈ C +

c (Rn) bezeichnet man alsMajorante einer Funktion f : Rn → R, wenn

|f(x)| ≤∞∑k=1

φk(x) für alle x ∈ Rn und∞∑k=1

I(φk) < +∞ gilt.

Die Menge aller Funktionen f , die eine Majorante besitzen, bezeichnen wir mit L (Rn).Eine Summe der Form

∑∞k=1 I(φk) wird dann eine Obersumme von f genannt, und wir

setzen

‖f‖L = inf

{ ∞∑k=1

I(φk)

∣∣∣∣ ∞∑k=1

φk ist Majorante von f

}.

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Wir werden nun zunächst die Eigenschaften des Funktionenraums L (Rn) untersuchen.

(1.30) Proposition Sei (gk)k∈N eine Folge in L (Rn) mit∑∞k=1 ‖gk‖L < +∞ und f : Rn →

R eine Funktion mit der Eigenschaft |f(x)| ≤∑∞k=1 |gk(x)| für alle x ∈ Rn. Dann liegt auch

f in L (Rn), und es gilt ‖f‖L ≤∑∞k=1 ‖gk‖L .

Beweis: Sei ε ∈ R+ vorgegeben. Nach Voraussetzung existiert für jedes k ∈ N eine Majorante∑∞j=1 φ

(k)j mit∑∞

j=1 I(φ(k)j ) < ‖gk‖L + 2−kε. Es gilt dann

|f(x)| ≤∞∑k=1

|gk(x)| ≤∞∑k=1

∞∑j=1

φ(k)j (x) für alle x ∈ Rn.

Also hat auch die Funktion f eine Majorante, und es folgt f ∈ L (Rn). Außerdem gilt

∞∑k=1

∞∑j=1

I(φ(k)j ) ≤

∞∑k=1

(‖gk‖L + 2−kε

)≤

∞∑k=1

‖gk‖L + ε.

Nach Definition von ‖ · ‖L folgt ‖f‖L ≤∑∞k=1 ‖gk‖L + ε. Da ε ∈ R+ beliebig vorgegeben war, erhalten wir

‖f‖L ≤∑∞k=1 ‖gk‖L . �

(1.31) Definition Eine Abbildung ‖ · ‖ : V → R+ auf einem R-Vektorraum V wirdHalbnorm genannt, wenn ‖λv‖ = |λ|‖v‖ und ‖v + w‖ ≤ ‖v‖+ ‖w‖ für alle v, w ∈ V .

Für den Nullvektor 0V gilt bei einer Halbnorm ‖ · ‖ weiterhin ‖0V ‖ = ‖0 · 0V ‖ = |0|‖0V ‖ = 0. Die einzigeBedingung, die gegenüber einer Norm im allgemeinen nicht erfüllt ist, ist die Implikation ‖v‖ = 0 ⇒ v = 0V

für alle v ∈ V .

(1.32) Proposition

(i) Ist f ∈ L (Rn) und g : Rn → R beschränkt, dann liegt auch fg in L (Rn), undes gilt ‖fg‖L ≤ ‖f‖L ‖g‖∞.

(ii) Es ist L (Rn) ein R-Vektorraum, und ‖ · ‖L ist eine Halbnorm auf L (Rn).

Beweis: zu (i) Sei ε ∈ R+ vorgegeben. Dann gibt es eine Majorante∑∞k=1 φk von f mit

∑∞k=1 I(φk) < ‖f‖L +ε.

Wegen |fg| ≤ ‖g‖∞|f | ist dann∑∞k=1 ‖g‖∞φk eine Majorante von fg, und aus I(‖g‖∞φk) = ‖g‖∞I(φk) folgt

‖fg‖L ≤∞∑k=1

I(‖g‖∞φk) = ‖g‖∞∞∑k=1

I(φk) < ‖f‖L ‖g‖∞ + ε‖g‖∞.

Weil ε ∈ R+ beliebig vorgegeben war, erhalten wir ‖fg‖L ≤ ‖f‖L ‖g‖∞.

zu (ii) Zunächst zeigen wir, dass L (Rn) ein Untervektorraum desR-Vektorraums aller Funktionen f : Rn →R ist. Sind f, g ∈ L (Rn) und λ ∈ R vorgegeben und

∑∞k=1 φk und

∑nk=1 ψk Majoranten von f bzw. g, dann ist∑∞

k=1(φk +ψk) offenbar eine Majorante von f + g und∑∞k=1 |λ|φk eine Majorante von λf . Also sind f + g und

λf in L (Rn) enthalten.

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Die Dreiecksungleichung ‖f + g‖L ≤ ‖f‖L + ‖g‖L ist ein Spezialfall von (1.30), und aus Teil (i) angewendetauf die konstante Funktion g(x) = λ folgt ‖λf‖L ≤ |λ|‖f‖L . Außerdem gilt

‖f‖L = ‖ 1λ · λ · f‖L ≤ 1

|λ|‖λf‖L

und somit |λ|‖f‖L ≤ ‖λf‖L . Insgesamt erhalten wir ‖λf‖L = |λ| · ‖f‖L . �

(1.33) Definition Eine Funktion f ∈ L (Rn) wird Lebesgue-integrierbar genannt, wenneine Folge (fn)n∈N in Cc(Rn) mit

limn→∞

‖f − fn‖L = 0 existiert.

Die Teilmenge der Lebesgue-integrierbaren Funktionen in L (Rn) bezeichnen wir mitL (Rn). Eine Funktion f : B → R auf einer Teilmenge B ⊆ Rn bezeichnen wir als Le-besgue-integrierbar, wenn ihre Nullfortsetzung auf Rn Lebesgue-integrierbar ist.

Offenbar ist L (Rn) ein Untervektorraum des R-Vektorraums L (Rn). Sind nämlich λ ∈ R und f, g ∈ L (Rn)

vorgegeben und (fn)n∈N und (gn)n∈N Funktionenfolgen wie in der Definition angegeben, dann sind auch(fn + gn)n∈N und (λfn)n∈N Folgen in Cc(Rn). Aus

0 ≤ ‖(fn + gn)− (f + g)‖L ≤ ‖fn − f‖L + ‖gn − g‖L

und limn ‖fn − f‖L = limn ‖gn − g‖L = 0 folgt limn ‖(fn + gn)− (f + g)‖L = 0, außerdem gilt

limn→∞

‖λfn − λf‖L = limn→∞

‖λ(fn − f)‖L = |λ| ·(

limn→∞

‖fn‖L)

= |λ| · 0 = 0.

Als nächstes werden wir nun den Lebesgue-integrierbaren Funktionen ein Integral zuordnen. Das Hauptpro-blem beim Nachweis der Wohldefiniertheit des Integrals wird die Herleitung der Gleichung I(|φ|) = ‖φ‖Lfür alle Funktionen φ ∈ Cc(Rn) sein. Wesentliches Hilfsmittel hierfür wiederum ist der Satz von Dini, welcherbesagt, dass auf kompakten Räumen monoton wachsende punktweise konvergente Folgen stetiger Funktionenauch gleichmäßig konvergieren.

(1.34) Satz (Satz von Dini)

Sei X ein kompakter metrischer Raum und (fk)k∈N eine punktweise monoton wachsendeFolge stetiger Funktionen fk : X → R (es gelte also fk(x) ≤ fk+1(x) für alle x ∈ X undk ∈ N). Sei f : X → R eine stetige Funktion mit der Eigenschaft, dass (fk)k∈N punktweisegegen f konvergiert. Dann konvergiert (fk)k∈N auch gleichmäßig gegen f .

Beweis: Für vorgegebenes ε ∈ R+ und k ∈ N sei jeweils Uk = {x ∈ X | f(x) − fk(x) < ε}. Auf Grundder Stetigkeit von fk und f ist jedes Uk offen. Auf Grund der punktweisen Konvergenz bilden sie außerdemeine Überdeckung von X , denn für jedes x ∈ X gibt es ein k ∈ N mit f(x) − fk(x) < ε, und es folgt dann

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x ∈ Uk. Wegen f(x) − fk+1 ≤ f(x) − fk(x) gilt jeweils Uk ⊆ Uk+1. Weil X kompakt ist, existiert eine endlicheTeilüberdeckung von (Uk)k∈N und wegen Uk ⊆ Uk+1 für alle k somit ein ` ∈ Nmit U` = X . Für alle k ≥ ` undx ∈ X gilt also f(x)− f`(x) < ε. Damit ist die gleichmäßige Konvergenz bewiesen. �

Nun müssen wir noch sicherstellen, dass gleichmäßige Konvergenz einer Folge (φk)k∈N gegen eine Funktionφ in Cc(Rn) auch limk I(φk) = I(φ) impliziert. Ein Problem hierbei ist, dass wir I(·) nicht auf charakteristischeFunktionen von Mengen, sondern nur auf stetige Funktionen anwenden können. Deshalb benötigen wir einwenig technische Vorbereitung. Für eine beliebige TeilmengeK ⊆ Rn sei die Funktion dK : Rn → R+ definiertdurch

dK(x) = inf{ ‖x− y‖∞∣∣ y ∈ K } ,

wobei ‖ · ‖∞ die Maximumsnorm auf Rn bezeichnet. Diese Funktion gibt also den ‖ · ‖∞-Abstand zwischendem Punkt x und der Menge K an. Für jedes ε ∈ R+ und jede Menge K definieren wir eine Funktion χK,ε :

Rn → [0, 1] durch

χK,ε(x) =

1− 1

εdK(x) falls dK(x) ≤ ε

0 falls dK(x) ≥ ε.

Es ist leicht zu zeigen, dass dK und damit auch die Funktionen χK,ε stetig sind. Wir haben damit der (in allerRegel unstetigen) charakteristischen Funktion χK eine Familie von stetigen Funktionen zugeordnet, die sichvon χK nur auf einem „kleinen“ Bereich unterscheiden. Ist K ⊆ Rn beschränkt, dann ist χK,ε darüber hinausin C +

c (Rn) enthalten. Insbesondere ist der Träger von χK,ε nur geringfügig größer als der Träger von χK . Istbeispielsweise K ein Quader der Form [a1, b1]× ...× [an, bn], dann gilt

supp(χK,ε) = [a1 − ε, b1 + ε]× ...× [an − ε, bn + ε].

(1.35) Proposition SeiK ⊆ Rn kompakt und (φk)k∈N eine Folge in Cc(Rn) mit supp(φk) ⊆K und limk ‖φk‖∞ = 0. Dann folgt lim

k→∞I(φk) = 0.

Beweis: Für jedes ε ∈ R+ gelten jeweils die Ungleichungen

−‖φk‖∞ · χK,ε ≤ −‖φk‖∞ · χK ≤ φk ≤ ‖φk‖∞ · χK ≤ ‖φk‖∞ · χK,ε

Auf Grund der Monotonie der Funktion I folgt daraus −‖φk‖∞I(χK,ε) ≤ I(φk) ≤ ‖φk‖∞I(χK,ε). Aus derVoraussetzung ‖φk‖∞ → 0 folgt also I(φk)→ 0. �

(1.36) Proposition Für jedes φ ∈ Cc(Rn) gilt |I(φ)| ≤ I(|φ|) = ‖φ‖L .

Beweis: Aus φ ≤ |φ| folgt I(φ) ≤ I(|φ|), und wegen I(|φ|) ≥ 0 erhalten wir |I(φ)| ≤ I(|φ|). Weil |φ| eineMajorante von φ ist, gilt außerdem ‖φ‖L ≤ I(|φ|) nach Definition der Halbnorm ‖ · ‖L . Zum Beweis derUngleichung I(|φ|) ≤ ‖φ‖L sei

∑∞k=1 φk eine beliebige Majorante von |φ|. Für jedes m ∈ N sei

ψm = |φ| ∧

(m∑k=1

φk

)∈ C +

c (Rn).

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Offenbar gilt supp(ψm) ⊆ supp |φ| für alle m ∈ N. Außerdem konvergiert (ψm)m∈N punktweise wegen |φ|,denn auf Grund der Vertauschbarkeit von Minimum und Maximum mit Grenzwerten gilt

limm→∞

ψm(x) = min

{|φ(x)| , lim

m→∞

m∑k=1

φk(x)

}= min

{|φ(x)| ,

∞∑k=1

φk(x)

}= |φ(x)|.

Weil die Träger von |φ| und ψm kompakt sind und die Folge (ψm)m∈N außerdem monoton wachsend ist,können wir den Satz von Dini anwenden. Demnach konvergiert die Folge (ψm)m∈N gleichmäßig gegen |φ|, esgilt also

limm→∞

‖ψm − |φ|‖∞ = 0.

Nach (1.35) folgt daraus limm I(ψm) = I(|φ|). Außerdem gilt ψm ≤∑mk=1 φk für alle m ∈ N, damit

I(ψm) ≤m∑k=1

I(φk) ≤∞∑k=1

I(φk)

und |I(ψm)| ≤∑∞k=1 I(φk) für alle m ∈ N. Wegen I(ψm) → I(|φ|) folgt daraus |I(φ)| ≤

∑∞k=1 I(φk). Weil die

Majorante beliebig vorgegeben war, erhalten wir |I(φ)| ≤ ‖φ‖L wie gewünscht. �

(1.37) Definition Sei f ∈ L (Rn) und (fk)k∈N eine Folge in Cc(Rn) mit limk ‖fk−f‖L = 0.Dann ist ∫ L

Rnf(x) dx = lim

k→∞I(fk) = lim

k→∞

∫Rnfk(x) dx

das Lebesgue-Integral der Funktion f . Jede Lebesgue-integrierbaren Funktion f : B → R

auf einer Teilmenge B ⊆ Rn ordnen wir das Lebesgue-Integral der Nullfortsetzung zu.

Um zu zeigen, dass der angebene Grenzwert existiert, weisen wir nach, dass die Zahlen I(fk) =∫Rnfk(x) dx

eine Cauchyfolge bilden. Nach Voraussetzung existiert für beliebig vorgegebenes ε ∈ R+ ein N ∈ N, so dass‖fk − f‖L < 1

2ε für alle k ≥ N gilt. Nach (1.36) folgt für alle k, ` ≥ N dann

|I(fk)− I(f`)| = |I(fk − fl)| ≤ ‖fk − f`‖L ≤ ‖fk − f‖L + ‖f` − f‖L < 12ε+ 1

2ε = ε.

Wir müssen noch zeigen, dass das Lebesgue-Integral von f ∈ L (Rn) unabhängig von der Wahl der Folge(fk)k∈N ist. Sei (gk)k∈N eine weitere Folge mit den in der Definition angegebenen Eigenschaften. Wegen

‖fk − gk‖L = ‖(fk − f) + (f − gk)‖L ≤ ‖fk − f‖L + ‖gk − f‖L

gilt limk ‖fk − gk‖L = 0. Nach (1.36) gilt |I(fk − gk)| ≤ ‖fk − gk‖L , also folgt

limk→∞

|I(fk)− I(gk)| = limk→∞

|I(fk − gk)| = 0

und somit limk I(fk) = limk I(gk).

Ist f : Rn → R eine stetige Funktion mit kompaktem Träger, dann kann als Folge (fk)k∈N in Cc(Rn) die kon-stante Folge fk = f gewählt werden. In diesem Fall stimmen Riemann- und Lebesgue-Integral also überein.Die Aussage gilt auch für beliebige Riemann-integrierbare Funktionen, was hier aber nicht gezeigt wird.

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(1.38) Proposition Sind f, g ∈ L (Rn) und λ ∈ R, dann gilt∫ L

Rn(f + g)(x) dx =

∫ L

Rnf(x) dx+

∫ L

Rng(x) dx und

∫ L

Rn(λf)(x) dx = λ

∫ L

Rnf(x) dx.

Beweis: Wir führen diese Eigenschaften des Lebesgue-Integrals auf I(·) zurück. Nach Voraussetzung gibt esFolgen (fk)k∈N und (gk)k∈N in Cc(Rn) mit limk ‖fk − f‖L = 0 und limk ‖gk − g‖L = 0. Für jedes k ∈ N gilt

‖(fk + gk)− (f + g)‖L ≤ ‖fk − f‖L + ‖gk − g‖L und ‖(λfk)− (λf)‖L = |λ| · ‖fk − f‖L .

Daraus folgt limk ‖(fk + gk) − (f + g)‖L = 0 und limk ‖(λfk) − (λf)‖L = 0. Nach Definition des Lebesgue-Integrals gilt damit∫ L

Rn(f + g)(x) dx = lim

k→∞I(fk + gk) = lim

k→∞I(fk) + lim

k→∞I(gk) =

∫ L

Rnf(x) dx+

∫ L

Rng(x) dx

und ebenso∫ L

Rn(λf)(x) dx = lim

k→∞I(λfk) = λ lim

k→∞I(fk) = λ

∫ L

Rnf(x) dx. �

(1.39) Proposition

(i) Ist f Lebesgue-integrierbar, dann auch |f |.

(ii) Sind f, g ∈ L (Rn), dann auch die Funktionen f ∧ g und f ∨ g.

(iii) Sei f ∈ L (Rn) und g : Rn → R beschränkt. Ist g zusätzlich stetig oder g ∈L (Rn), dann folgt fg ∈ L (Rn).

Beweis: zu (i) Die Funktion |f | ist jedenfalls in L (Rn) enthalten, weil mit f auch |f | eine Majorante besitzt.Sei nun (fk)k∈N eine Folge in Cc(Rn) mit limk ‖fk − f‖L = 0. Wegen ||f | − |fk|| ≤ |f − fk| gilt dann auchlimk ‖|fk| − |f |‖L = 0. Weil die Funktionen |fk| in Cc(Rn) liegen, folgt daraus die Behauptung.

zu (ii) Dies folgt direkt aus den Gleichungen f ∧ g = 12 (f + g − |f − g|) und f ∨ g = 1

2 (f + g + |f − g|) sowieder Tatsache, dass die Lebesgue-integrierbaren Funktionen einen Untervektorraum von C (Rn) bilden.

zu (iii) Sei (fk)k∈N wiederum eine Folge in Cc(Rn) mit limk ‖fk − f‖L = 0. Nach (1.32) gilt

‖fg − fkg‖L ≤ ‖g‖∞‖fk − f‖L

für alle k ∈ N. Ist g stetig, dann liegen die Funktionen fkg alle in Cc(Rn), und aus limk ‖fg − fkg‖L = 0 folgtdie Lebesgue-Integrierbarkeit von fg. Ist g statt dessen ein Element aus L (Rn), dann wählen wir für jedesk ∈ N ein gk ∈ Cc(Rn) mit

‖gk − g‖L ≤ 1

k‖fk‖∞falls fk 6= 0 und setzen ansonsten gk = 0. Dann folgt ‖fkg − fkgk‖L ≤ ‖fk‖∞‖gk − g‖L ≤ 1

k für alle k ∈ N.Zusammen mit der Abschätzung

‖fkgk − fg‖L ≤ ‖fkgk − fkg‖L + ‖fkg − fg‖ ≤ ‖fkgk − fkg‖L + ‖g‖∞‖fk − f‖L

erhalten wir limk ‖fkgk − fg‖L = 0 und somit fg ∈ L (Rn). �

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Zur Vereinfachung der Notation lassen wir das „L “ über dem Integralzeichen von nun an weg. Sollte einmaldas Riemann-Integral an Stelle des Lebesgue-Integrals gemeint sein, wird ausdrücklich darauf hingewiesen.

(1.40) Proposition (Rechenregeln für das Lebesgue-Integral)

(i) Für alle f ∈ L (Rn) gilt∣∣∣∣∫Rnf(x) dx

∣∣∣∣ ≤ ∫Rn|f(x)| dx = ‖f‖L .

(ii) Ist f ∈ L (Rn) und (fk)k∈N eine Folge in L (Rn) mit limk ‖fk−f‖L = 0, dannist

limk→∞

∫Rnfk(x) dx =

∫Rnf(x) dx.

(iii) Aus f ≥ 0 folgt∫Rnf(x) dx ≥ 0.

(iv) Sei f ∈ L (Rn) und g : Rn → R beschränkt und außerdem stetig oder inL (Rn) enthalten. Dann gilt∣∣∣∣∫

Rnf(x)g(x) dx

∣∣∣∣ ≤ ‖g‖∞∫Rn|f(x)| dx.

Beweis: zu (i) Wir führen die Aussage auf die Ungleichungen |I(f)| ≤ I(|f |) = ‖f‖L für f ∈ Cc(Rn) aus(1.36) zurück. Sei also f ∈ L (Rn) und (fk)k∈N eine Folge in Cc(Rn) mit limk ‖fk − f‖L = 0. Nach Definitiondes Lebesgue-Integrals gilt limk I(fk) =

∫Rnf(x) dx. Wegen ||fk|−|f || ≤ |fk−f | gilt ‖|fk|−|f |‖L ≤ ‖fk−f‖L

für alle k ∈ N und damit limk I(|fk|) =∫Rn|f(x)| dx. Nun gilt∣∣∣∣∫

Rnf(x) dx

∣∣∣∣ ≤∣∣∣∣∫Rnf(x) dx−

∫Rnfk(x) dx

∣∣∣∣+

∣∣∣∣∫Rnfk(x) dx

∣∣∣∣≤

∣∣∣∣∫Rnf(x) dx−

∫Rnfk(x) dx

∣∣∣∣+

∫Rn|fk(x)| dx.

Für k → ∞ läuft der erste Summand auf der rechten Seite gegen Null und der zweite gegen∫Rn|f(x)| dx.

Daraus folgt die erste behauptete Ungleichung. Für die Gleichung betrachten wir∫Rn|f(x)| dx =

∫Rn|fk(x)| dx+

(∫Rn|f(x)| dx−

∫Rn|fk(x)| dx

)

= ‖fk‖L +

(∫Rn|f(x)| dx−

∫Rn|fk(x)| dx

).

Für k →∞ konvergiert der erste Summand gegen ‖f‖L und der zweite gegen Null.

zu (ii) Dies folgt direkt aus Teil (i), denn für alle k ∈ N gilt∣∣∣∣∫Rnfk(x) dx−

∫Rnf(x) dx

∣∣∣∣ ≤∫Rn|fk(x)− f(x)| dx ≤ ‖f − fk‖L .

Läuft der Ausdruck rechts gegen Null, dann also auch der linke.

zu (iii) Dies erhält man durch∫Rnf(x) dx =

∫Rn|f(x)| dx = ‖f‖L ≥ 0.

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zu (iv) Nach (1.39) ist fg jedenfalls Lebesgue-integrierbar. Außerdem gilt∣∣∣∣∫Rnf(x)g(x) dx

∣∣∣∣ ≤∫Rn|f(x)g(x)| dx = ‖fg‖L

≤ ‖g‖∞ · ‖f‖L = ‖g‖∞ ·∫Rn|f(x)| dx. �

(1.41) Definition Eine Teilmenge B ⊆ Rn heißt Lebesgue-messbar, wenn die charakteri-stische Funktion χB Lebesgue-integrierbar ist. In diesem Fall nennt man

vL (B) =

∫RnχB(x) dx das Lebesgue-Maß von B.

Die Menge B wird Lebesguesche Nullmenge genannt, wenn ‖χB‖L = 0 gilt.

Unmittelbar aus der Definition folgt, dass jede Teilmenge M einer Lebesgueschen Nullmenge N wiederumeine Lebesguesche Nullmenge ist. Aus M ⊆ N folgt χM ≤ χN und damit 0 ≤ ‖χM‖L ≤ ‖χN‖L = 0. Mansagt üblicherweise, dass eine Funktion f : Rn → R eine Eigenschaft fast überall besitzt, wenn die TeilmengeN ⊆ Rn, auf der diese Eigenschaft nicht gilt, eine Lebesguesche Nullmenge ist.

(1.42) Proposition

(i) Eine Teilmenge N ⊆ Rn ist genau dann eine Lebesguesche Nullmenge, wennsie Lebesgue-messbar ist und vL (N) = 0 gilt.

(ii) Jede Nullmenge (wie in der Analysis mehrerer Variablen definiert) ist eineLebesguesche Nullmenge.

Beweis: zu (i) „⇒“ Ist ‖χN‖L = 0, dann hat die Folge (fk)k∈N in Cc(Rn) gegeben durch fk = 0 für allek ∈ N die Eigenschaft limk ‖fk − χN‖L = 0. Dies zeigt, dass χN Lebesgue-integrierbar ist. Außerdem gilt

vL (N) =

∫RnχN (x) dx = lim

k→∞

∫Rnfk(x) dx = 0

nach Definition des Lebesgue-Integrals.

„⇐“ Aus χN ∈ L (Rn) und∫RnχN (x) dx = 0 folgt ‖χN‖L =

∫Rn|χN (x)| dx =

∫RnχN (x) dx = 0 nach (1.40).

zu (ii) Sei ε ∈ R+ vorgegeben. Nach Definition der Nullmengen gibt es eine Familie (Qk)k∈N von Quadernmit N ⊆

⋃∞k=1Qk und

∑∞k=1 v(Qk) < ε. Für jedes k ∈ N können wir ein εk ∈ R+ wählen, so dass I(χQk,εk) <

v(Qk) + ε2−k gilt. Es ist dann∑∞k=1 χQk,εk eine Majorante von χN , und es gilt

n∑k=1

I(χQk,εk) ≤n∑k=1

v(Qk) +

n∑k=1

ε2−k < ε+ ε = 2ε.

Weil ε beliebig vorgegeben war, folgt daraus ‖χN‖L = 0. �

Umgekehrt kann man zeigen, dass jede Lebesguesche Nullmenge eine Nullmenge ist, die beiden Begriffe sindalso äquivalent. Wir werden dieses Resultat aber nicht verwenden. Genau wie für die Riemann-integrierbarenFunktionen gilt auch hier

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(1.43) Proposition Seien f ∈ L (Rn), N ⊆ Rn eine Nullmenge und f : Rn → R eineFunktion mit f(x) = f(x) für alle x /∈ N . Dann ist auch f Lebesgue-integrierbar, und dieLebesgue-Integrale von f und f stimmen überein.

Beweis: Nach Voraussetzung gilt |f − f | ≤∑∞k=1 χN , und wegen ‖χN‖L = 0 folgt daraus ‖f − f‖L = 0

nach (1.30). Dies zeigt, dass f −f eine Lebesgue-integrierbare Funktion mit Lebesgue-Integral Null ist. Darauswiederum folgt auch die Lebesgue-Integrierbarkeit von f = (f − f) + f sowie die Gleichheit der Integrale. �

Für die spätere Anwendung bemerken wir noch, dass (1.30) gültig bleibt, wenn die Ungleichung |f(x)| ≤∑∞k=1 gk(x) nur fast überall erfüllt ist. Sei nämlich N ⊆ Rn die Nullmenge, auf der die Ungleichung nicht gilt

und fN die Funktion gegeben durch fN (x) = 0 für alle x ∈ N und fN (x) = f(x) für alle x ∈ Rn \ N . Nach(1.30) liegt fN in L (Rn), und es gilt

‖fN‖L ≤∞∑k=1

‖gk‖L .

Die Funktion |f − fN | stimmt fast überall mit der Nullfunktion überein und ist somit nach (1.43) Lebesgue-integrierbar, mit ‖f − fN‖L =

∫Rn|f − fN |(x) dx = 0. Daraus folgt ‖f‖L ≤ ‖fN‖L + ‖f − fN‖L = ‖fN‖L .

(1.44) Satz (Satz von Beppo Levi)

Sei (gk) eine Folge in L (Rn) mit∑∞k=1 ‖gk‖L < +∞. Dann gilt

(i) Die Reihe∑∞k=1 |gk(x)| konvergiert fast überall.

(ii) Sei g : Rn → R eine Funktion mit der Eigenschaft, dass fast überall die Glei-chung g(x) =

∑∞k=1 gk(x) erfüllt ist. Dann liegt g in L (Rn), und es gilt

limm→∞

∥∥∥∥∥g −m∑k=1

gk

∥∥∥∥∥L

= 0.

(iii) Gilt gk ∈ L (Rn) für alle k ∈ N, dann folgt g ∈ L (Rn) und∫Rng(x) dx =

∞∑k=1

∫Rngk(x) dx.

Beweis: zu (i) Sei D ⊆ Rn die Menge der Punkte, in denen die Reihe∑∞k=1 |gk(x)| divergiert. Dann gilt

χD ≤∑∞k=m+1 |gk| für alle m ∈ N. Nach (1.30) gilt ‖χD‖L ≤

∑∞k=m+1 ‖gk‖L für alle m ∈ N, und wegen

limm

∑∞k=m+1 ‖gk‖L = 0 folgt daraus ‖χD‖L = 0. Also ist D eine Lebesguesche Nullmenge.

zu (ii) Nach Voraussetzung gilt |g(x)| ≤∑∞k=1 |gk(x)| fast überall. Auf Grund der Vorbemerkung können

wir (1.30) auch in dieser Situation anwenden und erhalten g ∈ L (Rn). Wegen limm

∑∞k=m+1 ‖gk‖L = 0 und

‖g −∑mk=1 gk‖L ≤

∑∞k=m+1 ‖gk‖L gilt auch die zweite Aussage.

zu (iii) Für jedes m ∈ N ist∑mk=1 gk in L (Rn) erhalten, es gibt deshalb ein fm ∈ Cc(Rn) mit der Eigenschaft

‖∑mk=1 gk − fm‖L < 1

m . Ist nun ε ∈ R+ vorgegeben, dann können wir m ∈ N so wählen, dass sowohl 1m < 1

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als auch die Ungleichung∑∞k=m+1 ‖gk‖L < 1

2ε gilt. Es folgt dann

‖g − fm‖L ≤∞∑

k=m+1

‖gk‖L +

∥∥∥∥∥m∑k=1

gk − fm

∥∥∥∥∥L

< 12ε+ 1

2ε = ε.

Daraus folgt sowohl die Lebesgue-Integrierbarkeit von g als auch die Gleichung∫Rng(x) dx = lim

m→∞

∫Rnfm(x) dx = lim

m→∞

m∑k=1

∫Rngk(x) dx. �

(1.45) Folgerung (Satz über die monotone Konvergenz)Sei (fk)k∈N eine fast überall monoton wachsende Folge in L (Rn) mit der Eigenschaft, dassdie Folge der Integrale

∫Rnfk(x) dx beschränkt ist. Dann gibt es ein f ∈ L (Rn), so dass

(fk) fast überall gegen die Funktion f konvergiert mit

limk→∞

∫Rn

fk(x) dx =

∫Rnf(x) dx.

Beweis: Sei die Folge (gk)k∈N definiert durch g1 = f1 und gk = fk − fk−1 für k ≥ 2 und c ∈ R+ eine obereSchranke für die Integrale über fk. Dann gilt für alle m ∈ N die Abschätzung

m∑k=1

‖gk‖L = ‖f1‖L +

m∑k=2

∫Rn

(fk − fk−1) (x) dx =

‖f1‖L +

∫Rnfm(x) dx−

∫Rnf1(x) dx ≤ 2‖f1‖L + c.

Die Reihe∑∞k=1 ‖gk‖L ist also konvergent, außerdem gilt fm =

∑mk=1 gk für alle m ∈ N nach Definition der

Folge (gk)k∈N. Wir können somit den Satz von Beppo Levi anwenden und erhalten die beiden gewünschtenAussagen. �

Das Beispiel der Folge (χk)k∈N vom Anfang dieses Abschnitts zeigt, dass ein entsprechender Satz für Riemann-integrierbare Funktionen falsch ist. Der Satz über die monotone Konvergenz gilt auch für monoton fallendeFolgen Lebesgue-integrierbarer Funktionen: Man erhält ihn dadurch, dass man den ursprünglichen Satz aufdie Folge (−fk)k∈N anwendet. Hierbei muss man dann natürlich fordern, dass die Folge der Integrale nachunten beschränkt ist.

(1.46) Satz (Satz von Lebesgue über die majorisierte Konvergenz)

Sei (fk)k∈N eine Folge in L (Rn), die fast überall gegen eine Funktion f : Rn → R konver-giert. Sei ferner g eine nicht-negative, Lebesgue-integrierbare Funktion mit |fk| ≤ g für allek ∈ N. Dann ist auch f Lebesgue-integrierbar, und es gilt∫

Rnf(x) dx = lim

k→∞

∫Rnfk(x) dx.

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Beweis: Nach Abänderung der Funktionen fk, f und g auf einer Nullmenge können wir davon ausge-hen, dass (fk)k∈N überall gegen f konvergiert. Nun definieren wir für alle k, ν ∈ N die Funktion gk,ν =

max{fk, fk+1, ..., fk+ν}. Mit den fk sind auch die gk,ν integrierbar. Definieren wir gk(x) = limν gk,ν(x) für allex ∈ Rn, dann gilt gk = sup{fi | i ≥ k} für alle k ∈ N. Die Funktionenfolge (gk,ν)ν∈N konvergiert also monotonwachsend gegen gk, und die Folge der Integrale ist durch

∫Rngk(x) dx beschränkt. Aus dem Satz über die

monotone Konvergenz folgt nun, dass alle gk Lebesgue-integrierbar sind, und dass jeweils∫Rngk(x) dx = lim

ν→∞

∫Rngk,ν(x) dx gilt.

Die Folge (gk)k∈N konvergiert monoton fallend gegen f und ist betragsmäßig ebenfalls durch das Integralüber g beschränkt. Wir können den Satz über die monotone Konvergenz also erneut anwenden und erhaltensowohl f ∈ L (Rn) als auch die Gleichung∫

Rnf(x) dx = lim

k→∞

∫Rngk(x) dx.

Sei schließlich für jedes k ∈ N die Funktion hk definiert durch hk(x) = inf {fi(x) | i ≥ k}. Genau wie zuvorzeigt man, dass die hk alle Lebesgue-integrierbar sind und

∫Rnf(x) dx = limk

∫Rnhk(x) dx gilt. Wenden wir

nun das Lebesgue-Integral auf die Ungleichungen hk ≤ fk ≤ gk an und betrachten den Grenzübergang k →∞,dann erhalten wir insgesamt die gewünschte Gleichung

∫Rnf(x) dx = limk

∫Rnfk(x) dx. �

Wir leiten aus dem Satz über die majorisierte Konvergenz noch zwei wichtige Folgerungen ab: Die Stetigkeitparameterabhängiger Integrale und die Vertauschbarkeit von Lebesguescher Integration mit partieller Diffe-rentiation. Beide Ergebnisse sind für Riemann-Integrale nur sehr mühsam unter stärkeren Voraussetzungenerzielbar.

(1.47) Satz Sei X ein metrischer Raum, x0 ∈ X und f : Rm ×X → R eine Funktion mitfolgenden Eigenschaften.

(i) Die Funktion Rm → R, t 7→ f(t, x) ist Lebesgue-integrierbar für alle x ∈ X .

(ii) Es gibt eine nicht-negative, Lebesgue-integrierbare Funktion g aufRm, so dassfür alle x ∈ X jeweils |f(t, x)| ≤ g(t) erfüllt ist, für fast alle t ∈ Rm.

(iii) Die Abbildung X → R, x 7→ f(t, x) ist für fast alle t ∈ Rm stetig in x0.

Dann ist die Funktion F (x) =

∫Rm

f(t, x) dt stetig in x0.

Beweis: Sei (xk)k∈N eine Folge in X mit limk xk = x0. Wir definieren eine Folge (fk)k∈N reellwertiger Funk-tionen durch fk(t) = f(t, xk) für alle t ∈ Rm und k ∈ N. Außerdem sei f0(t) = f(t, x0). Auf Grund derVoraussetzung (iii) konvergiert (fk)k∈N fast überall punktweise gegen f . Wegen (i) ist die Folge in L (Rn)

enthalten, und wegen (ii) gilt |fk| ≤ g fast überall, für jedes k ∈ N. Nach dem Satz über die majorisierteKonvergenz gilt somit

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limk→∞

F (xk) = limk→∞

∫Rm

f(t, xk) dt = limk→∞

∫Rm

fk(t) dt = limk→∞

∫Rm

f0(t) dt

=

∫Rm

f(t, x0) dt = F (x0).

Damit ist die Stetigkeit von F in x0 bewiesen. �

Für den folgenden Satz legen wir die folgende Notation fest: Ist V ein endlich-dimensionaler R-Vektorraum,U ⊆ V eine offene Teilmenge und f : Rm × U → R eine Funktion, dann bezeichnen wir für jeden Punkt(t, x) = (t1, ..., tm, x1, ..., xn) und jedes v ∈ V durch ∂vf(t, x) die Richtungsableitung von f nach v, sofern dieseexistiert.

(1.48) Satz Sei V ein endlich-dimensionaler R-Vektorraum, U ⊆ V offen, v ∈ V undf : Rm × U → R eine Funktion. Wir setzen voraus, dass f die folgenden Eigenschaftenbesitzt.

(i) Für alle x ∈ U ist die Funktion Rm → R, t 7→ f(t, x) Lebesgue-integrierbar.

(ii) Es gibt eine Nullmenge N ⊆ Rm und eine nicht-negative, Lebesgue-integrier-bare Funktion g auf Rm, so dass die Richtungsableitung ∂vf(t, x) für alle t ∈Rm \N und alle x ∈ U existiert und die Abschätzung |∂vf(t, x)| ≤ g(t) erfülltist.

Dann besitzt F (x) =

∫Rm

f(t, x) dt auf U eine Richtungsableitung nach v, und es gilt

∂vF (x) =

∫Rm

∂vf(t, x) dt für alle x ∈ U.

Beweis: Sei x0 ∈ U und r ∈ R+ so gewählt, dass die offene Kugel vom Radius r um x0 bezüglich derMaximumsnorm ganz in U enthalten ist. Sei (hk)k∈N eine Folge reeller Zahlen mit 0 < |hk| < r für alle k ∈ Nund limk hk = 0. Für jedes k ∈ N definieren wir eine reellwertige Funktion fk auf Rm durch

fk(t) =1

hk(f(t, x0 + hkv)− f(t, x0)) .

Wegen (i) ist jedes fk in L (Rm) enthalten. Nach Definition der Richtungsableitung ∂vf und auf Grund derVoraussetzung (ii) konvergiert fk(t) außerdem für alle t ∈ Rm \N gegen ∂vf(t, x0).

Nach dem Mittelwertsatz für Richtungsableitungen existiert für alle t ∈ Rm \ N jeweils ein θt,k ∈ R mit0 < θt,k < 1 und fk(t) = ∂vf(t, x0 + θt,khkv). Daraus folgt |fk(t)| ≤ g(t) für alle t ∈ Rm \N . Ingesamt ist damitder Satz über die majorisierte Konvergenz anwendbar. Demnach ist die Funktion t 7→ ∂vf(t, x0) in L (Rm)

enthalten, außerdem gilt∫Rm

∂vf(t, x0) dt = limk→∞

∫Rm

fk(t) dt = limk→∞

1

hk

(∫Rm

f(t, x0 + hkv) dt−∫Rm

f(t, x0) dt

)= lim

k→∞

1

hk(F (x0 + hkv)− F (x0)) = ∂vF (x0). �

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§ 2. Funktionentheorie

2.1 Reelle und komplexe Differenzierbarkeit

Inhaltsübersicht

FF Wiederholung: Grundlagen über den Körper C der komplexen Zahlen

FF Folgenkonvergenz und Funktionsgrenzwerte in C

FF Definition der holomorphen (komplex differenzierbaren) Funktionen

FF reelle Differenzierbarkeit

FF Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen

Zu Beginn wiederholen wir die bekannten Fakten über komplexe Zahlen aus der Analysis einer Variablen.

(i) Der Körper C der komplexen Zahlen bilden einen Erweiterungskörper von R.

(ii) Es gibt ein ausgezeichnetes Element i ∈ C \ R mit i2 = −1, die sogenannte imaginäreEinheit.

(iii) Jedes Element z ∈ C kann auf eindeutige Weise in der Form z = a + ib mit a, b ∈ Rdargestellt werden. Man nennt a den Real- Re(z) und b den Imaginärteil Im(z) von z.

(iv) Auf C ist eine Abbildung ι : C → C gegeben durch ι(a + ib) = a − ib für alle a, b ∈ R,die sogenannte komplexe Konjugation. Es gilt ι(z +w) = ι(z) + ι(w), ι(zw) = ι(z)ι(w) undι(ι(z)) = z für alle z, w ∈ C sowie ι(x) = x für alle x ∈ R. Für jedes z ∈ C nennt man ι(z)die zu z konjugierte komplexe Zahl. An Stelle von ι(z) ist auch die Schreibweise z für diekonjugierte komplexe Zahl gebräuchlich.

(v) Für jedes z ∈ C nennt man |z| =√zz ∈ R+ den komplexen Absolutbetrag (kurz Betrag)

von z. Ist z = a + ib mit a, b ∈ R, dann gilt |z|2 = a2 + b2. Weiter gilt |z| = 0 ⇔ z = 0,|zw| = |z||w| und |z + w| ≤ |z|+ |w| für alle z, w ∈ C.

(2.1) Satz Für jede komplexe Zahl z ∈ C \ {0} gibt es ein eindeutig bestimmtes ϕ ∈ Rmit 0 ≤ ϕ < 2π, das sogenannte Argument arg(z) von z, mit der Eigenschaft

z = |z|(cosϕ+ i sinϕ).

Das Paar (|z|, ϕ) bezeichnet man als die Polarkoordinaten von z.

Beweis: Sei ρ : R+ × [0, 2π[ → R \ {(0, 0)}, (r, ϕ) 7→ (r cosϕ, r sinϕ) die Polarkoordinaten-Abbildung aus derAnalysis mehrerer Variablen. Wie dort gezeigt wurde, ist ρ eine Bijektion. Ist z = a+ ib mit a, b ∈ R, dann gibt

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es also Paar (r, ϕ) mit a = r cosϕ und b = r sinϕ, und es gilt

r2 = (r cosϕ)2 + (r sinϕ)2 = a2 + b2 = |z|2 ,

also r = |z|. Dies beweist die Existenz von ϕ. Ist nun ψ ∈ [0, 2π[ ein weiteres Element mit z = |z|(cosψ+i sinψ),dann liefert der Vergleich von Real- und Imaginärteil |z| cosϕ = Re(z) = |z| cosψ und |z| sinϕ = Im(z) =

|z| sinψ, also ρ(|z|, ϕ) = ρ(|z|, ψ). Auf Grund der Injektivität von ρ folgt ϕ = ψ. Damit ist die Eindeutigkeitbewiesen. �

Bereits in der Analysis einer Variablen wurde definiert, dass eine Folge (zn)n∈N in C gegen eine Zahl z ∈ Ckonvergiert, also

z = limn→∞

zn

gilt, wenn für jedes ε ∈ R+ ein N ∈ N existiert, so dass |zn − z| < ε für alle zn mit n ≥ N erfüllt ist. Von einerCauchyfolge in C spricht man, wenn es für jedes ε ∈ R+ ein N ∈ N gibt, so dass |zm− zn| < ε für alle m,n ∈ Nmit m,n ≥ N gilt.

(2.2) Proposition Sei (zn)n∈N eine Folge in C und z ∈ C ein weiteres Element. Es seizn = an + ibn und z = a + ib die Zerlegung der Zahlen in Real- und Imaginärteil, mitan, bn, a, b ∈ R. Dann sind die folgeden Aussagen äquivalent.

(i) Die Folge (zn)n∈N konvergiert in C gegen z.(ii) Es gilt lim

n→∞an = a und lim

n→∞bn = b.

Beweis: “⇒“ Sei ε ∈ R+ vorgegeben. Dann gibt es ein N ∈ N mit |zn − z| < ε für alle n ≥ N . Es giltzn − z = (an − a) + i(bn − b), also |zn − z|2 = (an − a)2 + (bn − b)2 und somit |an − a| ≤ |zn − z| und|bn − b| ≤ |zn − z| für alle n ∈ N. Daraus folgt |an − a| < ε und |bn − b| < ε für alle n ≥ N .

“⇐“ Auch hier sei ε ∈ R+ beliebig vorgegeben. Auf Grund der Voraussetzung gibt esN ∈ Nmit |an−a| < 12ε

und |bn − b| < 12ε für alle n ≥ N . Wegen |zn − z| ≤ |an − a| + |bn − b| folgt |zn − z| < ε für alle n ≥ N . Also

konvergiert (zn)n∈N in C gegen die Zahl z. �

Ebenso leicht kann man überprüfen, dass (zn)n∈N eine genau dann eine Cauchyfolge in C ist, wenn die Folgen(an)n∈N der Real- und die Folge (bn)n∈N der Imaginärteile beides Cauchyfolgen in R sind. Aus der Analysis Iist bekannt, dass die Cauchyfolgen in R genau die konvergenten Folgen in R sind. Daraus folgt unmittelbar,dass auch in C die Cauchyfolgen-Eigenschaft gleichbedeutend mit Konvergenz ist.

Mit Hilfe des Konvergenzbegriffs können wir nun Stetigkeit und Grenzwerte für Funktionen f : U → C

definieren, wobei U eine beliebige Teilmenge von C bezeichnet. Wir sagen, die Funktion f ist stetig im Punktz ∈ U , wenn für jede Folge (zn)n∈N in U , die gegen z konvergiert, jeweils

limn→∞

f(zn) = f(z) erfüllt ist.

Sei nun w ∈ C \ U und b ∈ C. Wir bezeichnen b als Grenzwert der Funktion f für z → w und schrei-ben limz→w f(z) = b, wenn eine Folge (zn)n∈N mit lim

n→∞zn = w exisitiert und für jede solche Folge jeweils

limn→∞

f(zn) = b gilt.

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Für jedes w ∈ C und r ∈ R+ bezeichnen wir die Menge Br(w) = {z ∈ C | |w − z| < r} als offenen Ball vomRadius r um den Punkt w. Wird in der Ungleichung |w − z| < r das “<“ durch “≤“ ersetzt, dann sprechenwir von einem abgeschlossenen Ball, der mit Br(w) bezeichnet wird. Wir bezeichnen eine Teilmenge U ⊆ C alsoffen, wenn für jedes z ∈ U ein ε ∈ R+ mit Bε(z) ⊆ U existiert.

Als nächstes werden wir nun den Begriff der Differenzierbarkeit von den reellen auf die komplexen Zahlenübertragen. Sei U ⊆ C eine offene Teilmenge und w ∈ U . Dann können wir für jede Funktion f : U → C denDifferenzialquotienten

g(z) =f(z)− f(w)

z − wals komplexwertige Funktion auf U \ {w} betrachten.

(2.3) Definition Sei U ⊆ C offen und w ∈ U . Wir bezeichnen eine Funktion f : U → C alskomplex differenzierbar im Punkt w, wenn der Grenzwert

limz→w

f(z)− f(w)

z − w

existiert. Wir bezeichnen diese gegebenenfalls als die komplexe Ableitung f ′(w) von f imPunkt w. Ist f in jedem Punkt z ∈ U komplex differenzierbar, dann bezeichnen wir f alsholomorphe Funktion auf der Menge U .

Genau wie in der Analysis einer Variablen beweist man die folgenden Rechenregeln für komplexe Ableitun-gen. Für die Abbildung id : C→ C, z 7→ z gilt id′(z) = 1, für alle z ∈ C. Ist f : C→ C konstant, gibt es also einw ∈ Cmit f(z) = w für alle z ∈ C, dann folgt f ′(z) = 0 für alle z ∈ C. Außerdem gilt

(2.4) Proposition Sei U ⊆ C offen, und seien f, g : U → C Abbildungen. Sind f und g ineinem Punkt z ∈ U komplex differenzierbar, dann auch die Funktionen f + g und fg. Esgilt

(f + g)′(z) = f ′(z) + g′(z) und (fg)′(z) = f ′(z)g(z) + f(z)g′(z).

Gilt darüber hinaus g(z) 6= 0 für alle z ∈ U , dann ist auch fg im Punkt z komplex differen-

zierbar, und es gilt (f

g

)′(z) =

f ′(z)g(z)− f(z)g′(z)

g(z)2.

Auch für die komplexe Differenzierbarkeit existiert eine Kettenregel.

(2.5) Proposition Seien U, V ⊆ C offene Teilmengen und f : U → C und g : V → C

Abbildungen, wobei wir f(U) ⊆ V voraussetzen. Ist f in einem Punkt z ∈ U und g imPunkt w = f(z) komplex differenzierbar, dann ist auch g ◦ f in z komplex differenzierbar,und es gilt

(g ◦ f)′(z) = g′(f(z)) · f ′(z).

Die Beweise sind wortwörtlich dieselben wie in der reellen Analysis, weshalb wir auf eine erneute Wiedergabeverzichten.

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Wir untersuchen nun, wie die komplexe Differenzierbarkeit mit dem Ableitungsbegriff aus der Analysis meh-rerer Variablen zusammenhängt. Dazu betrachten wir C nun als 2-dimensionalenR-Vektorraum und die kom-plexen Zahlen 1 und i als Richtungsvektoren. Ist U ⊆ C offen, f : U → C eine Funktion und w = u + iv ∈ Uein vorgegebener Punkt, dann bezeichnen wir mit

∂f

∂x(w) = ∂1f(w) ,

∂f

∂y(w) = ∂if(w)

die Richtungsableitungen von f im Punkt w bezüglich der Richtungen 1 und i. Nach Definition gilt

∂f

∂x(w) = lim

t→0

f(w + t)− f(w)

t= lim

x→u

f(x+ iv)− f(u+ iv)

x− u

und∂f

∂y(w) = lim

t→0

f(w + it)− f(w)

t= lim

y→v

f(u+ iy)− f(u+ iv)

y − vwobei die Grenzwerte jetzt in R (!) gebildet werden. Schreiben wir f in der Form f = g + ih mit reellwertigenFunktionen g, h : U → R, dann gilt offenbar

∂f

∂x=

∂g

∂x+ i

∂h

∂xund

∂f

∂y=

∂g

∂y+ i

∂h

∂y.

Diese Richtungsableitungen lassen sich auch als gewöhnliche partielle Ableitungen interpretieren. Dazu be-trachten wir die Abbildung ι : C→ R2 gegeben durch x+ iy 7→ (x, y). Es handelt sich bei ι um einen Isomor-phismus von R-Vektorräumen. Setzen wir nun

fR = ι ◦ f ◦ ι−1 ,

dann erhalten wir eine Abbildung von der offenen Teilmenge U = ι(U) ⊆ R2 nach R2. Für alle (x, y) ∈ ι(U)

gilt

fR(x, y) = (ι ◦ f ◦ ι−1)(x, y) = (ι ◦ f)(x+ iy) = ι(g(x+ iy) + ih(x+ iy))

= (g(x+ iy), h(x+ iy)).

Die Komponenten von fR sind also gegeben durch

(fR)1(x, y) = g(x+ iy) und (fR)2(x, y) = = h(x+ iy).

Setzen wir w = u+ iv, dann sind die partiellen Ableitungen der Komponenten von fR im Punkt (u, v) gegebendurch

∂1(fR)1(u, v) = limt→0

(fR)1(u+ t, v)− (fR)1(u, v)

t= lim

t→0

g(w + t)− g(w)

t=

∂g

∂x(w)

und

∂2(fR)1(u, v) = limt→0

(fR)1(u, v + t)− (fR)1(u, v)

t= lim

t→0

g(w + it)− g(w)

t=

∂g

∂y(w).

Genauso beweist man die Gleichungen

∂1(fR)2(u, v) =∂h

∂x(w) und ∂2(fR)2(u, v) =

∂h

∂y(w).

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Ist fR an der Stelle (u, v) sogar total differenzierbar, dann gilt mit w = u+ iv also

f ′R(u, v) =

∂g

∂x(w)

∂g

∂y(w)

∂h

∂x(w)

∂h

∂y(w)

.

(2.6) Definition Sei U ⊆ C offen. Eine Funktion f : U → C wird reell differenzierbar imPunkt w ∈ U genannt, wenn sie als Funktion auf dem R-Vektorraum C in w total differen-zierbar ist.

Aus der mehrdimensionalen Kettenregel folgt unmittelbar, dass eine Funktion f : U → C genau dann imPunkt w ∈ U reell differenzierbar ist, wenn die Funktion fR = ι ◦ f ◦ ι−1 im Punkt ι(w) total differenzierbar ist.

Wir illustrieren die bisher durchgeführten Herleitungen an zwei konkreten Beispielen. Sei f : C→ C gegebendurch z 7→ z2. Wegen

(x+ iy)2 = x2 + 2x(iy) + i2y2 = (x2 − y2) + i(2xy) für alle x, y ∈ R

gilt f = g + ih mit den Funktionen g(x + iy) = x2 − y2 und h(x + iy) = 2xy. Die Ableitung von fR im Punkt(x, y) ∈ R2 ist somit gegeben durch

f ′R(x, y) =

(2x −2y

2y 2x

)Sei nun f : C → C gegeben durch f(z) = z, die komplexe Konjugation. In diesem Fall gilt f = g + ih mitg(x+ iy) = x und h(x+ iy) = −y. Für alle (x, y) ∈ R2 erhalten wir diesmal

f ′R(x, y) =

(1 0

0 −1

)

Beide angebenen Funktionen f sind reell differenzierbar, denn f ′R ist in beiden Fällen offenbar stetig differen-zierbar, woraus die totale Differenzierbarkeit von fR und f in jedem Punkt des Definitionsbereichs folgt.

(2.7) Proposition Ist f : U → C im Punkt w ∈ U komplex differenzierbar, dann ist sie imselben Punkt auch reell differenzierbar.

Beweis: Nach Definition der komplexen Differenzierbarkeit gilt limz→0 ϕ(z) = 0 für die Funktion

ϕ(z) =f(w + z)− f(w)

z− f ′(w).

Es gilt also f(z+w) = f(w) + f ′(w)z+ϕ(z)z, wobei der „Fehlerterm“ ψ(z) = ϕ(z)z auch nach Division durch|z| noch gegen Null läuft. Außerdem ist die Abbildung z 7→ f ′(w)z ein Endomorphismus imR-Vektorraum C.Insgesamt haben wir damit gezeigt, dass f im Punkt w total differenzierbar ist. �

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Wir formulieren nun ein notwendiges und hinreichendes Kriterium für komplexe Differenzierbarkeit.

(2.8) Satz Sei U ⊆ C offen, f : U → C eine Funktion und w ∈ U ein Punkt, in dem f reelldifferenzierbar ist. Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

(i) Die Funktion f ist in w komplex differenzierbar.(ii) Es gelten die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen

∂h

∂y(w) =

∂g

∂x(w) und

∂h

∂x(w) = −∂g

∂y(w).

Sind diese Bedingungen erfüllt, dass ist die komplexe Ableitung von f im Punktw gegebendurch

f ′(w) =∂g

∂x(w) + i

∂h

∂x(w).

Beweis: „(i)⇒ (ii)“ Wie wir im Beweis von (2.7) gesehen haben, ist die totale Ableitung von f an der Stelle wdie R-lineare Abbildung C → C, z 7→ f ′(w)z. Sei f ′(w) = a + ib mit a, b ∈ R. Wie aus der Analysis mehrererVariablen bekannt, erhält man die Richtungsableitungen einer Funktion, indem man die Richtungsvektoren indie totale Ableitung einsetzt. Deshalb gilt

∂g

∂x(w) + i

∂h

∂x(w) =

∂f

∂x(w) = f ′(w) · 1 = (a+ ib) · 1 = a+ ib.

Es folgt∂g

∂x(w) = a ,

∂h

∂x(w) = b.

Durch Einsetzen des Richtungsvektors i erhalten wir

∂g

∂y(w) + i

∂h

∂y(w) =

∂f

∂y(w) = f ′(w)(i) = (a+ ib) · i = (−b) + ia

und somit∂g

∂y(w) = −b ,

∂h

∂y(w) = a.

Ingesamt erhalten wir somit

∂h

∂y(w) = a =

∂g

∂x(w) ,

∂h

∂x(w) = b = −∂g

∂y(w) ,

die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen sind also im Punkt w erfüllt.

„(ii) ⇒ (i)“ Da f im Punkt w reell differenzierbar ist, gibt eine R-lineare Abbildung φ : C → C und eineAbbildung ψ : U → Cmit

f(w + z) = f(w) + φ(z) + ψ(z) (2.6)

für alle z in einer Umgebung vom Nullpunkt und limz→0 ψ(z)/|z| = 0. Dann gilt auch limz→0 ψ(z)/z = 0.Sei nun

a =∂g

∂x(w) =

∂h

∂y(w) und b =

∂h

∂x(w) = −∂g

∂y(w).

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Weil die Richtungsableitungen von f durch Einsetzen der Richtungsvektoren 1 und i zu Stande kommen, gilt

φ(1) =∂f

∂x(w) =

∂g

∂x(w) + i

∂h

∂x(w) = a+ ib

undφ(i) =

∂f

∂y(w) =

∂g

∂y(w) + i

∂h

∂y(w) = (−b) + ia = i(a+ ib).

Weil φ eine lineare Abbildung auf demR-VektorraumC ist, erhalten wir für jedes z = x+iy ∈ C die Gleichung

φ(z) = φ(x+ iy) = xφ(1) + yφ(i)

= x(a+ ib) + yi(a+ ib) = (x+ iy)(a+ ib) = z(a+ ib).

Durch Divison von (2.6) durch z und Einsetzen von φ(z) = (a+ ib)z erhalten wir für alle z in einer Umgebungvon Null die Gleichung

ψ(z)

z=

f(w + z)− f(w)

z− (a+ ib).

Aus limz→0

ψ(z)/z = 0 folgt also

limz→0

f(w + z)− f(w)

z= a+ ib.

Also ist f im Punkt w komplex differenzierbar, und die Ableitung f ′(w) hat den angegebenen Wert. �

Häufig werden zur Untersuchung der komplexen Differenzierbarkeit die Wirtinger-Ableitungen

∂f

∂z= 1

2

(∂f

∂x− i∂f

∂y

)und

∂f

∂z= 1

2

(∂f

∂x+ i

∂f

∂y

)Durch Einsetzen der Komponenten f = g + ih erhält man

∂f

∂z= 1

2

∂g

∂x+ 1

2 i∂h

∂x+ 1

2 i∂g

∂y− 1

2

∂h

∂y= 1

2

(∂g

∂x− ∂h

∂y

)+ 1

2 i

(∂h

∂x+∂g

∂y

).

Nach (2.8) ist f in einem Punkt w also genau dann komplex differenzierbar, wenn

∂f

∂z(w) = 0 gilt.

Die komplexe Ableitung ist in diesem Fall gegeben durch

f ′(w) =∂g

∂x(w) + i

∂h

∂x(w) = 1

2

(∂g

∂x(w) +

∂h

∂y(w)

)+ 1

2 i

(∂h

∂x(w)− ∂g

∂y(w)

)=

∂f

∂z(w).

Für die Funktion f(z) = z2 gilt beispielsweise in jedem Punkt z = x+ iy jeweils

∂f

∂z(z) = 0 und

∂f

∂z(z) = 2z.

Für die Funktion f(z) = z gilt∂f

∂z(z) = 1 und

∂f

∂z(z) = 0.

Zu beachten ist, dass die Wirtinger-Ableitungen keine Richtungsableitungen im Sinne der Analysis mehrererVariablen sind. Insbesondere ist ∂f

∂z nicht die Ableitung von f in Richtung des Vektors z, wie man auf Grundder Notation vermuten könnte. Es handelt sich um ein rein formales Hilfsmittel.

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2.2 Komplexe Potenzreihen

Inhaltsübersicht

FF Wiederholung: Potenzreihen und ihr Konvergenzradius

FF Funktionen, die sich durch komplexe Potenzreihen definieren lassen, sind komplex differenzierbar.Die komplexe Ableitung ist dann ebenfalls durch eine Potenzreihe darstellbar.

FF Anwendungsbeispiel: Expontentialfunktion, Sinus und Kosinus im Komplexen

Sei (an)n∈N eine Folge komplexer Zahlen. Wie in der Analysis einer Variablen verwenden wir die Notation∑∞n=1 an für die Folge (sn)n∈N der Summen sn =

∑nk=1 ak und nennen sie die Reihe über (an)n∈N. Die Zahlen

sn werden die Partialsummen der Reihe genannt. Konvergiert die Folge (sn)n∈N gegen eine komplexe Zahla, dann wird die Bezeichnung

∑∞n=1 an auch für den Grenzwert a verwendet. Man nennt die Reihe absolut

konvergent, wenn die Reihe∑∞n=1 |an| in den reellen Zahlen konvergiert. Wie in der Analysis einer Variablen

beweist man auch hier, dass jede komplexe absolut konvergente Reihe konvergent im herkömmlichen Sinn ist(siehe hierzu auch die Übungen).

Die Potenzreihen wurden bereits in der Analysis mehrerer Variablen definiert. Ist a ∈ C und (an)n∈N eineFolge komplexer Zahlen, dann bezeichnet der Ausdruck

∑∞n=0 an(z − a)n die Potenzreihe über (an)n∈N im

Entwicklungspunkt a. Sei α = lim supnn√|an| ∈ R+ ∪ {+∞}. Dann nennt man

ρ =

0 falls α = +∞

α−1 falls α ∈ R+

+∞ falls α = 0

den Konvergenzradius der Potenzreihe. Der folgende Satz aus der Analysis mehrerer Variablen gilt auch imKomplexen; beim Beweis ergeben sich keine wesentlichen Änderungen.

(2.9) Satz Sei (an)n∈N eine Folge komplexer Zahlen, a ∈ C und f(z) =∑∞n=0 an(z − a)n

die zugehörige komplexe Potenzreihe im Entwicklungspunkt a. Sei ρ der Konvergenzradi-us der Potenzreihe.

(i) Im Fall ρ = 0 konvergiert f nur im Punkt a.

(ii) Im Fall ρ = +∞ konvergiert f in jedem Punkt z ∈ C absolut.

(iii) Sei nun 0 < ρ < +∞. Dann ist f in allen Punkte z ∈ Bρ(a) absolut konvergentund in allen Punkten z /∈ Bρ(a) divergent.

Gilt (iii), dann definiert f auf Bρ(a) eine stetige C-wertige Funktion. Im Fall (ii) ist dieseFunktion sogar auf ganz C definiert.

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Die sogenannte formale Ableitung einer Potenzreihe f(z) wie oben ist gegeben durch die Potenzreihe

f ′(z) =

∞∑n=1

nan(z − a)n−1 =

∞∑n=0

(n+ 1)an+1(z − a)n.

Wie in der reellen Analysis zeigt man auch hier, dass f und f ′ denselben Konvergenzradius besitzen. Derfolgende Satz zeigt, dass die formale Ableitung zugleich die komplexe Ableitung der durch f definierten C-wertigen Funktion liefert.

(2.10) Satz Sei r ∈ R+ und f : Br(a) → C eine Funktion, deren Werte durch einePotenzreihe im Entwicklungspunkt a ∈ C mit Konvergenzradius ρ ≥ r gegeben sind.Dann ist f auf Br(a) eine holomorphe Funktion, und die Ableitung von f ist in jedemPunkt z ∈ Br(a) der Wert der formalen Ableitung.

Beweis: Zur Vereinfachung der Notation beschränken wir uns beim Beweis auf den Entwicklungspunkt a =

0. Sei z ∈ Br(0) vorgegeben. Die komplexe Differenzierbarkeit von f und die Aussage über den Wert derAbleitung ist bewiesen, wenn wir zeigen können, dass die Differenz zwischen dem Differentialquotientenund dem Wert der formalen Ableitung

f(z + h)− f(z)

h−∞∑n=1

nanzn−1 =

1

h

( ∞∑n=0

an(z + h)n −∞∑n=0

anzn

)−∞∑n=1

nanzn−1 =

1

h

( ∞∑n=1

an(z + h)n −∞∑n=1

anzn

)−∞∑n=1

nanzn−1 =

∞∑n=1

an

(1

h(z + h)n − 1

hzn − nzn−1

)für h → 0 gegen Null konvergiert. Für den Ausdruck im Inneren der Klammer gilt nach dem BinomischenLehrsatz

1

h(z + h)n − 1

hzn − nzn−1 =

1

h

n∑k=0

(n

k

)hkzn−k − 1

hzn − nzn−1 =

1

hzn + nzn−1 +

1

h

n∑k=2

(n

k

)hkzn−k − 1

hzn − nzn−1 =

1

h

n∑k=2

(n

k

)hkzn−k.

Diese Summe können wir weiter abschätzen. Für 0 ≤ k ≤ n− 2 gilt(n

k + 2

)≤ (k + 1)(k + 2)

(n

k + 2

)= (k + 1)(k + 2)

n!

(k + 2)!(n− k − 2)!=

n!

k!(n− k − 2)!

= n(n− 1)(n− 2)!

k!(n− 2− k)!= n(n− 1)

(n− 2

k

)und somit∣∣∣∣∣ 1h

n∑k=2

(n

k

)hkzn−k

∣∣∣∣∣ = |h|−1n∑k=2

(n

k

)|h|k|z|n−k = |h|−1

n−2∑k=0

(n

k + 2

)|h|k+2|z|n−(k+2)

= |h|n−2∑k=0

(n

k + 2

)|h|k|z|(n−2)−k ≤ n(n− 1)|h|

n−2∑k=0

(n− 2

k

)|h|k|z|(n−2)−k

= n(n− 1)|h|(|h|+ |z|)n−2.

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Wir erhalten also die Abschätzung∣∣∣∣∣f(z + h)− f(z)

h−∞∑n=1

nanzn−1

∣∣∣∣∣ ≤ |h|∞∑n=1

n(n− 1)|an| ( |h|+ |z| )n−2.

Seien nun δ, s ∈ R+ so gewählt, dass |z|+ δ < s < r erfüllt ist. Dann erhalten wir insgesamt für 0 < |h| < δ dieAbschätzung ∣∣∣∣∣f(z + h)− f(z)

h−∞∑n=1

nanzn−1

∣∣∣∣∣ ≤ |h|

( ∞∑n=2

n(n− 1)|an|sn−2

). (2.7)

Die zweite formale Ableitung von f ist gegeben durch

f ′′ =

∞∑n=2

n(n− 1)anzn−2.

Weil die Konvergenzradien von f , f ′ und f ′′ übereinstimmen, ist f ′′ im Punkt s absolut konvergent. Deshalbist auch der Ausdruck in der Klammer auf der rechten Seite von (2.7) konvergent, und wir erhalten für h→ 0

die gewünschte Konvergenz gegen Null. �

(2.11) Folgerung Durch die sogenannte Exponential-, Sinus- und Kosinusreihe

exp(z) =

∞∑n=0

zn

n!, sin(z) =

∞∑n=0

(−1)nz2n+1

(2n+ 1)!und cos(z) =

∞∑n=0

(−1)nz2n

(2n)!

sind jeweils auf ganz C definierte holomorphe Funktionen gegeben. Es gilt

exp′(z) = exp(z) , sin′(z) = cos(z) und cos′(z) = − sin(z) für alle z ∈ C.

Beweis: In der Analysis einer Variablen wurde gezeigt, dass die Reihen von Exponential-, Sinus und Kosinus-funktion auf ganzR konvergieren. Also ist der Konvergenzradius aller drei Reihen gleich +∞, und man erhältnach (2.10) auf ganzC definierte, holomorphe Funktionen. Ebenfalls auf Grund des Satzes erhält man die kom-plexen Ableitungen der drei Funktionen einfach durch formale Ableitung der zugehörigen Potenzreihen. Fürden komplexen Kosinus erhält man so beispielsweise die Ableitung

∞∑n=1

(−1)n(2n)z2n−1

(2n)!=

∞∑n=1

(−1)nz2n−1

(2n− 1)!=

∞∑n=0

(−1)n+1 z2n+1

(2n+ 1)!=

−∞∑n=0

(−1)nz2n+1

(2n+ 1)!= − sin(z). �

Durch Einsetzen in die formalen Potenzreihen erhält man auch eine Gleichung, welche die drei Funktionenverbindet, nämlich

exp(iz) = cos(z) + i sin(z) für alle z ∈ C.

Dies rechnen wir in den Übungen nach. An Stelle von exp(z) schreibt man häufig auch ez . Die Gleichung zeigt,dass man die Polarkoordinaten-Darstellung einer komplexen Zahl auch in der Form z = reiϕ angeben kann,wobei r den Betrag und ϕ das Argument von z bezeichnet.

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2.3 Komplexe Kurvenintegrale und Cauchyscher Integralsatz

Inhaltsübersicht

FF Definition der komplexen Kurvenintegrale

FF Der Cauchysche Integralsatz besagt, dass komplexen Kurvenintegrale über geschlossene Kurven in konvexen Ge-bieten gleich Null sind.

FF Dieser Satz stellt einen Zusammenhang zwischen komplexen Kurvenintegralen und komplexen Stammfunktio-nen auf konvexen Gebieten her.

Sei U ⊆ C zunächst eine beliebige Teilmenge. Unter einer Kurve in U verstehen wir eine stetige Abbildungγ : [a, b] → U auf einem kompakten Intervall [a, b] ⊆ R, die stückweise stetig differenzierbar ist. Wie inAbschnitt 1.2 defineren wir

(i) die Normierung γ : [0, 1]→ C einer Kurve γ durch

γ(t) = γ((1− t)a+ tb) für alle t ∈ [0, 1]

(ii) die Konkatenation zweier normierter Kurven γ, δ : [0, 1]→ U mit γ(1) = δ(0) durch

δ ∗ γ : [0, 1] −→ U , t 7→

γ(2t) für 0 ≤ t ≤ 12

δ(2t− 1) für 12 ≤ t ≤ 1

(iii) die Inversion einer normierten Kurve γ durch γ−(t) = γ(1− t) für alle t ∈ [0, 1].

Ist mindestens eine der Kurven γ und δ nicht normiert, dann definieren wir δ ∗ γ = δ ∗ γ, wobei γ und δ

die Normierungen von γ und δ bezeichnen. Die folgenden beiden Kurventypen werden im Folgenden unsbesonders häufig begegnen: Sind w1, w2 ∈ C zwei beliebige Punkte, dann ist die Verbindungsstrecke zwischenw1 und w2 die Kurve [w1, w2] gegeben durch

[w1, w2] : [0, 1] −→ C , t 7→ (1− t)w1 + tw2.

Sei w ∈ C und r ∈ R+. Bezeichnen wir wie zuvor mit Br(w) die abgeschlossene Kreisscheibe vom Radius rum den Punkt w, dann ist die (positiv orientierte) Randkurve von Br(w) die Kurve ∂Br(w) gegeben durch

∂Br(w) : [0, 1] −→ C , t 7→ w + re2πit.

Um die nächste Definition vorzubereiten, führen wir die folgende Notation ein: Sei f : [a, b] → C eine stetigeFunktion und f = g + ih deren Zerlegung in Real- und Imaginärteil, mit stetigen, reellwertigen Funktioneng, h auf [a, b]. Dann setzen wir ∫ b

a

f(x) dx =

∫ b

a

g(x) dx+ i

∫ b

a

h(x) dx.

Das Integral über f ist also eine komplexe Zahl. Bezeichnen G und H (reelle) Stammfunktionen von g und h,dann erhält man ∫ b

a

f(x) dx = [G(x)]ba + i [H(x)]

ba ,

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indem man den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung auf die Funktionen g und h anwendet.Setzt man F = G + iH und definiert die Ableitung von F durch F ′(x) = G′(x) + iH ′(x), dann lässt sichdie Gleichung auch kürzer in der Form

∫ baf(x) dx = [F (x)]

ba darstellen. Wir illustrieren die neu eingeführte

Notation an einem wichtigen Beispiel.

(2.12) Proposition Sei λ ∈ C und F : R→ C gegeben durch F (t) = eλt.Dann gilt F ′(t) = λeλt.

Beweis: Sei F = G+ iH die Zerlegung von F in Real- und Imaginärteil. Ist λ = u+ iv mit u, v ∈ R, dann gilt

F (t) = eλt = eut+ivt = eu (cos(vt) + i sin(vt)) = G(t) + iH(t)

mit G(t) = eut cos(vt) und H(t) = eut sin(vt). Die beiden Ableitungen G′(t) = ueut cos(vt) + (−v)eut sin(vt)

und H ′(t) = ueut sin(vt) + veut cos(vt) liefern

F ′(t) = G′(t) + iH ′(t) = ueut cos(vt) + (−v)eut sin(vt) + iueut sin(vt) + iveut cos(vt)

= (u+ iv)eut cos(vt) + (u+ iv)euti sin(vt) = (u+ iv)eut (cos(vt) + i sin(vt)) = λeλt. �

Die folgende Definition ist den Kurvenintegralen 2. Art aus Abschnitt 1.2 sehr ähnlich.

(2.13) Definition Für eine stetige Funktion f : U → C und eine Kurve γ : [a, b] → U

definieren wir ∫γ

f(z) dz =

∫ b

a

(f ◦ γ)(t)γ′(t) dt

und nennen es das komplexe Kurvenintegral von f über U .

Komplexe Kurvenintegrale über Verbindungsstrecken werden auch in der Form∫ w2

w1

f(z) dz =

∫[w1,w2]

f(z) dz =

∫ 1

0

f((1− t)w1 + tw2)(w2 − w1) dt notiert.

Wir illustrieren die Defintion, indem wir das Kurvenintegral zweier Funktionen über die Randkurve der ab-geschlossenenen Einheitskreisscheibe γ = ∂B1(0) berechnen. Diese hatten wir definiert durch γ(t) = e2πit. Fürdie Funktion C→ C, z 7→ z2 erhalten wir∫

γ

z2 dz =

∫ 1

0

γ(t)2γ′(t) dt =

∫ 1

0

e6πit · 2πi dt = 2πi

∫ 1

0

e6πit dt

= 2πi

[1

6πie6πit

]1

0

= 13

(e6πi·1 − e6πi·0) = 1

3 (1− 1) = 0.

Für die rationale Funktion C× → C, z 7→ 1z mit einer Definitionslücke im Nullpunkt ergibt sich dagegen∫

γ

1

zdz =

∫ 1

0

γ′(t)

γ(t)dt =

∫ 1

0

2πie2πit

e2πitdt = 2πi

∫ 1

0

1 dt = 2πi.

—– 67 —–

Page 68: Funktionentheorie, Lebesguetheorie und Gewöhnliche ...gerkmann/skripten/mathe4.… · Jede Lipschitz-stetige Abbildung f : X !Y ist auch gleichmäßig stetig, und damit erst recht

Sei U ⊆ C beliebig und f : U → C eine stetige Funktion. Ähnlich wie für die Kurvenintegrale 2. Art geltenauch für komplexe Kurvenintegrale die Rechenregeln∫

γ

f(z) dz =

∫γ

f(z) dz ,

∫δ∗γ

f(z) dz =

∫γ

f(z) dz +

∫δ

f(z) dz und∫γ−f(z) dz = −

∫γ

f(z) dz

wobei γ eine Kurve bezeichnet, deren Endpunkt mit dem Startpunkt von δ übereinstimmt, und γ die Normie-rung von γ ist.

Weil wir den Vorzeichenwechsel beim Übergang von γ zu γ− im Abschnitt 1.2 nicht bewiesen haben, füh-ren wir den Beweis für komplexe Kurvenintegrale hier vollständig aus. Wir können davon ausgehen, dass γnormiert ist, also die Form γ : [0, 1]→ C besitzt. Zunächst bemerken wir, dass die (eindimensionale) Substitu-tionsregel problemlos von reell- auf komplexwertige Funktionen übertragen werden kann.

Ist nämlich f1 : I → C eine stetige Funktion auf einem offenen Intervall I ⊆ R mit Zerlegung f = g1 + ih1 inReal- und Imaginärteil, und ist u : J → I eine stetig differenzierbare, streng monoton wachsende oder fallendeFunktion auf einem offenen Intervall J ⊆ R, dann gilt für alle a, b ∈ J mit a < b auf Grund der reellwertigenSubstitutionsregel∫ ϕ(b)

ϕ(a)

f1(x) dx =

∫ ϕ(b)

ϕ(a)

g1(x) dx+ i

∫ ϕ(b)

ϕ(a)

h1(x) dx =

∫ b

a

(g1 ◦ ϕ)(t)ϕ′(t) dt+ i

∫ b

a

(h1 ◦ ϕ)(t)ϕ′(t) dt

=

∫ b

a

(f1 ◦ ϕ)(t)ϕ′(t) dt.

Wenden wir dies auf u : R → R, u(t) = 1 − t und die Funktion t 7→ (f ◦ γ)(t)γ′(t) an, so erhalten wir nun fürdas komplexe Kurvenintegral∫

γ−f(z) dz =

∫ 1

0

(f ◦ γ−)(t)(γ−)′(t) dt =

∫ 1

0

(f ◦ γ ◦ u)(t)(γ ◦ u)′(t) dt =∫ u(1)

u(0)

(f ◦ γ)(t)γ′(t) dt =

∫ 0

1

(f ◦ γ)(t)γ′(t) dt = −∫ 1

0

(f ◦ γ)(t)γ′(t) dt = −∫γ

f(z) dz.

Wie in Abschnitt 1.2 definieren wir die Länge einer komplexen Kurve γ : [a, b]→ C durch

L (γ) =

∫ b

a

|γ′(t)| dt.

Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Kurve nun in C statt in R2 verläuft, und dass der komplexeAbsolutbetrag an die Stelle der euklidischen Norm ‖ · ‖2 tritt. Wie man sich leicht überzeugt, gilt auch hierL (δ ∗ γ) = L (δ) + L (γ) und L (γ−) = L (γ) ab. Für die spätere Verwendung notieren wir noch die folgendeAbschätzung für Kurvenintegrale.

(2.14) Proposition Sei U ⊆ C, γ : [a, b] → U eine Kurve, f : U → C eine stetige Funktionund c ∈ R+ eine Konstante, so dass |f(z)| ≤ c für alle z ∈ γ([a, b]) erfüllt ist. Dann gilt∣∣∣∣∫

γ

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤ cL (γ).

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Beweis: Die Ungleichung erhält man durch die Rechnung∣∣∣∣∫γ

f dz

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∫ b

a

(f ◦ γ)(t)γ′(t) dt

∣∣∣∣∣ ≤∫ b

a

|(f ◦ γ)(t)||γ′(t)| dt ≤ c

∫ b

a

|γ′(t)| dt = cL (γ).

Hierbei wurde im zweiten Schritt (1.40) (i) verwendet. Man beachte, dass die Regel dort nur für den reellenAbsolutbetrag formuliert wurde, hier aber für den komplexen Absolutbetrag benötigt wird. Die Übertragungauf den komplexen Fall ist nicht vollkommen trivial; eventuell wird sie in den Übungen behandelt. �

Unser wichtigstes Ziel in diesem Abschnitt ist der Nachweis, dass Kurvenintegrale holomorpher Funktionen,die auf einer konvexen Teilmenge U ⊆ C definiert sind, stets den Wert Null haben.

(2.15) Definition Seien u, v, w ∈ C drei Punkte, die nicht auf einer gemeinsamen affinenGeraden liegen. Dann bezeichnen wir die Menge

∆ = ∆(u, v, w) = {λu+ µv + νw | λ, µ, ν ∈ [0, 1], λ+ µ+ ν = 1}

als Dreieck mit den Eckpunkten u, v, w. Als Randkurve des Dreiecks definieren wir diezusammengesetzte Kurve ∂∆ = [w, u] ∗ [v, w] ∗ [u, v].

Wir erinnern daran, dass eine Teilmenge eines metrischen Raums zusammenhängend genannt wird, wenn siekeine Zerlegung in zwei echte relativ offene, nichtleere Teilmengen besitzt. Einen offene zusammenhängendeTeilmenge eines metrischen Raums nennt man auch ein Gebiet.

Eine Teilmenge U ⊆ C wird als konvex bezeichnet, wenn für zwei beliebige Punkte w1, w2 ∈ C auch dasBild der Verbindungsstrecke [w1, w2]([0, 1]) vollständig in U liegt. Aus der Definition der Konvexität folgtunmittelbar, dass für jede konvexe Teilmenge U ⊆ C mit u, v, w ∈ U auch das Dreieck ∆ = ∆(u, v, w) in U

enthalten ist. Ist f : U → C eine stetige Funktion, dann gilt auf Grund der Rechenregel für die Konkatenationvon Kurven jeweils ∫

∂∆

f(z) dz =

∫ v

u

f(z) dz +

∫ w

v

f(z) dz +

∫ u

w

f(z) dz.

Die Länge von ∂∆, also die Zahl |v − u|+ |w − v|+ |u− w|, bezeichnen wir als Umfang des Dreiecks.

(2.16) Proposition Sei U ⊆ C ein konvexes Gebiet, und seien u, v, w ∈ U Punkte, die nichtauf einer affinen Geraden liegen. Sei ∆ = ∆(u, v, w), und seien u′ = 1

2 (v+w), v′ = 12 (u+w),

w′ = 12 (u + v) die Seitenmittelpunkte von ∆. Dann können wir ∆ in die vier kleineren

Dreiecke

∆1 = ∆(u,w′, v′) , ∆2 = ∆(v, u′, w′) , ∆3 = ∆(w, v′, u′) und ∆4 = ∆(u′, v′, w′)

zerlegen. Für jede stetige Funktion f : U → C gilt∫∂∆

f(z) dz =

∫∂∆1

f(z) dz +

∫∂∆2

f(z) dz +

∫∂∆3

f(z) dz +

∫∂∆4

f(z) dz.

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Beweis: Die Gleichung erhält man durch mehrfache Anwendung der Rechenregeln für Konkatenation undInversion. Nach Definition der Verbindungsstrecken gilt allgemein∫ w1

w2

f(z) dz =

∫[w1,w2]−

f(z) dz = −∫ w2

w1

f(z) dz

für beliebige Punkte w1, w2 ∈ C. Daraus folgt∫∂∆1

f(z) dz +

∫∂∆2

f(z) dz +

∫∂∆3

f(z) dz +

∫∂∆4

f(z) dz =

(∫ w′

u

f(z) dz +

∫ v′

w′f(z) dz +

∫ u

v′f(z) dz

)+

(∫ u′

v

f(z) dz +

∫ w′

u′f(z) dz +

∫ v

w′f(z) dz

)+

(∫ v′

w

f(z) dz +

∫ u′

v′f(z) dz +

∫ w

u′f(z) dz

)+

(∫ v′

u′f(z) dz +

∫ w′

v′f(z) dz +

∫ u′

w′f(z) dz

)=

∫ w′

u

f(z) dz +

∫ u

v′f(z) dz +

∫ u′

v

f(z) dz +

∫ v

w′f(z) dz +

∫ v′

w

f(z) dz +

∫ w

u′f(z) dz =

∫ v

u

f(z) dz +

∫ w

v

f(z) dz +

∫ u

w

f(z) dz =

∫∂∆

f(z) dz. �

Als letzte Vorbereitung für den Cauchyschen Integralsatz benötigen wir

(2.17) Lemma Sei U ⊆ C offen, f : U → C eine stetige Funktion und F : U → C einekomplexe Stammfunktion von f , also eine komplex differenzierbare Funktion mit F ′(z) =

f(z) für alle z ∈ U . Dann gilt∫γ

f(z) dz = (F ◦ γ)(b)− (F ◦ γ)(a)

für jeden in U verlaufenden Weg γ : [a, b] → C. Ist γ insbesondere ein geschlossener Weg,

dann gilt also∫γ

f(z) dz = 0.

Beweis: Die Aussage erhält man durch Anwendung des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnungaus der reellen Analysis. Seien f = g + ih und F = G + iH die Zerlegungen von f und F in Real- undImaginärteil. Dann sind G ◦ γ und H ◦ γ Real- und Imaginärteil von F ◦ γ, und (G ◦ γ)′, (H ◦ γ)′ sind Real-und Imaginärteil von (F ◦ γ)′. Zunächst betrachten wir den Fall, dass γ auf dem offenen Intervall ]a, b[ stetigdifferenzierbar ist. Auf Grund der Kettenregel und dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung gilt∫

γ

f(z) dz =

∫ b

a

(f ◦ γ)(t)γ′(t) dt =

∫ b

a

(F ′ ◦ γ)(t)γ′(t) dt =

∫ b

a

(F ◦ γ)′(t) dt =

∫ b

a

(G ◦ γ)′(t) dt+ i

∫ b

a

(H ◦ γ)′(t) dt =

(G ◦ γ)(b)− (G ◦ γ)(a) + i(H ◦ γ)(b)− i(H ◦ γ)(a) = (F ◦ γ)(b)− (F ◦ γ)(a).

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Nun sei γ ein beliebiger Weg, und a = x0 < ... < xn = b eine Unterteilung mit der Eigenschaft, dass γk =

γ|]xk−1,xk[ für 1 ≤ k ≤ n stetig differenzierbar ist. Auf Grund der bereits bewiesenen Gleichung erhalten wir∫γ

f dz =

n∑k=1

∫γk

f dz =

n∑k=1

((F ◦ γ)(xk)− (F ◦ γ)(xk−1)) =

(F ◦ γ)(xn)− (F ◦ γ)(x0) = (F ◦ γ)(b)− (F ◦ γ)(a). �

(2.18) Satz (Cauchyscher Integralsatz für Dreiecke)

Ist U ⊆ C offen, f : U → C eine holomorphe Funktion und ∆ ⊆ U ein Dreieck, dann gilt∫∂∆

f(z) dz = 0.

Beweis: Wie in (2.16) unterteilen wir das Dreieck ∆ in vier Dreiecke ∆1,∆2,∆3,∆4. Sei ∆(1) von diesen vierDreiecken dasjenige mit dem maximalen Betrag∣∣∣∣∫

∂∆i

f(z) dz

∣∣∣∣ , i ∈ {1, 2, 3, 4}

des Kurvenintegrals. Setzen wir ∆(0) = ∆, dann gilt ∆(0) ⊇ ∆(1) und∣∣∣∣∫∂∆(0)

f(z) dz

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∫∂∆1

f(z) dz +

∫∂∆2

f(z) dz +

∫∂∆3

f(z) dz +

∫∂∆4

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤

∣∣∣∣∫∂∆1

f(z) dz

∣∣∣∣+

∣∣∣∣∫∂∆2

f(z) dz

∣∣∣∣+

∣∣∣∣∫∂∆3

f(z) dz

∣∣∣∣+

∣∣∣∣∫∂∆4

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤ 4

∣∣∣∣∫∂∆(1)

f(z) dz

∣∣∣∣ .Indem wir dieselbe Konstruktion wie zuvor auf ∆ auf das Dreieck ∆(1) anwenden, erhalten wir ein Dreieck∆(2) ⊆ ∆(1), und Iteration dieses Vorgangs liefert eine Folge ∆(0) ⊇ ∆(1) ⊇ ∆(2) ⊇ ∆(3) ⊇ ... von Dreieckenmit ∣∣∣∣∫

∂∆(0)

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤ 4n∣∣∣∣∫∂∆(n)

f(z) dz

∣∣∣∣ .Bezeichnen wir jeweils mit `n den Umfang und mit δn den Durchmesser von ∆n, dann gilt `n = 2−n`0 undδn = 2−nδ0 für alle n ∈ N0. Weil die Dreiecke kompakt sind und sich gegenseitig enthalten, gibt es nach demSchachtelungsprinzip aus der Analysis mehrer Variablen einen Punkt w ∈ Cmit der Eigenschaft

∞⋂n=0

∆(n) = {w}.

Auf Grund der komplexen Differenzierbarkeit von f im Punkt w existiert eine Funktion h : U → Cmit

f(z) = f(w) + (z − w)f ′(w) + h(z) mit limz→w

h(z)

|z − w|= 0.

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Die Funktion g(z) = f(w) + (z−w)f ′(w) besitzt G(z) = f(w)z+ 12 (z−w)2f ′(w) als komplexe Stammfunktion.

Mit (2.17) erhalten wir∫∂∆(n)

f(z) dz =

∫∂∆(n)

(g + h)(z) dz =

∫∂∆(n)

g(z) dz +

∫∂∆(n)

h(z) dz

= 0 +

∫∂∆(n)

h(z) dz =

∫∂∆(n)

h(z) dz.

Sei nun ε ∈ R+ beliebig vorgegeben. Auf Grund der Grenzwerteigenschaft der Funktion h gilt |h(z)| ≤ ε|z−w|für z in einer hinreichend kleinen Umgebung V ⊆ U von w. Da der Durchmesser δn von ∆(n) für n → ∞gegen Null konvergiert, ist das Dreieck ∆(n) für hinreichend großes n in V enthalten. Für alle z ∈ ∆(n) giltdann |z−w| ≤ δn und somit |h(z)| ≤ εδn. Weil der Dreiecksumfang zugleich die Länge des Integrationswegesist, erhalten wir mit (2.14) die Abschätzung∣∣∣∣∫

∂∆(n)

f(z) dz

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∫∂∆(n)

h(z) dz

∣∣∣∣ ≤ εδn`n = 4−nδ0`0ε.

Es folgt ∣∣∣∣∫∂∆(0)

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤ 4n∣∣∣∣∫∂∆(n)

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤ δ0`0ε ,

und da ε ∈ R+ beliebig vorgegeben war, folgt∫∂∆

f(z) dz = 0. �

In Anwendungen des Cauchyschen Integralsatzes stellt es sich häufig als günstig heraus, wenn man auf dieHolomorphie der Funktion f in einem Punkt des Definitionsbereichs verzichten kann.

(2.19) Proposition Sei ∆ = ∆(u, v, w) ein Dreieck, a ∈ ∆ ein Punkt, U ⊆ C offen mitU ⊇ ∆ und f : U → C eine stetige Funktion, die auf U \ {a} holomorph ist. Dann gilt∫

∂∆

f(z) dz = 0.

Beweis: Zunächst betrachten wir den Fall, dass a mit einem der Eckpunkte des Dreiecks übereinstimmt; seietwa a = u. Seien ferner v1 und w1 zwei beliebige Punkte auf den an u anliegenden Dreiecksseiten [u, v] bzw.[u,w]. Definieren wir ∆1 = ∆(u, v1, w1), ∆2 = ∆(w,w1, v1) und ∆3 = ∆(v1, v, w), dann erhalten wir eineUnterteilung des Dreiecks ∆ in drei kleinere Dreiecke. Wie in (2.16) rechnet man nach, dass∫

∂∆

f(z) dz =

∫∂∆1

f(z) dz +

∫∂∆2

f(z) dz +

∫∂∆3

f(z) dz

erfüllt ist. Weil f auf ∆2 und ∆3 holomorph ist, verschwindet das Integral für diese beiden Dreiecke, und esfolgt ∫

∂∆

f dz =

∫∂∆1

f dz. (2.8)

Weil ∆ kompakt ist, nimmt die stetige Funktion z 7→ |f(z)| auf ∆ ein Maximum m ∈ R+ an. Auf Grund von(2.14) gilt die Abschätzung ∣∣∣∣∫

∂∆1

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤ L (∂∆1)m.

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Nach Gleichung (2.8) ist das Integral über ∂∆1 von der Lage der Punkte v1, w1 auf den Dreiecksseiten unab-hängig. Lassen wir nun v1 und w1 gegen a = u laufen, dann konvergiert der Umfang L (∂∆1) von ∆1 gegenNull. Es folgt ∫

∂∆

f(z) dz =

∫∂∆1

f(z) dz = 0.

Als nächstes betrachten wir den Fall, dass a zwar auf einer Seite des Dreiecks liegt, etwa in [u, v], aber mitkeinem der Eckpunkte übereinstimmt. Wir bilden dann die Dreiecke ∆1 = ∆(u, a, w) und ∆2 = ∆(v, w, a).Wieder zeigt man durch eine Rechnung wie in (2.16), dass∫

∂∆

f(z) dz =

∫∂∆1

f(z) dz +

∫∂∆2

f(z) dz gilt.

Nach Konstruktion ist a ein Eckpunkt sowohl von ∆1 als auch von ∆2. Wir können also die Aussage im bereitsbewiesenen Fall anwenden und erhalten∫

∂∆

f(z) dz =

∫∂∆1

f(z) dz +

∫∂∆2

f(z) dz = 0 + 0 = 0.

Schließlich betrachten wir noch den Fall, dass a im Inneren des Dreiecks enthalten ist. Dann gibt es λ, µ, ν ∈]0, 1[ mit λ+µ+ν = 1 und a = λu+µv+νw. Der Punkt b = λ

λ+µu+ µλ+µv liegt dann auf der Verbindungsstrecke

[u, v], stimmt aber weder mit u noch mit v überein, und a ist wegen

(1− ν)b+ νw = (1− ν)

λ+ µu+

µ

λ+ µv

)+ νw = (λ+ µ)

λ+ µu+

µ

λ+ µv

)+ νw

= λu+ µv + νw = a

in der Verbindungsstrecke [b, w] enthalten. Es sind dann ∆1 = ∆(u, b, w) und ∆2 = ∆(v, w, b) Dreiecke mit derEigenschaft, dass a auf einer ihrer Seiten liegt. Wiederum ist die Aussage damit auf einen bereits bewiesenenFall zurückgeführt, und wir erhalten∫

∂∆

f(z) dz =

∫∂∆1

f(z) dz +

∫∂∆2

f(z) dz = 0 + 0 = 0. �

(2.20) Proposition Sei G ein konvexes Gebiet, f : G→ C stetig und auf G mit eventuellerAusnahme eines einzelnen Punktes holomorph. Ist a ∈ G ein beliebiger Punkt, dann istdurch

F : G −→ C , z 7→∫ z

a

f(w) dw

eine Stammfunktion von f definiert.

Beweis: Für ein beliebiges b ∈ G ist zu zeigen, dass F in b differenzierbar ist und F ′(b) = f(b) gilt. Seiz ∈ G ein beliebiger Punkt und ∆ = ∆(b, a, z). Dann ist ∆ vollständig im Gebiet G enthalten. Auf Grund desCauchyschen Integralsatzes für Dreiecke gilt

∫∂∆

f(w) dw = 0, also

F (b) +

∫ z

b

f(w) dw − F (z) =

∫ b

a

f(w) dw +

∫ z

b

f(w) dw +

∫ a

z

f(w) dw = 0

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und somit

F (z)− F (b) =

∫ z

b

f(w) dw =

∫ 1

0

f((1− t)b+ tz)(z − b) dt = (z − b)g(z)

mit g(z) =

∫ 1

0

f((1− t)b+ tz) dt. Es gilt g(b) =

∫ 1

0

f(b) dt = f(b), und wegen

g(z)− g(b) =

∫ 1

0

(f((1− t)b+ tz)− f(b)) dt

ist |g(z)− g(b)| durch max{|f((1− t)b+ tz)− f(b) | 0 ≤ t ≤ 1} beschränkt. Weil f auf G stetig ist, konvergiertdiese Differenz gegen Null, wenn wir z → b laufen lassen; also ist auch g im Punkt b stetig. Es folgt nun

limz→b

F (z)− F (b)

z − b= lim

z→bg(z) = g(b) = f(b).

Damit haben wir gezeigt, dass F in b differenzierbar ist, und dass F ′(b) = f(b) gilt. �

(2.21) Satz (Cauchyscher Integralsatz für konvexe Gebiete)

SeiG ein konvexes Gebiet, f : G→ C stetig und mit eventueller Ausnahme eines einzelnenPunktes holomorph. Dann gilt für jede in G verlaufende, geschlossene Kurve γ∫

γ

f(z) dz = 0.

Beweis: Weil f auf G nach (2.20) eine Stammfunktion besitzt, erhalten wir die Aussage durch Anwendungvon (2.17). �

In der speziellen Situation, dass die Kurve γ einen Normalbereich in C durchläuft (im Sinne von Abschnitt 1.2,wenn man C mit R2 identifiziert), und dass f komplex differenzierbar mit stetiger komplexer Ableitung ist,kann der Cauchysche Integralsatz übrigens auch aus dem Greenschen Integralsatz hergeleitet werden.

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2.4 Die Cauchysche Integralformel

Inhaltsübersicht

FF Die Cauchysche Integralformel stellt die Werte f(z) einer holomorphen Funktion für z im Inneren einer Kreis-scheibe Br(a) durch ein Integral über den Rand ∂Br(a) dar.

FF Wesentlicher Bestandteil des Beweises ist der Cauchysche Integralsatz aus dem vorherigen Kapitel, der auf denDifferentialquotienten w 7→ f(w)−f(z)

w−zangewendet wird.

FF Eine wichtige Folgerung aus der Cauchyschen Integralformel ist die Tatsache, dass holomorphe Funktionen belie-big oft komplex differenzierbar sind. Die Werte f (n)(z) der höheren Ableitungen können für z ∈ Br(a) ebenfallsdurch ein Integral über ∂Br(a) dargestellt werden.

In diesem Abschnitt leiten wir aus dem Cauchyschen Integralsatz eine wichtige Formel ab, welche besagt, dasseine holomorphe Funktion auf einer Kreisscheibe vollständig durch ihre Werte auf dem Kreisrand festgelegtist. Viele fundamentale Eigenschaften holomorpher Funktionen lassen sich auf diese Formel zurückführen.

Als Vorbereitung für den Beweis des Satzes zeigen wir, dass Kurvenintegrale über stetige Funktionen, die voneinem komplex differenzierbaren Parameter abhängen, selbst komplex differenzierbare Funktionen darstellen.SeienU eine offene,W eine beliebige Teilmenge vonC und f : U×W → C eine Abbildung mit der Eigenschaft,dass für jedes w ∈ W die Funktion fw : U → C, z 7→ f(z, w) eine holomorphe Funktion ist. Dann setzen wir∂f∂z (z, w) = f ′w(z), wobei f ′w die komplexe Ableitung von fw nach der Variablen z bezeichnet. Wir erhalten aufdiese Weise eine Abbildung ∂wf : U ×W → C.

(2.22) Proposition Seien U ⊆ C offen, W ⊆ C beliebig und f : U ×W → C eine stetigeFunktion. Außerdem setzen wir voraus, dass ∂f

∂z auf ganz U ×W existiert und stetig ist. Seiγ : [a, b]→W eine Kurve in W . Dann ist

F : U −→ C , z 7→∫γ

f(z, w) dw

eine holomorphe Funktion, und es gilt F ′(z) =

∫γ

∂f

∂z(z, w) dw für alle z ∈ U .

Beweis: Wesentliches Hilfsmittel ist Satz (1.48) über die Vertauschbarkeit von Integration und partieller Diffe-rentiation. Sei z0 ∈ U vorgegeben und C ⊆ U eine kompakte Umgebung von z0. Wir betrachten die Abbildung

f : U × [a, b] −→ C , (z, t) 7→ f(z, γ(t))γ′(t).

In den Übungen haben wir gezeigt, dass eine stetige reellwertige Funktion auf einem kompakten IntervallLebesgue-integrierbar ist. Also sind Real- und Imaginärteil von [a, b] → R, t 7→ f(z, t) für jedes z ∈ U

Lebesgue-integrierbar. Seien außerdem ∂xf und ∂y f die Richtungsableitungen von f in Richtung der Vektoren(1, 0) und (i, 0) in C×R. Für alle (z, t) ∈ U × [a, b] gilt

∂xf(z, t) =∂f

∂x(z, γ(t))γ′(t) und ∂y f(z, t) =

∂f

∂y(z, γ(t))γ′(t).

—– 75 —–

Page 76: Funktionentheorie, Lebesguetheorie und Gewöhnliche ...gerkmann/skripten/mathe4.… · Jede Lipschitz-stetige Abbildung f : X !Y ist auch gleichmäßig stetig, und damit erst recht

und nach Voraussetzung sind diese Abbildungen stetig auf [a, b]×U . Nach dem Maximumsprinzip sind Real-und Imaginärteil dieser Funktionen auf der kompakten Menge [a, b] × C durch eine gemeinsame Konstanteγ ∈ R+ beschränkt. Die konstante Abbildung [a, b] → R, t 7→ γ ist also für jedes z ∈ C eine integrierbareMajorante von Real- und Imaginärteil der Funktionen t 7→ ∂xf(z, t) und t 7→ ∂y f(z, t). Sei nun F : U ×W → C

die Funktion

F (z) =

∫ b

a

f(z, t) dt =

∫ b

a

f(z, γ(t))γ′(t) dt =

∫γ

f(z, w) dw.

Mit Satz (1.48), angewendet auf Real- und Imaginärteil von t 7→ f(z, t), erhalten wir im Punkt z0 jeweils

∂F

∂x(z0) =

∫ b

a

∂xf(z0, t) dt =

∫ b

a

∂f

∂x(z0, γ(t))γ′(t) dt =

∫γ

∂f

∂x(z0, w) dw

und∂F

∂y(z0) =

∫ b

a

∂y f(z0, t) dt =

∫ b

a

∂f

∂y(z0, γ(t))γ′(t) dt =

∫γ

∂f

∂y(z0, w) dw ;

insbesondere existieren die Richtungsableitungen. Weil z 7→ f(z, w) für jedes feste w ∈ W komplex differen-zierbar ist, gilt

12

∂f

∂x(z0, w) + 1

2 i∂f

∂y(z0, w) =

∂f

∂z(z0, w) = 0.

Wir erhalten somit

∂F

∂z(z0) = 1

2

∂F

∂x(z0) + 1

2 i∂F

∂y(z0) = 1

2

∫γ

∂f

∂x(z0, w) dw + 1

2 i

∫γ

∂f

∂y(z0, w) dw =∫

γ

(12

∂f

∂x(z0, w) + 1

2 i∂f

∂y(z0, w)

)dw =

∫γ

∂f

∂z(z0, w) dw =

∫γ

0 dw = 0.

Dies zeigt, dass F im Punkt z0 komplex differenzierbar ist. Für die komplexe Ableitung erhalten wir

F ′(z0) = 12

∂F

∂x(z0)− 1

2 i∂F

∂y(z0) = 1

2

∫γ

∂f

∂x(z0, w) dw − 1

2 i

∫γ

∂f

∂y(z0, w) dw =∫

γ

(12

∂f

∂x(z0, w)− 1

2 i∂f

∂y(z0, w)

)dw =

∫γ

∂f

∂z(z0, w) dw. �

(2.23) Proposition Sei a ∈ C und r ∈ R+. Dann gilt für jedes z ∈ Br(a) jeweils∫∂Br(a)

dw

w − z= 2πi.

Beweis: Sei h : Br(a) → C definiert durch h(z) =∫∂Br(a)

dww−z für alle z ∈ Br(a). Die Anwendung von (2.22)

auf die Mengen U = Br(a), W = ∂Br(a) und die Abbildung f(z, w) = 1w−z zeigt, dass h auf Br(a) holomorph

ist, und dass man ihre komplexe Ableitung durch Differentiation nach z unter dem Integralzeichen erhält. Esgilt also

h′(z) =

∫∂Br(a)

dw

(w − z)2.

Weil die FunktionC\{z} → C,w 7→ (w−z)−2 für alle z ∈ Br(a) unter dem Integralzeichen die Stammfunktionw 7→ −(w − z)−1 besitzt, ist das geschlossene Kurvenintegral über w 7→ (w − z)−2 nach (2.17) jeweils Null. Es

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gilt also h′(z) = 0 für alle z ∈ Br(a). Somit ist h auf Br(a) konstant. Setzen wir γ(t) = a+ re2πit, dann erhaltenwir für alle z ∈ Br(a) jeweils∫

∂Br(a)

dw

w − z= h(z) = h(a) =

∫∂Br(a)

dw

w − a=

∫ 1

0

γ′(t)

γ(t)− adt

=

∫ 1

0

2πire2πit

re2πitdt =

∫ 1

0

2πi dt = 2πi. �

(2.24) Lemma SeiU ⊆ C offen, a ∈ U und r ∈ R+, so dass die abgeschlossene KreisscheibeBr(a) in U liegt. Dann gibt es ein ε ∈ R+, so dass auch noch die offene KreisscheibeBr+ε(a)

in U enthalten ist.

Beweis: Angenommen, die Aussage ist falsch. Dann gibt es eine Folge (zn)n∈N im Komplement V = C \ Umit |zn − a| ≤ r + 1

n für alle n ∈ N. Weil die gesamte Folge in der kompakten Kreisscheibe Br+1(a) enthaltenist, können wir durch Übergang zu einer konvergenten Teilfolge voraussetzen, dass (zn)n∈N gegen ein z ∈ Ckonvergiert. Diese Teilfolge erfüllt weiterhin die Abschätzung |zn − a| ≤ r + 1

n für alle n ∈ N. Nun gilt

|z − a| = limn→∞

|zn − a| ≤ limn→∞

(r +

1

n

)= r ,

also z ∈ Br(a). Weil aber V abgeschlossen ist, ist auch z in V enthalten. Dies widerspricht der Voraussetzung,dass Br(a) in U enthalten ist. �

(2.25) Satz (Cauchysche Integralformel)

Sei U ⊆ C offen und f : U → C eine holomorphe Funktion. Sei a ∈ U und r ∈ R+ mitBr(a) ⊆ U . Dann gilt für jedes z ∈ Br(a) die Gleichung

f(z) =1

2πi

∫∂Br(a)

f(w)

w − zdw.

Beweis: Sei ε ∈ R+ so gewählt, dass auch Br+ε(a) noch in U liegt. Dann ist G = Br+ε(a) ein konvexes Gebiet.Für ein festgewähltes z ∈ Br(a) betrachten wir auf G die Funktion gegeben durch

g(w) =

f(w)− f(z)

w − zfür w 6= z

f ′(z) für w = z.

Diese Funktion ist auf G \ {z} holomorph und auf Grund der komplexen Differenzierbarkeit von f im Punktz stetig. Wir können somit den Cauchyschen Integralsatz in der Fassung von (2.21) anwenden. Zusammen mit

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(2.23) erhalten wir

0 =

∫∂Br(a)

g(w) dw =

∫∂Br(a)

f(w)− f(z)

w − zdw =

∫∂Br(a)

f(w)

w − zdw − f(z)

∫∂Br(a)

dw

w − z

=

∫∂Br(a)

f(w)

w − zdw − 2πif(z).

Umstellen dieser Gleichung nach f(z) liefert die gewünschte Aussage. �

Aus der Cauchyschen Integralformel ergeben sich eine ganze Reihe überraschender Konsequenzen.

(2.26) Satz Sei U ⊆ C offen und f : U → C eine holomorphe Funktion. Dann ist fauf U beliebig oft komplex differenzierbar, und alle höheren Ableitungen f (n) sind wiederholomorph.

Beweis: Sei a ∈ U und r ∈ R+ mit Br(a) ⊆ U . Auf Grund der Cauchyschen Integralformel gilt

f(z) =1

2πi

∫∂Br(a)

f(w)

w − zdw für alle z ∈ Br(a).

Wir betrachten nun die Funktion g : ∂Br(a)×Br(a)→ C, (w, z) 7→ f(w)w−z . Diese ist offenbar in w stetig und nach

z stetig differenzierbar. Nach (2.22) können wir Integration über die Kurve und Differentiation vertauschen.Die Funktion f ist demnach komplex differenzierbar, und es gilt

f ′(z) =1

2πi

∫∂Br(a)

f(w)

(w − z)2dw.

Wiederum ist die Funktion f(w)(w−z)2 unter dem Integralzeichen stetig in w und nach z stetig differenzierbar.

Die erneute Anwendung von (2.22) zeigt, dass auch f ′ holomorph ist. Wir können also dieselben Argumentewie zuvor auch auf die Funktion f ′ anwenden. Durch vollständige Induktion beweist man die Existenz undHolomorphie der höheren Ableitungen f (n) für alle n ∈ N. �

Durch wiederholte Differentiation von f(w)w−z nach z erhält man die Integralformel

f (n)(z) =n!

2πi

∫∂Br(a)

f(w)

(w − z)n+1dw (2.9)

für die höheren Ableitungen von f . Die Durchführung eines entsprechenden Induktionsbeweises ist eine ein-fache Übungsaufgabe.

(2.27) Folgerung Besitzt eine Funktion f : U → C auf U eine komplexe Stammfunktion,dann ist f auf U holomorph.

Beweis: Sei F : U → C eine Stammfunktion. Dann ist F ′ = f auf Grund des soeben bewiesenen Satzesholomorph. �

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2.5 Anwendungen der Cauchyschen Integralformel

Inhaltsübersicht

FF Eine holomorphe Funktion kann in jedem Punkt a ihres Definitionsbereichs U in eine Potenzreihe entwickeltwerden. Dabei ist der Konvergenzkreis um a mindestens so groß wie der maximale Kreis um a, der in U Platzfindet.

FF Der Identitätssatz besagt, dass eine holomorphe Funktion auf einem Gebiet G durch ihre Werte auf einer nicht-diskreten Teilmenge von G bereits eindeutig festgelegt ist.

FF Der Satz von Liouville besagt, dass jede holomorphe Funktion f : C → C mit beschränkter Wertemenge f(C)konstant ist.

FF Laut dem Maximumsprinzip nimmt der Betrag |f | einer nicht-konstanten holomorphen Funktion auf einem GebietG in keinem Punkt von G ein Maximum an.

(I) Entwicklung holomorpher Funktionen in Potenzreihen

(2.28) Lemma Sei U ⊆ C und (fn)n∈N eine Folge stetiger Funktionen fn : U → C, diegleichmäßig gegen eine stetige Funktion f : U → C konvergiert. Dann gilt für jede in U

verlaufende Kurve γ jeweils

limn→∞

∫γ

fn(z) dz =

∫γ

f(z) dz.

Beweis: Sei ε ∈ R+ vorgegeben. Dann gibt es auf Grund der gleichmäßigen Konvergenz ein N ∈ N, so dass|fn(z)− f(z)| < ε für alle z ∈ U und n ≥ N erfüllt ist. Nach (2.14) kann das Integral über fn − f betragsmäßigdurch εL (γ) abgeschätzt werden. Für alle n ≥ N gilt also∣∣∣∣∫

γ

fn(z) dz −∫γ

f(z) dz

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∫γ

(fn − f)(z) dz

∣∣∣∣ ≤ εL (γ). �

(2.29) Satz Sei U ⊆ C offen und f : U → C eine holomorphe Funktion. Sei außerdema ∈ U und r = sup{s ∈ R+ | Bs(a) ⊆ U}. Dann gilt

(i) Die Funktion ist auf der offenen Kreisscheibe Br(a) durch eine Potenzreihedefiniert, für z ∈ Br(a) gilt also f(z) =

∑∞n=0 an(z − a)n mit einer geeigneten

komplexen Folge (an)n∈N. Für den Konvergenzradius ρ dieser Potenzreihegilt ρ ≥ r.

(ii) Die Koeffizienten an ∈ C der Potenzreihe sind eindeutig bestimmt, genauergilt an = f (n)(a)/(n!) für alle n ∈ N0.

(iii) Ist s ∈ R+ mit s < r, dann sind die Koeffizienten an für alle n ∈ N0 auchdurch die Integralformel

an =1

2πi

∫∂Bs(a)

f(w)

(w − a)n+1dw gegeben.

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Beweis: Sei s ∈ R+ mit s < r. Dann gilt auf Grund der Cauchyschen Integralformel

f(z) =1

2πi

∫∂Bs(a)

f(w)

w − zdw für alle z ∈ Bs(a).

Sei nun z ∈ Bs(a) fest gewählt. Dann ist der komplexe Absolutbetrag α der Zahl (z − a)/(w − a) für allew ∈ ∂Bs(a) gleich, und es gilt α < 1. Die geometrische Reihe liefert

∞∑n=0

(z − aw − a

)n=

1

1− z−aw−a

für alle w ∈ ∂Bs(a). Ferner konvergiert die Reihe auf der linken Seite für alle w gleichmäßig gegen ihrenjeweiligen Grenzwert, denn es existiert die von w unabhängige Abschätzung∣∣∣∣∣

∞∑k=n

(z − aw − a

)k∣∣∣∣∣ ≤∞∑k=n

αk.

Weil die Funktion f stetig ist, ist sie auf ∂Bs(a) beschränkt, ebenso die Funktion w 7→ f(w)/(w−a), und wegen

f(w)

w − z=

1

1− z−aw−a

· f(w)

w − a=

( ∞∑n=0

(z − aw − a

)n)· f(w)

w − a=

∞∑n=0

(z − a)n

(w − a)n+1f(w)

konvergiert auch diese Reihe gleichmäßig gegen ihren Grenzwert. Nach (2.28), angewendet auf die Partialsum-men fn(w) =

∑nk=0

(z−a)k

(w−a)k+1 f(w) der Reihe, können wir das Kurvenintegral und die Summation vertauschenund erhalten

f(z) =1

2πi

∫∂Bs(a)

f(w)

w − zdw =

1

2πi

∞∑n=0

∫∂Bs(a)

(z − a)n

(w − a)n+1f(w) dw

=

∞∑n=0

1

2πi

∫∂Bs(a)

f(w)

(w − a)n+1dw

(z − a)n.

Bezeichnen wir die komplexen Zahlen in der großen Klammer hinter dem Summenzeichen jeweils mit an,dann gilt also

f(z) =

∞∑n=0

an(z − a)n für alle z ∈ Bs(a).

Auf Grund von Gleichung (2.9) aus Abschnitt 2.4 gilt aber auch

an =1

2πi

∫∂Bs(a)

f(w)

(w − a)n+1dw =

f (n)(a)

n!für alle n ∈ N0.

Dies zeigt, dass die Koeffizienten an von der Wahl von s < r unabhängig sind. Auf diese Weise sieht man auch,dass die Potenzreihen-Entwicklung f(z) =

∑∞n=0 an(z − a)n sogar auf Br(a) gültig und der Konvergenzradi-

us der Reihe also mindestens r beträgt. Es bleibt zu zeigen, dass die Koeffizientenfolge (an)n∈N eindeutigbestimmt ist. Durch wiederholte Differentiation der Potenzreihe erhält man

f (k)(z) =

∞∑n=k

n(n− 1) · · · (n− k + 1)an(z − a)n−k für alle k ∈ N0.

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Inbesondere gilt f (k)(a) = (k!)ak und somit ak = f(k)(a)k! . Dies zeigt, dass die Koeffizienten ak in einer beliebi-

gen Potenzreihenentwicklung von f um a durch die Funktion f bereits eindeutig festgelegt sind. �

(II) Der Identitätssatz

(2.30) Definition Sei U ⊆ C offen und f : U → C holomorph. Eine Funktion f besitzt ineinem Punkt w ∈ C eine Nullstelle der Ordnung n, wenn

f (k)(w) = 0 für 0 ≤ k < n und f (n)(w) 6= 0 gilt.

Man sagt, ein Wert a ∈ C wird von f in w mit Vielfachheit n angenommen, wenn dieFunktion z 7→ f(z)− a in w eine Nullstelle der Ordnung n besitzt. Von einer Nullstelle derOrdnung∞ in w spricht man, wenn f (n)(w) = 0 für alle n ∈ N0 gilt.

(2.31) Proposition Sei U ⊆ C offen, w ∈ U und f : U → C holomorph und n ∈ N. Dannsind die folgenden Aussagen äquivalent.

(i) Die Funktion f besitzt in w eine Nullstelle der Ordnung n.

(ii) Es gibt ein r ∈ R+ und eine Folge (ak)k≥n komplexer Zahlen mit an 6= 0 und

f(z) =

∞∑k=n

ak(z − w)k für alle z ∈ Br(w).

(iii) Es gibt eine offene Umgebung V von w mit V ⊆ U und eine holomorpheFunktion g auf V mit g(w) 6= 0 und f(z) = (z − w)ng(z) für alle z ∈ V .

Beweis: “(i) ⇒ (ii)“ Sei r ∈ R+ so gewählt, das Br(w) ⊆ U gilt. Nach (2.29) besitzt f auf Br(w) einePotenzreihen-Entwicklung f(z) =

∑∞k=0 ak(z − w)k. Auf Grund der Formel ak = f (k)(w)/(k!) für die Ab-

leitung einer Potenzreihe gilt ak = 0 für 0 ≤ k < n und an 6= 0.

“(ii)⇒ (iii)“ Sei g auf der offenen Umgebung V = Br(w) von w durch g(z) =∑∞k=n ak(z − w)k−n definiert.

Dann ist g nach (2.10) auf Br(w) holomorph. Außerdem gilt g(w) = an 6= 0 und f(z) = (z − w)ng(z) für allez ∈ Br(w).

“(iii)⇒ (i)“ Wir beweisen durch vollständige Induktion über n ∈ N0: Ist V ⊆ U eine offene Umgebung vonw und f eine holomorphe Funktion auf V der Form f(z) = (z − w)ng(z), wobei g eine holomorphe Funktionauf V mit g(w) 6= 0 bezeichnet, dann ist w eine Nullstelle der Ordnung n von f . Im Fall n = 0 folgt ausder Voraussetzung direkt f(w) 6= 0, also braucht hier nichts gezeigt werden. Setzen wir nun die Aussagefür n voraus, und sei f(z) = (z − w)n+1g(z) mit einer Funktion g wie angegeben. Dann gilt auf Grund derProduktregel

f ′(z) = (n+ 1)(z − w)ng(z) + (z − w)n+1g′(z) = (z − w)n ((n+ 1)g(z) + (z − w)g′(z)) .

Die Funktion h : V → C, z 7→ (n+ 1)g(z) + (z − w)g′(z) ist holomorph, und es gilt

h(w) = (n+ 1)g(w) + (w − w)g′(w) = (n+ 1)g(w) 6= 0.

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Wegen f ′(z) = (z−w)nh(z) kann also die Induktionsvoraussetzung auf die Funktion f ′(z) angwendet werden.Wir erhalten f (k)(w) = 0 für 1 ≤ k ≤ n und f (n+1)(w) 6= 0. Außerdem ist offenbar f (0)(w) = f(w) =

(w − w)n+1g(w) = 0 erfüllt. Also besitzt f in w eine Nullstelle der Ordnung n+ 1. �

(2.32) Definition Sei U ⊆ C eine offene Menge. Eine Teilmenge D ⊆ U wird diskret in Ugenannt, wenn es für jeden Punkt w ∈ D eine Umgebung V ⊆ U gibt, so dass D∩V = {w}erfüllt ist.

Umgekehrt ist eine Teilmenge N ⊆ C also nichtdiskret, wenn zumindest ein Punkt w ∈ N die angegebeneBedingung verletzt. Dies bedeutet, dass für jedes n ∈ N ein vonw verschiedener Punktwn inB1/n(w) existiert,der zugleich in N \ {w} liegt. Es gibt also eine Folge (zn)n∈N in N \ {w}mit limn zn = w.

(2.33) Satz (Identitätssatz)

SeiG ⊆ C ein Gebiet, und seien f und g holomorphe Funktionen aufG. Dann sind folgendeAussagen äquivalent.

(i) f = g

(ii) Es gibt einen Punkt w ∈ G, so dass die Funktion h = f − g in w eine Nullstelleunendlicher Ordnung besitzt.

(iii) Es gibt eine nicht-diskrete Teilmenge N ⊆ G mit f |N = g|N .

Beweis: “(i) ⇒ (iii)“ Die Menge G ist nichtdiskret, denn jede Umgebung eines Punktes w ∈ G enthält eineMenge der FormBr(w) mit einem geeigneten r ∈ R+, undBr(w) enthält nebenw noch unendlich viele weiterePunkte. Also ist die Aussage (iii) mit N = G erfüllt.

“(iii)⇒ (ii)“ Sei N ⊆ G eine nichtdiskrete Teilmenge mit f |N = g|N . Dann existiert ein Punkt w ∈ N und eineFolge (zn)n∈N in N \{w}mit limn zn = w. Wir zeigen nun, dass die Funktion h = f − g in diesem Punkt w eineNullstelle unendlicher Ordnung besitzt. Nach Voraussetzung gilt h(zn) = f(zn) − g(zn) = f(zn) − f(zn) = 0

für alle n ∈ N. Nehmen wir an, die Nullstellenordnung m in w ist nur endlich (möglicherweise gleich Null).Dann gibt es nach (2.31) eine offene Umgebung W ⊆ G von w und eine holomorphe Funktion u auf W mitu(w) 6= 0 und h(z) = (z − w)mu(z) für alle z ∈ W . Als holomorphe Funktion ist u inbesondere im Punkt wstetig. Es folgt

u(w) = limn→∞

u(zn) = limn→∞

h(zn)

(zn − w)m= lim

n→∞

0

(zn − w)m= 0

im Widerspruch zur Annahme. Also muss die Nullstellenordnung von h in w unendlich sein.

“(ii) ⇒ (i)“ Nach Voraussetzung besitzt h im Punkt w eine Nullstelle unendlicher Ordnung; zu zeigen isth = 0. Dazu betrachten wir für jedes n ∈ N0 die Menge

Mn = {z ∈ G | h(n)(z) = 0}

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und setzen M =⋂∞n=0Mn. Nach Voraussetzung gilt w ∈ M . Als Urbild der einelementigen Menge {0} unter

der stetigen Abbildung h(n) sind die Mengen Mn alle abgeschlossen, also ist auch M .

Wir zeigen, dass M andererseits auch offen ist. Sei dazu v ∈ M ein beliebig gewählter Punkt und r ∈ R+ sogewählt, dass h auf Br(v) die Potenzreihen-Entwicklung

∑∞n=0 an(z − v)n besitzt. Für alle n ∈ N0 gilt v ∈Mn,

also h(n)(v) = 0 und somit auch an = h(n)(v)n! = 0. Dies zeigt, dass h auf der Menge Br(v) konstant Null ist,

und es folgt Br(v) ⊆M .

Damit ist die Offenheit von M bewiesen. Insgesamt ist M also eine nichtleere, offene und zugleich abgeschlos-sene Teilmenge von G. Weil G als Gebiet zusammenhängend ist, folgt daraus M = G und somit auch M0 = G.Dies zeigt, dass die Funktion h auf G konstant Null ist. Aus h = 0 folgt wiederum f = g. �

(III) Satz von Liouville und Fundamentalsatz der Algebra

(2.34) Satz (Cauchysche Ungleichungen)

Sei f : U → C eine holomorphe Funktion auf einer offenen Teilmenge U ⊆ C, a ∈ U undr ∈ R+ mit Br(a) ⊆ U , so dass die Funktion f auf Br(a) die Potenzreihen-Entwicklung

f(z) =

∞∑n=0

an(z − a)n

besitzt. Setzen wir m = max{|f(z)| | z ∈ ∂Br(a)}, dann gilt |an| ≤m

rnfür alle n ∈ N0.

Beweis: Nach (2.29) erhält man die Koeffizienten der Potenzreihen-Entwicklung durch die Formel

an =1

2πi

∫∂Br(a)

f(w)

(w − a)n+1dw für alle n ∈ N0.

Der Betrag des Integranden kann durchmr−(n+1) abgeschätzt werden, und der Integrationsweg hat die Länge2πr. Mit (2.14) erhalten wir |an| ≤ 2πr · (2π)−1mr−(n+1) = mr−n. �

Für die Formulierung des nächsten Satzes definieren wir folgenden Begriff: Eine ganze Funktion ist eine holo-morphe Funktion mit Definitionsbereich C.

(2.35) Satz (Satz von Liouville)

Eine ganze Funktion f mit der Eigenschaft, dass ihr Wertebereich f(C) als Teilmenge vonC beschränkt ist, ist konstant.

Beweis: Sei f(z) =∑∞n=0 anz

n die Potenzreihen-Entwicklung von f um den Nullpunkt. Weil f auf ganzC holomorph ist, besitzt die Potenzreihe nach (2.29) einen unendlichen Konvergenzradius. Ist nun f(C) be-schränkt, dann ist m = sup{|f(z)| | z ∈ C} ein endlicher Wert. Nach (2.34) gilt |an| ≤ mr−n für alle n ∈ N undr ∈ R+. Weil r beliebig groß gewählt werden kann, folgt daraus an = 0 für alle n ≥ 1. Weil die Potenzreihen-Entwicklung auf ganz C gültig ist, gilt also f(z) = a0 für alle z ∈ C. �

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(2.36) Satz (Fundamentalsatz der Algebra)

Sei f : C→ C eine nicht-konstante Polynomfunktion, also eine Funktion der Form

f(z) = anzn + an−1z

n−1 + ...+ a1z + a0

wobei n ≥ 1, ak ∈ C für 0 ≤ k ≤ n und an 6= 0 ist. Dann besitzt f eine Nullstelle in C.

Beweis: Nehmen wir an, die Funktion f besitzt auf ganz C keine Nullstelle. Dann ist g(z) = f(z)−1 eine ganzeFunktion. Wir zeigen, dass der Wertebereich g(C) von g beschränkt ist. Definieren wir die Funktion h : C× → C

durchh(z) =

an−1

z+ ...+

a1

zn−1+a0

zn,

dann gilt f(z) = zn(an + h(z)) für alle z ∈ C×. Die einzelnen Summanden von h konvergieren für |z| → ∞gegen Null. Es gibt also ein r ∈ R+ mit |h(z)| ≤ 1

2 |an| für alle z ∈ C mit |z| > r. Daraus folgt |f(z)| ≥ 12 |an|r

n

und |g(z)| ≤ 2|an|−1r−n für alle z außerhalb von Br(0). Als stetige Funktion ist g auf der kompakten MengeBr(0) ebenfalls beschränkt, insgesamt also auf ganz C. Nach (2.35) von Liouville wäre g damit konstant, alsoauch die Funktion f . Aber wegen n ≥ 1 und an 6= 0 ist f offensichtlich nicht konstant. Unsere Annahme hatalso zu einem Widerspruch geführt, und folglich besitzt f eine Nullstelle. �

Aus der Linearen Algebra ist bekannt, dass jede Polynomfunktion f vom Grad n mit einer Nullstelle a ∈ C inder Form f(z) = (z−a)g(z) geschrieben werden kann, wobei g eine Polynomfunktion vom Grad n−1 bezeich-net. Durch vollständige Induktion über n kann so leicht gezeigt werden, dass jede komplexe Polynomfunktionin Linearfaktoren zerfällt.

(IV) Gebietstreue und Maximumsprinzip

Die Cauchyschen Ungleichungen beschränken den Wert f(a) einer holomorphen Funktion im Mittelpunkt weiner Kreisscheibe Br(w) durch die Werte auf dem Rand. Dies bedeutet auch, dass die Funktion z 7→ f(z)−1,sofern f auf Br(w) nicht verschwindet, im Mittelpunkt w nicht zu klein werden darf. Diese Überlegung liefertein Kriterium für Nullstellen holomorpher Funktionen.

(2.37) Lemma Sei U ⊆ C offen, f : U → C holomorph, w ∈ U und r ∈ R+ mit Br(w) ⊆ U .Sei außerdem m = min{ |f(z)| | z ∈ ∂Br(w)}. Gilt nun |f(w)| < m, dann besitzt f in Br(w)

eine Nullstelle.

Beweis: Ist die Ungleichung |f(w)| < m erfüllt, dann ist f auf dem Rand ∂Br(w) ungleich Null. Die MengeV = {z ∈ U | f(z) 6= 0} ist offen. Besitzt f auch in Br(w) keine Nullstelle, dann gilt insgesamt Br(w) ⊆ V ,und nach (2.24) gibt es ein ε ∈ R+, so dass auch Br+ε(w) noch in V liegt. Dies bedeutet, dass g(z) = f(z)−1

auf Br+ε(w) eine holomorphe Funktion ist. Sei nun

g(z) =

∞∑n=0

an(z − w)n

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die Potenzreihen-Entwicklung von g um den Punkt w. Es gilt |g(z)| ≤ m−1 für alle z ∈ ∂Br(w), aus denCauchyschen Ungleichungen (2.34) folgt damit |g(w)| = |a0| ≤ m−1. Wir erhalten |f(w)| = |g(w)|−1 ≥ m, imWiderspruch zur Voraussetzung. �

(2.38) Satz (Satz von der Gebietstreue)

Sei G ⊆ C ein Gebiet und f : G→ C eine nicht-konstante, holomorphe Funktion. Dann istauch die Bildmenge f(G) ein Gebiet in C.

Beweis: Aus der Analysis mehrerer Variablen ist bekannt, dass das Bild einer zusammenhängenden Mengeunter einer stetigen Abbildung wieder zusammenhängend ist. Also ist f(G) ⊆ C zusammenhängend. ZumNachweis der Offenheit sei a ∈ f(G) beliebig vorgegeben und w ∈ G mit f(w) = a. Auf Grund des Identitäts-satzes (2.33) wird der Wert a von f nur auf einer diskreten Teilmenge von G angenommen, denn ansonstenwäre f auf G konstant gleich a. Insbesondere gibt es also ein r ∈ R+, so dass Br(w) ⊆ G gilt und f |Br(w) denWert a nur im Punkt w annimmt.

Wir zeigen nun, dass ein ε ∈ R+ mit Bε(a) ⊆ f(Br(w)) ⊆ f(G) existiert und beweisen damit die Offenheitvon f(G). Die Funktion z 7→ |f(z)− a| nimmt auf ∂Br(w) ein Minimum an, und dieses ist positiv. Es gibt alsoein ε ∈ R+ mit |f(z)− a| ≥ 2ε für alle z ∈ ∂Br(w). Sei nun b ∈ Bε(a) vorgebeben und g(z) = f(z)− b für allez ∈ Br(w). Dann gilt für alle z ∈ ∂Br(w) einerseits die Ungleichung |f(z)− a| ≤ |f(z)− b|+ |b− a| und somit

|g(z)| = |f(z)− b| ≥ |f(z)− a| − |b− a| ≥ 2ε− ε = ε ,

also ist min{ |g(z)| | z ∈ ∂Br(w) } ≥ ε. Andererseits ist |g(w)| = |f(w) − b| = |a − b| < ε. Nach (2.37) hat dieFunktion g(z) = f(z) − b damit in Br(w) eine Nullstelle. Es gibt also ein z ∈ Br(w) mit b = f(z), somit istb ∈ f(Br(w)) und insgesamt Bε(a) ⊆ f(Br(w)). �

(2.39) Satz (Maximumsprinzip)

Sei G ein Gebiet und f : G → C eine holomorphe Funktion. Wenn der Betrag |f | von f ineinem Punkt a ∈ G ein lokales Maximum besitzt, dann ist f auf G konstant.

Beweis: Angenommen, a ∈ G ist ein lokales Maximum von |f |. Dann gibt es ein r ∈ R+, so dass |f(a)| ≥ |f(z)|für alle z ∈ Br(a) erfüllt ist. Die offene KreisscheibeBr(a) ist ein Gebiet in C. Ist die Funktion f nicht-konstant,so kann (2.38) von der Gebietstreue angewendet werden, und folglich ist auch f(Br(a)) ⊆ C ein Gebiet. Diesbedeutet, dass eine offene Umgebung von f(a) in f(Br(a)) enthalten ist. Insbesondere gibt es Punkte w ∈f(Br(a)) mit |w| > |f(a)|, im Widerspruch zur vorherigen Feststellung. Also ist f auf G konstant. �

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2.6 Isolierte Singularitäten

Inhaltsübersicht

FF Verallgemeinerung von Cauchyschem Integralsatz und Cauchyscher Integralformel auf Kreisringe

FF Laurentreihenentwicklung holomorpher Funktionen auf Kreisringen

FF Klassifikation isolierter Singularitäten: hebbare Singularität, Polstelle, wesentliche Singularität

FF Erkennung des Singularitätentyps an der Laurentreihenentwicklung

(2.40) Definition Seien a ∈ C und r, s ∈ R+ mit r < s. Dann ist der Kreisring um a mitden Radien r und s definiert durch Kr,s(a) = {z ∈ C | r < |z − a| < s}.

Bei der Definition soll für r auch der Wert Null und für s der Wert +∞ zugelassen werden. Für r ∈ R+ setzenwir K0,r(a) = Br(a) \ {a}, und außerdem Kr,+∞(a) = C \ Br(a).

(2.41) Satz (Cauchyscher Integralsatz für Kreisringe)

Sei a ∈ C und K = Kr,s(a) mit 0 ≤ r < s ≤ +∞. Dann gilt für alle ρ, σ ∈ R+ mitr < ρ < σ < s und jede holomorphe Funktion f : K → C jeweils∫

∂Bσ(a)

f(z) dz −∫∂Bρ(a)

f(z) dz = 0.

Beweis: Es gilt f(z) = g(z)z−a mit einer auf K holomorphen Funktion g. Wenn wir zeigen können, dass die

Funktion J : ]r, s[→ C gegeben durch

J(c) =

∫∂Bc(a)

g(z)

z − adz

konstant ist, dann folgt insbesondere J(ρ) = J(σ), und die Aussage ist bewiesen. Definieren wir jeweils γc :

[0, 2π]→ C durch γc(t) = a+ ceit, dann gilt nach Definition des Kurvenintegrals

J(c) =

∫ 2π

0

(g ◦ γc)(t)ceit

iceit dt = i

∫ 2π

0

g(a+ ceit) dt.

Die Vorausssetzungen des Satzes (1.48) über die Vertauschbarkeit von Integration und Differentiation sinderfüllt, somit gilt

J ′(c) = i

∫ 2π

0

∂c

(g(a+ ceit)

)dt = i

∫ 2π

0

eitg′(a+ ceit) dt

=i

c

∫ 2π

0

ceitg′(a+ ceit) dt =i

c

∫∂Bc(a)

g′(z) dz.

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Dabei wurde im zweiten Schritt die mehrdimensionale Kettenregel verwendet sowie die Tatsache, dass dietotale Ableitung von g im Punkt a+ceit durch Multiplikation mit der komplexen Ableitung g′(a+ceit) gegebenist, wie in (2.7) gezeigt wurde. Weil g′ die Funktion g als komplexe Stammfunktion besitzt, ist das Integral nach(2.17) gleich Null, es gilt also J ′(c) = 0 für alle c ∈ ]r, s[. Somit ist J auf seinem gesamten Definitionsbereichkonstant. �

Wie beim Cauchyschen Integralsatz für konvexe Gebiete kann auf die Holomorphie von f in einem Punktz ∈ K verzichtet werden, wenn man die Stetigkeit von f auf ganz K fordert. Wendet man nämlich (2.20) aufeine konvexe offene Umgebung G dieses Punktes z an, so erhält man eine komplexe Stammfunktion von f |G,und aus (2.27) folgt daraus die Holomorphie von f auf ganzG, insbesondere im Punkt z. Allgemein zeigt dieseÜberlegung

(2.42) Proposition Ist U ⊆ C offen, z ∈ U und f : U → C eine stetige, auf U \ {z}holomorphe Funktion, dann ist f auf ganz U holomorph.

Nach dem Cauchyschen Integralsatz formulieren wir nun noch eine Variante der Cauchyschen Integralformel.

(2.43) Satz (Cauchysche Integralformel für Kreisringe)

Sei a ∈ C, K = Kr,s(a) mit 0 ≤ r < s ≤ +∞. Dann gilt für alle ρ, σ ∈ R+ mit r < ρ < σ < s,jede holomorphe Funktion f : K → C und jeden Punkt z ∈ K mit ρ < |z − a| < σ jeweils

f(z) =1

2πi

∫∂Bσ(a)

f(w)

w − zdw − 1

2πi

∫∂Bρ(a)

f(w)

w − zdw.

Beweis: Sei z ∈ K mit ρ < |z − a| < σ vorgegeben. Wir definieren die Funktion g : K → C durch

g(w) =

f(w)− f(z)

w − zfür w 6= z

f ′(z) für w = z.

Offenbar ist g auf K stetig und auf K \ {z} holomorph. Nach (2.42) ist g also eine holomorphe Funktion aufganz K. Wir können den Cauchyschen Integralsatz für Kreisringe (2.41) anwenden und erhalten damit∫

∂Bρ(a)

f(w)

w − zdw − f(z)

∫∂Bρ(a)

dw

w − z=

∫∂Bρ(a)

g(w) dw =

∫∂Bσ(a)

g(w) dw

=

∫∂Bσ(a)

f(w)

w − zdw − f(z)

∫∂Bσ(a)

dw

w − z.

Das Integral∫∂Bρ(a)

dww−z ist gleich Null, denn der Punkt z liegt außerhalb der Kreisscheibe Bρ(a), so dass

der Cauchysche Integralsatz für konvexe Gebiete auf die Funktion w 7→ 1w−z angewendet werden kann. Die

ursprüngliche Fassung der Cauchyschen Integralformel, angwendet auf die konstante Funktion w 7→ 1, liefertwegen z ∈ Bσ(a) außerdem

∫∂Bσ(a)

dww−z = 2πi. Damit erhalten wir∫

∂Bρ(a)

f(w)

w − zdw − f(z) · 0 =

∫∂Bσ(a)

f(w)

w − zdw − 2πif(z) ,

was zur gewünschten Gleichung umgestellt werden kann. �

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Wir untersuchen nun den Aufbau holomorpher Funktionen auf Kreisringen.

(2.44) Satz (Satz über holomorphe Funktionen auf Kreisringen)

Seien a ∈ C, die MengeK und die Zahlen r, swie in den beiden vorherigen Sätzen definiertund f : K → C eine holomorphe Funktion. Dann gibt es holomorphe Funktionen

fh : Kr,+∞(a) −→ C und fn : Bs(a) −→ C

so dass f = fh + fn auf K = Kr,+∞(a) ∩Bs(a) erfüllt ist und außerdem

lim|z|→+∞

|fh(z)| = 0

gilt. Die Funktionen fh und fn sind durch diese Bedingungen eindeutig festgelegt. Mannennt fh den Haupt- und fn den Nebenteil der Funktion f .

Beweis: Zunächst definieren wir für jedes ρ ∈ R+ mit r < ρ < s eine Funktion fn,ρ : Bρ(a)→ C durch

fn,ρ(z) =1

2πi

∫∂Bρ(a)

f(w)

w − zdw.

Seien nun ρ, σ ∈ R+ mit r < ρ < σ < s. Dann fn,ρ(z) = fn,σ(z) für alle z ∈ Bρ(a) nach (2.41). Wir können alsoeine holomorphe Funkton fn : Bs(a) → C für z ∈ Bs(a) durch fn(z) = fn,ρ(z) definieren, wobei ρ ∈ R+ mitmax{r, |z − a|} < ρ < s beliebig gewählt werden kann; der Wert fn(z) ist von dieser Wahl unabhängig. Fürjedes ρ ∈ R+ mit r < ρ < s definieren wir für z ∈ Kρ,+∞(a) ebenso

fh,ρ(z) = − 1

2πi

∫∂Bρ(a)

f(w)

w − zdw.

Wiederum auf Grund des Cauchyschen Integralsatzes für Kreisringe gilt fh,ρ(z) = fh,σ(z) für z ∈ Bρ(a) undr < ρ < σ < s. Also kann fh : Kr,+∞(a) → C definiert werden durch fh(z) = fh,ρ(z), wobei ρ ∈ R+ mitr < ρ < min{s, |z − a|} beliebig gewählt wurde. Die Funktion f ist auf ∂Bρ(a) beschränkt, und der Nennerkann durch |w − z| = |z − w| ≥ |z| − |w| nach unten abgeschätzt werden. Für |z| → +∞ konvergiert derIntegrand f(w)

w−z somit gleichmäßig gegen Null, und mit (2.28) erhalten wir

lim|z|→+∞

fh(z) = 0.

Wir beweisen nun die Gleichung f(z) = fh(z) + fn(z) für z ∈ Kr,s(a). Sei also z ∈ Kr,s(a) vorgegeben, undseien ρ, σ ∈ R+ mit r < ρ < |z − a| < σ < s. Zu zeigen ist

f(z) =1

2πi

∫∂Bσ(a)

f(w)

w − zdw − 1

2πi

∫∂Bρ(a)

f(w)

w − zdw ,

aber dies ist genau die Gleichung aus der Cauchyschen Integralformel (2.43) für Kreisringe. Zum Schlussbeweisen wir die Eindeutigkeit der Zerlegung. Sei f = gh + gn eine beliebige Zerlegung von f in holomorpheFunktionen gh : Br,+∞(a)→ C und gn : Bs(a)→ C, wobei wir auch

lim|z|→+∞

gh(z) = 0 voraussetzen.

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Dann gilt fh − gh = gn − fn auf Kr,s(a). Definieren wir u = fh − gh auf Br,+∞(a) und u = gn − fn auf Bs(a),dann ist u eine ganze Funktion mit limu(z) = 0 für |z| → +∞. Also ist u auf C beschränkt. Nach dem Satz vonLiouville (2.35) ist u konstant, und auf Grund des Grenzwerts für |z| → +∞ kommt als konstanter Wert nurNull in Frage. Es folgt fh = gh auf Br,+∞(a) und fn = gn auf Bs(a). �

(2.45) Satz (Laurentreihenentwicklung holomorpher Funktionen auf Kreisringen)

Eine auf dem Kreisring K = Kr,s(a) holomorphe Funktion besitzt eine auf dem gesamtenDefinitionsbereich gültige Reihenentwicklung

f(z) =

+∞∑n=−∞

an(z − a)n.

Eine solche Reihe wird Laurentreihe genannt. Die Familie (an)n∈Z komplexer Zahlen istdurch f eindeutig bestimmt. Dabei sind Neben- und Hauptteil von f gegeben durch

fh(z) =

−1∑n=−∞

an(z − a)n und fn(z) =

∞∑n=0

an(z − a)n.

Beweis: Der Nebenteil fn ist eine holomorphe Funktion auf Bs(a) und kann somit nach (2.29) in eine Potenz-reihe

fn(z) =

∞∑n=0

an(z − a)n

entwickelt werden, die auf ganz Bs(a) konvergiert. Für eine Reihendarstellung des Hauptteils fh verwendenwir die bijektive Abbildung j : Kr,+∞(a) → K0,r−1(0), z 7→ (z − a)−1, mit der Umkehrabbildung j−1 :

K0,r−1(0)→ Kr,+∞(a) gegeben durch j−1(w) = a+ 1w . Aus

lim|z|→+∞

fh(z) = 0 folgt dann lim|w|→0

(fh ◦ j−1)(w) = 0.

Die Funktion fh ◦ j−1 kann also stetig auf Br−1(0) fortgesetzt werden, und wegen (2.42) ist diese Fortsetzungsogar holomorph. Folglich existiert nach (2.29) eine auf Br−1(0) konvergente Potenzreihenentwicklung

(fh ◦ j−1)(w) =

∞∑n=1

bnwn.

die für alle w ∈ Br−1(0) gültig ist. Für alle z ∈ Kr,+∞(a) folgt nun

fh(z) = (fh ◦ j−1)(j(z)) = (fh ◦ j−1)((z − a)−1) =

∞∑n=1

bn(z − a)−n =

−1∑n=−∞

b−n(z − a)n.

Definieren wir a−n = bn für alle n ∈ N, dann erhalten wir also fh(z) =∑−1n=−∞ an(z − a)n wie gewünscht.

Zum Nachweis der Eindeutigkeit sei (cn)n∈Z eine weitere Folge mit der Eigenschaft

f(z) =

+∞∑n=−∞

cn(z − a)n für alle z ∈ Kr,s(a).

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Dann konvergiert∑∞n=0 cn(z− a)n auf ganz Bs(a) und

∑n=−∞ cn(z− a)n auf der gesamten Menge Kr,+∞(a),

außerdem gilt

f(z) =

−1∑n=−∞

cn(z − a)n +

∞∑n=0

cn(z − a)n

für alle z ∈ Kr,s(a). Zudem geht die erste Reihe offenbar für |z| → +∞ gegen Null. Nach (2.44) muss alsofh(z) =

∑−1n=−∞ cn(z − a)n für alle z ∈ Kr,+∞(a) und fn(z) =

∑∞n=0 cn(z − a)n für alle z ∈ Bs(a) gelten. Aus

der Eindeutigkeit der Potenzreihenentwicklung und∞∑n=0

an(z − a)n = fn(z) =

∞∑n=0

cn(z − a)n

folgt cn = an für alle n ∈ N0. Für jedes w ∈ K0,r−1 gilt außerdem∞∑n=1

a−nwn = (fh ◦ j−1)(w) =

∞∑n=1

c−nwn.

Wie wir bereits oben festgestellt haben, kann die Funktion fh ◦ j−1 auf Br−1(0) holomorph fortgesetzt werden.Da die Potenzreihen links und rechts aufBr−1(0) konvergieren und dort somit ebenfalls holomorphe (und ins-besondere stetige) Funktionen definieren, zeigt der Grenzübergang z → 0, dass die Gleichung

∑∞n=1 a−nw

n =∑∞n=1 c−nw

n für alle w ∈ Br−1(0) gültig ist. Eine erneute Anwendung der Eindeutigkeit der Potenzreihenent-wicklung holomorpher Funktionen liefert a−n = c−n für alle n ∈ N, insgesamt also an = cn für alle n ∈ Z.�

Es sei noch bemerkt, dass die Koeffizienten an durch die Formel

an =1

2πi

∫∂Bρ(a)

f(w)

(w − a)n+1dw für n ∈ Z, r < ρ < s (2.10)

berechnet werden können. Dies verallgemeinert die Gleichung für alle n ∈ N0 aus (2.29) (iii). Zunächst zeigtman, dass die Gleichung für n ∈ N0 in dieser Situation gültig bleibt, indem man nachweist, dass der Hauptteilvon f für diese n keinen Beitrag zum Integral liefert. Anschließend führt man den Fall n < 0 auf den Fall n ≥ 0

zurück, indem man f mit einer geeigneten Potenz von z − a multipliziert. Wir behandeln die Details in denÜbungen.

(2.46) Definition Sei D ⊆ C eine Teilmenge. Ein Punkt z ∈ D wird als isolierter Punktvon D bezeichnet, wenn eine Umgebung V von z in Cmit V ∩D = {z} existiert.

Eine Teilmenge D ⊆ C ist also genau dann diskret, wenn sie nur aus isolierten Punkten besteht.

(2.47) Definition Sei U ⊆ C offen und f : U → C eine holomorphe Funktion. Einen iso-lierten Punkt a der Menge C\U nennt man eine isolierte Singularität. Genauer bezeichnetman a als

(i) hebbar, wenn f |V ∩U für eine Umgebung V ⊆ C von a beschränkt ist,(ii) Polstelle, wenn lim

z→a|f(z)| = +∞ gilt, und als

(iii) wesentliche Singularität, wenn sie weder hebbar noch eine Polstelle ist.

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(2.48) Satz (Riemannscher Hebbarkeitssatz)

Sei f : U → C eine holomorphe Funktion. Eine isolierte Singularität a ist genau dannhebbar, wenn f auf U ∪ {a} holomorph fortsetzbar ist.

Beweis: “⇐“ Sei V ⊆ C eine kompakte Umgebung von a mit V ∩ (C \U) = {a}. Dann gilt V ⊆ U ∪ {a}. Sei fdie holomorphe Fortsetzung von f auf U ∪ {a}. Als stetige Funktion ist f auf V beschränkt. Somit ist auch dieFunktion f auf V ∩ U beschränkt.

“⇒“ Sei V ⊆ C eine offene Umgebung von amit V ∩(C\U) = {a}. Wiederum gilt V ⊆ U∪{a}. Wir definiereneine Funktion g : V → C durch

g(z) =

(z − a)f(z) für z ∈ V ∩ U

0 für z = a.

Die Funktion g ist stetig in a, weil f nach Voraussetzung auf der Menge V ∩ U beschränkt ist. Da g auf V ∩ Uholomorph und in a stetig ist, ist sie nach (2.42) auf V holomorph. Nach Definition der komplexen Differen-zierbarkeit ist nun durch

h(z) =

g(z)− g(a)

z − afür z 6= a

g′(z) für z = a

eine Funktion auf U ∪ {a} definiert, die auf U holomorph und in a stetig ist. Nochmalige Anwendung von(2.42) zeigt, dass h auf U ∪ {a} holomorph ist. Außerdem stimmen h und f auf U überein. Damit ist gezeigt,dass f eine holomorphe Fortsetzung auf U ∪ {a} besitzt. �

(2.49) Satz Ist a ∈ C eine Polstelle von f , dann gibt es eine Umgebung V ⊆ C von a mitV ∩ (C \ U) = {a}, eine eindeutig bestimmte Zahl n ∈ N und eine holomorphe Funktionh : V → Cmit

h(a) 6= 0 und f(z) = (z − a)−nh(z) für alle z ∈ V \ {a}.

Man bezeichnet die Zahl n als die Ordnung der Polstelle a.

Beweis: Wir wählen die Umgebung V von a so klein, dass V ∩ (C \U) = {a} gilt und f auf V \ {a} auch keineNullstelle besitzt. Dann ist die Funktion g(z) = f(z)−1 auf V \ {a} holomorph, und aus lim

z→a|f(z)| = +∞ folgt

limz→a

g(z) = 0.

Also kann g in a durch g(a) = 0 stetig fortgesetzt werden. Nach (2.42) ist diese Fortsetzung holomorph. Seinun n ∈ N die Nullstellenordnung von g in a. Dann gibt es nach (2.31) (iii) eine holomorphe Funktion h aufV mit g(z) = (z − a)nh(z) und h(a) 6= 0. Durch eventuelle Verkleinerung von V können wir h(z) 6= 0 für allez ∈ V annehmen. Es folgt dann

f(z) = (z − a)−nh(z) mit h(z) = h(z)−1 für alle z ∈ V \ {a}.

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Zum Beweis der Eindeutigkeit nehmen wir an, dass n1, n2 ∈ N mit n1 < n2 und holomorphe Funktionenh1, h2 auf V mit h1(a), h2(a) 6= 0 und

(z − a)−n1h1(z) = f(z) = (z − a)−n2h2(z) für z ∈ V \ {a}

existieren. Dann gilt (z − a)n2−n1h1(z) = h2(z) für alle z ∈ V \ {a}, und auf Grund des Identitätssatzes (2.33)ist die Gleichung auch in z = a erfüllt. Es folgt h2(a) = (a − a)n2−n1h1(a) = 0 im Widerspruch zu denVoraussetzungen. �

(2.50) Definition Sei U ⊆ C eine offene Teilmenge. Eine meromorphe Funktion auf U isteine holomorphe Funktion f : V → C auf einer offenen Teilmenge V ⊆ U mit der Eigen-schaft, dass die Punkte in U \ V alles Polstellen, also insbesondere isolierte Singularitäten,der Funktion f sind.

Beispielsweise sind C× → C, z 7→ z−1 und C \ {0, 1} → C, z 7→ 1z(z−1) meromorphe Funktionen auf C. Jede

holomorphe Funktion U → C auf einer offenen Teilmenge U ⊆ C ist nach Definition auf U auch meromorph.

(2.51) Satz Sei a ∈ C eine isolierte Singularität von f : U → C, und seien r, s positivereelle Zahlen mit r < s und Kr,s(a) ⊆ U . Sei ferner

f(z) =

∞∑n=−∞

an(z − a)n

die Laurentreihen-Entwicklung von f auf dem Kreisring Kr,s(a).

(i) Die Singularität a ist genau dann hebbar, wenn an = 0 für alle n < 0 gilt.

(ii) Sie ist eine Polstelle der Ordnung n genau dann, wenn a−n 6= 0 und ak = 0

für alle k ∈ Zmit k < −n gilt.

(iii) Sie ist genau dann eine wesentliche Singularität, wenn an 6= 0 für unendlichviele negative Zahlen n ∈ Z erfüllt ist.

Beweis: zu (i) Ist a eine hebbare Singularität, dann kann f auf Bs(a) holomorph fortgesetzt werden. Diesbedeutet, dass f auf Kr,s(a) mit seinem Nebenteil übereinstimmt, und dass der Hauptteil verschwindet. AufGrund der Holomorphie von f auf Bs(a) besitzt f auf der Kreisscheibe Bs(a) und damit erst recht auf Kr,s(a)

eine Potenzreihenentwicklung. Daraus folgt an = 0 für alle n < 0. Umgekehrt liefert im Fall an = 0 und n < 0

die Potenzreihenentwicklung eine holomorphe Fortsetzung von f auf Bs(a), inbesondere eine holomorpheFortsetzung im Punkt a, woraus sich die Hebbarkeit von a ergibt.

zu (ii) Besitzt die Funktion f in a eine Polstelle der Ordnung n, dann gibt es nach (2.49) eine offene UmgebungV ⊆ C von a mit V ∩ (C \ U) = {a} und eine holomorphe Funktion h : V → C mit h(a) 6= 0 und f(z) =

(z − a)−nh(z) für alle z ∈ V \ {a}. Sei h(z) =∑∞k=0 bk(z − a)k die Potenzreihenentwicklung von h in einer

Umgebung des Punktes a. Durch eventuelle Verkleinerung von V können wir annehmen, dass sie auf ganz Vgültig ist; dabei gilt b0 = h(a) 6= 0. Für die Funktion f erhalten wir die Darstellung f(z) =

∑∞k=−n bk+n(z−a)k.

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Aus der Eindeutigkeit der Laurentreihenentwicklung von f auf Kr,s(a) folgt ak = bk+n für alle k ≥ −n undak = 0 für alle k < 0. Außerdem ist a−n = b0 6= 0.

Setzen wir umgekehrt voraus, dass f auf dem Kreisring Kr,s(a) eine Laurentreihenentwicklung der Formf(z) =

∑∞k=−n ak(z − a)k mit a−n 6= 0 besitzt, dann können wir in einer Umgebung von a die holomorphe

Funktion h(z) =∑∞k=0 ak−n(z − a)k mit h(a) = a−n 6= 0 definieren und erhalten damit für f die Darstellung

f(z) = (z − a)−nh(z). Nach (2.49) besitzt f dann in a eine Polstelle der Ordnung n.

Die Äquivalenzaussage in (iii) folgt unmittelbar aus den Aussagen (i) und (ii). �

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2.7 Der Residuensatz

Inhaltsübersicht

FF Definition des Residuums einer Funktion in einem Punkt

FF Residuum als Koeffizient a−1 in der Laurentreihenentwicklung

FF Formulierung und Beweis des Residuensatzes

FF Anwendungsbeispiel: Berechnung reeller Integrale mit dem Residuensatz

(2.52) Definition Sei U ⊆ C offen, f : U → C eine holomorphe Funktion, und a ∈ C \ Ueine isolierte Singularität. Sei r ∈ R+ so klein gewählt, dass Br(a) ∩ (C \ U) = {a} gilt.Dann nennt man

resa(f) =1

2πi

∫∂Br(a)

f(z) dz

das Residuum von f an der Stelle a. Ist a ∈ U , dann setzt man resa(f) = 0.

Mit Hilfe des verallgemeinerten Cauchyschen Integralsatzes (2.41) sieht man leicht, dass die Zahl resa(f) vonder Wahl des Radius r unabhängig ist. Sind nämlich r, s ∈ R+ mit r < s und Bs(a) ∩ (C ∩ U) = {a}, dann giltauf Grund dieses Satzes

∫∂Br(a)

f(z) dz =∫∂Bs(a)

f(z) dz.

(2.53) Lemma Ist f =∑∞n=−∞ an(z − a)n die Laurentreihen-Entwicklung von f in einer

Umgebung des Punktes a, dann gilt a−1 = resa(f).

Beweis: Das folgt direkt aus der Gleichung (2.10) aus Abschnitt 2.6 für die Laurent-Koeffizienten. �

(2.54) Lemma Besitzt die Funktion f bei a eine einfache Polstelle und ist g eine weitereFunktion, die in a holomorph ist, dann gilt resa(fg) = g(a)resa(f).

Beweis: Auf Grund der Voraussetzungen besitzen die Funktionen f und g in einer Umgebung von a Laurentreihen-Entwicklungen der Form f =

∑∞n=−1 an(z − a)n und g =

∑∞n=0 bn(z − a)n. Es folgt

(fg)(z) =

( ∞∑n=−1

an(z − a)n

)( ∞∑n=0

bn(z − a)n

)=

∞∑n=−1

cn(z − a)n

mit cn =∑akb`, wobei die Summe über alle k ≥ −1, ` ≥ 0 mit k + ` = n gebildet wird. Insbesondere ist

c−1 = a−1b0 = resa(f)g(a) das Residuum von fg an der Stelle a. �

(2.55) Definition Sei U ⊆ C offen, γ : [a, b] → U eine Kurve und z ∈ U \ γ([a, b]). Dannnennt man

n(γ, z) =1

2πi

∫γ

dw

w − z

die Umlaufzahl der Kurve um den Punkt z.

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Als Beispiel für die Umlaufzahl betrachten wir für jedes n ∈ Z die Kurve γn : [0, 2π] → C gegeben durchγn(t) = eint. Im Fall n > 0 läuft diese Kurve n-mal gegen den Uhrzeigersinn um den Nullpunkt, im Fall n < 0

jeweils (−n)-mal mit dem Uhrzeigersinn, und im Fall n = 0 verharrt sie im Punkt 1. Ist nun z ∈ C ein Punktaußerhalb der Kreisscheibe B1(0) und ε ∈ R+ mit 1 + ε < |z|, dann ist z 7→ 1

w−z eine holomorphe Funktion aufB1+ε(0), und der Cauchysche Integralsatz (2.21) liefert

n(γn, z) =1

2πi

∫γn

dw

w − z= 0.

Betrachten wir nun den Fall, dass z im Inneren der Kreisscheibe liegt, also z ∈ B1(0). Bezeichnet h : C→ C dieFunktion mit dem konstanten Wert 1, dann erhalten wir mit der Cauchyschen Integralformel (2.25)

n(γ1, z) =1

2πi

∫γ1

h(w)

w − zdw = h(z) = 1.

Die Gleichung∫ 2π

0ieit

eit−z dt =∫γ1

dww−z = 2πi kann verwendet werden, um mit Hilfe der Substitutionsregel die

Umlaufzahl von n(γn, z) für beliebiges n ∈ Z zu bestimmen.

n(γn, z) =1

2πi

∫γn

dw

w − z=

1

2πi

∫ 2π

0

γ′n(t)

γn(t)− zdt =

1

2πi

∫ 2π

0

ineint

eint − zdt =

1

2πi

∫ 2πn

0

ieit

eit − zdt =

1

2πi

n−1∑k=0

∫ 2π(k+1)

2πk

ieit

eit − zdt =

1

2πi

n−1∑k=0

∫ 2π

0

ieit

eit − zdt =

n

2πi

∫ 2π

0

ieit

eit − zdt =

n

2πi· 2πi = n.

Beispiele zur geometrischen Bestimmung der Umlaufzahl

Für die Bestimmung der Umlaufzahl einer geschlossenen Kurve γ gelten folgende Regeln.

• Für Punkt z ∈ C im Außenbereich (also für hinreichend großes |z|) gilt n(γ, z) = 0.

• Überquert man ein nach rechts laufendes Stück der Kurve, dann ist die Umlaufzahl der Punkte hinterder Gerade um 1 höher als die Umlaufzahl der Punkte vor der Geraden.

• Überquert man dagegen eine nach links laufendes Stück, dann verringert sich die Umlaufzahl um 1.(Um beispielsweise von außen das Gebiet in der Mitte der rechten Zeichnung zu erreichen, muss mandie Kurve an drei Stellen überqueren, an denen die Kurve nach links läuft.

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Mit Hilfe dieser Regeln kann man die Umlaufzahl der Kurve γ um einen vorgegebenen Punkt z mit folgendemVerfahren bestimmen: Man zeichnet eine Halbgerade von z aus in den Außenbereich, wobei darauf zu achtenist, dass keine Kreuzungspunkte überquert werden, und startet mit dem Wert 0 (in den beiden Zeichnungenjeweils in grüner Farbe). An jeder Überschneidung der Halbgerade mit einem nach links laufenden Kurven-stück erhöht man den Wert um 1, an jedem nach rechts laufenden Kurvenstück wird er um 1 verringert. Dannist der zum Schluss erreichte Wert die Umlaufzahl n(γ, z).

(2.56) Proposition Sei U ⊆ C offen, γ : [a, b] → U eine Kurve und z ∈ U \ γ([a, b]). Dannist die Umlaufzahl n(γ, z) eine ganze Zahl.

Beweis: Die Kurve γ kann durch ihre Normierung ersetzt werden, ohne dass sich das Integral∫γ

dww−z ändert.

Also können wir o.B.d.A. a = 0 und b = 1 voraussetzen. Nach Definition gilt∫γ

dww−z =

∫ 1

0γ′(t)γ(t)−z dt. Wir

definieren nun die Funktionen f, g : [0, 1]→ C durch

f(x) = (γ(x)− z)e−g(x) und g(x) =

∫ x

0

γ′(t)

γ(t)− zdt.

Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, angewendet auf den Real- und Imaginärteil von g,liefert g′(x) = γ′(x)

γ(x)−z für alle x ∈ ]0, 1[. Mit der eindimensionalen Produkt- und Kettenregel erhalten wiraußerdem

f ′(x) = γ′(x)e−g(x) + (γ(x)− z)(−g′(x))e−g(x) = γ′(x)e−g(x) − (γ(x)− z) γ′(x)

γ(x)− ze−g(x) = 0

für x ∈ [0, 1]. Also ist die Funktion f auf [0, 1] konstant. Die Gleichung

(γ(1)− z)e−g(1) = f(1) = f(0) = (γ(0)− z)e−g(0)

liefert wegen γ(0) = γ(1) und z 6= γ(0) nun eg(0) = eg(1), also g(1) = g(0) + 2πin = 2πin für ein n ∈ Z. (Hierbeiwurde verwendet, dass die komplexen Zahlen der Form 2πin mit n ∈ Z die einzigen sind, für die ez = 1 ist,was in den Übungen bewiesen wurde.) Wir erhalten dann

n(γ, z) =1

2πi

∫γ

dw

w − z=

1

2πig(1) =

1

2πi· 2πin = n. �

(2.57) Proposition Sei D ⊆ C eine diskrete und abgeschlossene Teilmenge und γ : [a, b]→C eine Kurve mit D ∩ γ([a, b]) = ∅.

(i) Es gibt ein r ∈ R+ mit γ([a, b]) ⊆ Br(0).

(ii) Die Schnittmenge D ∩Br(0) ist endlich.

(iii) Für alle z /∈ Br(0) gilt n(γ, z) = 0.

Insgesamt gilt n(γ, z) 6= 0 also nur für endlich viele z ∈ D.

Beweis: zu (i) Die Menge γ([a, b]) ist als Bild eines kompakten Intervalls unter einer stetigen Abbildungkompakt und damit insbesondere beschränkt. Es gibt also ein r ∈ R+ mit γ([a, b]) ⊆ Br(0).

zu (ii) Weil D diskret ist, finden wir für jedes z ∈ D ∩ Br(0) eine Umgebung Uz mit Uz ∩ D = {z}. Ausder Abgeschlossenheit von D folgt, dass U = C \ D eine offene Teilmenge von C ist. Ingesamt bilden die Uz

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mit z ∈ D zusammen mit U eine offene Überdeckung von Br(0). Weil Br(0) kompakt ist, können wir ausdieser Überdeckung eine endliche Teilüberdeckung wählen. In jeder offenen Menge dieser Teilüberdeckungliegt höchstens jeweils ein Punkt aus D. Dies zeigt, dass die Menge D ∩ Br(0) endlich ist, und erst recht derDurchschnitt D ∩Br(0).

zu (iii) Die Abbildung C \ γ([a, b])→ C, z 7→ n(γ, z) ist stetig; da die Funktion unter dem Integralzeichen von

n(γ, z) =1

2πi

∫γ

dw

w − z

in z stetig ist, kann dies aus dem Satz (1.47) über parameterabhängige Integrale gefolgert werden. Sei nunz1 /∈ Br(0) beliebig gewählt. Dann ist auch s 7→ n(γ, sz1) eine stetige Funktion auf {s ∈ R | s ≥ 1}. Fürs→ +∞ konvergiert diese gegen Null, weil der Integrand (w − sz1)−1 im Ausdruck

n(γ, sz1) =1

2πi

∫γ

dw

w − sz1

auf Br(0) für s → +∞ gleichmäßig gegen Null konvergiert: Für hinreichend großes s gilt gilt |w − sz1| ≥||w| − s|z1|| = s|z1| − |w| ≥ sr − r = (s− 1)r und somit |w − sz1|−1 ≤ r−1(s− 1)−1. Weil aber n(γ, sz1) für alles ≥ 1 nach (2.56) stets ganzzahlig ist, muss n(γ, z1) = 0 gelten. �

(2.58) Satz (Residuensatz)

Sei G ⊆ C ein konvexes Gebiet, D ⊆ G eine diskrete und abgeschlossene Teilmenge undf : G \D → C eine holomorphe Funktion. Dann gilt für jede Kurve γ : [a, b] → C in G mitγ([a, b]) ∩D = ∅ die Gleichung∫

γ

f(z) dz = 2πi∑z∈D

n(γ, z)resz(f).

Beweis: Sei r ∈ R+ mit der in (2.57) (i) beschriebenen Eigenschaft. Nach Teil (ii) dieser Proposition istD∩Br(0)

endlich; seien z1, ..., zm die Elemente dieser Menge. Auf Grund von Teil (iii) gilt

∑z∈D

n(γ, z)resz(f) =

m∑k=1

n(γ, zk)reszk(f).

Mit G und Br(0) ist auch die Menge Gr = G∩Br(0) ein konvexes Gebiet. Wegen γ([a, b]) ⊆ Br(0) können wirG durch Gr ersetzen, ohne dass sich am Kurvenintegral etwas ändert. Danach ist f eine holomorphe Funktionauf G \ {z1, ..., zm}, und die Punkte z1, ..., zm sind isolierte Singularitäten von f .

Für jedes k ∈ {1, ...,m} sei hk : C \ {zk} → C der in (2.44) definierte Hauptteil der Laurentreihen-Entwicklungvon f im Punkt zk. Dann ist die Funktion g = f −

∑mk=1 hk von Gr \D auf Gr holomorph fortsetzbar, weil sie

in den Punkten z1, ..., zm hebbare Singularitäten besitzt. Durch Anwendung des Cauchyschen Integralsatzes(2.21) für konvexe Gebiete auf G erhalten wir∫

γ

f(z) dz =

∫γ

g(z) dz +

m∑k=1

∫γ

hk(z) dz =

m∑k=1

∫γ

hk(z) dz.

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Wir betrachten nun jeden einzelnen Hauptteil als Laurentreihe der Form

hk(z) =

−1∑n=−∞

akn(z − zk)n.

Die Folge der Partialsummen konvergiert auf der kompakten Menge γ([a, b]) gleichmäßig gegen die Funktionhk. Nach (2.28) gilt deshalb ∫

γ

hk(z) dz =

−1∑n=−∞

akn

∫γ

(z − zk)n dz.

Für n < −1 besitzt die Funktion z 7→ (z−zk)n die komplexe Stammfunktion z 7→ 1n+1 (z−zk)n+1, die aufC\{zk}

und damit erst recht auf G holomorph ist. Mit (2.17) folgt∫γ(z − zk)n dz = 0 für diese n. Dies zusammen mit

der Definition der Umlaufzahl und (2.53) liefert∫γ

hk(z) dz = ak,−1

∫γ

(z − zk)−1 dz = reszk(hk) · 2πin(γ, zk).

Setzen wir dies in die Gleichung von oben ein, so erhalten wir∫γ

f(z) dz =

m∑k=1

∫γ

hk(z) dz = 2πi

m∑k=1

n(γ, zk)reszk(hk) =

2πi

m∑k=1

n(γ, zk)reszk(f) = 2πi∑z∈D

n(γ, z)resz(f). �

In den folgenden beiden Beispielen werden die komplexen Nullstellen von Polynomen der Form xn − 1 (fürbeliebiges n ∈ N) eine wichtige Rolle spielen. Die Nullstellen eines solchen Polynoms sind gegeben durch{e2πik/n | 0 ≤ k < n}. Man bezeichnet die Nullstellen als n-te Einheitswurzeln. Um Real- und Imaginärteildieser Zahlen zu bestimmen, verwendet man die Eulersche Formel eiα = cos(α) + i sin(α), ist die folgendeTabelle von Sinuswerten hilfreich

α 0 16π

14π

13π

12π

sin(α) 0 12

1√2

12

√3 1

zusammen mit den Gleichungen sin(α)2 +cos(α)2 = 1, sin(α+π) = − sin(α), cos(α+π) = − cos(α), sin(−α) =

− sin(α) und cos(−α) = cos(α), die für alle α ∈ R gültig ist. Die erste Gleichung liefert beispielsweise für dieKosinusfunktion unter Berücksichtigung von cos(α) > 0 für 0 < α < 1

2π die Werte

α 0 16π

14π

13π

12π

cos(α) 1 12

√3 1√

212 0

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Anwendungsbeispiel 1: Berechnung eines Kurvenintegrals

Unser Ziel ist die Berechnung des Integrals ∫∂B2(0)

dw

w3 − 1

mit Hilfe des Residuensatzes. Die komplexen Nullstellen von w3 − 1 sind 1, e2πi/3 und e4πi/3. Diese sindvom Absolutbetrag 1 und somit im Inneren von ∂B2(0) enthalten. Wie wir oben gezeigt haben, folgt für dieRandkurve γ von B2(0) daraus

n(γ, 1) = n(γ, e2πi/3) = n(γ, e4πi/3) = 1.

Wir bestimmen nun den Real- und Imaginärteil von e2πi/3 und e4πi/3. Es gilt cos( 2π3 ) = − cos(−π3 ) = − cos(π3 ) =

− 12 , sin( 2πi

3 ) = − sin(−π3 ) = sin(π3 ) = 12

√3, cos( 4π

3 ) = − cos(π3 ) = − 12 und sin( 4π

3 ) = − sin(π3 ) = − 12

√3, also

e2πi/3 = cos( 2π3 ) + i sin( 2π

3 ) = − 12 + 1

2 i√

3 und e4πi/3 = cos( 4π3 ) + i sin( 4π

3 ) = − 12 −

12 i√

3.

Wir finden somit die Zerlegung

z3 − 1 = (z − 1)(z + 12 −

12 i√

3)(z + 12 + 1

2 i√

3).

Im nächsten Schritt bestimmen wir die Residuen von f(z) = (z3− 1)−1 in den Punkten 1, e2πi/3 und e4πi/3 mitHilfe von (2.54). Wenden wir dieses Lemma an auf g(z) = (z−1)−1 und h(z) = (z+ 1

2−12 i√

3)−1(z+ 12 + 1

2 i√

3)−1,so erhalten wir wegen res1(g) = 1 den Wert

res1(f) = h(1) = ( 32 −

12 i√

3)−1( 32 + 1

2 i√

3)−1 = 13 .

Setzen wir g(z) = (z + 12 −

12

√3i)−1 und h(z) = (z − 1)−1(z + 1

2 + 12 i√

3)−1, dann folgt entsprechend

rese2πi/3(f) = h(e2πi/3) = h(− 12 + 1

2 i√

3) = (− 32 + 1

2 i√

3)−1 · (i√

3)−1 = 16 (i√

3− 1).

Setzen wir g(z) = (z + 12 + 1

2

√3i)−1 und h(z) = (z − 1)−1(z + 1

2 −12 i√

3)−1, dann erhalten wir

rese4πi/3(f) = h(e4πi/3) = h(− 12 −

12 i√

3) = (− 32 −

12 i√

3)−1 · (−i√

3)−1 = 16 (−i

√3− 1).

Mit dem Residuensatz erhalten wir nun∫∂B2(0)

dw

w3 − 1= 2πi

(n(γ, 1)res1(f) + n(γ, e2πi/3)rese2πi/3(f) + n(γ, e4πi/3)rese4πi/3(f)

)

= 2πi(1 · 1

3 + 1 · (− 16 ) + 1 · (− 1

6 ))

= 0.

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Anwendungsbeispiel 2: Berechnung eines reellen Integrals

Hier verwenden wir den Residuensatz zum Beweis der Integralformel∫ ∞−∞

x2

x4 + 1dx =

π√2.

Dazu betrachten wir die holomorphe Funktion

f : C \N −→ C , z 7→ z2

z4 + 1,

wobei N die Nullstellenmenge von z4 + 1 bezeichnet. Für jedes r ∈ R+ betrachten wir außerdem die Kurveρr : [0, π] → C, t 7→ reit, die die obere Hälfte des Kreises vom Radius r um den Nullpunkt durchläuft, undsetzen γr = ρr ∗ [−r, r]. Sofern γr keine Nullstelle von z4 + 1 durchquert, liefert uns der Residuensatz dieGleichung ∫ r

−rf(z) dz +

∫ρr

f(z) dz = 2πi∑z∈C

n(γr, z)resz(f). (2.11)

Um den Ausdruck auf der rechten Seite der Gleichung zu bestimmen, ermitteln wir zunächst die komplexenNullstellen von z4 + 1. Es gilt z8− 1 = (z4− 1)(z4 + 1). Wie oben bereits erwähnt, ist die Nullstellenmenge vonz8 − 1 gleich {ekπi/4 | 0 ≤ k < 8}, die von z4 − 1 ist {ekπi/2 | 0 ≤ k < 4}. Die Nullstellen von z4 + 1 sind genaudie Nullstellen von z8 − 1, die keine Nullstellen von x4 − 1 sind, also die Elemente der Menge

{eπi/4 , e3πi/4 , e5πi/4 , e7πi/4}.

Real- und Imaginärteil dieser Zahlen sind gegeben durch

eπi/4 =1√2

+i√2

, e3πi/4 = − 1√2

+i√2

, e5πi/4 = − 1√2− i√

2, e7πi/4 =

1√2− i√

2.

Ist r > 1, dann liegen eπi/4 und e3πi/4 im Inneren des Halbkreises. Die Nullstellen e5πi/4 und e7πi/4 liegenaußerhalb, weil sie einen negativen Imaginärteil besitzen und somit im unteren Teil der komplexen Ebeneliegen, während sich der Halbkreis im oberen Teil befindet. Es gilt also

n(γr, eπi/4) = n(γr, e

3πi/4) = 1 und n(γr, e5πi/4) = n(γr, e

7πi/4) = 0.

Nun verwenden wir (2.54) und die Zerlegung der Funktion f(z) = z2

z4+1 gegeben durch

f(z) =z2

(z − 1√2− i√

2)(z + 1√

2− i√

2)(z + 1√

2+ i√

2)(z − 1√

2+ i√

2)

,

um die Residuen in den Punkten eπi/4 und e3πi/4 zu berechnen. Weil das Residuum von (z−eπi/4)−1 im Punkteπi/4 gleich 1 ist, erhalten wir das Residuum von f in diesem Punkt durch Einsetzen von eπi/4 = 1√

2+ i√

2in

die Funktionz2

(z + 1√2− i√

2)(z + 1√

2+ i√

2)(z − 1√

2+ i√

2)

Es gilt also

reseπi/4(f) =( 1√

2+ i√

2)2

√2(√

2 + i√

2)(i√

2)=

i

2i√

2(1 + i)=

1

2√

2(1 + i)=

1− i4√

2= 1

4

(1− i√

2

).

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Ebenso erhalten wir das Residuum von f in e3πi/4 durch Einsetzen von e3πi/4 = − 1√2

+ i√2

in die Funktion

z2

(z − 1√2− i√

2)(z + 1√

2+ i√

2)(z − 1√

2+ i√

2).

Es gilt also

rese3πi/4(f) =(− 1√

2+ i√

2)2

(−√

2)(√

2i)√

2(−1 + i)=

(−i)(−2√

2i)(−1 + i)=

1

2√

2(−1 + i)

= − 1 + i

2√

2 · 2= −1 + i

4√

2= 1

4

(−1− i√

2

).

Insgesamt ist die rechte Seite von (2.11) für r > 1 also gegeben durch

2πi∑z∈V

n(γr, z)resz(f) = 2πi reseπi/4(f) + 2πi rese3πi/4(f) = 2πi · 14

(1− i√

2

)+ 2πi · 1

4

(−1− i√

2

)

= 2πi ·(− i

2√

2

)=

π√2.

Nun untersuchen wir die linke Seite der Gleichung (2.11). Durch Betrachtung der Kurve δr : [−r, r]→ C, t 7→ t

mit δ′r(t) = 1 für t ∈ [−r, r] erkennt man, dass∫ r

−rf(z) dz =

∫δr

f(z) dz =

∫ r

−rf(δr(t))δ

′r(t) dt =

∫ r

−r

t2

t4 + 1dt.

Es handelt sich bei∫ r−r f dz also um das gewöhnliche, reelle Riemann-Integral über das Intervall [−r, r], und

lassen wir r gegen +∞ laufen, so erhalten wir das gesuchte Integral über die gesamte reelle Achse. Das zweiteIntegral auf der linken Seite von (2.7) schätzen wir ab. Für alle t ∈ [0, π] und r > 1 gilt

f(ρr(t)) =ρr(t)

2

ρr(t)4 + 1=

r2e2it

r4e4it + 1.

Der Nenner kann nach unten abgeschätzt werden durch die Rechnung

|r4e4it + 1| = |r4e4it − (−1)| ≥ |r4e4it| − 1 = r4 − 1

und somit |f(ρr(t))| ≤ r2

r4−1 . Weil die Kurvenlänge gleich πr ist, erhalten wir für das Kurvenintegral mit (2.14)die Abschätzung ∣∣∣∣∫

ρr

f(z) dz

∣∣∣∣ ≤ πr3

r4 − 1.

Dieser Wert läuft für r → +∞ gegen Null. Insgesamt erhalten wir nun∫ ∞−∞

x2

x4 + 1dx = lim

r→+∞

∫ r

−r

x2

x4 + 1dx = 2πi

∑z∈V

n(γr, z)resz(f)− limr→+∞

∫ρr

f(z) dz =π√2.

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Ausblick:

Verallgemeinerter Cauchyscher Integralsatz und einfach zusammenhängende Gebiete

Für eine möglichst weit reichende Verallgemeinerung des Cauchyschen Integralsatzes erweist es sich als gün-stig, mehrere Kurven in C zu einem Objekt zusammenzufassen.

(2.59) Definition Sei U ⊆ C eine beliebige Teilmenge. Eine Kette in U ist ein formalerAusdruck der Form Γ =

∑rk=1 nkγk mit r ∈ N, n1, ..., nr ∈ Z und Kurven γ1, ..., γr in U ,

γk : [ak, bk] → C für 1 ≤ k ≤ r. Die Menge sp(Γ) =⋃rk=1 γk([ak, bk]) heißt die Spur des

Zyklus Γ.

Jede stetige Funktion f : U → C kann über den Zyklus Γ integriert werden. Man setzt dazu∫Γ

f(z) dz =

r∑k=1

nk

∫γk

f(z) dz.

(2.60) Definition Sei Γ eine Kette in U wie oben. Für jede Kurve γ : [a, b] → C seizA(γ) = γ(a) der Start- und zE(γ) = γ(b) der Endpunkt der Kurve. Man bezeichnet Γ alsZyklus, wenn für jedes z ∈ U die Gleichung∑

zA(γk)=z

nk =∑

zE(γk)=z

nk gilt.

Dabei läuft die linke über alle Kurven γk mit Startpunkt z und die rechte Summe über alleKurven mit Endpunkt z.

Die Zyklen sind die natürlichen Verallgemeinerungen der geschlossenen Kurven. Die Bedingung besagt, dassin jedem Punkt z ∈ U genauso viele Kurven starten wie enden, wobei jede Kurve γk mit ihrem „Gewichtungs-faktor“ nk gezählt wird.

(2.61) Definition Für jeden Zyklus Γ =∑rk=1 nkγk und jeden Punkt z ∈ C \ sp(Γ) ist die

Umlaufzahl n(Γ, z) definiert durch

n(Γ, z) =1

2πi

r∑k=1

nk

∫γk

dw

w − z.

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Ähnlich wie bei den geschlossene Kurven zeigt man, dass n(Γ, z) stets eine ganze Zahl ist; siehe [Fr], Satz 5.1.6auf S. 283. Ist U ⊆ C eine beliebige Teilmenge und Γ ein Zyklus in U , so bezeichnet man diesen als nullhomologin U , wenn n(Γ, z) = 0 für alle z ∈ C \ U gilt. Die Verallgemeinerungen des Cauchyschen Integralsatzes lautetnun

(2.62) Satz Sei G ⊆ C ein Gebiet und Γ ein in G nullhomologer Zyklus. Dann gilt∫Γ

f(z) dz = 0

für jede holomorphe Funktion f : G→ C.

Die Cauchysche Integralformel lässt sich folgendermaßen verallgemeinern.

(2.63) Satz Sei G ⊆ C ein Gebiet, Γ ein in G nullhomologer Zyklus und f : G → C eineholomorphe Funktion. Dann gilt für alle z ∈ G \ sp(Γ) und alle k ∈ N0 die Gleichung

n(Γ, z)f (k)(z) =k!

2πi

∫Γ

f(w)

(w − z)k+1dw.

Man beachte, dass der Cauchysche Integralsatz und die Cauchysche Integralformel sowohl für konvexe Gebie-te als auch für Kreisringe als Spezialfälle der beiden neuen Sätze angesehen werden können. Bei der Cauchy-schen Integralformel (2.25) verwendet man den nullhomologen Zyklus Γ = ∂Br(a). Beim Cauchyschen Inte-gralsatz (2.21) ist zu zeigen, dass für jede geschlossene Kurve γ in einem konvexen Gebiet G der Zyklus Γ = γ

nullhomolog in G ist. Dies gelingt durch eine ähnliches Argument wie im Beweis von (2.57). Bei den entspre-chenden Sätzen für Kreisringe arbeitet man jeweils mit dem nullhomologen Zyklus Γ = ∂Bσ(a) − ∂Bρ(a).Man überprüft leicht mit Hilfe der (gewöhnlichen) Cauchyschen Integralformel, dass dieser Zyklus im Kreis-ring Kr,s(a) nullhomolog ist.

Eine wichtige allgemeine Frage lautet, für welche Gebiete der Cauchysche Integralsatz ohne Einschränkunggültig ist. Um dies zu klären, müssen einen weiteren Grundbegriff einführen.

(2.64) Definition Sei U ⊆ C, und seien γ, δ : [0, 1]→ U zwei Kurven in U mit demselbenStart- und Endpunkt. Es sei z0 = γ(0) = δ(0) und z1 = γ(1) = δ(1). Eine Homotopiezwischen γ und δ in U ist eine stetige Abbildung Φ : [0, 1] × [0, 1] → C mit folgendenEigenschaften.

(i) Φ(t, 0) = γ(t) und Φ(t, 1) = δ(t) für alle t ∈ [0, 1]

(ii) Φ(0, s) = z0 und φ(1, s) = z1 für alle s ∈ [0, 1]

Zwei Kurven, zwischen den eine Homotopie in U existiert, werden homotop genannt. Einegeschlossene Kurve γ : [0, 1] → U heißt zusammenziehbar in U , wenn sie in U homotopzur konstanten Kurve c : [0, 1]→ U , t 7→ γ(0) ist.

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Geometrisch lässt sich die Homotopie Φ folgendermaßen interpretieren: Für jedes s ∈ [0, 1] ist durch γs(t) =

Φ(t, s) eine Kurve von z0 nach z1 gegeben, wobei γ0 = γ und γ1 = δ ist. Lässt man s von 0 nach 1 laufen, dasswird die Kurve γ kontinuierlich in die Kurve δ deformiert, wobei Start- und Endpunkt konstant bleiben.

(2.65) Definition Ein Gebiet G heißt einfach zusammenhängend, wenn jede geschlosseneKurve in G zusammenziehbar ist.

Anschaulich bedeutet die Eigenschaft „einfach zusammenhängend“, dass das Gebiet G keine Löcher besitzt.Beispielsweise ist die Kreisscheibe B1(0) einfach zusammenhängend, die Menge B1(0) \ {0} aber nicht.

Für das Studium komplexer Kurvenintegrale ist der Homotopiebegriff aus folgendem Grund relevant: Ist Gein Gebiet und sind γ und δ zwei in G homotope Kurven, dann gilt∫

γ

f(z) dz =

∫δ

f(z) dz

für jede holomorphe Funktion f : G→ C; siehe [Fr], Satz 3.2.3 auf S. 129.

Zur weiteren Vorbereitung benötigen wir noch einen zentralen Satz der Funktionentheorie. Seien U, V ⊆ Czwei offene Teilmengen. Eine Funktion f : U → V heißt biholomorph, wenn sie holomorph und bijektiv ist,und ihre Umkehrfunktion f−1 : V → U ebenfalls holomorph ist. Allgemein werden zwei offene TeilmengenU, V als biholomorph äquivalent bezeichnet, wenn zwischen ihnen eine biholomorphe Funktion existiert. Esgilt nun

(2.66) Satz (Riemannscher Abbildungssatz)

Sei G ( C ein einfach zusammenhängendes Gebiet. Dann ist G biholomorph äquivalentzur offenen Einheitskreisscheibe B1(0).

Beweis: siehe [Fr], Satz 5.1.2, S. 278. �

Aus dem Riemannschen Abbildungssatz kann nun folgende Charakterisierung der einfach zusammenhän-genden Gebiete abgeleitet werden. Sie zeigt, dass dies tatsächlich die Gebiete sind, in denen der CauchyscheIntegralsatz ohne weitere Einschränkungen gültig ist.

(2.67) Satz Für jedes Gebiet G ⊆ C sind folgende Aussagen äquivalent.

(i) G ist einfach zusammenhängend

(ii) Für jede holomorphe Funktion f : G→ C und jede Kurve γ in G gilt∫γ

f(z) dz = 0.

(iii) Für jede holomorphe Funktion f : G→ C und jeden Zyklus Γ in G gilt∫Γ

f(z) dz = 0.

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Desweiteren ist auch folgende Charakterisierung möglich.

(2.68) Satz Für jedes Gebiet G ⊆ C sind folgende Aussagen äquivalent.

(i) G ist einfach zusammenhängend

(ii) Jeder Zyklus Γ in G ist nullhomolog in G.

(iii) Jede holomorphe Funktion auf G besitzt eine komplexe Stammfunktion.

(iv) Jede nullstellenfreie holomorphe Funktion f auf G besitzt einen komplexenLogarithmus. Dies bedeutet, dass eine holomorphe Funktion g : G → C miteg(z) = f(z) für alle z ∈ G existiert.

(v) Jede nullstellenfreie holomorphe Funktion f aufG besitzt eine komplexe Qua-dratwurzel, d.h. es gibt eine holomorphe Funktion g : G→ Cmit g(z)2 = f(z)

für alle z ∈ G.

Den Beweis dieser Sätze findet man in Abschnitt 5.1 von [Fr].

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§ 3. Gewöhnliche Differentialgleichungen

3.1 Der Existenz- und Eindeutigkeitssatz für gewöhnliche DGL

Inhaltsübersicht

FF Definition von Differentialgleichungs (DGLs) und Systemen von DGLs 1. Ordnung sowie ihrer Lösungen

FF Definition von DGLs n-ter Ordnung (und ihrer Lösungen)

FF Korrespondenz zwischen DGLs n-ter Ordnung und Systemen von DGLs 1. Ordnung

FF die lokale Lipschitz-Bedingung zur Gewährleistung der Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen

(3.1) Definition Sei D ⊆ R2 und f : D → R eine stetige Funktion. Dann nennt man

y′ = f(x, y) (3.12)

eine Differentialgleichung (DGL) erster Ordnung. Die Menge D bezeichnen wir als denDefinitionsbereich der DGL. Eine Lösung von (3.12) ist eine auf einem offenen IntervallI ⊆ R definierte, stetig differenzierbare Funktion ϕ : I → R, so dass (x, ϕ(x)) ∈ D undϕ′(x) = f(x, ϕ(x)) für alle x ∈ I gilt.

Die Gleichung ϕ′(x) = f(x, ϕ(x)) kann auch als Integralgleichung formuliert werden. Nach dem Hauptsatzder Integral- und Differentialrechnung ist sie äquivalent zu

ϕ(x) = ϕ(a) +

∫ x

a

f(t, ϕ(t)) dt ,

wobei der „Startpunkt“ a ∈ I beliebig gewählt werden kann. Die DGL (3.12) kann auch geometrisch interpre-tiert werden: Durch die Funktion f wird auf D ein Vektorfeld definiert. Der Graph Γϕ ⊆ D einer Lösung ϕbesitzt in jedem seiner Punkte (x, y) ∈ Γϕ den Vektor (1, f(x, y)) ∈ R2 jeweils als Tangentialvektor.

Beispiel 1 Die Differentialgleichung y′ = yx mit dem Definitionsbereich D = R+ × R besitzt als Lösungen

die Funktionen ϕc : R+ → R, x 7→ cx, wobei c die reellen Zahlen durchläuft. Dies überprüft man unmittelbardurch Differentiation der Funktion ϕc: Für alle x ∈ R+ gilt

ϕ′c(x) = c =cx

x=

ϕc(x)

x.

Aus dem Eindeutigkeitssatz, den wir Kürze formulieren werden, wird sich ergeben, dass keine weitere Lösun-gen der DGL existieren.

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Beispiel 2 Die Differentialgleichung y′ = −xy mit dem Definitionsbereich R × R+ besitzt als Lösungen dieFunktionen der Form

ϕc :]−√c,√c[−→ R , x 7→

√c− x2 ,

wobei c die positiven reellen Zahlen durchläuft. Auch hier überprüft man die Lösungseigenschaft unmittelbardurch Differentiation: Für alle c ∈ R+ und x ∈ ]−

√c,√c[ gilt

ϕ′c(x) = − 2x

2√c− x2

= − x

ϕc(x). �

(3.2) Definition Sei n ∈ N, D ⊆ R × Rn und f : D → Rn eine stetige Funktion, mitKomponentenfunktionen f1, ..., fn. Dann nennt man

y′1 = f1(x, y1, ..., yn)

y′2 = f2(x, y1, ..., yn)...

y′n = fn(x, y1, ..., yn)

(3.13)

ein System von n Differentialgleichungen erster Ordung. Eine Lösung von (3.13) ist eineauf einem offenen Intervall I ⊆ R definierte, stetig differenzierbare Funktion ϕ : I → Rn,so dass (x, ϕ(x)) ∈ D und ϕ′k(x) = fk(x, ϕ(x)) für alle x ∈ I und für 1 ≤ k ≤ n erfüllt ist.

(3.3) Definition Sei n ∈ N, D ⊆ R × Rn und f : D → R eine stetige Funktion. EineDifferentialgleichung n-ter Ordnung ist eine Gleichung der Form

y(n) = f(x, y, y′, y′′, ..., y(n−1)). (3.14)

Eine Lösung von (3.14) ist eine n-mal stetig differenzierbare Funktion ϕ : I → R auf einemoffenen Intervall I ⊆ R, so dass (x, ϕ(x), ϕ′(x), ..., ϕ(n−1)(x)) ∈ D und

ϕ(n)(x) = f(x, ϕ(x), ϕ′(x), ..., ϕ(n−1)(x))

für alle x ∈ I erfüllt ist. Dabei bezeichnet ϕ(k) für jedes k ∈ N0 jeweils die k-te Ableitungder Funktion ϕ.

Jeder Differentialgleichung n-ter Ordung der Form (3.14) lässt sich ein System von Differentialgleichungenerster Ordung zuordnen, und zwar

y′0 = y1 , y′1 = y2 , ..., y′n−2 = yn−1 , y′n−1 = f(x, y0, ..., y(n−1)). (3.15)

Ist ϕ : I → R eine Lösung von (3.14), dann ist durch (ϕ,ϕ′, ..., ϕ(n−1)) eine Lösung von (3.15) gegeben. Istumgekehrt (ϕ0, ..., ϕn−1) eine Lösung von (3.15), dann ist die Funktion ϕ0 eine der DGL (3.14).

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Beispiel 3 Die auf D = R×R2 definierte DGL y′′ = −y besitzt die Lösung ϕ(x) = sin(x). Diese DGL zweiterOrdnung entspricht dem System von DGLs erster Ordnung

y′0 = y1 , y′1 = −y0.

mit der Lösung ψ(x) = (sin(x), cos(x)).

Im folgenden bezeichnet ‖ · ‖ stets die Maximumsnorm ‖ · ‖∞ auf dem Rn.

(3.4) Definition Sei D ⊆ R×Rn und f : D → Rn eine Abbildung.

(i) Wir sagen, f genügt auf D einer Lipschitz-Bedingung, wenn eine KonstanteL ∈ R+ existiert (die sog. Lipschitz-Konstante), so dass

‖f(x, y)−f(x, z)‖ ≤ L‖y−z‖ für alle (x, y), (x, z) ∈ D erfüllt ist.

(ii) Die Funktion f genügt aufD lokal einer Lipschitz-Bedingung, wenn für jedenPunkt (x, y) ∈ D eine Umgebung U ⊆ D existiert, so dass f |U auf U einerLipschitz-Bedingung genügt.

Die Lipschitz-Bedingung lautet also, dass die Funktion y 7→ f(x, y) für jedes x ∈ R Lipschitz-stetig auf derMenge Dx = {y ∈ Rn | (x, y) ∈ D} ist, im Sinne von Definition (1.1) aus dem ersten Kapitel.

(3.5) Proposition Sei D ⊆ R×Rn offen und f : D → Rn eine stetige, nach y1, ..., yn stetigpartiell differenzierbare Funktion. Letzteres bedeutet, dass die Funktionen

(x, y) 7→ ∂(0,ei)f(x, y) für 1 ≤ i ≤ n

auf ganz D definiert und stetig sind, wobei ei ∈ Rn jeweils den i-ten Einheitsvektor be-zeichnet. Dann genügt f einer lokalen Lipschitz-Bedingung.

Beweis: Sei (a, b) ∈ D vorgegeben und U ⊆ D eine kompakte, konvexe Umgebung von (a, b). Für (x, y) ∈ Dsetzen wir fx(y) = f(x, y). Dann gibt es eine Konstante γ ∈ R+, so dass die partiellen Ableitungen ∂i(fx)k(y)

der Komponentenfunktionen (fx)k für (x, y) ∈ U durch γ beschränkt sind. Seien x, y, z mit (x, y), (x, z) ∈ Uvorgegeben und v = y − z. Nach dem Mittelwertsatz für Richtungsableitungen (siehe Mathe III, Satz 3.5) gibtes für 1 ≤ k ≤ n jeweils ein pk ∈ ]y, z[ ⊆ U , so dass

fk(x, y)− fk(x, z) = (fx)k(y)− (fx)k(z) = ∂v(fx)k(pk) =

n∑i=1

(yi − zi)∂i(fx)k(pk)

erfüllt ist. Die Summe∑ni=1 |yi − zi| ist die 1-Norm des Differenzvektors y − z. Weil je zwei Normen auf dem

Rn äquivalent sind, gibt es eine Konstante α mit ‖y− z‖1 ≤ α‖y− z‖ für alle y, z ∈ U . Setzen wir L = αγ, danngilt also

‖f(x, y)− f(x, z)‖ ≤ γ‖y − z‖1 ≤ αγ‖y − z‖ = L‖y − z‖

für alle y, z ∈ U . �

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Die Bedingung in (3.5) ist natürlich insbesondere dann erfüllt, wenn f in Abhängigkeit von allen Variablenx, y1, ..., yn stetig partiell differenzierbar ist.

Beispielsweise genügen die Funktionen f(x, y) = yx und g(x, y) = −xy aus den Beispielen 1 und 2 einer lokalen

Lipschitz-Bedingung, denn sowohl die Funktionen selbst als auch ihre partiellen Ableitungen nach y gegebendurch (x, y) 7→ 1

x und (x, y) 7→ xy2 sind auf ihrem gesamten Definitionsbereich stetig.

Bevor wir nun den Eindeutigkeitssatz beweisen, führen wir noch die folgende Notation ein: Ist g : [a, b]→ Rn

eine stetige Funktion, dann setzen wir∫ b

a

g(x) dx =

(∫ b

a

g1(x) dx, ...,

∫ b

a

gn(x) dx

),

wobei g1, .., gn die Komponentenfunktionen von g bezeichnen. Ist α ∈ R+ eine Konstante mit ‖g(x)‖ ≤ α füralle x ∈ [a, b], dann gilt |gk(x)| ≤ α für alle x ∈ [a, b] und 1 ≤ k ≤ n. Es folgt

∫ ba|gk(x)| dx ≤ α(b− a) für alle k

und somit ∥∥∥∥∥∫ b

a

g(x) dx

∥∥∥∥∥ = max

{∣∣∣∣∣∫ b

a

gk(x) dx

∣∣∣∣∣∣∣∣∣ 1 ≤ k ≤ n

}≤

max

{∫ b

a

|gk(x)| dx∣∣∣∣ 1 ≤ k ≤ n

}≤ α(b− a).

(3.6) Satz (Eindeutigkeitssatz)

Sei D ⊆ R × Rn und f : D → Rn eine Funktion, die lokal einer Lipschitz-Bedingunggenügt. Seien ϕ,ψ : I → Rn zwei Lösungen der Differentialgleichung

y′ = f(x, y) auf einem offenen Intervall I ⊆ R.

Gilt ϕ(a) = ψ(a) für ein a ∈ I , dann folgt ϕ(x) = ψ(x) für alle x ∈ I .

Beweis: Wir zeigen zunächst: Gilt ϕ(a) = ψ(a) für ein a ∈ I , dann gibt es ein ε ∈ R+ mit ϕ(x) = ψ(x) für allex ∈ I mit |x − a| ≤ ε. Durch Integration von ϕ′(x) = f(x, ϕ(x)) und ψ′(x) = f(x, ψ(x)) erhalten wir mit derVoraussetzung ϕ(a) = ψ(a) für x ∈ I die Gleichung

ϕ(x)− ψ(x) =

∫ x

a

(f(t, ϕ(t))− f(t, ψ(t))) dt.

Auf Grund der lokalen Lipschitz-Bedingung gibt es L, δ1 ∈ R+ mit

‖f(t, ϕ(t))− f(t, ψ(t))‖ ≤ L‖ϕ(t)− ψ(t)‖ für alle t ∈ I mit |t− a| ≤ δ1.

Sei nun δ ∈ ]0, δ1] und x ∈ [a− δ, a+ δ]. Dann gilt

‖ϕ(x)− ψ(x)‖ ≤∫ x

a

‖(f(t, ϕ(t))− f(t, ψ(t)))‖ dt ≤ L

∣∣∣∣∫ x

a

‖ϕ(t)− ψ(t)‖ dt∣∣∣∣ .

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Setzen wir nun jeweils m(δ) = sup{‖ϕ(t)− ψ(t)‖ | |t− a| ≤ δ}, dann erhalten wir die Abschätzung

‖ϕ(x)− ψ(x)‖ ≤ L|x− a|m(δ) ≤ Lδm(δ).

Bilden wir auf der linken Seite das Maximum über alle x ∈ [a − δ, a + δ], dann folgt m(δ) ≤ Lδm(δ). Sei nunε ∈ ]0, δ1] so klein gewählt, dass Lε < 1 ist. Dann muss m(ε) = 0 gelten. Wir erhalten ϕ(x) = ψ(x) für alle xmit |x− a| ≤ ε.

Nun zeigen wir, dass ϕ(x) = ψ(x) für alle x ∈ I mit x ≥ a gilt. Dazu definieren wir

b = sup {t ∈ I | ϕ|[a,t] = ψ|[a,t]}.

Ist b = +∞ oder das rechte Intervallende von I , dann sind wir fertig. Ansonsten gibt es ein δ ∈ R+ mit[b, b + δ] ⊆ I , und es gilt ϕ(x) = ψ(x) für alle x mit a ≤ x < b. Weil ϕ und ψ stetig sind, gilt auch ϕ(b) = ψ(b).Wenden wir nun die im ersten Teil bewiesene Aussage auf den Anfangspunkt b an, so erhalten wir ein ε ∈ R+

mit ϕ(x) = ψ(x) für alle x ∈ I mit |x− b| < ε, im Widerspruch zur Definition von b. Also muss ϕ(x) = ψ(x) füralle x ∈ I mit x ≥ a gelten. Genauso beweist man, dass ϕ(x) = ψ(x) für alle x ∈ I mit x ≤ a erfüllt ist. �

Ein Beispiel für eine Differentialgleichung, für die der Eindeutigkeitssatz nicht gilt, ist durch

y′ = y2/3

gegeben. Eine Lösung dieser DGL durch den Punkt (0, 0) erhält man durch die Nullfunktion, also durch ϕ :

R→ Rmit ϕ(x) = 0 für x ∈ R. Aber auch die Funktion ψ(x) = 127x

3 ist eine Lösung durch diesen Punkt, dennes gilt ψ(0) = 0 und

ψ′(x) = 327x

2 = 19x

2 =(

127x

3)2/3

.

Allgemein kann man leicht überprüfen, dass für jedes Paar (b, c) ∈ R2 mit b < 0 und c > 0 die Funktion

ψbc(x) =

127 (x− b)3 für x ≤ b

0 für b ≤ x ≤ c127 (x− c)3 für x ≥ c

eine Lösung der DGL ist. Denn es gilt ψbc(0) = 0, für alle x > c gilt

ψ′bc(x) = 19 (x− c)2 =

(127 (x− c)3

)2/3,

und für x < b erhält man ebenso

ψ′bc(x) = 19 (x− b)2 =

(127 (x− b)3

)2/3.

Für b < x < c ist ψ′bc(x) = 0 und ψbc(x) = 0, also ist die Gleichung ψ′bc(x) = ψ(x)2/3 auch hier erfüllt. An denkritischen Stellen x = b und x = c zeigt man durch Betrachtung der links- und rechtsseitigen Ableitung, dassψ′bc auch hier gleich Null ist.

Der Eindeutigkeitssatz kann auf die Funktion f(x, y) = y2/3 nicht angewendet werden, weil sie in einer Um-gebung von (0, 0) keiner lokalen Lipschitz-Bedingung genügt. Beispielsweise gilt für alle n ∈ N

f(0, 1n )− f(0, 1

2n )1n −

12n

=n−2/3 − (2n)−2/3

12n

= 2n(n−2/3 − (2n)−2/3)

= 2n1/3 − (2n)1/3 = (2− 21/3)n1/3.

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Für n → ∞ geht dieser Wert gegen unendlich. Es gibt also keine Umgebung U von (0, 0), so dass die Unglei-chung |f(x, y) − f(x, z)| ≤ L|y − z| für alle (x, y), (x, z) ∈ U mit einer geeigneten Konstanten L > 0 erfülltist.

Nach der Eindeutigkeit beschäftigen wir uns nun mit der Existenz von Lösungen einer DGL. Das wesentlicheHilfsmittel hierbei ist der Banachsche Fixpunktsatz, den wir bereits in der Mathe III-Vorlesung kennengelernthaben: Ist (X, d) ein vollständiger metrischer Raum und φ : X → X eine Kontraktion, dann besitzt φ in X

einen eindeutig bestimmten Fixpunkt, also ein a ∈ X mit φ(a) = a. Wir erinnern daran, dass eine Abbildungφ als Kontraktion bezeichnet wird, wenn es eine Konstante γ ∈ [0, 1[ gibt, so dass

d(φ(x), φ(y)) ≤ γd(x, y) für alle x, y ∈ X erfüllt ist.

(3.7) Lemma Sei I = [a, b] ⊆ R ein abgeschlossenes Intervall mit a, b ∈ R, a < b. Seiaußerdem n ∈ N und C (I,Rn) die Menge der stetigen Funktionen f : I → Rn. Dann istC (I,Rn) mit

‖f‖∞ = sup{‖f(x)‖ | x ∈ I}

ein Banachraum, also ein vollständiger normierter R-Vektorraum.

Beweis: Zunächst zeigen wir, dass durch ‖ · ‖∞ eine Norm auf C (I,Rn) gegeben ist. Sei dazu f ∈ C (I,Rn)

vorgegeben. Ist f die Nullfunktion, dann gilt ‖f(x)‖ = 0 für alle x ∈ I , und es folgt ‖f‖∞ = 0. Setzen wirumgekehrt ‖f‖∞ = 0 voraus, dann folgt ‖f(x)‖ = 0 und auf Grund der Normeigenschaft von ‖ · ‖ auchf(x) = 0 für alle x ∈ I . Also ist in diesem Fall f der Nullvektor in C (I,Rn).

Ist f ∈ C (I,Rn) und 0 6= λ ∈ R, dann gilt für alle x ∈ I die Abschätzung

‖λf(x)‖ = |λ|‖f(x)‖ ≤ |λ|‖f‖∞

und somit auch ‖λf‖∞ ≤ |λ|‖f‖∞. Setzen wir g = λf , dann erhalten wir ebenso

‖f‖∞ = ‖ 1λg‖∞ ≤ | 1λ |‖g‖∞ =

1

|λ|‖λf‖∞ ,

also |λ|‖f‖∞ ≤ ‖λf‖∞ und insgesamt Gleichheit. Für λ = 0 ist die Gleichung ‖λf‖∞ = |λ|‖f‖∞ offenbarebenfalls erfüllt. Zum Beweis der Dreiecksungleichung seien f, g ∈ C (I,Rn) vorgegeben. Für alle x ∈ I ist

‖(f + g)(x)‖ = ‖f(x) + g(x)‖ ≤ ‖f(x)‖+ ‖g(x)‖ ≤ ‖f‖∞ + ‖g‖∞ ,

also auch ‖f + g‖∞ ≤ ‖f‖∞ + ‖g‖∞. Damit sind die Normeigenschaften nachgewiesen.

Sei nun (fm)m∈N eine Cauchyfolge in C (I,Rn) bezüglich ‖ · ‖∞. Dann gibt es für jedes ε ∈ R+ ein K ∈ N, sodass ‖fk− fm‖∞ < ε für alle k,m ≥ K erfüllt ist. Es folgt ‖fk(x)− fm(x)‖ ≤ ε für alle x ∈ I und k,m ≥ K, d.h.die Folge (fm(x))m∈N ist für jedes x ∈ I eine Cauchyfolge in Rn. Da der Rn bezüglich jeder Norm vollständigist, konvergiert die Folge (fm(x))m∈N gegen einen Vektor f(x) ∈ Rn. Zu zeigen ist, dass die auf diese Weisedefinierte Funktion f : I → Rn stetig und ein Grenzwert der Folge (fm)m∈N in C (I,Rn) ist.

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Wir beweisen die Stetigkeit von f mit Hilfe des ε-δ-Kriteriums. Seien c ∈ I und ε ∈ R+ vorgegeben. Dannexistiert ein K ∈ N mit ‖fk − fm‖∞ < 1

3ε für alle k,m ≥ K. Auf Grund der Stetigkeit der Normfunktion aufRn gilt

‖fK(x)− f(x)‖ = limm→∞

‖fK(x)− fm(x)‖ ≤ limm→∞

‖fK − fm‖∞ ≤ 13ε

für alle x ∈ I . Weil die Funktion fK im Punkt c stetig ist, gibt es ein δ ∈ R+ mit ‖fK(x)− fK(c)‖ < 13ε für alle

x ∈ I mit |x− c| < δ. Es folgt

‖f(x)− f(c)‖ ≤ ‖f(x)− fK(x)‖+ ‖fK(x)− fK(c)‖+ ‖fK(c)− f(c)‖ < 13ε+ 1

3ε+ 13ε = ε

für alle x ∈ I mit |x − c| < δ. Damit ist die Stetigkeit von f bewiesen. Wir wenden nun die Cauchyfolgen-Eigenschaft noch einmal an, um zu zeigen, dass f der Grenzwert der Folge (fm)m∈N in C (I,Rn) ist. Für jedesε ∈ R+ gibt es ein K ∈ N mit ‖fk − fm‖∞ < ε für alle k,m ≥ K, also ‖fk(x) − fm(x)‖ < ε für alle x ∈ I

und k,m ≥ K. Durch Grenzübergang m → ∞ erhalten wir ‖fk(x) − f(x)‖ ≤ ε für alle x ∈ I und k ≥ K, also‖fk − f‖∞ ≤ ε für k ≥ K. Also ist f tatsächlich der Grenzwert der Folge (fm)m∈N im R-Vektorraum C (I,Rn).�

(3.8) Lemma Sei B ⊆ Rn eine abgeschlossene Teilmenge. Dann ist die Menge derFunktionen C (I, B) abgeschlossen in C (I,Rn). Also ist C (I, B) bezüglich der Metrikd(f, g) = ‖f − g‖∞ ein vollständiger metrischer Raum.

Beweis: Sei (fm)m∈N eine Folge in C (I, B), die in C (I,Rn) einen Grenzwert f besitzt. Zu zeigen ist, dassf ∈ C (I, B) gilt. Ist x ∈ I ein beliebiger Punkt, dann bilden die Vektoren fm(x) eine Folge in Rn, die wegen

limm→∞

‖fm(x)− f(x)‖ ≤ limm→∞

‖fm − f‖∞ = 0

gegen f(x) konvergiert. Weil B in Rn abgeschlossen ist und alle Vektoren in fm(x) in B liegen, gilt dasselbeauch für den Grenzwert f(x). Damit haben wir gezeigt, dass f eine Funktion I → B ist. �

(3.9) Satz (Existenzsatz von Picard-Lindelöf)

Sei D ⊆ R × Rn offen und f : D → Rn eine stetige Funktion, die lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt. Dann gibt es zu jedem Punkt (a, b) ∈ D ein δ ∈ R+ und eine Lösung

ϕ : ]a− δ, a+ δ[ −→ Rn

der Differentialgleichung y′ = f(x, y) mit ϕ(a) = b.

Beweis: Sei (a, b) ∈ D vorgegeben, I ⊆ R ein hinreichend kleines kompaktes Intervall mit a in seinem Innerenund ε ∈ R+, so dass die Menge X = I × Bε(b) in D enthalten ist und f auf X eine Lipschitz-Bedingungmit einer Lipschitz-Konstanten L ∈ R+ genügt. Weil X kompakt und f stetig ist, gibt es ein m ∈ R+ mit‖f(t, x)‖ ≤ m für alle (t, x) ∈ X . Weiter wählen wir δ ∈ R+ so klein, dass das Intervall J = [a − δ, a + δ] in Ienthalten ist und die Ungleichungen Lδ < 1 sowie mδ < ε gelten.

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Wir definieren nun auf dem Banachram V = C (J,Rn) mit der Norm ‖ · ‖∞ die Abbildung

Φ : V −→ V gegeben durch Φ(ϕ)(x) = b+

∫ x

a

f(t, ϕ(t)) dt

sowie die Teilmenge Y = C (J, Bε(b)) von V . Dann ist Y nach (3.8) mit d(ϕ,ψ) = ‖ϕ − ψ‖∞ ebenfalls einBanachraum. Für alle ϕ ∈ Y und x ∈ J gilt

‖Φ(ϕ)(x)− b‖ ≤∥∥∥∥∫ x

a

f(t, ϕ(t)) dt

∥∥∥∥ ≤ mδ < ε ,

also ist auch Φ(ϕ) in Y enthalten, und folglich ist Φ eine Abbildung Y → Y . Um den Banachschen Fixpunktsatzanwenden zu können, zeigen wir, dass es sich bei Φ um eine Kontraktion handelt. Seien ϕ,ψ ∈ Y vorgegeben.Für jedes t ∈ J gilt nach Voraussetzung ϕ(t), ψ(t) ∈ Bε(b), und auf Grund der Lipschitz-Bedingung gilt‖f(t, ϕ(t))− f(t, ψ(t))‖ ≤ L‖ϕ(t)− ψ(t)‖. Wir erhalten somit

‖Φ(ϕ)− Φ(ψ)‖∞ = supx∈J

∥∥∥∥∫ x

a

(f(t, ϕ(t))− f(t, ψ(t))) dt

∥∥∥∥≤ sup

x∈J

∫ x

a

‖f(t, ϕ(t))− f(t, ψ(t))‖ dt ≤ supx∈J|x− a| · L · ‖ϕ− ψ‖∞ = δL‖ϕ− ψ‖∞.

Wegen δL < 1 ist die Kontraktionseigenschaft damit nachgewiesen. Sei nun ϕ ∈ Y ein Fixpunkt von Φ. AusΦ(ϕ) = ϕ folgt dann

ϕ(x) = b+

∫ x

a

f(t, ϕ(t)) dt ∀ x ∈ J und ϕ′(x) = f(x, ϕ(x)) für alle x ∈ J. �

(3.10) Folgerung Sei D ⊆ R×Rn offen, f : D → Rn eine stetige Funktion, die lokal einerLipschitz-Bedingung genügt, und (a, b) ∈ D. Dann gibt es ein offenes Intervall I ⊆ R mita ∈ I und eine stetig differenzierbare Funktion ϕ : I → Rn, so dass gilt

(i) ϕ(a) = b und ϕ′(x) = f(x, ϕ(x)) für alle x ∈ I

(ii) Ist J ⊆ R ein weiteres offenes Intervall mit a ∈ J und ψ : J → Rn einedifferenzierbare Funktion mit ψ(a) = b und ψ′(x) = f(x, ψ(x)) für alle x ∈ J ,dann gilt J ⊆ I und ϕ|J = ψ.

Man bezeichnet ϕ als maximale Lösung des Anfangswertproblems gegeben durch die ge-wöhnliche Differentialgleichung y′ = f(x, y) und das Paar (a, b).

Beweis: Auf Grund des Existenzsatzes gibt es zumindest ein δ ∈ R+, so dass auf dem offenen IntervallIδ = ]a− δ, a+ δ[ eine Lösung ϕ des Anfangswertproblems existiert. Sei x+ das Supremum über alle x > a mitder Eigenschaft, dass es auf ]a− δ, x[ eine solche Lösung gibt. Dann ist a + δ ≤ x+ ≤ +∞, und auf ]a− δ, x+[

existiert eine Lösung.

Ebenso bilden wir das Infimum x− über alle x < amit der Eigenschaft, dass auf ]x, a+ δ[ eine Lösung existiert.Dann gilt −∞ ≤ x− ≤ a − δ, und auf ]x−, a+ δ[ gibt es eine Lösung ϕ−. Auf Grund des Eindeutigkeitssatzesstimmen ϕ− und ϕ+ auf Iδ überein, so dass wir insgesamt eine Lösung ϕ auf I = ]x−, x+[ erhalten, mitϕ|]a−δ,x+[ = ϕ+ und ϕ|]x−,a+δ[ = ϕ−.

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Sei nun ψ : J → Rn wie unter (ii) angegeben. Ist J keine Teilmenge von I , dann gibt es ein c ∈ J mit c > x+

oder c < x−. Nehmen wir an, dass der erste Fall eintritt. Wegen des Eindeutigkeitssatzes stimmen ϕ und ψ

auf ]a, x+[ überein, und wir erhalten insgesamt eine Lösung auf ]a− δ, c[, im Widerspruch zur Definition vonx+ als Supremum. Genauso kann c < x− ausgeschlossen werden. Die Gleichung ϕ|J = ψ folgt wiederum ausdem Eindeutigkeitssatz. �

Wir formulieren den Existenz- und Eindeutigkeitssatz in der letzten Version noch einmal für Differentialglei-chungen n-ter Ordnung. Auf Grund der Bemerkung zur Korrespondenz zwischen Lösungen eines Systemserster Ordnung und einer DGL n-ter Ordnung (im Anschluss an (3.3)) folgt diese Aussage unmittelbar aus dersoeben bewiesenen (3.10).

(3.11) Folgerung Sei D ⊆ R × Rn offen, f : D → R eine stetige Funktion, die lokaleiner Lipschitz-Bedingung genügt, und (a, b) ∈ D, b = (b0, ..., bn−1) ∈ Rn. Dann gibt es einoffenes Intervall I mit a ∈ I und eine n-mal stetig differenzierbare Funktion ϕ : I → Rmitden folgenden Eigenschaften.

(i) Die Funktion ϕ ist eine Lösung der DGL y(n) = f(x, y, ..., y(n−1)) mit bk =

ϕ(k)(a) für 0 ≤ k ≤ n− 1.

(ii) Ist ψ : J → R eine weitere Lösung auf einem offenen Intervall mit den unter(i) genannten Eigenschaften, dann gilt J ⊆ I und ϕ|J = ψ.

Neben dem hier bewiesenen Existenz- und Eindeutigkeitssatz spielt auch der sog. Existenzsatz von Peano inder Theorie der Differentialgleichungen eine wichtige Rolle, bei dem für f nur die Stetigkeit, aber keine lokaleLipschitz-Bedingung gefordert wird. Unter diesen Voraussetzungen existiert eine Lösung der DGL. Sie ist abernicht mehr eindeutig bestimmt, noch nicht einmal lokal, wie das Beispiel nach (3.6) zeigt.

(3.12) Satz (Existenzsatz von Peano)

Sei D ⊆ R×Rn offen, f : D → Rn stetig und (a, b) ∈ D. Dann gibt es ein offenes IntervallI ⊆ Rmit a ∈ I und eine Lösung ϕ : I → Rn von y′ = f(x, y) mit ϕ(a) = b.

Aus Zeitgründen verzichten wir auf den Beweis dieses Satzes.

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3.2 Elementare Lösungsmethoden

Inhaltsübersicht

FF Differentialgleichungen mit getrennten Variablen

FF Lösung durch Substitution

FF Variation der Konstanten

(a) Differentialgleichungen mit getrennten Variablen

(3.13) Definition Seien I, J ⊆ R offene Intervalle und f : I → R, g : J → R stetigeFunktionen, wobei g(y) 6= 0 für alle y ∈ J gilt. Dann nennt man

y′ = f(x)g(y)

eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen.

Seien f, g wie in (3.13) angegeben und (a, b) ∈ I × J . Dann findet man eine Lösung ϕ der DGL y′ = f(x)g(y)

durch Ausführung der folgenden Einzelschritte.

(1) Zunächst berechnet man Stammfunktionen F : I → R und G : J → R der beiden Funktionen f und 1/g

auf I mit F (a) = G(b) = 0.

(2) Dann bestimmt man die Umkehrfunktion H : J ′ → J von G (mit J ′ = G(J)).

(3) Sei I ′ ⊆ I ein Intervall mit a ∈ I ′ und F (I ′) ⊆ J ′. Dann ist durch ϕ = H◦F eine Lösung von y′ = f(x)g(y)

mit ϕ(a) = b gegeben.

Wir überprüfen kurz, dass die drei Schritte in dieser Form durchführbar sind und tatsächlich eine Lösung ϕder DGL mit ϕ(a) = b liefern. Weil f und g stetig sind, erhält man durch

F (x) =

∫ x

a

f(t) dt und G(y) =

∫ y

b

dt

g(t)

Stammfunktionen von f und 1/g mit F (a) = G(b) = 0. Weil die Funktion 1/g nirgends auf dem Intervall Jden Wert Null annimmt, gilt entweder 1/g(y) > 0 oder 1/g(y) < 0, für alle y ∈ J . Deshalb ist die FunktionG auf dem gesamten Intervall J entweder streng monoton wachsend oder streng monoton fallend. Deshalbbesitzt G : J → J ′ eine Umkehrfunktion H : J ′ → J .

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Die Funktion ϕ = H ◦ F ist auf dem Intervall I ′ tatsächlich eine Lösung der DGL. Denn für alle x ∈ I ′ giltϕ(x) = (H ◦ F )(x)⇔ (G ◦ ϕ)(x) = F (x), und mit der Kettenregel erhält man

(G ◦ ϕ)′(x) = F ′(x) ⇔ G′(ϕ(x))ϕ′(x) = F ′(x) ⇔ ϕ′(x)

g(ϕ(x))= f(x) ⇔ ϕ′(x) = f(x)g(ϕ(x)).

Außerdem gilt G(b) = 0⇔ b = H(0) und folglich ϕ(a) = H(F (a)) = H(0) = b.

Beispiel: Wir bestimmen für jedes c ∈ R+ eine Lösung ϕc der Differentialgleichung

y′ = y2 mit ϕc(0) = c

im Definitionsbereich D = R × R+. Dazu betrachten wir die Funktionen f : R → R, x 7→ 1 und g : R+ → R,y 7→ y2. Die zugehörigen Funktionen F und G sind dann definiert durch

F (x) =

∫ x

0

dt = x und G(y) =

∫ y

c

dt

t2= −1

t

∣∣∣∣yc

=1

c− 1

y

für alle x ∈ R und y ∈ R+. Wegen G ( ]0,+∞[ ) =]−∞, 1

c

[können wir I ′ =

]−∞, 1

c

[wählen; dies ist das

maximale offene Intervall mit F (I ′) = I ′ ⊆ G( ]0,+∞[ ). Die Umkehrfunktion H von G erhält man durch dieUmformung

x = G(y) ⇔ x =1

c− 1

y⇔ 1

y=

1

c− x ⇔ y =

11c − x

=c

1− cx,

die gesuchte Funktion ist also y = H(x). Für alle x ∈ I ′ gilt H(F (x)) = H(x) = c1−cx . Durch ϕc(x) = c

1−cx istalso eine Lösung ϕc : I ′ → R der DGL mit ϕc(0) = c definiert. Tatsächlich gilt

ϕ′c(x) = (−c2)(−1)(1− cx)−2 =c2

(1− cx)2=

(c

1− cx

)2

= ϕc(x)2.

für alle x ∈ I ′.

(b) Lösung durch Substitution

In vielen Fällen kann die DGL durch eine geeignete Substitution in eine Form gebracht werden, die leichtergelöst werden kann. Gegeben sei eine stetige Funktion f : D → Rmit D ⊆ R2. Gesucht wird für die DGL y′ =

f(x, y) und für vorgegebenes (a, b) ∈ D eine Lösung ϕ : I → Rmit ϕ(a) = b. Die heuristische Vorgehensweiseist nun

(1) Wähle geeignete Substitutionsfunktion g und definiere eine neue Variable z durch z = g(x, y).

(2) Bilde durch Umstellen und symbolisches Ableiten eine Gleichung der Form y′ = h(x, z, z′).

(3) Setze y und y′ in die DGL y′ = f(x, y) ein, um eine DGL in z zu erhalten.

(4) Bestimme eine Lösung ψ dieser DGL mit ψ(a) = g(a, b).

(5) Stelle die Gleichung ψ(t) = g(t, ϕ(t)) nach ϕ(t) um, damit eine Lösung ϕ(t) der ursprünglichen DGL mitϕ(a) = b zu erhalten.

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Beispiel: Wir suchen eine Lösung ϕ der DGL

y′ =y2

x2+y

x+ 1 mit ϕ(1) = 1.

Hier ist es naheliegend, die DGL durch die Substitution z = g(x, y) = yx ⇔ y = xz zu vereinfachen. Symboli-

sches Ableiten ergibty′ = (xz)′ = x′z + xz′ = z + xz′

und durch Einsetzen in die ursprüngliche DGL erhalten wir

z + xz′ = z2 + z + 1 ⇔ xz′ = z2 + 1 ⇔ z′ = 1x (z2 + 1).

Gesucht wird eine Lösung mit ψ mit ψ(1) = g(1, 1) = 11 = 1. Dies kann durch Trennung der Variablen erreicht

werden, denn es ist z′ = u(x)v(z) mit den Funktionen u(x) = 1x und v(z) = z2 + 1. Durch

U(x) = ln(x) und V (z) = arctan(z)− 14π

sind Stammfunktionen von u und 1/v mit U(1) = V (1) = 0 gegeben. Durch die Umformung

t = arctan(z)− 14π ⇔ arctan(z) = t+ 1

4π ⇔ z = tan(t+ 14π)

erhalten wir mit W (t) = tan(t+ 14π) eine Umkehrfunktion von V . Nach dem allgemeinen Lösungsschema ist

dannψ(t) = (W ◦ U)(t) = W (ln(t)) = tan(ln(t) + 1

4π)

eine Lösung mit ψ(1) = 1. Die Gleichung ψ(t) = g(t, ϕ(t)) = ϕ(t)t wird zu ϕ(t) umgestellt und liefert die

Lösungϕ(t) = tψ(t) = t · tan(ln(t) + 1

4π).

Tatsächlich gilt ϕ(1) = 1 · tan(ln(1) + 14π) = tan( 1

4π) = 1 und wegen tan′(x) = tan(x)2 + 1 auch

ϕ′(t) = tan(ln(t) + 14π) + t ·

(tan(ln(t) + 1

4π)2 + 1)· 1t = tan(ln(t) + 1

4π)2 + tan(ln(t) + 14π) + 1

= ψ(t)2 + ψ(t) + 1 =ϕ(t)2

t2+ϕ(t)

t+ 1.

(c) Variation der Konstanten

(3.14) Definition Sei I ⊆ R ein offenes Intervall, und seien f, g : I → R stetige Funktionen.Dann nennt man

y′ = f(x)y + g(x)

eine lineare DGL erster Ordnung. Ist g(x) = 0 für alle x ∈ I , dann spricht man von einerhomogenen, ansonsten von einer inhomogenen Differentialgleichung.

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Für jedes Paar (a, b) ∈ I×R lässt sich eine Lösung ϕ : I → R der homogenen DGL mit ϕ(a) = b leicht angeben.Definiert man nämlich

F : I → R , x 7→∫ x

a

f(t) dt und ϕ(x) = beF (x) für x ∈ I ,

dann gilt auf F ′(x) = f(x) auf Grund des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung und ϕ′(x) =

beF (x)F ′(x) = beF (x)f(x) = f(x)ϕ(x) auf Grund der Kettenregel, jeweils für alle x ∈ I .

Für die Lösung inhomogener linearer DGL der Form y′(x) = f(x)y + g(x) kommt nun die Variation derKonstanten zum Einsatz. Sei ϕ : I → R die bereits gefundene Lösung der homogenen linearen DGL y′(x) =

f(x)y mit ϕ(a) = 1. Für jedes c ∈ R ist dann ϕc = cϕ eine Lösung mit ϕc(a) = cϕ(a) = c. Der entscheidendeAnsatz besteht nun darin, die Konstante c durch eine Funktion u : I → R zu ersetzen (daher der Name desVerfahrens), so dass ψ(x) = u(x)ϕ(x) zu einer Lösung der inhomogenen DGL wird.

Es kommt also daran an, eine passende Funktion u zu finden. Aus ψ = uϕ folgt ψ′ = uϕ′ + u′ϕ. Dass es sichbei ψ um eine Lösung der inhomogenen DGL handelt, ist äquivalent zu

ψ′(x) = f(x)ψ(x) + g(x) ⇔ u(x)ϕ′(x) + u′(x)ϕ(x) = f(x)u(x)ϕ(x) + g(x) ⇔

u(x)f(x)ϕ(x) + u′(x)ϕ(x) = u(x)f(x)ϕ(x) + g(x) ⇔ u′(x)ϕ(x) = g(x)

für alle x ∈ R. Die letzte Gleichung ist äquivalent zu

u(x) = b+

∫ x

a

g(t)

ϕ(t)dt für alle x ∈ I , (3.16)

mit einer geeigneten Konstanten b ∈ R. Dabei ist zu beachten, dass nach Definition der homogenen Lösungϕ(x) 6= 0 für alle x ∈ I gilt. Definieren wir die Funktion u also wie in (3.16) angegeben, und setzen wir ψ = uϕ,dann ist ψ eine Lösung der inhomogenen DGL mit ψ(a) = b.

Beispiel: Wir bestimmen für jedes b ∈ R eine Lösung ψb : R→ R der DGL

y′ = 2xy + x3 mit ψb(0) = b.

Diese inhomogene lineare DGL ist aus den Funktionen f, g : R → R gegeben durch f(x) = 2x und g(x) = x3

aufgebaut. Die zugehörige Funktion F erhalten wir durch

F (x) =

∫ x

0

f(t) dt =

∫ x

0

2t dt = t2∣∣∣∣x0

= x2.

Somit ist ϕ : R → R, x 7→ ex2

eine Lösung der homogenen linearen DGL y′ = 2xy mit ϕ(0) = 1. Um dieinhomogene lineare DGL zu lösen, bestimmen wir die Hilfsfunktion u. Mit Hilfe der Substitutionsregel unddurch partielle Integration erhalten wir

u(x) = b+

∫ x

0

g(t)

ϕ(t)dt = b+

∫ x

0

t3

et2dt = b+ 1

2

∫ x

0

(2t)t2e−t2

dt =

b+ 12

∫ x2

0

se−s ds = b− 12se−s∣∣∣∣x2

0

+ 12

∫ x2

0

e−s ds = b− 12se−s − 1

2e−s∣∣∣∣x2

0

=

b− 12x

2e−x2

− 12e−x2

+ 12 = b+ 1

2 −12 (x2 + 1)e−x

2

.

Durch ψb(x) = ϕ(x)u(x) = (b+ 12 )ex

2 − 12 (x2 + 1) ist also eine Lösung mit ψb(0) = b gegeben.

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3.3 Systeme linearer Differentialgleichungen

Inhaltsübersicht

FF Lineare Systeme von Differentialgleichungen haben die Form y′ = A(x)y + b(x) mit einer matrixwertigen Funk-tion A und einer vektorwertigen Funktion b.

FF Die Lösungen eines n-dimensionalen homogenen Systems (d.h. mit b(x) = 0) bilden einen Vektorraum. EineBasis dieses Vektorraums bezeichnet man als Fundamentalsystem.

FF Wie in der Linearen Algebra erhält man alle Lösungen eines inhomogenen Systems, indem man zu einer speziel-len inhomogenen Lösung die Lösungen des homogenen Systems addiert. Eine spezielle Lösung erhält man durchdie Methode „Variation der Konstanten“.

FF Die Lösung von Systemen der Form y′ = Ay (homogen, mit konstanter matrixwertiger Funktion A) erfordert nurLineare Algebra: Sobald man die Eigenwerte und Eigenvektoren von A kennt, lassen sich alle Lösungen leichtangeben.

(3.15) Definition Sei I ⊆ R ein offenes Intervall undA : I →Mn,R eine stetige Abbildungvon I in den Raum der reellen n×n-Matrizen. Sei b : I → Rn eine weitere stetige Funktion.Dann nennt man

y′ = A(x)y + b(x)

ein lineares System von Differentialgleichungen. Ist die Funktion b konstant Null, dannspricht man von einem homogenen, sonst von einem inhomogenen System.

Neben diesen reellwertigen betrachtet man häufig auch komplexwertige lineare Systeme von Differentialglei-chungen. Dabei werden A und b durch Abbildungen nach Mn,C bzw. Cn ersetzt. Der Definitionsbereich derFunktionen ist aber weiterhin ein Intervall in den reellen Zahlen. Im Folgenden bezeichnetK einen der KörperR oder C.

Für lineare Systeme von Differentialgleichungen nimmt der Existenz- und Eindeutigkeitssatz die folgendeForm an.

(3.16) Satz Sei I ⊆ R ein offenes Intervall, a ∈ I und c ∈ Kn. Dann gibt es eine eindeutigbestimmte Lösung ϕ : I → Kn des Systems y′ = A(x)y + b(x) mit ϕ(a) = c.

Beweis: Sei die Funktion f : I × Kn → Kn gegeben durch f(x, y) = A(x)y + b(x) auf I × Kn. Ist K ⊆ I einkompaktes Teilintervall, dann ist

L = sup{‖A(x)‖ | x ∈ K}

endlich, wobei ‖A(x)‖ jeweils die in der Analysis mehrerer Variablen eingeführte Operatornorm bezeichnet.Für alle x ∈ K und y, y ∈ Kn gilt dann

‖f(x, y)− f(x, y)‖ = ‖A(x)(y − y)‖ ≤ L‖y − y‖.

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Also genügt f einer lokalen Lipschitz-Bedingung, und somit gibt es nach (3.10) ein eindeutig bestimmtes,maximales offenes Intervall J ⊆ K mit a ∈ J und eine eindeutig bestimmte Lösung ϕ : J → Kn mit ϕ(a) = c.

Nehmen wir nun an, dass sup J < supK gilt. Sei δ ∈ R+ so gewählt, dass Lδ < 1 und sup J + δ < supK

gilt. Sei außerdem a1 ∈ J ein Punkt mit a1 + δ > sup J . Wie im Beweis von (3.9) gezeigt wurde, existierteine Lösung ψ auf Iδ = ]a1 − δ, a1 + δ[ mit ψ(a1) = ϕ(a1). Auf Grund der Eindeutigkeit in Folge der Lipschitz-Bedingung stimmen ϕ und ψ auf J∩Iδ überein. Wir erhalten also insgesamt eine Lösung, die auf J∪Iδ definiertist, was der Maximalität der Lösung ϕ auf J widerspricht. Also muss sup J = supK gelten. Ebenso beweistman inf J = inf K. Insgesamt haben wir damit gezeigt, dass die Lösung ϕ auf das Innere jedes kompaktenTeilintervalls K ⊆ I fortgesetzt werden kann. Damit ist ϕ auf ganz I fortsetzbar. �

Nun sehen wir uns die Gesamtheit der Lösungen eines homogenen linearen Systems genauer an.

(3.17) Satz Sei I ⊆ R ein nichtleeres offenes Intervall, A : I → Mn,K eine stetigeAbbildung und L0 die Menge aller Lösungen von y′ = A(x)y auf dem Intervall I . Dann istL0 ein n-dimensionaler K-Vektorraum. Ist m ∈ N, dann sind für ein m-Tupel (ϕ1, ..., ϕm)

von Lösungen die folgenden Aussagen äquivalent:

(i) Die Funktionen ϕ1, ..., ϕm sind linear unabhängig.

(ii) Es gibt es a ∈ I , so dass ϕ1(a), ..., ϕm(a) in Kn linear unabhängig sind.

(iii) Für alle a ∈ I sind die Vektoren ϕ1(a), ..., ϕm(a) in Kn linear unabhängig.

Beweis: Zunächst zeigen wir, dass es sich bei L0 tatsächlich um einenK-Vektorraum handelt. Die Nullfunktion0 : I → Kn erfüllt offensichtlich die Gleichung 0′ = A(x)0, also ist 0 in L0 enthalten. Seien nun ϕ,ψ ∈ L0 undλ ∈ K vorgegeben. Dann liegen auch ϕ+ ψ und λϕ in L0, denn für alle x ∈ I gilt

(ϕ+ ψ)′(x) = ϕ′(x) + ψ′(x) = A(x)ϕ(x) +A(x)ψ(x) = A(x)(ϕ+ ψ)(x)

und (λϕ)′(x) = λϕ′(x) = λA(x)ϕ(x) = A(x)(λϕ)(x).

Nun beweisen wir die Äquivalenz der Aussagen (i) bis (iii). Die Implikation “(iii) ⇒ (ii)“ ist offensichtlich.Zum Beweis von “(ii)⇒ (i)“ seien λ1, ..., λm ∈ Kmit

∑mk=1 λkϕk = 0 vorgegeben. Dann gilt insbesondere

m∑k=1

λkϕk(a) = 0 ,

und auf Grund der linearen Unabhängigkeit der Vektoren ϕ1(a), ..., ϕm(a) folgt λ1 = ... = λm = 0. Damit istdie lineare Unabhängigkeit der Funktionen ϕ1, ..., ϕm bewiesen. Nun zeigen wir noch “(i)⇒ (iii)“. Angenom-men, es gibt ein a ∈ I , so dass die Vektoren ϕ1(a), ..., ϕm(a) linear abhängig sind. Dann gibt es Koeffizientenλ1, ..., λm ∈ K, nicht alle gleich Null, mit

m∑k=1

λkϕk(a) = 0.

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Sei nun ϕ =∑mk=1 λkϕk ∈ L0. Dann gilt ϕ(a) = 0. Nach (3.16) besitzt das System y′ = A(x)y nur eine Lösung

ψ mit ψ(a) = 0, und das ist die Nullfunktion. Also folgt ϕ = 0, im Widerspruch zur Voraussetzung, dass dieFunktionen ϕ1, ..., ϕm linear unabhängig sind.

Es bleibt zu zeigen, dass dim L0 = n gilt. Seien dazu e1, ..., en die Einheitsvektoren imRn, und sei a ∈ I beliebiggewählt. Für 1 ≤ k ≤ n sei ϕk ∈ L0 das eindeutig bestimmte Element des Lösungsraums mit ϕk(a) = ek. Weildie Vektoren ϕ1(a), ..., ϕn(a) linear unabhängig sind, gilt auf Grund der Implikation “(ii)⇒ (i)“ dasselbe auchfür die Funktionen ϕ1, ..., ϕk. Daraus folgt zunächst dim L0 ≥ n. Nehmen wir nun an, dass dim L0 > n gilt.Dann gibt es n+ 1 linear unabhängige Funktionen ψ1, ..., ψn+1 in L0. Wegen “(i)⇒ (iii)“ wären dann auch dieVektoren ψ1(a), ..., ψn+1(a) ∈ Kn linear unabhängig. Aber dies ist wegen dimKn = n unmöglich. �

Jedes Tupel (ϕ1, ..., ϕn) von Elementen aus L0 kann mit einer Funktion Φ : I →Mn,K identifiziert werden, beider ϕ1(a), ..., ϕn(a) für jedes a ∈ I jeweils die Spalten der Matrix Φ(a) sind. Die Funktionen ϕ1, ..., ϕn bildennach (3.17) genau dann eine Basis von L0, wenn det Φ(a) 6= 0 gilt. Ist dies erfüllt, dann bezeichnet man Φ alsein Fundamentalsystem von Lösungen des linearen Systems. Durch Vergleich der einzelnen Spalten sieht man,dass

Φ′(x) = A(x)Φ(x) für alle x ∈ I

gilt, wobei die Matrix Φ′(x) durch Differentiation der einzelnen Einträge von Φ(x) zu Stande kommt.

Beispiel: Für eine beliebige Konstante ω ∈ R+ betrachten wir das lineare System von DGL gegeben durchy′1 = −ωy2 und y′2 = ωy1. In Matrixschreibweise ist dies y′ = A(x)y mit der konstanten Funktion

A : R −→M2,R , x 7→

(0 −ωω 0

).

Durch ϕ1(x) = (cos(ωx), sin(ωx)) und ϕ2(x) = (− sin(ωx), cos(ωx)) sind zwei spezielle Lösungen des Systemsgegeben. Denn einerseits gilt ϕ′1(x) = (−ω sin(ωx), ω cos(ωx)) und ϕ′2(x) = (−ω cos(ωx),−ω sin(ωx)), anderer-seits aber auch(

0 −ωω 0

)(cos(ωx)

sin(ωx)

)=

(−ω sin(ωx)

ω cos(ωx)

)und

(0 −ωω 0

)(− sin(ωx)

cos(ωx)

)=

(−ω cos(ωx)

−ω sin(ωx)

)

Weiter ist

Φ(x) =

(cos(ωx) − sin(ωx)

sin(ωx) cos(ωx)

)ein Fundamentalsystem von Lösungen, denn Φ(0) ist die Einheitsmatrix mit det Φ(0) = 1 6= 0.

Nun wenden wir uns den Lösungsmengen der inhomogenen linearen Systeme zu.

(3.18) Satz Sei y′ = A(x)y + b(x) eine inhomogene lineare DGL, L die Menge ihrerLösungen und L0 der K-Vektorraum der Lösungen von y′ = A(x)y. Ist ψ0 : I → Kn einespezielle Lösung des inhomogenen Systems, dann gilt

L = ψ0 + L0.

—– 121 —–

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Beweis: “⊆“ Sei ψ ∈ L und ϕ = ψ − ψ0. Dann gilt für alle x ∈ I die Gleichung

ϕ′(x) = ψ′(x)− ψ′0(x) = (A(x)ψ(x) + b(x))− (A(x)ψ0(x) + b(x))

= A(x)(ψ − ψ0)(x) = A(x)ϕ(x).

Dies zeigt, dass ϕ ∈ L0 enthalten ist, und folglich gilt ψ = ψ0 + ϕ ∈ ψ0 + L0.

“⊇“ Sei ψ ∈ ψ0 + L0, also ψ = ψ0 + ϕ für ein ϕ ∈ L0. Dann gilt

ψ′(x) = (ψ0 + ϕ)′(x) = ψ′0(x) + ϕ′(x) = A(x)ψ0(x) + b(x) +A(x)ϕ(x)

= A(x)(ψ0 + ϕ)(x) + b(x) = A(x)ψ(x) + b(x)

und folglich ψ ∈ L . �

Die Methode der Variation der Konstanten lässt sich auf den mehrdimensionalen Fall verallgemeinern.

(3.19) Satz Sei y′ = A(x)y + b(x) ein inhomogenes lineares System von Differential-gleichungen und Φ ein Fundamentalsystem von Lösungen des zugehörigen homogenenSystems. Dann erhält man eine spezielle Lösung des inhomogenen Systems durch

ψ(x) = Φ(x)u(x) mit u(x) =

∫ x

a

Φ(t)−1b(t) dt.

Beweis: Aus ψ(x) = Φ(x)u(x) und u′(x) = Φ−1(x)b(x) für alle x ∈ I folgt

ψ′(x) = Φ′(x)u(x) + Φ(x)u′(x) = Φ′(x)u(x) + Φ(x)Φ(x)−1b(x) =

Φ′(x)u(x) + b(x) = A(x)Φ(x)u(x) + b(x) = A(x)ψ(x) + b(x). �

Beispiel: Wir betrachten das System linearer Differentialgleichungen gegeben durch y′1 = −y2, y′2 = y1 + x.In Matrixschreibweise entspricht dies der Gleichung y′ = A(x)y + b(x) mit

A(x) =

(0 −1

1 0

)und b(x) =

(0

x

).

Wie wir im vorherigen Beispiel gesehen haben, ist

Φ(x) =

(cos(x) − sin(x)

sin(x) cos(x)

)für x ∈ R

ein Fundamentalsystem von Lösungen der homogenen DGL y′ = A(x)y. Es gilt

Φ(x)−1 =

(cos(x) sin(x)

− sin(x) cos(x).

)Um eine spezielle Lösung des inhomogenen Systems zu erhalten, berechnen wir zunächst

u(x) =

∫ x

0

(cos(t) sin(t)

− sin(t) cos(t)

)(0

t

)dt =

∫ x

0

(t sin(t)

t cos(t)

)dt.

—– 122 —–

Page 123: Funktionentheorie, Lebesguetheorie und Gewöhnliche ...gerkmann/skripten/mathe4.… · Jede Lipschitz-stetige Abbildung f : X !Y ist auch gleichmäßig stetig, und damit erst recht

Wir bestimmen die beiden Komponenten von u(x) durch partielle Integration. Es gilt∫ x

0

t sin(t) dt = −t cos(t)

∣∣∣∣x0

+

∫ x

0

cos(t) dt = −t cos(t) + sin(t)

∣∣∣∣x0

= sin(x)− x cos(x)

und ∫ x

0

t cos(t) dt = t sin(t)

∣∣∣∣x0

−∫ x

0

sin(t) dt = t sin(t) + cos(t)

∣∣∣∣x0

= x sin(x) + cos(x)− 1.

Wir erhalten somit

u(x) =

(sin(x)− x cos(x)

cos(x) + x sin(x)− 1

)und

ψ(x) = Φ(x)u(x) =

(cos(x) − sin(x)

sin(x) cos(x)

)(sin(x)− x cos(x)

cos(x) + x sin(x)− 1

)=

(cos(x)(sin(x)− x cos(x))− sin(x)(cos(x) + x sin(x)− 1)

sin(x)(sin(x)− x cos(x)) + cos(x)(cos(x) + x sin(x)− 1)

)=

(−x+ sin(x)

1− cos(x)

)

Wir formulieren die bisher erzielten Ergebnisse noch einmal für Differentialgleichungen höherer Ordnung.

(3.20) Definition Sei I ⊆ R ein offenes Intervall, und seien ak : I → K für 0 ≤ k < n undb : I → K stetige Funktionen. Dann ist

y(n) + an−1(x)y(n−1) + ...+ a1(x)y′ + a0(x)y = b(x) (3.17)

eine lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung. Diese wird als homogen bezeichnet, wennb = 0 ist, ansonsten als inhomogen.

(3.21) Satz Gegeben sei eine lineare DGL n-ter Ordnung der Form (3.17).

(i) Die Lösungsmenge L0 der homogenen linearen DGL ist ein n-dimensionalerK-Vektorraum.

(ii) Ein System (ϕ1, ..., ϕn) von Lösungen der homogenen DGL ist genau dannlinear unabhängig, wenn für ein (und damit für alle) x ∈ I die sogenannteWronski-Determinante

W (x) = det

ϕ1(x) ... ϕn(x)

ϕ′1(x) ... ϕ′n(x)...

...ϕ

(n−1)1 (x) ... ϕ

(n−1)n (x)

ungleich Null ist.

Man nennt (ϕ1, ..., ϕn) in diesem Fall ein Fundamentalsystem von Lösungender homogenen linearen DGL.

—– 123 —–

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Beweis: Seien L0 die Lösungen des homogenen Systems linearer Differentialgleichungen gegeben durch

y′0 = y1 , y′1 = y2 , ... , y′n−2 = yn−1 , y′n−1 = −a0(x)y0 − a1(x)y1 − ...− an−1(x)yn−1.

Wie wir in Abschnitt 3.1 gesehen haben, ist durch ϕ 7→ (ϕ,ϕ′, ..., ϕ(n−1)) eine Bijektion L0 → L0 gegeben,und diese ist verträglich mit punktweiser Addition und punktweiser skalarer Multiplikation von Funktionen.Damit ergeben sich alle Aussagen unmittelbar aus (3.17). �

Als wichtigen Spezialfall der Theorie betrachten wir nun lineare Differentialgleichungen mit konstanten Ko-effizienten. Sei I ⊆ R ein offenes Intervall. Jedem komplexen Polynom p ∈ C[t] der Form p =

∑nk=0 akt

k mitKoeffizienten a0, ..., an ∈ C kann durch

p

(∂

∂x

)=

n∑k=0

ak

(∂

∂x

)keine Abbildung auf dem Raum der n-mal differenzierbaren Funktionen zugeordnet werden, und zwar durch

p

(∂

∂x

)ϕ =

n∑k=0

ak

(∂

∂x

)kϕ =

n∑k=0

akϕ(k).

Man nennt p( ∂∂x ) einen Differentialoperator n-ter Ordnung. Beispielsweise handelt es sich bei der gewöhnli-

chen Ableitung ϕ 7→ ϕ′ um einen Differentialoperator erster Ordnung.

(3.22) Proposition Seien p, q ∈ C[t] Polynome vom Grad≤ n, außerdem I ⊆ R ein offenesIntervall und ϕ : I → R eine 2n-mal differenzierbare Funktion. Dann gilt

(i) (p+ q)

(∂

∂x

)ϕ = p

(∂

∂x

)ϕ+ q

(∂

∂x

(ii) (pq)

(∂

∂x

)ϕ =

(p

(∂

∂x

)◦ q(∂

∂x

))ϕ

Beweis: Sei p =∑nk=0 akt

k und q =∑nk=0 bkt

k. Für alle k ∈ Nmit k > n setzen wir ak = bk = 0. Dann erhaltenwir durch (i) die Rechnung

(p+ q)

(∂

∂x

)ϕ =

(n∑k=0

(ak + bk)

(∂

∂x

)k)ϕ =

n∑k=0

(ak + bk)ϕ(k) =

n∑k=0

akϕ(k) +

n∑k=0

bkϕ(k) =

n∑k=0

ak

(∂

∂x

)kϕ+

n∑k=0

ak

(∂

∂x

)kϕ = p

(∂

∂x

)ϕ+ q

(∂

∂x

)ϕ.

Für den Beweis von (ii) bemerken wir zunächst, dass

pq =

2n∑k=0

cktk mit ck =

k∑i=0

ai−kbk =∑i+j=k

aibj gilt.

—– 124 —–

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Die gewünschte Gleichung erhalten wir nun durch

p

(∂

∂x

)(q

(∂

∂x

)= p

(∂

∂x

)( n∑k=0

bkϕ(k)

)=

n∑`=0

a`

(∂

∂x

)`( n∑k=0

bkϕ(k)

)=

n∑`=0

n∑k=0

a`bkϕ(`+k) =

2n∑k=0

∑i+j=k

aibj

ϕ(k) =

2n∑k=0

ckϕ(k) = (pq)

(∂

∂x

)ϕ. �

(3.23) Lemma

(i) Für jedes λ ∈ C gilt ∂∂x (eλx) = λeλx.

(ii) Für jedes Polynom p ∈ C[t] und jedes λ ∈ C gilt

p

(∂

∂x

)eλx = p(λ)eλx.

Beweis: zu (i) Für λ ∈ R folgt die Aussage unmittelbar aus der bekannten Ableitungsregel für die Exponen-tialfunktion. Sei nun λ ∈ C und λ = a+ ib die Zerlegung von λ in Real- und Imaginärteil. Dann gilt

∂x(eλx) =

∂x(e(a+ib)x) =

∂x(eax(cos(bx) + i sin(bx))) =

aeax cos(bx) + eax(−b sin(bx)) + iaeax(sin(bx) + bieax cos(bx)) =

(a+ ib)eax cos(bx) + i(a+ ib)eax sin(bx) =

(a+ ib)eax(cos(bx) + i sin(bx)) = (a+ ib)e(a+ib)x = λeλx.

zu (ii) Sei p =∑nk=0 akt

k. Durch Anwendung von (i) erhalten wir

p

(∂

∂x

)eλx =

n∑k=0

ak

(∂

∂x

)keλx =

n∑k=0

akλkeλx = p(λ)eλx. �

(3.24) Satz Sei p ∈ C[t] ein Polynom vom Grad n der Form p = tn +∑n−1k=0 akt

k, mit npaarweise verschiedenen Nullstellen λ1, ..., λn ∈ C. Dann bilden die Funktionen

ϕk : R −→ C , x 7→ eλkx

ein Fundamentalsystem von Lösungen der linearen Differentialgleichung n-ter Ordnung

p

(∂

∂x

)y = y(n) + an−1y

(n−1) + ...+ a1y′ + a0y = 0.

Beweis: Nach (3.23) gilt p( ∂∂x )ϕk = p(λk)eλkx = 0 für 1 ≤ k ≤ n. Damit ist jede der Funktionen ϕk jedenfalls

eine Lösung der DGL. Zum Nachweis der linearen Unabhängigkeit des Systems verwenden wir (3.21). Für

—– 125 —–

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0 ≤ m < n gilt ϕ(m)k (x) = λmk e

λkx für alle x ∈ R. Die Wronski-Determinante an der Stelle x0 = 0 ist alsogegeben durch

W (0) = det

1 1 · · · 1

λ1 λ2 ... λn...

......

λn−11 λn−1

2 · · · λn−1n

Es handelt sich um eine sogenannte Vandermonde-Determinante. Durch vollständige Induktion über n zeigtman leicht, dass

detW (0) =∏i>j

(λi − λj) 6= 0 gilt.

Also sind die Lösungen ϕ1, ..., ϕn tatsächlich linear unabhängig. �

Beispiel 1: Wir betrachten die DGL y′′′ − y′′ − 2y′ = 0. Das entsprechende Polynom p ist gegeben durch

p = t3 − t2 − 2t = t(t+ 1)(t− 2) ,

und die Nullstellen sind λ1 = 0, λ2 = −1 und λ3 = 2. Also ist durch ϕ1(x) = 1, ϕ2(x) = e−x und ϕ3(x) = e2x

ein Fundamentalsystem von Lösungen gegeben.

Beispiel 2: Für beliebiges ω ∈ R+ betrachten wir die DGL y′′ + ω2y = 0. Das zugehörige Polynom ist

p = t2 + ω2 = (t− iω)(t+ iω)

mit den Nullstellen λ1 = iω und λ2 = −iω. Damit ist durch ϕ1(x) = eiωx und ϕ2(x) = e−iωx ein Fundamental-system von Lösungen gegeben.

In physikalischen Anwendungen ist man häufig eher an einem reellwertigen System von Lösungen interes-siert. Wir bilden dazu die Linearkombinationen

ψ1(x) = 12ϕ1(x) + 1

2ϕ2(x) = 12 (cos(ωx) + i sin(ωx)) + 1

2 (cos(ωx)− i sin(ωx))

= cos(ωx)

undψ2(x) =

1

2iϕ1(x)− 1

2iϕ2(x) = sin(ωx).

Auch (ψ1, ψ2) ist eine Basis des Lösungsraums. Die Matrix des Basiswechsels von (ψ1, ψ2) nach (ϕ1, ϕ2) istgegeben durch

12

(1 −i1 i

)Wir verallgemeinern das Verfahren zur Bestimmung eines Fundamentalsystems von Lösungen nun auf Poly-nome mit mehrfachen Nullstellen, also auf Polynome der Form

p =

r∏i=1

(t− λi)ei ,

wobei λ1, ..., λr ∈ C paarweise verschiedene komplexe Zahlen und e1, ..., er natürliche Zahlen bezeichnen.

—– 126 —–

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(3.25) Lemma Sei λ ∈ C und k ∈ N0. Dann gilt für jede auf einem offenen Intervall I ⊆ Rmindestens k-mal stetig differenzierbare Funktion f : I → C die Gleichung(

∂x− λ)k

(f(x)eλx) = f (k)(x)eλx.

Beweis: Wir beweisen die Aussage durch vollständige Induktion über k. Für k = 0 ist nichts zu zeigen. DenInduktionsschritt von k auf k + 1 erhält man durch die Rechnung(

∂x− λ)k+1

(f(x)eλx) =

(∂

∂x− λ)

(f (k)(x)eλx) =

f (k+1)(x)eλx + f (k)(x)λeλx − λf (k)(x)eλx = f (k+1)(x)eλx. �

Wir im reellwertigen Fall bezeichnen wir eine Funktion g : R → C als Polynomfunktion vom Grad k ∈ N,wenn es Koeffizienten a0, ..., ak ∈ Cmit ak 6= 0 gibt, so dass

g(x) =

k∑i=0

aixi für alle x ∈ R erfüllt ist.

(3.26) Lemma Sei p ∈ C[t] und λ ∈ C mit p(λ) 6= 0. Ist g : R → C eine Polynomfunktionvom Grad k, dann gibt es eine weitere Polynomfunktion h : R→ C vom selben Grad mit

p

(∂

∂x

)(g(x)eλx) = h(x)eλx für alle x ∈ R.

Beweis: Sei p vom Grad n. Wir schreiben p in der Form p =∑ni=0 ci(t − λ)i, mit geeigneten Koeffizienten

ci ∈ C. Dies ist möglich, da die Polynome gi = (t − λ)i mit 0 ≤ i ≤ n über C linear unabhängig sind. Wegenp(λ) 6= 0 ist c0 6= 0. Nun gilt auf Grund des vorherigen Lemmas

p

(∂

∂x

)(g(x)eλx) =

n∑i=0

ci

(∂

∂x− λ

)i(g(x)eλx) =

n∑i=0

cig(i)(x)eλx.

Die gesuchte Polynomfunktion h ist also durch h(x) =∑ni=0 cig

(i)(x) gegeben. �

(3.27) Satz Sei p ∈ C[t] ein Polynom der Form∏ri=1(t− λi)ei , mit paarweise verschiede-

nen λ1, ..., λr ∈ C und e1, ..., er ∈ N. Dann besitzt die Differentialgleichung p( ∂∂x )y = 0 ein

Fundamentalsystem von Lösungen bestehend aus den Funktionen

ϕim(x) = xmeλix , 0 ≤ m < ei , 1 ≤ i ≤ r.

Beweis: Wir zeigen zunächst, dass die Funktionen ϕim tatsächlich Lösungen der DGL sind. Für 1 ≤ i ≤ m seidas Polynom qi ∈ C[t] jeweils der Faktor in der Zerlegung p = (t − λi)eiqi. Auf Grund von (3.25) und wegenei > m gilt

p

(∂

∂x

)ϕim = qi

(∂

∂x

)(∂

∂x− λi

)ei(xmeλix) = qi

(∂

∂x

)((∂

∂x

)ei(xm) · eλix

)= 0.

—– 127 —–

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Nun beweisen wir noch die lineare Unabhängigkeit des Systems. Eine beliebige Linearkombination der Funk-tionen ϕim kann in der Form

r∑i=1

gi(x)eλix

dargestellt werden, mit geeigneten Polynomfunktionen gi vom Grad≤ ei− 1. Zu zeigen ist, dass diese Linear-kombination nur dann gleich Null ist, wenn alle Polynomfunktionen gleich Null sind. Wir zeigen dies durchvollständige Induktion über r. Aus g1(x)eλ1x = 0 für alle x ∈ R folgt offenbar g1 = 0. Setzen wir nun dieAussage für r − 1 als gültig voraus, und sei

r∑i=1

gi(x)eλix = 0.

Wenn eine der Polynomfunktionen gi gleich Null ist, folgt die Behauptung unmittelbar aus der Induktions-voraussetzung. Ansonsten wenden wir den Differentialoperator D = ( ∂

∂x − λr)er auf die Gleichung an. Dann

verschwindet der letzte Summand wegen (3.25) und g(er)r (x) = 0, und nach (3.26) gibt es Polynomfunktionen

hi desselben Grades wie gi mit D(gi(x)eλix) = hi(x)eλix für 1 ≤ i ≤ r − 1. Wir erhalten die Gleichung

r−1∑i=1

hi(x)eλix = 0.

Da alle hi 6= 0 sind, widerspricht dies der Induktionsvoraussetzung. Also muss bereits gi = 0 für 1 ≤ i ≤ r

gelten. �

Beispiel: Wir betrachten die DGL y(4) + 8y′′ + 16y = 0. Das zugehörige Polynom ist

p = t4 + 8t2 + 16 = (t2 + 4)2 = (t− 2i)2(t+ 2i)2.

Die beiden Nullstellen sind also λ1 = 2i und λ2 = −2i, mit Vielfachheiten e1 = e2 = 2. Auf Grund des Satzesist also durch

ϕ1,0(x) = e2ix , ϕ1,1(x) = xe2ix , ϕ2,0(x) = e−2ix , ϕ2,1(x) = xe−2ix

ein Fundamentalsystem von Lösungen gegeben. Um ein System aus reellwertigen Funktionen zu erhalten,bilden wir die Linearkombinationen

ψ1(x) = 12ϕ1,0(x) + 1

2ϕ2,0(x) = 12e

2ix + 12e−2ix =

12 (cos(2x) + i sin(2x)) + 1

2 (cos(2x)− i sin(2x)) = cos(2x)

ψ2(x) = 12iϕ1,0(x)− 1

2iϕ2,0(x) = 12ie

2ix − 12ie−2ix =

12i (cos(2x) + i sin(2x))− 1

2i (cos(2x)− i sin(2x)) = sin(2x)

ψ3(x) = 12ϕ1,1(x) + 1

2ϕ2,1(x) = 12xe

2ix + 12xe−2ix =

12 (x cos(2x) + ix sin(2x)) + 1

2 (x cos(2x)− ix sin(2x)) = x cos(2x)

ψ4(x) = 12iϕ1,1(x)− 1

2iϕ2,1(x) = 12ixe

2ix − 12ixe

−2ix =

12i (x cos(2x) + ix sin(2x))− 1

2i (x cos(2x)− ix sin(2x)) = x sin(2x)

—– 128 —–

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Auch (ψ1, ψ2, ψ3, ψ4) ist ein Fundamentalsystem von Lösungen, wie man zum Beispiel durch Berechnung derWronski-Determinante im Nullpunkt unmittelbar überprüft: Die höheren Ableitungen der Funktionen sindgegeben durch

ψ′1(x) = −2 sin(2x) , ψ′′1 (x) = −4 cos(2x) , ψ′′′1 (x) = 8 sin(2x)

ψ′2(x) = 2 cos(2x) , ψ′′2 (x) = −4 sin(2x) , ψ′′′2 (x) = −8 cos(2x)

ψ′3(x) = cos(2x)− 2x sin(2x) , ψ′′3 (x) = −6 sin(2x)− 4x cos(2x) , ψ′′′3 (x) = −16 cos(2x) + 8x sin(2x)

ψ′4(x) = sin(2x) + 2x cos(2x) , ψ′′4 (x) = 6 cos(2x)− 4x sin(2x) , ψ′′′4 (x) = −16 sin(2x)− 8x cos(2x)

und somit

W (0) = det

ψ1(0) ψ2(0) ψ3(0) ψ4(0)

ψ′1(0) ψ′2(0) ψ′3(0) ψ′4(0)

ψ′′1 (0) ψ′′2 (0) ψ′′3 (0) ψ′′4 (0)

ψ′′′1 (0) ψ′′′2 (0) ψ′′′3 (0) ψ′′′4 (0)

= det

1 0 0 0

0 2 1 0

−4 0 0 6

0 −8 −16 0

= 144 6= 0.

Nach (3.21) ist das System linear unabhängig und somit ein Fundamentalsystem.

Betrachten wir nun inhomogene Differentialgleichungen n-ter Ordnung, also Gleichungen der Form

p

(∂

∂x

)y = b(x)

mit einer stetigen Funktion b : I → C auf einem Intervall I ⊆ R. In dieser allgemeinen Situation kann ei-ne Lösung bestimmt werden, indem man die Gleichung in ein System erster Ordnung übersetzt und daraufdie Variation der Konstanten anwendet (3.19). Besitzt die Funktion b aber eine spezielle Form, gibt es eineneinfacheren Weg. Zunächst bemerken wir

(3.28) Lemma Seien m ∈ N, b1, ..., bm : I → C stetige Funktionen auf einem IntervallI ⊆ R und p ∈ C[t]. Für 1 ≤ i ≤ m sei ψj eine Lösung der DGL p( ∂

∂x )y = bj(x). Dann istψ(x) =

∑mj=1 λjψj(x) eine Lösung von p( ∂

∂x )y = b(x) mit b =∑mj=1 λjbj .

Beweis: Aus der Linearität des Operators ∂∂x folgt unmittelbar die Linearität von p( ∂

∂x ), d.h. für hinreichendoft differenzierbare Funktionen ψ, ψ und λ ∈ C gilt

p

(∂

∂x

)(ψ + ψ) = p

(∂

∂x

)(ψ) + p

(∂

∂x

)(ψ) und p

(∂

∂x

)(λψ) = λp

(∂

∂x

)(ψ).

Damit ergibt sich die Aussage aus der Rechnung

p

(∂

∂x

) m∑j=1

λjψj(x)

=

m∑j=1

λjp

(∂

∂x

)(ψj(x)) =

m∑j=1

λjbj(x) = b(x). �

(3.29) Satz Seien p ∈ C[t], c ∈ C und µ ∈ Cmit p(µ) 6= 0.

(i) Die DGL p(∂∂x

)y = ceµx hat ψ(x) = c

p(µ)eµx als Lösung.

(ii) Sei allgemeiner m ∈ N und f : R → C eine Polynomfunktion vom Grad m.Dann hat die DGL p

(∂∂x

)y = f(x)eµx eine Lösung der Form ψ(x) = g(x)eµx,

mit einer geeigneten Polynomfunktion g vom Grad m.

—– 129 —–

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Beweis: zu (i) Dies folgt direkt aus der Rechnung

p

(∂

∂x

)ψ(x) = p

(∂

∂x

)c

p(µ)eµx =

cp(µ)

p(µ)eµx = ceµx ,

wobei im zweiten Schritt (3.23) (ii) angewendet wurde.

zu (ii) Hier führen wir den Beweis durch vollständige Induktion über m = grad(f), wobei der Fall m = 0

durch (i) bereits erledigt ist. Sei nun m ∈ N, und setzen wir die Aussage für Polynomfunktionen vom Grad≤ m− 1 voraus. Nach (3.26) existiert eine Polynomfunktion f0 vom Grad m mit

p

(∂

∂x

)(xmeµx) = f0(x)eµx.

Für ein geeignetes c ∈ C ist f1 = f − cf0 eine Polynomfunktion vom Grad ≤ m − 1. Wir können die Indukti-onsvoraussetzung anwenden und erhalten eine Polynomfunktion g1 vom Grad ≤ m− 1 mit

p

(∂

∂x

)(g1(x)eµx) = f1(x)eµx.

Setzen wir nun g(x) = cxm + g1(x), dann ist g eine Polynomfunktion vom Grad m, und es gilt

p

(∂

∂x

)(g(x)eµx) = cp

(∂

∂x

)(xmeµx) + p

(∂

∂x

)(g1(x)eµx) =

cf0(x)eµx + f1(x)eµx = f(x)eµx. �

Beispiel: Wir bestimmen eine Lösung der DGL dritter Ordnung

y′′′ − 2y′′ − 2y′ + 2y = 2 sin(x).

Setzen wir p = x3−2x2−2x+2, dann erhält man diese Gleichung wegen eix = cos(x)+i sin(x) als Imaginärteilvon

p

(∂

∂x

)y = 2eix.

Es gilt p(i) = i3 − 2i2 − 2i + 2 = −i + 2 − 2i + 2 = 4 − 3i 6= 0. Nach (3.29) (i) ist ψC(x) = 2p(i)e

ix eine Lösungder komplexen DGL. Wegen

2

p(i)=

2

4− 3i=

2(4 + 3i)

(4− 3i)(4 + 3i)= 1

25 (8 + 6i)

gilt

ψC(x) = 125 (8 + 6i)(cos(x) + i sin(x)) =

(825 cos(x)− 6

25 sin(x))

+ i(

625 cos(x) + 8

25 sin(x)).

Also ist der Imaginärteil von ψC(x), und damit eine Lösung der reellen Ausgangsgleichung, gegeben durch

ψ(x) = 625 cos(x) + 8

25 sin(x).

—– 130 —–

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(3.30) Definition Ein homogenes System linearer DGL mit konstanten Koeffizienten isteine Gleichung der Form y′ = Ay, wobei A = (aij) eine komplexe n×n-Matrix bezeichnet.In ausgeschriebener Form handelt es sich also um das System

y′i =

n∑j=1

aijyj , 1 ≤ i ≤ n

von Differentialgleichungen.

Aus (3.17) ist bekannt, dass der Lösungsraum von y′ = Ay ein n-dimensionaler C-Vektorraum ist. Um diesenzu beschreiben, wiederholen wir einige Begriffe aus der Linearen Algebra. Ist A ∈Mn,C und λ ∈ C, so nenntman v ∈ Cn einen Eigenvektor der MatrixA zum Eigenwert λ, wennAv = λv und v 6= 0Cn gilt. Man bezeichnetA als diagonalisierbar, wenn A ähnlich zu einer Diagonalmatrix ist. Dies bedeutet, dass eine DiagonalmatrixD ∈Mn,C und eine invertierbare Matrix S ∈ GLn(C) existieren, so dass

D = SAS−1 erfüllt ist.

Eine Matrix A ist genau dann diagonalisierbar, wenn eine Basis von Cn existiert, die ausschließlich aus Eigen-vektoren von A besteht.

(3.31) Satz Sei A ∈Mn,C.

(i) Ist λ ∈ C ein Eigenwert von A und v ∈ Cn ein zugehöriger Eigenvektor, dannist ϕ : R→ Cn, x 7→ eλxv eine Lösung von y′ = Ay.

(ii) Setzen wir nun voraus, dass A diagonalisierbar ist. Sei (v1, ..., vn) eine Basisvon bestehend aus Eigenvektoren vk ∈ Cn von A, und seien λ1, ..., λn ∈ C diezugehörigen Eigenwerte. Dann bilden die Funktionen ϕk : R → Cn gegebendurch ϕk(x) = eλkxvk für 1 ≤ k ≤ n ein Fundamentalsystem für y′ = Ay.

(iii) Sei S ∈ GLn(C) und B = SAS−1. Genau dann ist ϕ : R → Cn eine Lösungvon y′ = Ay, wenn ψ : R→ Cn gegeben durch ψ(x) = Sϕ(x) eine Lösung vonz′ = Bz ist.

Beweis: zu (i) Für alle x ∈ R gilt

ϕ′(x) = λveλx = Aveλx = Aϕ(x).

zu (ii) Dies folgt aus der Tatsache, dass die Startvektoren ϕk(0) = vk und somit auch die Lösungsfunktionenϕ1, ..., ϕn linear unabhängig sind, siehe (3.17).

zu (iii) Für alle x ∈ R gilt ψ′(x) = Sϕ′(x). Daraus folgt die Äquivalenz

ϕ′(x) = Aϕ(x) ⇔ S−1ψ′(x) = AS−1ψ(x) ⇔ SS−1ψ′(x) = SAS−1ψ(x) ⇔ ψ′(x) = Bψ(x). �

—– 131 —–

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Aus Teil (iii) des Satzes ergibt sich das folgende Lösungsschema für Systeme der Form y′ = Ay mit diagona-lisierbarer Matrix A ∈ Mn,C: Zunächst bestimmt man mit den Methoden der Linearen Algebra eine MatrixS ∈ GLn(C), so dassD = SAS−1 eine Diagonalmatrix ist. Sind dann λ1, ..., λn die Einträge auf der Diagonalenvon D, dann bilden die Funktionen

ϕk(x) = eλkxSek , 1 ≤ k ≤ n

ein Fundamentalsystem für y′ = Ay.

Zur Illustration diskutieren wir die möglichen Lösungen für eine DGL der Form y′ = Ay mit A ∈M2,R.

1. Fall: A ist über R diagonalisierbar

In diesem Fall besitzt A zwei linear unabhängige Eigenvektoren v1, v2 ∈ R2 mit zugehörigen Eigenwertenλ1, λ2 ∈ R. Nach (3.31) (ii) bilden die Funktionen ϕ1(x) = eλ1xv1 und ϕ2(x) = eλ2xv2 ein Fundamentalsystemfür y′ = Ay. Dabei ist sowohl λ1 = λ2 als auch λ1 6= λ2 möglich.

2. Fall: A ist über C, aber nicht über R diagonalisierbar

Hier besitzt A ein Paar (λ, λ) von konjugiert-komplexen Eigenvektoren, mit λ ∈ C \ R. Ist v = u + iw ∈ C2

ein Eigenvektor zum Eigenwert λ (mit u,w ∈ R2), dann ist der konjugiert-komplexe Vektor v = u − iw einEigenvektor zu Eigenwert λ. Die Funktionen

ϕ1(x) = eλxv , ϕ2(x) = eλxv

bilden ein komplexes Fundamentalsystem für y′ = Ay. Zerlegen wir den Eigenwert λ in Real- und Imaginär-teil, λ = µ+ iω mit µ, ω ∈ R, dann erhält man durch

ψ1(x) = 12 (ϕ1(x) + ϕ2(x)) = 1

2eλxv + 1

2eλxv = 1

2e(µ+iω)x(u+ iw) + 1

2e(µ−iω)x(u− iw)

= 12eµx(cos(ω) + i sin(ω))(u+ iw) + 1

2eµx(cos(ω)− i sin(ω))(u− iw)

= 12eµx (cos(ω)u− sin(ω)w + i sin(ω)u+ i cos(ω)w) + 1

2eµx (cos(ω)u− sin(ω)w − i sin(ω)u− i cos(ω)w)

= eµx(cos(ωx)u− sin(ωx)w)

und ψ2(x) = 12i (ϕ1(x)− ϕ2(x)) = eµx(sin(ωx)u+ cos(ωx)w) ein reelles Fundamentalsystem.

3. Fall: A ist über C nicht diagonalisierbar

Dann hat A nur einen Eigenwert λ ∈ R. Aus der Theorie der Jordanschen Normalformen ist bekannt, dasseine Matrix S ∈ GL2(R) mit

SAS−1 =

(λ 1

0 λ

)existiert.

Sei B = SAS−1. Wie man leicht nachrechnet, bilden dann die Funktionen

ψ1(x) = eλx

(1

0

), ψ2(x) = eλx

(x

1

)

ein (reelles) Fundamentalsystem für z′ = Bz. Mit (3.31) (iii) erhält man das Fundamentalsystem ϕ1(x) =

Sψ1(x), ϕ2(x) = Sψ2(x) für die Ausgangsgleichung y′ = Ay.

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Das letzte Beispiel soll nun auf beliebige Dimension verallgemeinert werden. In der Linearen Algebra wurdeder Begriff der Jordanmatrix eingeführt. Dabei handelt es sich um eine n× n-Matrix der Form

J =

λ 1 0 · · · 0

0 λ 1 · · · 0

0 0. . . . . .

0 0 0 λ 1

0 0 0 0 λ

wobei λ ∈ C ist. Eine Funktion ψ : R → Cn ist genau dann Lösung des Systems y′ = Jy, wenn die n

Komponenten von ψ die Gleichungen

ψ′1 = λψ1 + ψ2 , ψ′2 = λψ2 + ψ3 , ... , ψ′n−1 = λψn−1 + ψn , ψ′n = λψn

erfüllen. Ein Fundamentalsystem eines solchen Systems in Matrixschreibweise, also eine matrix-wertige Funk-tion Φ : R→Mn,C mit Φ′(t) = JΦ(t) für alle t ∈ R ist gegeben durch

Φ(t) =

eλt teλt 12! t

2eλt · · · 1(n−1)! t

n−1eλt

0 eλt teλt · · · 1(n−2)! t

n−2eλt

0 0 eλt · · · 1(n−3)! t

n−3eλt

......

......

0 0 0 · · · eλt

Diese Matrix kann in kompakter Form als Bild der matrix-wertigen Exponentialfunktion angegeben: Es gilt

Φ(t) = etJ =

∞∑m=0

1

m!(tJ)m ,

d.h. die rechts angegebene Reihe konvergiert im C-Vektoraum Mn,C gegen Φ(t). Wir werden dies aus Zeit-gründen hier aber nicht näher ausführen. Die einzelnen Spalten ϕ1, ..., ϕn von Φ sind gegeben durch

ϕ`(t) =∑j=1

1

(`− j)!t`−jeλtej ,

wobei e1, ..., en die Einheitsvektoren im Cn bezeichnen. Jede Spalte ist tatsächlich eine Lösung von y′ = Jy.Denn für 1 ≤ j ≤ ` ist die j-te Komponente von ϕ` gegeben durch ϕj`(t) = 1

(`−j)! t`−jeλt, und durch ϕj`(t) = 0

für j > `. Für 1 ≤ j < ` gilt jeweils

ϕ′j`(t) =`− j

(`− j)!t`−jeλt +

1

(`− j)!t`−jλeλt =

1

(`− j − 1)!t`−j−1eλt +

1

(`− j)!t`−jλeλt

= ϕj+1,`(t) + λϕj`(t).

Ebenso erfüllt ϕ`,`(t) = eλte` die Gleichung ϕ′``(t) = λeλte` = λϕ``(t)+ϕ`+1,`(t) für ` < n bzw. ϕ′``(t) = λϕ``(t)

für ` = n. Außerdem ist Φ(0) die Einheitsmatrix, für die Wronski-Determinante gilt also W (0) = det Φ(0) =

1 6= 0. Dies zeigt, dass es sich bei Φ tatsächlich um ein Fundamentalsystem handelt.

—– 133 —–

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Wie in der Linearen Algebra definiert wurde, befindet sich eine n × n-Matrix A ∈ Mn,C in Jordanscher Nor-malform, wenn sie aus Jordanmatrizen entlang der Hauptdiagonalen zusammengesetzt ist. Man bezeichnetdiese Jordanmatrizen dann auch als Jordanblöcke. Zum Beispiel ist

A =

2 1 0 0 0 0

0 2 1 0 0 0

0 0 2 0 0 0

0 0 0 2 0 0

0 0 0 0 3 1

0 0 0 0 0 3

eine solche Matrix. Auch für das System y′ = Ay zu einer solchen Matrix A kann leicht ein Fundamentalsy-stem angegeben werden: Die Blockgestalt ermöglicht eine Zerlegung in mehrere Teilsysteme, eines für jedenJordanblock. Jedes dieser Teilsysteme kann dann mit dem oben angegebenen Fundamentalsystem gelöst wer-den.

Bekanntlich ist jede n × n-Matrix A über C ähnlich zu einer Matrix in Jordanscher Normalform; es gibt alsostets eine Matrix S ∈ GLn(C) mit der Eigenschaft, dass B = SAS−1 sich in Jordanscher Normalform befindet.Die Lösung von y′ = Ay kann dann wie in Satz (3.31) auf die Lösung von y′ = By zurückgeführt werden.

Beispiel: Wir betrachten das lineare System y′1 = y1 + y2, y′2 = y2, y′3 = 2y3 + y4, y′4 = 2y4. In Matrixschreib-weise lautet das System y′ = Ay mit

A =

1 1 0 0

0 1 0 0

0 0 2 1

0 0 0 2

.

Es handelt sich also um eine Matrix in Jordanscher Normalform. Auf Grund der allgemeinen Formel von obenist durch

ϕ1(t) = et

1

0

0

0

, ϕ2(t) = et

t

1

0

0

, ϕ3(t) = e2t

0

0

1

0

, ϕ4(t) = e2t

0

0

t

1

ein Fundamentalsystem von Lösungen definiert. Wir überprüfen exemplarisch, dass ϕ4 eine Lösung ist, wobeidie einzelnen Komponenten durch ϕ14(t) = ϕ24(t) = 0, ϕ34(t) = te2λt und ϕ44(t) = e2t gegeben sind. DieGleichungen ϕ′14(t) = ϕ14(t) + ϕ24(t) und ϕ′24(t) = ϕ24(t) sind offenbar erfüllt, und ebenso leicht sieht man

ϕ′34(t) = e2λt + 2te2λt = 2ϕ34(t) + ϕ44(t)

und ϕ′44(t) = 2eλt = 2ϕ44(t).

—– 134 —–

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3.4 Exakte Differentialgleichungen und autonome Systeme

Inhaltsübersicht

FF Exakte Differentialgleichungen lassen sich schnell durch Bestimmung einer Stammfunktion lösen.

FF Nicht-exakte DGLs können gelegentlich durch Multiplikation mit einem sog. integrierenden Faktor in exakteDGLs überführt werden.

FF Ebene autonome Systeme sind zweidimensionale Systeme von DGLs der Form y′ = f(y), bei denen die rechteSeite nicht explizit von x abhängt. Ähnlich wie die exakten DGLs können diese durch Bestimmung von sog.Erhaltungsgrößen gelöst werden.

Bisher haben wir nur Differentialgleichungen (oder Systeme von Differentialgleichungen) mit y′ als Einzeltermauf der linken Seite der Gleichung betrachtet. Für die Anwendungen in diesem Abschnitt ist es zweckmäßig,von dieser starren Vorgabe abzuweichen und auch DGLs der Form

f(x, y)y′ + g(x, y) = 0

zuzulassen, mit reellwertigen, stetigen Funktionen f, g auf einer offenen Teilmenge D ⊆ R2. Als Lösung einersolchen DGL bezeichnen wir eine stetig differenzierbare Funktion ϕ : I → R auf einem offenen Intervall I ⊆ Rmit f(t, ϕ(t))ϕ′(t) + g(t, ϕ(t)) = 0 für alle t ∈ I .

(3.32) Definition Eine Differentialgleichung der oben angegebenen Form wird exaktgenannt, wenn eine stetig differenzierbare Funktion F : D → R mit ∂1F = g und ∂2F = f

existiert. Eine solche Funktion wird Stammfunktion der DGL genannt.

Die einfache Lösbarkeit exakter DGLs mit Stammfunktion ist eine Konsequenz aus der folgenden, elementarenBeobachtung.

(3.33) Proposition Sei F : D → R eine Stammfunktion der DGL f(x, y)y′ + g(x, y) = 0.Eine stetig differenzierbare Funktion ϕ : I → R auf einem offenen Intervall I ⊆ R mit(t, ϕ(t)) ∈ D für alle t ∈ I ist genau dann eine Lösung der DGL, wenn t 7→ F (t, ϕ(t)) aufganz I konstant ist.

Beweis: Wir definieren die Funktion u : I → D durch u(t) = (t, ϕ(t)). Dann gilt u′(t) = (1, ϕ′(t)), F (t, ϕ(t)) =

(F ◦ u)(t), und mit der mehrdimensionalen Kettenregel erhalten wir

(F ◦ u)′(t) = F ′(u(t))u′(t) =(∂1F (u(t)) ∂2F (u(t))

)( 1

ϕ′(t)

)=

∂1F (t, ϕ(t)) + ∂2F (t, ϕ(t))ϕ′(t) = g(t, ϕ(t)) + f(t, ϕ(t))ϕ′(t).

für alle t ∈ I . Ist nun t 7→ F (t, ϕ(t)) konstant, dann folgt (F ◦ u)′(t) = 0 und g(t, ϕ(t)) + f(t, ϕ(t)) = 0 für allet ∈ I . Also ist ϕ dann eine Lösung der DGL. Setzen wir umgekehrt die Lösungseigenschaft voraus, dann folgt(F ◦ u)′(t) = 0 für alle t ∈ I und somit die Konstanz von t 7→ F (t, ϕ(t)). �

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Eine Lösung der exakten DGL erhält man also, in dem man für eine beliebige Konstante c die GleichungF (t, y) = C nach y auflöst. Es stellt nun natürlich die Frage, unter welchen Bedingungen eine Stammfunktionexistiert, und wie man sie im Falle der Existenz ermittelt. Der folgende Satz beantwortet diese Frage in derspeziellen Situation, dass die Funktionen f und g stetig differenzierbar und auf einem rechteckigen Bereichdefiniert sind.

(3.34) Satz Seien a, b, c, d ∈ R mit a < b, c < d und D = ]a, b[ × ]c, d[. Außerdem seienf, g : D → R stetig differenzierbare Funktionen. Unter diesen Voraussetzungen ist die DGL

f(x, y)y′ + g(x, y) = 0

genau dann exakt, wenn ∂2g = ∂1f auf ganzD erfüllt ist. Für beliebig vorgegebenes (u, v) ∈D ist dann durch

F (x, y) =

∫ x

u

g(s, y) ds+

∫ y

v

f(u, t) dt

eine Stammfunktion der DGL definiert.

Beweis: Setzen wir voraus, dass die DGL exakt und F eine Stammfunktion ist. Dann ist die Funktion F stetigpartiell differenzierbar, und mit dem Satz von Schwarz aus der Analysis mehrerer Variablen erhalten wir

∂2g − ∂1f = ∂2(∂1F )− ∂1(∂2F ) = ∂21F − ∂12F = 0.

Nun setzen wir die Gleichung ∂2g = ∂1f voraus und zeigen, dass durch die angegebene Gleichung für F eineStammfunktion der DGL gegeben ist. Auf Grund des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung gilt∂1F (x, y) = g(x, y) für alle (x, y) ∈ D. Durch Differentiation unter dem Integralzeichen und erneute Anwen-dung des Hauptsatzes erhalten wir außerdem

∂2F (x, y) =

∫ x

u

∂2g(s, y) ds+ f(u, y)

=

∫ x

u

∂1f(s, y) ds+ f(u, y) = f(x, y)− f(u, y) + f(u, y) = f(x, y) �

Alternativ hätte man die Stammfunktion auch durch

F (x, y) =

∫ x

u

g(s, v) ds+

∫ y

v

f(x, t) dt

definieren können. Der Nachweis, dass es sich hierbei tatsächlich um eine Stammfunktion der DGL handelt,läuft vollkommen analog.

—– 136 —–

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Zur Illustration der bisher behandelten Sätze betrachten wir die DGL

2xyy′ + y2 = 0.

Der Definitionsbereich ist in diesem Fall D = R2, und die definierenden Funktionen der DGL sind gegebendurch f(x, y) = 2xy und g(x, y) = y2. Wegen ∂2g = 2y = ∂1f ist die DGL exakt. Sei nun (u, v) ∈ R2 beliebigvorgegeben. Wir bestimmen eine Stammfunktion F mit F (a, b) = 0. Für alle (x, y) ∈ R2 gilt

F (x, y) =

∫ x

u

y2 ds+

∫ y

v

2ut dt = (x− u)y2 +[ut2]yv

= (x− u)y2 + uy2 − uv2 = xy2 − uv2.

Ist nun ϕ : I → R eine Lösungsfunktion durch den Punkt (u, v), also definiert auf einem offenen Intervall I ⊆Rmit u ∈ I und v = ϕ(u), dann ist F auf der Menge {(t, ϕ(t))|t ∈ I} konstant Null. Es gilt also tϕ(t)2−uv2 = 0

für alle t ∈ I .

Durch Umstellen dieser Gleichung nach ϕ erhalten wir nun tatsächlich in jedem Fall eine Lösungsfunktion. Istu = 0, dann ist die Nullfunktion offenbar eine Lösung durch den Punkt (0, 0). Im Fall u > 0 definieren wirϕ : R+ → R durch ϕ(t) =

√uvt−

12 . Für jedes t ∈ R+ gilt ϕ′(t) = (− 1

2 )√uvt−

32 , also zeigt die Rechnung

2tϕ(t)ϕ′(t) + ϕ(t)2 = 2t ·√uvt−

12 · (− 1

2 )√uvt−

32 + uv2t−1 = −tuv2 · t−2 + uv2t−1 = 0 ,

dass es sich bei φ tatsächlich um eine Lösungsfunktion handelt, mit ϕ(u) =√uvu−

12 = v. Im Fall u < 0 erhält

man eine Lösungsfunktion entsprechend durchϕ(t) =√−uv(−t)− 1

2 . Es gilt dannϕ′(t) = −(− 12 )√−uv(−t)− 3

2 =12

√−uv(−t)− 3

2 und

2tϕ(t)ϕ′(t) + ϕ(t)2 = 2t√−uv(−t)− 1

2 · 12

√−uv(−t)− 3

2 + (−u)v2(−t)−1 =

2t(−u)v2(−t)− 12 · 1

2 (−t)− 32 + uv2t−1 = −tuv2t−2 + uv2t−1 = 0 ,

außerdem ϕ(u) =√−uv(−u)−

12 = v.

Zum Abschluss sei noch erwähnt, dass die meisten DGLs der Form f(x, y)y′ + g(x, y)y = 0 nicht exakt sind,einiger aber durch Multiplikation mit einer geeigneten stetig differenzierbaren Funktion in eine exakte DGLumgewandelt werden können. Dies bedeutet, dass eine stetig differenzierbare Funktion m : D → R existiert,so dass

m(x, y)f(x, y)y′ +m(x, y)g(x, y)y = 0

eine exakte DGL ist. Man nennt eine solche Funktion m einen integrierenden Faktor. Wenden wir uns nuneinem weiteren wichtigen Typ von Differentialgleichungen zu.

(3.35) Definition Sei D ⊆ R2 offen und f : D → R2 eine stetige Funktion. Ein System vonDifferentialgleichungen der Form

y′ = f(y)

wird ebenes autonomes System genannt.

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Ein ebenes autonomes System ist gegenüber einem allgemeinen zweidimensionalen System y′ = g(x, y) da-durch ausgezeichnet, dass die rechte Seite nicht explizit von x abhängt. Ein allgemeines System der angegebe-nen Form, mit einer Funktion g : D → R2 definiert auf einer offenen Teilmenge D ⊆ R3, ist also genau dannein autonomes System, wenn D = R × D für eine offene Teilmenge D ⊆ R2 und g(t1, y) = g(t2, y) für alley ∈ D und t1, t2 ∈ R gilt.

Daraus folgt, dass für jede Lösung ϕ : I → R2 des Systems, definiert auf einem offenen Intervall I ⊆ R2,und für jedes c ∈ R auch die Funktion ϕc : Ic → R2 definiert durch ϕc(x) = ϕ(x + c) auf dem IntervallIc = {x+ c | x ∈ I} eine Lösung des Systems ist. Anschaulich formuliert kann jede Lösungskurve also beliebignach links oder rechts verschoben werden.

(3.36) Definition Sei y′ = f(y) ein autonomes System wie in (3.35). Eine stetig diffe-renzierbare Funktion E : D → R wird Erhaltungsgröße oder Erstes Integral des Systemsgenannt, wenn die Gleichung

∂1E · f1 + ∂2E · f2 = 0

auf ganz D erfüllt ist.

Lösungskurven von autonomen Systeme mit Erhaltungsgrößen liegen stets in Teilmengen von D, auf denendie Erhaltungsgröße einen konstanten Wert annimmt. (Dies erklärt den Namen.) Aus diesem Grund könnensolche Systeme häufig auf ähnliche Weise wie exakte Differentialgleichungen mit Stammfunktion gelöst wer-den.

(3.37) Satz Sei E eine Erhaltungsgröße des autonomen Systems y′ = f(y) und ϕ : I → D

eine Lösung des Systems definiert auf einem offenen Intervall I ⊆ R. Dann ist E auf derBildmenge ϕ(I) konstant, es gibt also ein c ∈ Rmit E(ϕ(t)) = c für alle t ∈ I .

Beweis: Durch Anwendung der mehrdimensionalen Kettenregel erhält man für alle t ∈ I jeweils

(E ◦ ϕ)′(t) = E′(ϕ(t))ϕ′(t) =(∂1E(ϕ(t)) ∂2E(ϕ(t))

)(ϕ′1(t)

ϕ′2(t)

)=

∂1E(ϕ(t))ϕ′1(t) + ∂2E(ϕ(t))ϕ′2(t) = ∂1E(ϕ(t))f1(ϕ(t)) + ∂2E(ϕ(t))f2(ϕ(t)) = 0

wobei im dritten Schritt verwendet wurde, dass ϕ eine Lösung des Systems y′1 = f1(y1, y2), y′2 = f2(y1, y2) ist,und im letzten Schritt die definierende Eigenschaft von E als Erhaltungsgröße. �

(3.38) Definition Eine stetig differenzierbare Funktion H : D → R ist eine Hamilton-Funktion des autonomen Systems y′ = f(y), wenn ∂1H = −f2 und ∂2H = f1 auf ganz Derfüllt ist.

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Offenbar ist jede Hamilton-Funktion H : D → R eines Systems y′ = f(y) auch eine Erhaltungsgröße, dennnach Definition gilt

∂1H · f1 + ∂2H · f2 = (−f2) · f1 + f1 · f2 = 0

auf ganz D. Im letzten Abschnitt zur Funktionentheorie haben wir einfach zusammenhängende Gebiete als of-fene Teilmengen von C definiert. Die Definition lässt sich ohne wesentliche Änderung auf den Rn übertragen.Mit diesem Begriff lässt sich ein notwendiges und hinreichendes Kriterium für die Existenz von Hamilton-Funktionen formulieren.

(3.39) Satz Sei y′ = f(y) ein autonomes System, wobei die Funktion f auf einem einfachzusammenhängenden Gebiet D ⊆ R2 definiert sei. Genau dann existiert eine Hamilton-Funktion des Systems, wenn

∂1f1 + ∂2f2 = 0

auf ganz D erfüllt ist.

Beweis: „⇒“ Ist H eine Hamilton-Funktion des Systems y′ = f(y), dann gilt auf Grund der stetigen Differen-zierbarkeit der Funktion H und des Satzes von Schwarz

∂1f1 + ∂2f2 = ∂1(∂2H) + ∂2(−∂1H) = ∂12H − ∂21H = 0.

„⇐“ Für den Beweis müssen wir auf den Differentialformen-Kalkül zurückgreifen, den wir aus Zeitgründenleider nicht einführen können. Wir betrachten die auf D definierte Differentialform ω = −f2 dx+ f1 dy. DieseDifferentialform ist geschlossen, d.h. es gilt dω = 0, wie die Rechnung

dω = d(−f2 dx+ f1 dy) = −df2 ∧ dx+ df1 ∧ dy =

−∂1f2 dx ∧ dx− ∂2f2 dy ∧ dx+ ∂1f1 dx ∧ dy + ∂2f1 dy ∧ dy =

−∂2f2 dy ∧ dx+ ∂1f1 dx ∧ dy = (∂1f1 + ∂2f2) dx ∧ dy = 0

zeigt. Nach dem sog. Poincaré-Lemma ist jede geschlossene Differentialform auf einem einfach zusammen-hängenden Gebiet exakt, d.h. es gibt eine stetig differenzierbare Funktion H : D → R mit dH = ω. Aus derGleichung

∂1Hdx+ ∂2H dy = dH = ω = −f2 dx+ f1 dy

folgt ∂1H = −f2 und ∂2H = f1. Also ist H eine Hamilton-Funktion des Systems. �

Wir beenden den Abschnitt mit einem klassischen Anwendungsbeispiel aus der Physik und betrachten eineMasse m an einem Fadenpendel der Länge ` = 1. (Der Einfachheit halber verzichten wir auf die Verwen-dung physikalischer Einheiten.) Ziel ist die Bestimmung des Auslenkungswinkels α von m als zeitabhängigeFunktion. Zu jedem Zeitpunkt t wirkt auf m die Gewichtskraft Fg(t) = −mg in z-Richtung (der Höhe), mit derErdbeschleunigung g ≈ 9,81. Diese Kraft setzt sich zusammen aus einer Komponentemg cos(α(t)) in Richtungdes Fadens, die durch die Fadenspannung kompensiert wird, und einer Komponente F (t) = −mg sin(α(t))

entgegen der Bewegungsrichtung. Letztere ist die auf m wirkende Gesamtkraft. Auf Grund des NewtonschenGesetzes F = ma gilt nun

mα′′(t) = F (t) = −mg sin(α(t)) ⇔ α′′(t) = −g sin(α(t)).

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An dieser Stelle wird (beispielsweise im Physikunterricht der Oberstufe) zur Vereinfachung häufig angenom-men, dass die Pendelausschläge klein bleiben, so dass sin(α(t)) ≈ α(t) angenommen werden kann. Man erhältdann α als Lösung der linearen DGL zweiter Ordnung y′′ = −gy mit konstanten Koeffizienten, die sich (wiewir im letzten Abschnitt gesehen haben) leicht mit Hilfe der Sinus- und Kosinusfunktion lösen lässt.

Ohne diese Vereinfachung ist α Lösung der nichtlinearen DGL y′′ = −g sin(y). Diese entspricht dem ebenenautonomen System y′1 = y2, y′2 = −g sin(y1), also y′ = f(y) mit der Funktion f : R2 → R bestehend aus denbeiden Komponenten f1(y1, y2) = y2, f2(y1, y2) = −g sin(y1). Eine Hamilton-Funktion H : R2 → Rmuss nachDefinition die Gleichungen

∂1H(y1, y2) = −g sin(y1) , ∂2H(y1, y2) = y2

erfüllen. Zum Beispiel ist H(y1, y2) = −g cos(y1) + 12y

22 eine solche Funktion.

Die Funktion H besitzt auch eine physikalische Interpretation: Jeder Punkt (y1, y2) ∈ R2 entspricht einem„Zustand“ des Systems, wobei y1 den Auslenkungswinkel der Masse am Faden und y2 dessen Änderung(die momentane Winkelgeschwindigkeit) angibt. Bis auf den konstanten Faktor m ist dann −g cos(y1) die po-tentielle und 1

2y22 die kinetische Energie der Masse. Der Wert H(y1, y2) der Hamiltonfunktion gibt dann die

Gesamtenergie des Systems an. Ist nun β : I → R2 eine Lösung von y′ = f(y), dann ist (H ◦ β)(t) nach Satz(3.37) auf I konstant. Wir haben auf diese Weise den Energieerhaltungssatz für dieses System hergeleitet. EineLösung β : I → R des Systems mit Komponenten β1, β2 erfüllt also

−g cos(β1(t)) + 12β2(t)2 = E ∀ t ∈ I

für einen bestimmten Energiewert E ∈ R+. Leider kann für ein solches β in dieser Situation im Allgemeinenkeine geschlossene Formel angegeben werden. Man kann aber Aufschluss über das qualitative Verhalten derLösungen erhalten, indem man in der Ebene die Mengen {y ∈ R2 | H(y) = E} (die sog. „Niveaulinien“ vonH) für einzelne Werte von E skizziert.

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Literaturverzeichnis

[Ba] M. Barner, F. Flor, Analysis II. de Gruyter Lehrbuch.

[FL] W. Fischer, I. Lieb, Funktionentheorie. vieweg studium - Aufbaukurs Mathematik.

[Fo] O. Forster, Analysis 3. vieweg studium - Grundkurs Mathematik.

[Fr] K. Fritsche, Grundkurs Funktionentheorie. Spektrum Akademischer Verlag.

[He] H. Heuser, Lehrbuch der Analysis, Teil 2. Teubner-Verlag.

[Hi] S. Hildebrandt, Analysis 2. Springer-Verlag.

[Kö] K. Königsberger, Analysis 2. Springer-Verlag.

[Wa] W. Walter, Gewöhnliche Differentialgleichungen. Springer-Verlag.