Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie...

126
Grundz¨ uge der Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver¨ anderte, erg¨ anzte und mit Skizzen versehene Neufassung vom Juni 2004 mit weiteren Korrekturen und Erg¨ anzungen vom Februar 2006

Transcript of Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie...

Page 1: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Grundzuge der

Funktionentheorie

Oswald Riemenschneider

Hamburg 1993

Korrigierte, leicht veranderte, erganzte und mit Skizzen versehene

Neufassung vom Juni 2004mit weiteren Korrekturen und Erganzungen vom Februar 2006

Page 2: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und
Page 3: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Vorwort

Diese Noten reflektieren den Inhalt meiner zweistundigen Vorlesung Grundzuge der Funktionentheorieim Wintersemester 1992/93, die sich stark an das Buch von Ingo Lieb und Wolfgang Fischer1

anschloß. Die Herausgabe des Textes diente in erster Linie dem Zweck, denjenigen Studierenden, diediese Vorlesung nicht gehort hatten, aber in den ,,regularen“ Funktionentheorie–Kurs einsteigen wollten,verlaßlich zu sagen, welche spezifischen Voraussetzungen sie erworben haben sollten. An allgemeinenVoraussetzungen sollte der Leser damals wie heute gute Grundkenntnisse in der Analysis (dazu einigewenige in der Linearen Algebra) mitbringen2, vor allem aber Neugier auf fundamentale Entwicklungenund Erkenntnisse der Reinen Mathematik und elementare Freude am mathematischen Denken.

Eine Neuauflage des Manuskripts entstand aus Anlaß eines von mir im Sommersemester 1999 be-gonnenen Funktionentheorie–Zyklus. Sie unterschied sich inhaltlich nur unwesentlich von der erstenFassung; allerdings habe ich mich damals bemuht, mißverstandliche oder sogar fehlerhafte Formulie-rungen auszumerzen und die eine oder andere erlauternde Bemerkung einzufugen. Hierbei war mir derRat und die Kritik meines damaligen Assistenten Dr. Jorg Schurmann von großer Hilfe. Weiter habeich versucht, die zahlreichen Druckfehler in der ersten Auflage zu eliminieren und keine neuen entstehenzu lassen. Fur die Erstellung der ersten umfangreichen Fehlerliste danke ich den erfreulich aktiven Teil-nehmern an meinem 4–semestrigen Kurs Mathematik fur Studierende der Physik vom Wintersemester1993/94 bis Sommersemester 1995.

Die hier vorgelegte Neufassung vom Juni 2004 ist im Wesentlichen identisch mit der Auflage vomSommer 1999. Ich habe das Manuskript nur an wenigen Stellen sprachlich geglattet und mich bemuht,durch weitere Bemerkungen und Einfugung zusatzlicher Informationen und Losungen von Aufgabendem Leser das Verstandnis des Textes zu erleichtern. Insbesondere wurden Anhange uber komplex–wertige Differentialformen bzw. die Bernoulli–Zahlen eingefugt. Zudem wurden die wenigen Skizzen mitdem Computer erstellt und in den LATEX–file eingebunden; die Literaturliste wurde auf den neuestenStand gebracht. Inhaltlich decken diese Noten etwa die erste Halfte meiner Vorlesung FunktionentheorieI im Sommersemester 2004 ab, wobei einiges nicht vorgetragen wurde, da es schon Gegenstand meinervorhergehenden Vorlesungen uber Analysis war. Der Rest der Vorlesung folgte meinem Manuskript mitdem gleichen Titel3.

Hamburg, den 25. Juni 2004Oswald Riemenschneider

Leider konnte auch in der vorigen Fassung der Fehlerteufel weiterhin sein Unwesen treiben, wiemir beim erneuten Korrekturlesen wahrend eines Kurses uber Funktionentheorie I im Wintersemester2005/06 nicht verborgen bleiben konnte. Die schlimmsten Ungereimtheiten und Druckfehler wurden inder vorliegenden Fassung eliminiert. Ich hoffe, es blieben nicht allzu viele unentdeckt. In Kapitel 11wurden noch einige Beispiele von Berechnungen uneigentlicher Integrale mit Hilfe des Residuenkalkulseingefugt, die im Kurs als Ubungsaufgaben behandelt wurden.

Hamburg, den 12. Februar 2006Oswald Riemenschneider

1Siehe die Literaturliste auf der ubernachsten Seite.2Meine Texte Analysis I, Analysis II, Analysis III und Lineare Algebra liegen als Ps– als auch Pdf–file in jeweils

neuester Fassung auf meiner homepage (fruhere Fassungen stehen auch gebunden in der Bibliothek).3Auch das Manuskript Funktionentheorie I ist in der Bibliothek vorhanden. Es wurde ebenfalls zu Beginn des Som-

mersemesters vollstandig uberarbeitet und wird in jeweils aktueller Version ins Netz gestellt.

Page 4: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i

Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii

Lebensdaten einiger Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . v

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii

1 Der Korper der komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Anhang: Ein konzeptioneller Beweis fur die Einzigkeit von C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11

2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Anhang: Komplexe Differentialformen und der Wirtinger–Kalkul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

4 Elementare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

5 Integration langs Wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

6 Stammfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

7 Die lokalen Cauchyschen Integralformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

8 Potenzreihenentwicklung holomorpher Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

9 Cauchysche Ungleichungen mit Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

10 Laurent–Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Anhang: Bernoulli–Zahlen und Residuenkalkul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

12 Reell–analytische Funktionen mit Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Page 5: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Literatur

[1] Ahlfors, L. V.: Complex Analysis. McGraw–Hill: New York 1966 (2nd edition).

[2] Ash, R. B.: Complex Variables. Academic Press: New York 1971.

[3] Behnke, H. und F. Sommer: Theorie der analytischen Funktionen einer komplexen Veranderlichen.Springer: Berlin 1965 (3. Auflage).

[4] Berenstein, C. A., and R. Gay: Complex Variables. An Introduction. Springer: New York–Berlin–Heidelberg 1991.

[5] Bieberbach, L.: Einfuhrung in die Funktionentheorie. Teubner: Stuttgart 1966 (4. Auflage).

[6] Caratheodory, C.: Funktionentheorie (2 Bande). Birkhauser: Basel 1960 (2. Auflage).

[7] Cartan, H.: Theorie elementaire des fonctions analytiques d’une ou plusieurs variables complexes.Hermann: Paris 1961.

[8] Conway, J. B.: Functions of one complex variable. Springer: New York, Heidelberg, Berlin 1973.

[9] Diederich, K. und R. Remmert: Funktionentheorie I. Springer: Berlin 1972.

[10] Dinghas, A.: Vorlesungen uber Funktionentheorie. Springer: Berlin–Heidelberg–New York 1961.

[11] Fischer, W. und I. Lieb: Funktionentheorie. Komplexe Analysis in einer Veranderlichen. 8., neu-bearbeitete Auflage. vieweg studium - Aufbaukurs Mathematik. Vieweg: Braunschweig 2003.

[12] Freitag, E. und R. Busam: Funktionentheorie. 2. Auflage. Springer: Berlin 1995.

[13] Heins, M.: Complex Function Theory. Academic Press: New York–London 1968.

[14] Henrici, P.: Applied and computational complex analysis (2 Bande). Wiley: New York 1974/77.

[15] Hurwitz, A. und R. Courant: Funktionentheorie. Mit einem Anhang von H. Rohrl. Springer: Berlin1964 (4. Auflage).

[16] Janich, K.: Einfuhrung in die Funktionentheorie. Springer: Berlin 1977.

[17] Knopp, K.: Funktionentheorie (2 Bande). de Gruyter (Sammlung Goschen): Berlin 1970/71(12. Auflage).

[18] Lang, S.: Complex Analysis. 2. Auflage. Springer: Berlin 1999.

[19] Levinson, N. and R. Redheffer: Complex Variables. Holden–Day: San Francisco 1970.

[20] Remmert, R.: Funktionentheorie I. Grundwissen Mathematik 5. Springer: Berlin–Heidelberg–NewYork–Tokyo 1984.

[21] Sansone, G. and J. Gerretsen: Lectures on the theory of functions of a complex variable. I. Holo-morphic functions. Noordhoff: Groningen 1960.

Weiterfuhrende Literatur

[22] Behnke, H. und P. Thullen: Theorie der Funktionen mehrerer komplexer Veranderlichen. Zwei-te, erweiterte Auflage. Ergebnisse der Mathematik und ihrer Grenzgebiete 51. Springer: Berlin–Heidelberg–New York 1970.

Page 6: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

iv Literatur

[23] Fischer, W. und I. Lieb: Ausgewahlte Kapitel aus der Funktionentheorie. Vieweg: Braunschweig1988.

[24] Forster, O.: Riemannsche Flachen. Springer: Berlin–Heidelberg–New York 1977.

[25] Fritzsche, K. and H. Grauert: From holomorphic functions to complex manifolds. Graduate Textsin Mathematics 213. Springer: New York–Berlin–Heidelberg 2002.

[26] Grauert, H. und R. Remmert: Analytische Stellenalgebren. Unter Mitarbeit von O. Riemenschnei-der. Grundlehren der mathematischen Wissenschaften 176. Springer: Berlin–Heidelberg–New York1971.

[27] Grauert, H. and R. Remmert: Coherent analytic sheaves. Grundlehren der mathematischen Wis-senschaften 265. Springer: Berlin–Heidelberg–New York–Tokyo 1984.

[28] Grauert, H. und R. Remmert: Theorie der Steinschen Raume. Grundlehren der mathematischenWissenschaften 227. Springer: Berlin–Heidelberg–New York 1977.

[29] Griffiths, P. and J. Harris: Principles of algebraic geometry. Wiley: New York–Chichester–Brisbane–Toronto 1978.

[30] Gunning, R. C.: Lectures on Riemann surfaces. Princeton Mathematical Notes. Princeton Uni-versity Press: Princeton 1966.

[31] Gunning, R. C.: Riemann surfaces and generalized theta functions. Ergebnisse der Mathematikund ihrer Grenzgebiete 91. Springer: Berlin–Heidelberg–New York 1976.

[32] Gunning, R. C. and H. Rossi: Analytic functions of several complex variables. Prentice Hall:Englewood Cliffs 1965.

[33] Hormander, L.: An introduction to complex analysis in several variables. Van Nostrand: Princeton–Toronto–London 1966.

[34] Imayoshi, Y. and M. Taniguchi: An introduction to Teichmuller spaces. Springer: Tokyo–Berlin–Heidelberg–New York 1992.

[35] Kaup, L. and B. Kaup: Holomorphic functions of several variables. De Gruyter: Berlin 1983.

[36] Klein, F. und R. Fricke: Vorlesungen uber die Theorie der elliptischen Modulfunktionen. ErsterBand. Johnson Reprint Corporation: New York 1966. Erstausgabe bei Teubner 1890.

[37] Remmert, R.: Funktionentheorie 2. Grundwissen Mathematik 6. Springer: Berlin–Heidelberg–NewYork–Tokyo 1992.

[38] Rothstein, W. und K. Kopfermann: Funktionentheorie mehrerer komplexer Veranderlichen. BI–Hochschulverlag: Zurich 1982.

[39] Rudin, W.: Real and complex analysis. McGraw–Hill: New York 1966.

[40] Sansone, G. and J. Gerretsen: Lectures on the theory of functions of a complex variable. II.Geometric theory. Wolters–Noordhoff: Groningen 1969.

[41] Wells, R. 0. Jr.: Differential analysis on complex manifolds. Springer: New York–Heidelberg–Berlin1980.

Page 7: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Lebensdaten einiger Protagonisten

Cardano, G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1501 – 1576Wallis, J. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1616 – 1703Newton, I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1642 – 1727Leibniz, G. W. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1646 – 1717Bernoulli, Jak. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1654 – 1705Taylor, B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1685 – 1731Euler, L. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1707 – 1783d’Alembert, J. B. le Rond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1717 – 1783Wessel, C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1745 – 1818Laplace, P. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1749 – 1827Legendre, A.–M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1752 – 1833Pfaff, J. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1765 – 1825Argand, J. R. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1768 – 1822Gauß, C. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1777 – 1855Bolzano, B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1781 – 1848Poisson, D. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1781 – 1840Cauchy, A. L. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1789 – 1857Sturm, Ch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1803 – 1855Jacobi, C. G. J. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1804 – 1851Lejeune–Dirichlet, P. G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1805 – 1859Liouville, J. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1809 – 1882Laurent, P. A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1813 – 1854Heine, E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1821 – 1882Kronecker, L. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1823 – 1891Weierstraß, K. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1825 – 1897Riemann, B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1826 – 1866Rouche, E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1832 – 1910Casorati, F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1835 – 1890Jordan, C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1838 – 1921Schwarz, H. A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1843 – 1921Mittag–Leffler, G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1846 – 1927Poincare, H. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1854 – 1912Morera, G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1856 – 1909Picard, E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1856 – 1941Runge, C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1856 – 1927Goursat, E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1858 – 1936Hurwitz, A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1859 – 1919Hadamard, J. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1865 – 1963Wirtinger, W. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1865 – 1945Borel, E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1871 – 1956Vitali, G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1875 – 1932Montel, P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1876 – 1975

Page 8: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und
Page 9: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Einleitung

Schon L. Euler hatte die grundlegende Idee, die komplexen Zahlen zum Studium allgemeiner Funk-tionen heranzuziehen. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis die komplexen Zahlen (nach Vorarbeiten vonGauß, Cauchy und anderen) systematisch beim Aufbau der Funktionentheorie verwendet wurden(Cauchy ab 1814; Riemann ab 1851; Einfuhrung des Symbols i durch Euler schon 1777). Hinzu kam,daß durch Arbeiten von Fourier die bis dahin gultige Auffassung, daß Funktionen ,,Rechenausdrucke“seien, hinfallig wurde, und man klaren mußte, was Funktionen uberhaupt sein sollten. Geklart (oderbesser gesagt: vorlaufig entschieden) wurde diese Frage durch Weierstraß, der forderte, daß man nuranalytische Funktionen betrachten sollte, also solche, die lokal in konvergente Potenzreihen entwickel-bar sind. ,,Funktionentheorie“ ist somit nichts anderes als die Theorie der analytischen Funktionen imKomplexen; die klassische Bezeichnung wird verstandlich, wenn man sich klarmacht, daß gewisse Eigen-schaften reell–analytischer Funktionen nur erklart werden konnen, wenn man sie in naturlicher Weiseins Komplexe fortsetzt und dort studiert.

Man betrachte z. B. die Funktionen

f (x) = exp (x) = ex , g (x) =1

1 + x2.

Figur E.1

Beide sind auf ganz R analytisch. Die Potenzreihenentwicklung um den Ursprung 0 sehen wie folgtaus:

ex =∞∑

j=0

1j!

xj ,1

1 + x2=

∞∑

j=0

(−1)j x2j .

Im ersten Fall ist der Konvergenzradius unendlich groß, wahrend er im zweiten Fall gleich 1 ist, wie ausder Cauchy–Hadamardschen Formel folgt. Entwickelt man um einen beliebigen anderen Punkt x0 ,so verandert sich der Konvergenzradius nicht fur die Exponentialfunktion, muß aber bei der zweitenFunktion durch

√1 + x2

0 ersetzt werden. Dieses Phanomen laßt sich grundsatzlich nicht verstehen,wenn man darauf beharrt, die Funktionen nur im Reellen zu studieren.

Eine befriedigende Erklarung liefert die Cauchy–Riemannsche Theorie. Komplexe Potenzreihen∑aj (z − c)j sind in ihrem Konvergenzkreis D (mit Mittelpunkt c ) komplex differenzierbare Funk-

tionen, d. h. in jedem Punkt z0 ∈ D existiert die komplexe Ableitung

f ′(z0) = limz→z0

f (z) − f (z0)z − z0

.

Betrachten wir ab jetzt nur solche komplex differenzierbaren Funktionen und schreiben wir insbesonderef (z) = g (x, y) + i h (x, y) mit reellwertigen Funktionen g, h und z = x + i y , und nehmen wir

Page 10: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

viii Einleitung

ferner ohne Einschrankung z0 = 0 und f (0) = 0 an, so ergibt sich aus der Existenz von f ′(0) sofortdie Identitat

limx→0

g (x, 0) + i h (x, 0)x

= limy→0

g (0, y) + i h (0, y)i y

und damit das Bestehen der Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen

gx(0, 0) = hy(0, 0) ,

hx(0, 0) = −gy(0, 0) .

Man kann auch die Umkehrung zeigen:

Eine Funktion f : G → C ist in z0 = x0 + i y0 ∈ G genau dann komplex differenzierbar, wenn Real–und Imaginarteil reell differenzierbar in (x0, y0) sind und dort die Cauchy–Riemannschen Differenti-algleichungen

gx = hy , hx = −gy

gelten.

Man sagt heutzutage, f sei holomorph auf dem Gebiet G ⊂ C , falls f in jedem Punkt von Gkomplex differenzierbar ist. f heißt holomorph in dem Punkt z0 , wenn f in einer offenen Umgebungvon z0 komplex differenzierbar ist.

Entscheidend fur die Theorie sind nun Kurven– oder Wege–Integrale fur stetige Funktionen f :G → C langs (hinreichend guter) Integrationswege γ in G , die man vermoge Riemannscher Summenbezuglich Unterteilungen der Parameterintervalle von γ in symbolischer Weise definieren kann durch

γ

f (z) dz = lim∑

f (ζk) (zk+1 − zk) .

Fur stuckweise stetig differenzierbare Kurven γ : I → G ergibt diese Definition sofort∫

γ

f (z) dz =∫

γ

(g dx − h dy) + i

γ

(h dx + g dy) ,

wobei g und h wie ublich den Real– bzw. Imaginarteil von f bezeichnen. Man berechnet nun leicht

d (g dx − h dy) = − (gy + hx) dx ∧ dy ,

d (h dx + g dy) = (−hy + gx) dx ∧ dy .

Hieraus resultiert dann wegen der Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen mit Hilfe des allge-meinen Satzes von Stokes (wobei wir allerdings die historische Abfolge der Ereignisse auf den Kopfstellen) der Cauchysche Integralsatz :

Ist f holomorph mit stetiger Ableitung f ′ ,,im Inneren der (einfach geschlossenen) Kurve“ γ undstetig bis zum Rand, so gilt ∫

γ

f (z) dz = 0 .

Die wesentliche Problematik der klassischen Funktionentheorie bestand darin, diesen Sachverhaltohne die Voraussetzung der Stetigkeit der Ableitung f ′ zu beweisen. Der aus diesen Bemuhungen re-sultierende Satz von Goursat war eine der großen mathematischen Sensationen zu Beginn des 20. Jahr-hunderts.

Zur Anwendung des Integralsatzes betrachte man jetzt fur die auf G ⊂ C komplex differenzierbareFunktion f den Differenzenquotienten

g (ζ) =f (ζ) − f (z)

ζ − z

Page 11: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Einleitung ix

als Funktion von ζ 6= z bei festgehaltenem z ∈ G . Aufgrund der Voraussetzung ist diese Funktion(durch f ′(z) ) nach ζ = z stetig fortsetzbar. Wir werden in der Vorlesung zeigen, daß fur g dannimmer noch der Cauchysche Integralsatz gilt. Damit folgt insbesondere fur jeden Kreis D ⊂⊂ G undz 6∈ ∂D , daß

0 =∫

∂D

f (ζ) − f (z)ζ − z

dζ =∫

∂D

f (ζ)ζ − z

dζ − f (z)∫

∂D

ζ − z.

Nun ist, wie wir sehen werden, ∫

∂D

ζ − z= 2 π i

im Inneren von D , und damit erhalt man die (lokale) Cauchysche Integralformel :

f (z) =1

2 π i

∂D

f(ζ)ζ − z

dζ , z ∈ D ⊂⊂ G .

Insbesondere besagt diese Formel, daß die Funktionswerte einer holomorphen Funktion im Innereneines Kreises schon durch ihre Werte auf dem Rand desselben bestimmt sind. Dies hat weitreichendeKonsequenzen; z. B. folgt hieraus, daß eine solche Funktion beliebig oft komplex differenzierbar, jasogar um jeden Punkt in eine Potenzreihe entwickelbar ist, die auf jeden Fall im großten Kreis mit demgegebenen Mittelpunkt, der noch in dem Bereich der Holomorphie der Funktion liegt, konvergiert. Esgilt namlich fur z ∈ D ⊂⊂ G , z0 der Mittelpunkt von D :

f (z) =1

2 π i

∂D

f (ζ)ζ − z

dζ =1

2π i

∂D

f (ζ)

(ζ − z0)(

1 − z − z0

ζ − z0

) dζ

=∞∑

j=0

12 π i

∂D

f (ζ)(ζ − z0)

(z − z0

ζ − z0

)j

=∞∑

j=0

(1

2 π i

∂D

f (ζ) dζ

(ζ − z0)j+1

)(z − z0)j ,

wobei die Koeffizienten dieser Potenzreihe naturlich unabhangig von dem Radius des Kreises D sindund als Taylorkoeffizienten der Funktion f an der Stelle z0 bis auf wohlbekannte Faktoren gerade die(hoheren) komplexen Ableitungen von f an dieser Stelle durch eine Integralformel ausdrucken.

Dies erklart nun auch abschließend das unterschiedliche Verhalten der reell–analytischen Funktionen1/(1 + x2) und ex , denn ex setzt sich zu der uberall holomorphen Funktion ez fort, wahrend diekanonische Fortsetzung 1/(1 + z2) der ersten Funktion in z0 = ±i nicht holomorph ist.

Es sollte hier bemerkt werden, daß Folgerungen dieser Art fur eine große Klasse von Losungenpartieller Differentialgleichungen gultig sind, namlich fur (Systeme von) elliptische(n) Differentialglei-chungen mit konstanten Koeffizienten, zu denen auch die Cauchy–Riemannschen (CR)–Gleichungengehoren. Insofern ist die Funktionentheorie nur ein Spezialfall einer allgemeineren Theorie, in die sichauch die Behandlung der harmonischen Funktionen einordnet. In zwei reellen Dimensionen stehen diesesogar in einem direkten engen Zusammenhang mit den holomorphen Funktionen.

Als Anwendung des bisher Gesagten erhalt man den Satz von Liouville durch Abschatzungder Koeffizienten der obigen Entwicklung um z0 = 0 bzgl. des Kreises D = DR(0) und demGrenzubergang R →∞ :

Ist f holomorph auf ganz C und dem Betrage nach beschrankt : | f (z) | ≤ C < ∞ , so ist f konstant .

Als Beispiel zu diesem Satz betrachten wir komplexe Polynome P (z) vom Grade n , fur die manleicht zeigen kann, daß fur hinreichend große R >> 0 gilt:

(∗) |P (z) | ≥ C | z |n , | z | ≥ R .

Page 12: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

x Einleitung

Nimmt man nun an, daß P in C keine Nullstellen besitze, so ist die Funktion 1/P dem Betrage nachbeschrankt auf jedem kompakten Kreis, und wegen (∗) ist

∣∣∣∣1

P (z)

∣∣∣∣ ≤1

C Rnfur | z | ≥ R .

Somit ist 1/P dem Betrage nach beschrankt auf ganz C und also nach dem Satz von Liouvillekonstant, was aber im Widerspruch zu der obigen Ungleichung (∗) steht. Wir haben damit einenelementaren Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra gefunden:

Jedes Polynom P ∈ C [ z ] vom Grad n ≥ 1 besitzt (mindestens) eine Nullstelle in der komplexenEbene C .

Hieraus folgt rein algebraisch, daß dann jedes Polynom mit komplexen Koeffizienten vollstandig inLinearfaktoren zerfallt.

Die Tatsache, daß holomorphe Funktionen beliebig oft komplex differenzierbar sind, hat auch weit-reichende Konsequenzen fur die Real– und Imaginarteile solcher Funktionen. Ist namlich f = g + i hholomorph auf dem Gebiet G , so sind nach dieser Bemerkung fz (und fz = 0 ) wiederum (stetig) dif-ferenzierbar, so daß auch die Ableitungen gx, hx, gy, hy (total reell) stetig differenzierbar sind. Damitgilt auf G :

gxx = (gx)x = (hy)x = hxy = − gyy , d. h. gxx + gyy = 0 ,

und entsprechend hxx + hyy = 0 . Mit dem Laplace–Operator

∆ :=∂2

∂x2+

∂2

∂y2

ergibt sich also:∆ g = ∆ h = 0

und damit m. a. W.: Real– und Imaginarteile holomorpher Funktionen sind harmonische Funktionen(auch Potentialfunktionen genannt).

Ist umgekehrt g : G → R eine harmonische Funktion, so gibt es, wie wir zeigen werden, (lokal)Funktionen h : G → R , s. d. f = g + i h holomorph ist. h ist bis auf additive Konstanten eindeutigbestimmt. Dieser enge Zusammenhang zwischen holomorphen Funktionen und Potentialfunktionen istdie Grundlage fur Anwendungen der Funktionentheorie auf (zweidimensionale) physikalische Probleme,die in der Hydrodynamik auf Helmholtz und Kirchhoff zuruckgehen. (Zu weiteren historischen Be-merkungen und mathematischen Ausfuhrungen siehe z. B. Landau–Lifschitz: Hydrodynamik , pp. 25ff., oder die in dem Literaturverzeichnis aufgefuhrten Bucher von Henrici und Levinson–Redheffer).

Eine weitere Anwendung der Funktionentheorie betrifft den Residuen–Kalkul . Ist f holomorphin einem Gebiet G mit Ausnahme eines Punktes z0 ∈ G , so existiert eine Verallgemeinerung derPotenzreihenentwicklung, namlich eine (eindeutig bestimmte) Laurent–Entwicklung nach positivenund negativen Potenzen von (z − z0) :

f (z) =∞∑

j=−∞aj (z − z0)j .

Hierbei ist fur einen hinreichend kleinen Kreis Dε mit Mittelpunkt z0

∂Dε

f (z) dz = 2 π i a−1 ;

die Zahl a−1 heißt das Residuum der Funktion f an der Stelle z0 , in Zeichen

Resz0f (z) = a−1 .

Page 13: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Einleitung xi

Der Residuensatz besagt nun, daß Integrale uber holomorphe Funktionen mit hochstens isolierten Sin-gularitaten mit Hilfe dieser Residuen berechnet werden konnen:

12 π i

γ

f (z) dz =∑

Resz0f (z) ,

wobei die (endliche) Summe auf der rechten Seite uber alle Punkte z0 im ,,Inneren“ des (einfachgeschlossenen, positiv orientierten) Weges γ zu erstrecken ist. Da sich die Residuen oftmals (ohneBerechnung von Integralen) durch schlichte Manipulationen von bekannten Potenzreihen ergeben, hatman damit eine starke Methode zur Verfugung, um Integrale auszurechnen.

Als Beispiel betrachten wir die Funktion

f (z) =1

1 + z2=

12 i

1

z − i− 1

z + i

.

Wahlt man den folgenden Weg:

0 R-R

i

Figur E.2

so hat man naturlich nur das Residuum bei z = i zu berucksichtigen, und bekommt∫

γ

dz

1 + z2= 2 π i Resi

11 + z2

=2 π i

2 iResi

1z − i

= π .

Nun verschwindet aber fur R →∞ das Integral uber den oberen Halbkreis, so daß schließlich∫ ∞

−∞

dx

1 + x2= π .

Wir werden noch viele andere Beispiele der Anwendung des Residuenkalkuls kennenlernen.Ein weiterer Fortschritt wurde durch die Arbeiten von N. H. Abel, Jacobi, Riemann u. v. a.

bezuglich der sogenannten elliptischen Integrale erzielt (so genannt, weil ein spezielles Integral diesesTyps bei der Berechnung der Bogenlange von Ellipsen auftritt). Es war lange bekannt, daß sich Integraleder Form ∫

R(x,

√a x2 + b x + c

)dx ,

R eine rationale Funktion in x und y , mittels der Elementartranszendenten (genauer ihrer Umkehr-funktionen) ausdrucken lassen. Wie aber steht es z. B. mit Integralen der Form

∫dx√

(x − e1)(x − e2)(x − e3)(x − e4)

bei paarweise verschiedenen e1, . . . , e4 ? Es zeigt sich, daß ein solches Integral im Komplexen zweifachmehrdeutig ist, d. h. eindeutig bestimmt ist bis auf (von gewissen geschlossenen Kurven herruhren-de) additive ganzzahlige Vielfache zweier sogenannter Perioden ω1, ω2 . Man kann dann zeigen: Die

Page 14: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

xii Einleitung

Umkehrfunktion ist eindeutig (d. h. jeder Wert wird von dem Integral angenommen) und zweifach pe-riodisch (sie ist in Wahrheit meromorph, d. h. sie hat Pole als isolierte Singularitaten). Nun ist aber dieMenge der zweifach periodischen meromorphen Funktionen (zu fest vorgegebenen Perioden) isomorphzu dem Korper der elliptischen Funktionen, d. h. der meromorphen Funktionen auf einer kompaktenRiemannschen Flache, die topologisch aquivalent zu einem reell 2–dimensionalen Torus ist (auch el-liptische Kurve genannt). Diese Beziehung gab historisch den Anlaß zu einer genaueren Untersuchungder Funktionenkorper von allgemeinen kompakten Riemannschen Flachen. Wir werden diesen Themen-bereich in der Vorlesung Funktionentheorie I aufgreifen.

Der Versuch eines Uberblicks ware nicht vollstandig, wenn nicht die Abbildungseigenschaften holo-morpher Funktionen erwahnt wurden. Es seien G1, G2 ⊂ C Gebiete und f : G1 → G2 sei eine biholo-morphe Abbildung, also eine bijektive Abbildung, die in beiden Richtungen holomorph ist. Identifiziertman C mit R2 , so zeigt man leicht, daß f eine (direkt) konforme Abbildung darstellt, also orien-tierte Winkel erhalt. Umgekehrt impliziert die Konformitat das Bestehen der Cauchy–RiemannschenDifferentialgleichungen. Somit hat man fur biholomorphe f das folgende Bild:

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Figur E.3

D. h. insbesondere: Ist f biholomorph, so stehen die Niveaulinien

Re f = const.

Im f = const.

paarweise senkrecht aufeinander.

Dies erinnert uns wieder an physikalische Phanomene; tatsachlich kann man auch die geometrischeTheorie der holomorphen Funktionen nutzbringend auf zweidimensionale physikalische Erscheinungenanwenden. Es sei dazu

u : z = x + iy 7−→ (u (z), v (z)) = (u (x, y), v (x, y)) , z ∈ G ,

ein stationares, d. h. von der Zeit unabhangiges Vektorfeld (z. B. das Stromungsfeld einer Flussigkeit).Wir denken uns stets (u, v) ∈ C = R2 eingebettet in R3 durch (u, v) 7→ (u, v, 0) . Das Vektorfeldmoge stetig differenzierbar sein. Dann kann man die Divergenz div u von u und die Rotation rot uberechnen, wobei wir, da die Rotation senkrecht auf R2 steht, nur eine Komponente zu berucksichtigenbrauchen, mit der wir dann die Rotation identifizieren:

div u = ux + vy , rot u = vx − uy .

Ein Vektorfeld heißt quellenfrei , falls div u ≡ 0 , und wirbelfrei , wenn rot u ≡ 0 . Bei einer Flussigkeitsprechen wir im ersten Fall auch von einer inkompressiblen Flussigkeit. Dies ist nach dem Satz von

Page 15: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Einleitung xiii

Stokes und seinen Varianten aquivalent dazu, daß der Fluß von u durch jede geschlossene Kurve γin G gleich Null ist, wahrend die Wirbelfreiheit bedeutet, daß die Rotation (oder Zirkulation) von ulangs jeder solchen geschlossenen Kurve verschwindet.

Zusammenfassend haben wir also fur ein (stationares) wirbelfreies Stromungsfeld u einer inkom-pressiblen Flussigkeit:

0 = div u = ux + vy

0 = rot u = (0, 0, vx − uy)

⇐⇒

ux = −vy ,

vx = uy .

Wegen der Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen sind diese Bedingungen aber gleichbedeutenddamit, daß die Funktion

f (z) = u (x, y) − i v (x, y)

holomorph ist und sich deshalb (lokal) in eine Potenzreihe entwickeln laßt, die stets StammfunktionenF besitzt:

F (z) = G (x, y) + iH (x, y) , F ′(z) = f (z) .

Man nennt F (z) ein komplexes Potential von u . Aus den Gleichungen

Gx − iGy = Gx + iHx = Fx = f = u − i v

ergibt sich dann sofort(u, v) = (Gx, Gy) = grad G .

Mit anderen Worten: Der Realteil G eines komplexen Potentials stellt tatsachlich ein Potential desVektorfeldes u dar. Damit sind die Niveaulinien G = const. Linien gleichen Potentials, und diedarauf senkrecht stehenden Niveaulinien des Imaginarteils H sind Stromlinien (oder in andererInterpretation Kraftlinien). Man nennt deshalb auch H ein Stromlinien– oder Kraftlinienpotential .

Als Beispiel betrachten wir das konstante Feld u = (1, 0) einer ,,vollig ungestorten“ Flussigkeit:

Figur E.4

Es ist hier also f (z) = 1 und damit F (z) = z = x + i y . Damit sind die Stromlinien gegeben durchy = const. . Das Stromungsbild wird sich nicht andern, wenn man ein infinitesimal dunnes Hindernisder folgenden Gestalt in das Stromungsfeld einbringt:

Figur E.5

Page 16: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

xiv Einleitung

Was passiert aber, wenn man stattdessen z. B. ein kreisformiges Hindernis in das Stromungsfeldbringt? Die Antwort ist einfach: Offensichtlich behalt ein quellen– und wirbelfreies Vektorfeld, wennman es unter einer holomorphen Funktion ,,liftet“, diese guten Eigenschaften. Also wird man versuchen,eine konforme Abbildung zwischen den beiden Außengebieten herzustellen. Eine solche Abbildung gibtes tatsachlich: Die Abbildung

z =12

(ζ +

)

hat die gewunschten Eigenschaften, so daß das gesuchte komplexe Potential genau durch diese Funktiongegeben wird.

Zum Schluß wollen wir noch auf zwei weitere Aspekte der Funktionentheorie eingehen. Zum einenbraucht man die Theorie der holomorphen Funktionen in mehreren Veranderlichen in der Theorie derpartiellen Differentialgleichungen (mit konstanten Koeffizienten). Eine solche in der Gestalt

P (D) u = f

transformiert sich vermoge der Fourier–Laplace–Transformation in das Divisionsproblem

P u = f ,

wobei fur C∞(R)–Funktionen g die Fourier–Transformation

g (z) =∫

e−iP

xjzj g (x) dx

holomorph in z ∈ Cn ist. Eine der grundlegenden Fragen ist:

Welche holomorphen Funktionen U (z) sind Fourier–Transformierte von C∞(R)–Funktionen g mitTrager in einer Kugel vom Radius R ?

Die Antwort gibt der Satz von Paley und Wiener: Dies ist genau dann der Fall, wenn die folgendeWachstumsbedingung erfullt ist:

|U (z) | ≤ CN (1 + ‖ z ‖)−N eR‖Imz‖ fur alle N .

Hier bestehen noch weitere interessante Zusammenhange mit dem Gebiet der Funktionalanalysis, mitBegriffen wie Hypoelliptizitat etc.

Wir wollen zum Schluß noch andeutungsweise die Verwendung funktionentheoretischer Prinzipienin der analytischen Zahlentheorie erwahnen. Einer der beruhmten Satze dieses Themenkreises ist derPrimzahlsatz von Hadamard und de la Vallee Poussin (unabhangig voneinander bewiesen 1896):

π (x) ∼ x

log x,

wobei das Symbol ∼ fur asymptotisch gleich steht. Man erhalt diese Aussage durch eine genaue Analyseder Nullstellen der Riemannschen ζ–Funktion

ζ (s) =∞∑

n=1

n−s =∏

p prim

(1 − p−s)−1 ,

die fur Re s > 0 mit Ausnahme von s = 1 holomorph ist und nach ganz C meromorph fortgesetztwerden kann. Entscheidend hierbei ist, daß

ζ (1 + i t) 6= 0 fur alle t ∈ R∗ .

Außer gewissen ,,trivialen“ Nullstellen hat man nur noch solche, die in dem Streifen 0 ≤ Re s ≤ 1liegen. Die Riemannsche Vermutung besagt, daß diese alle auf der Geraden Re s = 1/2 liegen sollten.In der Tat kennt man bis heute mehrere Millionen von solchen, aber kein einziges Gegenbeispiel. EinBeweis der Riemannschen Vermutung hatte eine wesentliche Prazisierung des Primzahlsatzes zur Folge.

Page 17: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

1 Der Korper der komplexen Zahlen

Schon Cardano verwendete um die Mitte des 16. Jahrhunderts algebraische Ausdrucke von der Form√−15 und war in der Lage, mit Hilfe solcher imaginarer Zahlen reelle Losungen von Gleichungenhoheren Grades zu bestimmen. L. Euler fuhrte 1777 das Symbol i fur die imaginare Einheit ein; formalerfullt diese Zahl die Bedingung i2 = −1 , was fur eine reelle Zahl offensichtlich niemals erfullt seinkann. Formal sind damit komplexe Zahlen Ausdrucke der Gestalt

z = x + i y , x , y ∈ R ,

mit denen man unter Berucksichtigung der Arithmetik reeller Zahlen und der zusatzlichen Bedingungfur i rechnet. Setzt man demgemaß

C = z = x + i y : x, y ∈ R

und definiert eine Addition und Multiplikation durch

z1 + z2 = (x1 + x2) + i (y1 + y2) ,

z1 z2 = (x1 x2 − y1 y2) + i (x1 y2 + x2 y1) ,

so wird C , wie man schnell nachrechnet, zu einem Korper mit Unterkorper R = z = x + i 0 .Fur uns heutzutage ist es nicht besonders problematisch, eine solche abstrakte Einfuhrung zu ak-

zeptieren, zumal sie sich konzeptionell beschreiben laßt als der Quotient des Polynomringes uber R ineiner Unbestimmten t nach dem Hauptideal, das von dem Polynom t2 + 1 erzeugt wird:

C ∼= R [t]/ (t2 + 1) .

M. a. W.: C ist der kleinste Oberkorper von R , in dem das Polynom t2 + 1 zerfallt.Im historischen Verlauf war es jedoch lange umstritten, ob diesen Zahlen eine reale Bedeutung

beizumessen sei. Der Durchbruch zur allgemeinen Akzeptanz wurde schließlich in der ersten Halftedes neunzehnten Jahrhunderts erzielt durch die geometrische Deutung der komplexen Zahlen in dersogenannten Gaußschen Zahlenebene (veroffentlicht von Gauß 1831, auch wenn er diese schon viel eherbesaß). Allerdings war diese Deutung wesentlich fruher auch schon Wessel (1707) und Argand (1806)bekannt. Man identifiziert hierbei eine komplexe Zahl x + i y einfach mit dem Paar (x, y) ∈ R2 undhat dementsprechend auf R2 eine Addition und Multiplikation zu erklaren vermoge:

(x1, y1) + (x2, y2) := (x1 + x2 , y1 + y2) ,

(x1, y1) · (x2, y2) := (x1 x2 − y1 y2 , x1 y2 + x2 y1) .

Davon ist uns die Addition als ubliche Vektorraumaddition in R2 wohlvertraut. Aber auch die Multi-plikation laßt sich geometrisch einfach deuten. Fuhrt man Polarkoordinaten rj ≥ 0 , ϕj ∈ R mod 2πein, d. h. schreibt man

zj = rj (cos ϕj + i sin ϕj) ,

wobei also rj = | zj | der Betrag von zj ist und ϕj das Argument von zj genannt wird, so ist

z1 z2 = r1 r2 [(cos ϕ1 cos ϕ2 − sin ϕ1 sin ϕ2) + i (sin ϕ1 cos ϕ2 + cos ϕ1 sin ϕ2)]

= r1 r2 (cos (ϕ1 + ϕ2) + i sin (ϕ1 + ϕ2)) .

Also multiplizieren sich die Betrage und addieren sich die Argumente bei der Multiplikation komplexerZahlen.

Bemerkung . Eine andere Beschreibung der komplexen Zahlen gewinnt man wie folgt: Man kann jedenKorper K identifizieren mit den K–linearen Endomorphismen von K in sich, die naturlich genau ausallen Homothetien K 3 x → cx ∈ K bestehen. Die C–Homothetien von C = R2 sind naturlich erst

Page 18: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

2 1 Der Korper der komplexen Zahlen

recht R–linear und bilden deshalb eine Teilmenge der reellen 2 × 2–Matrizen. Mit anderen Worten:Man hat eine Inklusion von R–Vektorraumen

C ∼= EndCC ⊂ EndRC ∼= EndCR2 .

Anhand der Formel (a + ib) (x + iy) = (ax − by) + i (bx + ay) verifiziert man, daß der Korper Csomit (bzgl. der R–Vektorraum–Basis 1, i kanonisch) isomorph ist zu der Algebra aller reellen Matrizender Form (

a −b

b a

).

Mit anderen Worten: Die Multiplikation mit komplexen Zahlen bewirkt auf C = R2 nur sogenannteDrehstreckungen.

In dem Bild der Gaußschen Zahlenebene ist der Korper R der reellen Zahlen in C ∼= R2 eingebettetdurch

R 3 r 7−→ (r, 0) ∈ C .

Bezeichnet man diese Einbettung R → C mit α , so ist offensichtlich

α(r1 + r2) = α(r1) + α(r2) ,

α(r1 r2) = α(r1)α(r2) .

Also schreibe man kurz r = (r, 0) . Dann ist tatsachlich keine Verwechslung moglich, denn fur R2 alsR–Vektorraum gilt:

r (x, y) = (r x, r y) ,

und bezuglich der Korperstruktur von C ist ebenfalls

r (x, y) = (r, 0) (x, y) = (r x, r y) .

Setzt man dann schließlichi := (0, 1) ,

so folgt fur alle z = (x, y) ∈ R2 , daß

(x, y) = (x, 0) + (0, y) = (x, 0) + (0, 1) (y, 0) = x + i y ,

und es gelten in dieser Beschreibung die zu Anfang geforderten Rechenregeln.Wir fuhren nun fur z = x + i y die folgenden Bezeichnungen ein:

x = Re z Realteil von z

y = Im z Imaginarteil von z

i imaginare Einheit

z = x− iy konjugiert Komplexe zu z .

Satz 1.1 Die durch z 7→ z definierte Abbildung C→ C ist ein involutorischer Automorphismus (d. h.ein Korperautomorphismus mit z = z ).

Beweis: Trivial. ¤

Bemerkungen. 1. Es gilt z = z genau dann, wenn z reell ist.

2. Ebenso ist z ∈ C genau dann rein imaginar , also von der Form z = y i , y ∈ R , wenn z = −z .

Page 19: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

1 Der Korper der komplexen Zahlen 3

Da wir auch im Komplexen Analysis betreiben wollen, mussen wir Betrage einfuhren. Man identifi-ziert dazu z = x + i y ∈ C mit dem Punkt (x, y) ∈ R2 und ubertragt die euklidische Norm:

| z | :=√

z z =√

x2 + y2 .

Man nennt | z | den Betrag der komplexen Zahl z . - Es gelten die folgenden Regeln fur das Rechnenmit Betragen.

Satz 1.2 Durch z 7→ | z | wird auf dem Korper C eine Bewertung definiert, d. h. es gilt :

i) | z | = 0 genau dann, wenn z = 0 ;

ii) | z1 z2 | = | z1 | | z2 | ;

iii) | z1 + z2 | ≤ | z1 | + | z2 | (Dreiecksungleichung).

Diese setzt die ubliche Bewertung auf R fort.

Beweis: Trivial. ¤

Bemerkung . Dagegen ist es bekanntlich nicht moglich, eine Anordnung wie im Falle K = R auf C zufinden. Aufgrund der ublichen Regeln fur angeordnete Korper mußte namlich z2 > 0 fur alle z 6= 0 ,insbesondere also 1 = 12 > 0 und −1 = i2 > 0 und damit 0 = 1 − 1 > 0 gelten. Widerspruch!

Kehren wir noch einmal zu den algebraischen Eigenschaften von C zuruck. C ist in minimalerWeise so konstruiert, daß das Polynom t2 + 1 vollstandig in Linearfaktoren zerfallt:

t2 + 1 = (t + i) (t − i) .

Es konnte sein, daß wir zur Zerlegung von Polynomen hoheren Grades zu einem noch großeren Korperubergehen mussen. Daß dies nicht der Fall ist, besagt der beruhmte

Fundamentalsatz der Algebra (Gauß 1799). Jedes Polynom P (z) ∈ C [z] vom Grad n zerfalltin n Linearfaktoren:

P (z) = a0 + a1 z + · · · + an zn , aj ∈ C , an 6= 0

= an (z − λ1) · . . . · (z − λn) , λj ∈ C .

Moderner ausgedruckt : Der Korper C ist algebraisch abgeschlossen4.

Der Beweis wird spater mit funktionentheoretischen Mitteln erbracht.

Bemerkung . Fur n = 1, 2, 3, 4 gibt es sogar explizite Formeln zur Berechnung der Nullstellen λj

(mittels Korperoperationen zwischen den Koeffizienten und Ziehen von Wurzeln). Fur n ≥ 5 kann eseine solche allgemeine Formel jedoch nicht geben, wie von Abel 1824 gezeigt wurde! Dies steht abernicht im Widerspruch zu dem obigen Satz!

Hat P (z) nur reelle Koeffizienten, so folgt aus P (λ) = 0 sofort

0 = P (λ) =n∑

j=0

aj λj =n∑

j=0

aj λj =n∑

j=0

aj λj

= P (λ) ,

d. h. mit λ ist auch λ eine Nullstelle von P . Ist λ hierbei nicht reell, so ist λ 6= λ . Da offensichtlichgilt

(z − λ) (z − λ) = z2 − (λ + λ) z + λ λ = z2 − (2 Re λ) z + |λ |2 ∈ R [z] ,

so ergibt sich sofort die

4Zu diesem Konzept siehe auch den Anhang zu diesem Kapitel.

Page 20: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

4 1 Der Korper der komplexen Zahlen

Folgerung 1.3 Jedes reelle Polynom

P (x) = a0 + a1 x + · · · + an xn ∈ R [x]

besitzt eine (bis auf Reihenfolge eindeutig bestimmte) Zerlegung

P (x) = an (x − α1) · . . . · (x − αp)Q1(x) · . . . ·Qq(x)

mit α1, . . . , αp ∈ R und quadratischen Polynomen

Qj(x) = x2 + βjx + γj , j = 1, . . . , q ,

mit reellen Koeffizienten (aber ohne reelle Nullstellen).

Bemerkung . Ist insbesondere n ≡ 1mod 2 , so muß P (x) mindestens eine reelle Nullstelle besitzen(was man auch einfacher mit dem Zwischenwertsatz der reellen Analysis einsehen kann).

Wir wollen diese Folgerung zur Beantwortung der Frage heranziehen, fur welche naturlichen Zahlenn es Korper K gibt, die der folgenden Aussage genugen:

(Fn) K ist ein Oberkorper von R , der als Vektorraum uber R isomorph zu Rn ist.

Fur n = 1, 2 gibt es solche Korper, namlich K = R und K = C . Wir wollen zeigen, daß dies (bisauf Isomorphie) die einzigen moglichen Falle sind.

Satz 1.4 Es sei K ein Korper, der (Fn) erfullt mit n ≥ 2 . Dann ist n = 2 und K ∼= C .

Der Beweis erfolgt in mehreren Schritten.

1. Jeder Korper mit (F2) ist isomorph zu C .

Dies zeigt man wie folgt:

a) Das reelle Einselement 1 ∈ R ist wegen (Fn) auch automatisch das Einselement im Korper K ;insbesondere ist 1 6= 0 .

b) Es gibt eine Basis v0, v von K uber R mit v0 = 1, v2 ∈ R .

Denn: v0 = 1 6= 0 laßt sich erganzen zu einer Basis v0, v 6∈ R von K , da K ∼= R2 . Es gibt dann eineZerlegung v2 = r + s v mit reellen r, s . Mit s = 2 σ folgt dann (v − σ)2 = r + σ2 =: ρ ∈ R .Selbstverstandlich sind auch v0 = 1 und v − σ uber R linear unabhangig.

c) Man kann v so wahlen, daß v2 = −1 .

Im obigen Teil kann ρ nicht Null sein, denn sonst ware v − σ = 0 und damit v ∈ R . Dann hatdas Element | ρ |−1/2(v − σ) als Quadrat nur die moglichen Werte ±1 . Wir ersetzen v durch diesesneue Element. Ware sein Quadrat gleich +1 , so ware (v − 1) (v + 1) = 0 und damit v = ±1 ∈ R .Widerspruch!

d) K ist isomorph zu C .

Denn: Definiere eine Abbildung C → K durch C 3 a + i b 7−→ a + b v ∈ K . Es ist eine leichteUbungsaufgabe nachzuweisen, daß hierdurch ein Korperisomorphismus gegeben wird.

2. Jedes Element v ∈ K \ R genugt einer quadratischen Gleichung uber R .

Denn wegen K = Rn mussen die n + 1 Elemente

v0, v1, . . . , vn

linear abhangig uber R sein; es gibt also n + 1 reelle Zahlen a0, . . . , an , die nicht alle gleichzeitig 0sind, so daß

a0v0 + a1v

1 + · · ·+ anvn = 0 .

Page 21: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

1 Der Korper der komplexen Zahlen 5

Sei am der nichtverschwindende Koeffizient mit großtem Index m , den wir ohne Einschrankung gleich1 annehmen durfen. Dann existiert also ein normiertes Polynom

P (t) = tm +m−1∑

j=0

aj tj ∈ R [t]

mit P (v) = 0 . Zerlege nun P (t) wie oben in seine irreduziblen Faktoren:

P (t) = (t − α1) · . . . · (t − αp)Q1(t) · . . . ·Qq(t) .

Dann folgt(v − α1) · . . . · (v − αp)Q1(v) · . . . ·Qq(v) = 0 .

Also existiert ein j oder ein k mit v − αj = 0 oder Qk(v) = 0 . Ersteres kann jedoch nicht seinwegen v 6∈ R .

3. Jeder Korper K mit (Fn) , n ≥ 2 , enthalt den Korper der komplexen Zahlen als Unterkorper .

Es sei w ∈ K\R beliebig gewahlt. Nach dem vorigen Teil existieren α, β ∈ R , so daß w2 + α w + β = 0 .Man definiert nun

K0 := r + sw : r, s ∈ R .

Wegen w2 ∈ K0 ist K0 offensichtlich ein kommutativer Ring mit R ⊂ K0 ⊂ K . K0 ist sogar einKorper : Ist namlich r + sw ∈ K0 , s 6= 0 und t ∈ R zunachst beliebig, so ist w1 := t + w ∈ K0 \ 0 und damit

0 6= ρ := (r + sw) w1 = r t − s β + (r + s (t − α)) w ,

so daß also fur t = α − s−1r die Zahl ρ in R liegt und somit bei dieser Wahl fur w1 die Beziehung

w1 = (r + sw)−1

gilt. Da K0∼= R2 , folgt nach dem ersten Teil K0

∼= C ⊂ K .

4. Jeder Korper K mit (Fn) , n ≥ 2 , ist isomorph zu C .

Ist v ∈ K beliebig, so erfullt auch v (wie oben gezeigt) eine quadratische Gleichung uber R ⊂ K0∼= C .

Da diese Gleichung uber C in Linearfaktoren zerfallt, folgt v ∈ K0∼= C , d. h. K0 ⊂ K ⊂ K0 und

damit K = K0∼= C . ¤

Bemerkung . Ein Korper ist fur uns stets kommutativ . Daher ist der Schiefkorper der HamiltonschenQuaternionen H , der als R–Vektorraum isomorph zu R4 ist, kein Gegenbeispiel zu dem obigen Satz.Auch H hat eine einfache Beschreibung als Unteralgebra der komplexen 2× 2–Matrizen:

H = (

a −b

b a

): a , b ∈ C

.

Wir stellen nun, ausgehend von der Bewertung | · | auf C , einige topologische Ergebnisse zusammen.Der mit der allgemeineren Situation des euklidischen Rn vertraute Leser kann diese Seiten vom Inhalther uberschlagen und sollte sich nur die Bezeichnungsweisen einpragen.

Man definiert (allgemein fur bewertete Korper) einen Abstand oder eine Distanz durch

d (z1, z2) := | z1 − z2 | (Abstand von z1 und z2)

und beweist dann sofort:

d (z1, z2) = 0 ⇐⇒ z1 = z2

d (z1, z2) = d (z2, z1) (Symmetrie)

d (z1, z3) ≤ d (z1, z2) + d (z2, z3) fur alle z1, z2, z3 ∈ C (Dreiecksungleichung) .

Page 22: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

6 1 Der Korper der komplexen Zahlen

Mit anderen Worten: d (., .) ist eine Metrik auf C . Setzt man zj = xj + i yj mit (xj , yj) ∈ R2 , sogilt

| z1 − z2 | =√

(x1 − x2)2 + (y1 − y2)2

= euklidischer Abstand von (x1, y1) und (x2, y2) .

Wir konnen somit notieren:

Der metrische Raum (C, d) ist isometrisch zu dem Raum R2 mit der von der euklidischen Norm ‖ · ‖induzierten euklidischen Metrik .

Wie ublich fuhrt man mittels | · | eine Topologie auf C ein. Es bezeichne

Uε(z0) = Dε(z0) := z ∈ C : | z − z0 | < ε , z0 ∈ C , ε > 0

die offene Kreisscheibe mit Mittelpunkt z0 und Radius ε . (Wir verwenden in der Funktionentheorielieber das Symbol D fur engl. disk anstelle des allgemeineren B fur engl. ball). Eine Teilmenge U ⊂ Cheißt offen, falls es fur alle z0 ∈ U ein ε > 0 gibt mit Uε(z0) ⊂ U . Es ist dann T = U : U ⊂ C offen eine hausdorffsche Topologie auf C , bzgl. derer C homoomorph zu R2 ist.

Wir fuhren nun die ublichen Bezeichnungen fur Teilmengen M des topologischen Raumes C ein:

M =⋃

M⊃U offen

U : Inneres von M ,

M =⋂

M⊂A abgeschlossen

A : Abschluß von M ,

∂M = M \M : Rand von M .

Als Beispiel betrachten wir die Kreisscheiben Dε(z0) , die wegen der Dreiecksungleichung offen sind,also mit ihrem Inneren ubereinstimmen. Man berechnet ohne Schwierigkeiten auch

Dε(z0) := Dε(z0) = z ∈ C : | z − z0 | ≤ ε ,

∂Dε(z0) = ∂Dε(z0) = z ∈ C : | z − z0 | = ε .

Eine Folge komplexer Zahlen ist eine durch N indizierte Menge, genauer also eine Abbildung N→ C ,geschrieben in der Form (zj)j∈N . Eine komplexe Zahl c heißt der Limes oder der Grenzwert der Folge(zj) , wenn fur alle ε > 0 ein j0 ∈ N existiert, so daß

| zj − c | < ε

fur alle j ≥ j0 . Man schreibt dann auch kurzer

zj −→j→∞

c oder zj −→ c oder limj→∞

zj = c .

Da C homoomorph zu R2 ist, existiert der Grenzwert limj→∞

zj = c genau dann, wenn die Grenz-

werte lim (Re zj) und lim (Im zj) existieren, und es besteht dann die Relation c = lim (Re zj) +i lim (Im zj) .

Da R2 ein vollstandiger metrischer Raum ist, gilt dasselbe auch fur C . D. h.: Ist (zj) eineCauchy–Folge in C , existiert also fur alle ε > 0 ein j0 , so daß | zj − zk | < ε fur alle j, k ≥ j0 ,so ist sie konvergent: Es existiert ein c ∈ C mit lim zj = c . Da die Metrik von einer Bewertungherkommt, sagt man auch:

C ist ein vollstandig bewerteter Korper.

Page 23: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

1 Der Korper der komplexen Zahlen 7

Bemerkung . Neben R und C gibt es noch viele andere vollstandig bewertete Korper, z. B. die Ver-vollstandigungen von Q bzgl. der p–adischen Bewertungen. Nimmt man aber noch eine weitere Ei-genschaft hinzu, so werden R und C durch diese Angaben charakterisiert. Offensichtlich ist: Fur allez ∈ R , C gibt es eine naturliche Zahl n ∈ N , s. d. | z | < |n · 1 | . Dies bedeutet nach Definition: Rund C sind archimedisch bewertete Korper .

Satz 1.5 (Ostrowski) R und C sind die einzigen vollstandig archimedisch bewerteten Korper.

Bemerkung . Nicht archimedisch bewertete Korper haben dagegen bekanntlich die Eigenschaft, daßdie Menge |n · 1 | : n ∈ N beschrankt ist, was verbessert werden kann zu |n · 1 | ≤ 1 und zuder verscharften Dreiecksungleichung | a + b | ≤ max (| a |, | b |) , die uberraschende Konsequenzen hat5.

Die Regeln uber das Rechnen mit Grenzwerten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es geltelim aj = a , lim bj = b . Dann existieren auch die folgenden Grenzwerte mit den angegebenen Werten:

i) lim (aj + bj) = a + b ; ii) lim (aj bj) = a b ;

iii) lim aj = a ; iv) lim | aj | = | a | ;

v) lim1aj

=1a

, sofern a 6= 0 (evtl. sind endlich viele aj mit aj = 0 wegzulassen).

Wir erinnern des weiteren an die folgenden Definitionen: c heißt Haufungspunkt der Folge (zj) ,falls es fur alle ε > 0 unendlich viele j ∈ N mit zj ∈ Dε(c) gibt. c heißt Haufungspunkt einer MengeM , wenn in jedem Dε(c) unendlich viele Elemente von M liegen. Selbstverstandlich besteht auch hierein Unterschied zwischen dem Begriff von Haufungspunkten der Folge (zj) und von denen der Menge zj : j ∈ N .

Ein System offener Mengen U = Uι : ι ∈ I heißt eine offene Uberdeckung der Menge M ⊂ C , wennM ⊂

ι∈I

Uι . Die Menge M ⊂ C heißt kompakt , wenn aus jeder (offenen) Uberdeckung U = Uι :

ι ∈ I von M eine endliche Teiluberdeckung ausgewahlt werden kann, d. h. wenn es eine endlicheTeilmenge I0 ⊂ I gibt, s. d.

M ⊂⋃

ι∈I0

Uι .

Wie in R2 gelten dann auch im Korper C der komplexen Zahlen die folgenden zentralen Aussagen.

Satz 1.6 (Heine - Borel, Bolzano - Weierstraß) Fur eine Menge K ⊂ C sind die folgenden Aus-sagen aquivalent :

i) K ist kompakt.

ii) K ist beschrankt und abgeschlossen.

iii) Jede Folge (zj) in K besitzt mindestens einen Haufungspunkt in K .

iv) Zu jeder Folge (zj) in K gibt es eine unendliche Teilfolge, die gegen einen Grenzwert in Kkonvergiert.

Eine leichte Konsequenz aus dem obigen Satz ist

5Zu allen diesen Aussagen konsultiere man mein Vorlesungsmanuskript Analysis I .

Page 24: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

8 1 Der Korper der komplexen Zahlen

Satz 1.7 K1 ⊃ K2 ⊃ K3 ⊃ · · · sei eine absteigende Folge nicht leerer kompakter Teilmengen von C .Dann gilt

∞⋂

j=1

Kj 6= ∅ .

Beweis. Wahle je ein zj ∈ Kj . Dann ist (zj)j≥keine unendliche Teilfolge von Kk, k ≥ 1 , fur

alle fest vorgegebenen k . Sei nun c ein Haufungspunkt von (zj) . Nach Satz 1. 4 ist dann c ∈ K1 .c ist aber auch Haufungspunkt von jeder Folge (zj)j≥k

; also ist c ∈ Kk fur alle k ≥ 1 , d. h. c ∈ ∩Kk . ¤

Da wir eine Topologie auf C zur Verfugung haben, konnen wir ohne Schwierigkeiten uber die Ste-tigkeit von komplex–wertigen Funktionen auf einem topologischen Raum, insbesondere auf TeilmengenM ⊂ C sprechen. Man kann dieses allgemeine Konzept in diesem Fall aber auch umformulieren: Essei M ⊂ C eine Menge, f : M → C eine Abbildung (kurz: eine komplex–wertige Funktion oder nochkurzer: eine Funktion). Da fur festes z ∈ M der Wert f (z) in C liegt, gibt es eine eindeutige Zerlegung

f (z) = g (z) + i h(z) , g (z) , h (z) ∈ R .

Also induziert f eindeutig bestimmte reell–wertige Funktionen

g : M −→ R , h : M −→ R .

Man schreibt g = Re f , h = Im f und nennt diese Funktionen den Realteil bzw. den Imaginarteilder komplex–wertigen Funktion f . g und h sind naturlich einfacher zu erklaren durch

(Re f) (z) = Re (f (z))

(Im f) (z) = Im (f (z))

z ∈ M .

Ebenso definiert man den Betrag | f | und das Argument arg f von f durch

| f | (z) = | f (z) | bzw. (arg f) (z) = arg (f (z)) = ϕ (z) ,

wennf (z) = | f (z) | (cos ϕ (z) + i sin ϕ (z)) .

Hierdurch werden Abbildungen

| f | : M −→ R≥0

arg f : M −→ Rmod2 π ∼= [ 0, 2 π)

erklart. Schließlich assoziiert man zu f noch die konjugiert–komplexe Funktion f durch

f (z) = f (z) .

Beispiele von Funktionen sind komplexe Polynome

P (z) := a0 + a1 z + · · ·+ an zn , aj ∈ C ,

reelle Polynome (im Sinne von komplex–wertigen Polynomen in den beiden reellen Veranderlichen x , y )

f (z) := Q (z, z) =∑

0≤j≤J0≤k≤K

ajk zj zk = komplexes Polynom in x und y .

Speziell fur f (z) = z2 = (x + i y)2 = (x2 − y2) + 2 i x y ist (Re f) (x, y) = x2 − y2 , (Im f) (x, y) =2 x y .

Page 25: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

1 Der Korper der komplexen Zahlen 9

Fur den Bildpunkt f (z) schreiben wir haufig auch w , also w = f (z) . Der Graph von f :

Graph f = (w, z) ∈ C× C : w = f (z) ,

ist eine Teilmenge von C × C = C2 ∼= R4 . Somit laßt sich der Graph einer komplexen komplex–wertigen Funktion f nicht mehr in unserem dreidimensionalen Raum veranschaulichen; dagegen liegtder Graph des Realteils Re f in C × R ∼= R3 , und Entsprechendes gilt fur den Graph von Im f , sodaß man f durch Angabe zweier Flachen in R3 veranschaulichen kann (die beide uber (Teilen von)R2 liegen).

Beispiel . f (z) = z2 , also g (x, y) = x2 − y2 , h (x, y) = 2 x y . Hier sind die Niveaulinien g = const.und h = const. Hyperbeln in R2 , die paarweise senkrecht aufeinander stehen.

Komplexwertige Funktionen kann man addieren und multiplizieren (speziell mit komplexen Zahlen):Sind f , f1 , f2 : M → C , c ∈ C gegeben, so definiert man punktweise

(f1 + f2) (z) = f1(z) + f2(z)

(f1 f2) (z) = f1(z) f2(z)

(cf) (z) = c f (z)

fur z ∈ M .

Auchf1

f2ist definiert, falls f2(z) 6= 0 fur alle z ∈ M .

Definition. Es sei M eine Teilmenge von C , f : M → C sei eine Funktion, und z0 ∈ M sei ein festgewahlter Punkt. Dann heißt f stetig in z0 , wenn fur alle (offenen) Umgebungen V von w0 = f (z0)eine Umgebung U von z0 existiert mit

f (U ∩M) ⊂ V .

Da in jeder Umgebung eine ε–Kreisscheibe enthalten ist, folgt sofort:

Die Funktion f : M → C ist stetig in z0 ∈ M genau dann, wenn es fur alle ε > 0 ein δ > 0 gibt,so daß

| f (z) − f (z0) | < ε fur alle z ∈ M mit | z − z0 | < δ .

f heißt stetig auf M , falls f stetig ist in z0 fur alle z0 ∈ M . Dies ist wie im Reellen gleichbedeutendmit der folgenden Aussage: Fur jede offene Menge V ⊂ C gibt es eine offene Menge U ⊂ C mitf−1(V ) = U ∩M (Urbilder offener Mengen sind relativ offen in M ).

Wie in jedem metrischen Raum gilt das Folgenkriterium: f : M → C ist stetig in z0 genau dann,wenn fur jede Folge (zj) in M mit lim zj = z0 gilt:

limj→∞

f (zj) = f (z0) = f ( limj→∞

zj) .

AusRe f (z0) + i Im f (z0) = f (z0) = lim

j→∞f (zj)

= limj→∞

Re f (zj) + i limj→∞

Im f (zj)

folgt limj→∞

Re f (zj) = Re f (z0) und limj→∞

Im f (zj) = Im f (z0) . Also haben wir die

Folgerung 1.8 Eine Funktion f : M → C ist stetig in z0 ∈ M genau dann, wenn eine der folgendenaquivalenten Bedingungen erfullt ist :

a) Re f und Im f : M → R sind stetig in z0 ∈ M ;

Page 26: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

10 1 Der Korper der komplexen Zahlen

b) f ist stetig in z0 ∈ M .

Unter diesen Voraussetzungen ist auch | f | stetig in z0 .

Aus dem Folgenkriterium und den Rechenregeln fur Grenzwerte folgt sofort:

Satz 1.9 Die Funktionen f, g : M → C seien stetig in z0 ∈ M . Dann sind auch f + g , f · g stetigin z0 . Ist g (z0) 6= 0 , so ist g 6= 0 in einer Umgebung U ∩ M von z0 . Insbesondere ist dann dieFunktion f/g definiert auf U ∩M und stetig in z0 .

Beweis (z. B. der letzten Aussage). Wegen g (z0) 6= 0 ist ε := (1/2) | g (z0) | > 0 . Zu diesem ε gibtes ein δ > 0 , s. d. fur alle z ∈ M mit | z − z0 | < δ gilt: | g (z) − g (z0) | < ε . Ware g (z) = 0 furein solches z , so wurde folgen:

0 < | g (z0) | < ε =12| g (z0) | .

Widerspruch! Also ist g (z) 6= 0 fur alle z ∈ M ∩ z ∈ C : | z − z0 | < δ . Ist nun zj ∈ M , lim zj =z0 ∈ M , so folgt

limj→∞

f

g(zj) = lim

j→∞f (zj)g (zj)

=lim f (zj)lim g (zj)

=f (z0)g (z0)

=f

g(z0) . ¤

Komplexwertige Funktionen kann man auch zusammensetzen: Sind f : M → C , g : N →C , M, N ⊂ C , Funktionen mit f (M) ⊂ N (kurz f : M → N ), so ist (g f) (z) := g (f (z))wohldefiniert und liefert eine Funktion g f : M → C . Klar ist:

Ist f stetig in z0 , g stetig in w0 = f (z0) , so ist g f stetig in z0 .

Reellwertige stetige Funktionen auf Kompakta nehmen ihr Maximum und Minimum an. Darausfolgt im Komplexen das Folgende.

Satz 1.10 Die Funktion f : K → C sei stetig auf dem Kompaktum K ⊂ C . Dann nehmen dieFunktionen Re f , Im f , | f | auf K ihr Maximum und Minimum an. Insbesondere ist f (dem Betragenach) beschrankt, d. h. es existiert eine reelle Zahl R ≥ 0 , s. d.

| f (z) | ≤ R fur alle z ∈ K .

Hat außerdem f auf K keine Nullstelle, so existiert ein δ > 0 mit

| f (z) | ≥ δ fur alle z ∈ K .

Mit der Differenzierbarkeit werden wir uns ausfuhrlich in dem nachsten Kapitel auseinandersetzen.Wir erinnern hier nur noch an einen weiteren topologischen Begriff: Ein Weg (auch eine Kurve genannt)in M ⊂ C ist ein Tripel (I, γ, γ (I)) mit I = [ a, b ] ⊂ R , γ : I → M stetig. γ (a) heißt Anfangs–,γ (b) Endpunkt des Weges, γ (I) seine Spur , die wir auch manchmal mit spur γ oder | γ | bezeichnen.I. a. notieren wir das Tripel (I, γ, γ (I)) einfach mit dem Symbol γ . Zwei Punkte z0, z1 ∈ M heißen inM verbindbar , wenn es einen Weg γ : I → M mit z0 = γ (a) , z1 = γ (b) , I = [ a, b ] gibt. Verbind-barkeit ist eine Aquivalenzrelation. M ⊂ C heißt wegweise zusammenhangend , wenn je zwei Punktevon M in M verbindbar sind. Offene Mengen in C nennen wir auch Bereiche, zusammenhangendeBereiche heißen Gebiete. - Es gilt:

Satz 1.11 Jeder Bereich in C ist hochstens abzahlbare Vereinigung von paarweise disjunkten Gebieten.Ein Bereich ist genau dann ein Gebiet, wenn aus

G = U1 ∪ U2 , U1 , U2 offen , U1 ∩ U2 = ∅ ,

folgt : U1 = ∅ oder U2 = ∅ .

Page 27: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Anhang: Ein konzeptioneller Beweis fur die Einzigkeit von CWir wollen in diesem Anhang die Uberlegungen des letzten Kapitels zu Korpern mit der Eigenschaft(Fn) in einen starker algebraischen Kontext stellen.

Definition. Man nennt einen Oberkorper K eines Korpers K0 auch eine Korpererweiterung von K0 .Eine Korpererweiterung K von K0 heißt algebraisch, wenn jedes Element v ∈ K algebraisch uber K0

ist, d. h. wenn es ein Polynom Pv ∈ K0[x ] gibt mit Pv(v) = 0 .

Beispiel . Der Korper C der komplexen Zahlen ist eine algebraische Erweiterung von R .

Man kann diese Behauptung leicht unmittelbar verifizieren. Sie ist aber auch eine Folgerung auseinem viel allgemeineren Sachverhalt, den wir im Prinzip schon weiter oben verwendet haben.

Definition. Eine Korpererweiterung K von K0 heißt endlich, wenn K als K0–Vektorraum endlich–dimensional ist.

Satz 1.12 Jede endliche Korpererweiterung ist algebraisch.

Bemerkung . Man nennt solche Korpererweiterungen deshalb auch endlich–algebraisch.

Beweis. Dieser folgt exakt Schritt 2 in Satz 4: Ist die Dimension von K uber K0 gleich n , so sindfur v ∈ K die Elemente v0, v1, . . . , vn linear abhangig uber K0 . Den Rest des Beweises kann manwortlich oben kopieren. ¤

Definition. Ein Korper K heißt algebraisch abgeschlossen, wenn er keine echten algebraischen Korperer-weiterungen besitzt.

Satz 1.13 Der Korper C der komplexen Zahlen ist algebraisch abgeschlossen.

Beweis. Es sei K eine algebraische Korpererweiterung von C . Dann erfullt jedes Element v ∈ K einepolynomiale Gleichung P (v) = 0 mit einem Polynom P ∈ C [ x ] . Wegen der Kommutativitat von Kimpliziert die Zerlegung

P (x) = c · (x − λ1) · . . . · (x − λn) , λ1, . . . , λn ∈ C ,

eine entsprechende Zerlegung nach Einsetzen von v :

P (v) = c · (v − λ1) · . . . · (v − λn) .

Somit muß die rechte Seite zusammen mit der linken verschwinden und damit v gleich einem der λj

sein, insbesondere also in C liegen. ¤

Bemerkung . Man zeigt umgekehrt in der Korpertheorie, daß uber einem beliebigen algebraisch abge-schlossenen Korper K jedes Polynom in Linearfaktoren zerfallen muß. Dazu benutzt man die Tatsache,daß man zu einem vorgegebenen Polynom uber einem beliebigen Korper K stets eine Korpererweite-rung von K konstruieren kann, in der das Polynom in Linearfaktoren zerfallt (Zerfallungskorper desPolynoms).

Unsere fruheren Uberlegungen zu Korpern mit der Eigenschaft (Fn) konnen wir jetzt wie folgtumformulieren:

Satz 1.14 Jede endliche Korpererweiterung von R ist isomorph zu R oder C .

Page 28: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

12 Der Korper der komplexen Zahlen

Beweis. Es sei K eine solche Erweiterung. Enthalt K ein Element v mit v2 = −1 , so enthalt,wie wir oben bewiesen haben, K einen Unterkorper, der zu C isomorph ist. Da K endlich uberR ist, muß K auch insbesondere endlich uber diesem Unterkorper sein, und wegen der algebraischenAbgeschlossenheit von C ist K ∼= C . Im anderen Fall ist das Polynom x2 + 1 uber K [ x ] unzerlegbar,also ein Primelement. Folglich ist K1 := K [ x ]/(x2 + 1) sowohl ein Oberkorper von K als auch vonR [ x ]/(x2 + 1) ∼= C . Da die Dimension von K1 uber K gleich 2 ist, ist die Dimension von K1 uber Rendlich und damit auch die Dimension von K1 uber C ⊃ R . Wegen der algebraischen Abgeschlossenheitvon C ist dann aber K1 = C und damit K ein Unterkorper von C , der R enthalt. Da das Polynomx2 + 1 in K nicht zerfallt, kann die Dimension von K uber R nicht 2 sein. Sie ist also 1 und damitK ∼= R . ¤

Page 29: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen

Es sei U ⊂ C ein Bereich, z0 = x0 + i y0 ∈ U sei ein beliebiger Punkt, und g : U → R sei eineFunktion. g heißt bekanntlich (total) reell differenzierbar in z0 , falls es Funktionen

A1 , A2 : U −→ R

gibt, die in z0 stetig sind, so daß

g (z) = g (z0) + A1(z) (x − x0) + A2(z) (y − y0) fur alle z ∈ U .

Warnung . Die Funktionen A1 , A2 sind auf U nicht eindeutig bestimmt ! Dagegen sind die WerteA1(z0) und A2(z0) durch die Funktion g wohlbestimmt; denn es ist z. B.

A1(z0) = limz→z0z 6=z0

Imz=y0

A1(z) = limz→z0z 6=z0

Imz=y0

g (z) − g (z0)x − x0

=∂g

∂x(z0) ;

entsprechend ergibt sich

A2(z0) =∂g

∂y(z0) .

Insbesondere erhalten wir: Ist g total reell differenzierbar in z0 , so ist g dort auch partiell differen-zierbar in z0 . Die Umkehrung gilt jedoch bekanntlich nicht!

Es sei nun f : U → C komplex–wertig. Wir nennen dann f reell differenzierbar in z0 , wenng = Re f und h = Im f in z0 reell differenzierbar sind. Durch Addition der definierenden Gleichungen

g (z) = g (z0) + A1(z) (x − x0) + A2(z) (y − y0)

h (z) = h (z0) + B1(z) (x − x0) + B2(z) (y − y0)

ergibt sich dannf (z) = f (z0) + C1(z) (x − x0) + C2(z) (y − y0) ,

wobeiC1(z) = A1(z) + i B1(z) und C2(z) = A2(z) + i B2(z)

auf U erklart und in z0 stetig sind. Umgekehrt konnen wir naturlich genauso schließen und gewinnenauf diese Weise das folgende

Lemma 2.1 Eine Funktion f : U → C ist in z0 ∈ C genau dann reell differenzierbar, wenn es in z0

stetige Funktionen C1 , C2 : U → C gibt mit

f (z) = f (z0) + C1(z) (x − x0) + C2(z) (y − y0) , z ∈ U .

Wir setzen unter den vorigen Voraussetzungen (fur f = g + i h ):

∂f

∂x(z0) = C1(z0) =

∂g

∂x(z0) + i

∂h

∂x(z0) ,

∂f

∂y(z0) = C2(z0) =

∂g

∂y(z0) + i

∂h

∂y(z0) .

Es gilt also allgemein per definitionem:

∂x(g + i h) =

∂g

∂x+ i

∂h

∂x,

∂y(g + i h) =

∂g

∂y+ i

∂h

∂y.

Page 30: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

14 2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen

Wir kurzen ferner wie gewohnlich ab:

gx :=∂g

∂xetc.

Man sieht dann sofort: Sind f, f1, f2 : U → C in z0 ∈ U reell differenzierbar, so auch f1 +f2, cf, f1 f2, f , und es gelten die folgenden Regeln:

(f1 + f2)x = f1,x + f2,x

(c f)x = c fx

(f1 f2)x = f1,x f2 + f1 f2,x

fx = (fx)

und entsprechend fur die partiellen Ableitungen nach der Variablen y .

Bei der bisherigen Behandlung der reellen Differenzierbarkeit ist die Verwendung reeller Koordi-naten storend. Wir beweisen deshalb den folgenden Satz, der uns sofort ein bequemes Hilfsmittel zurCharakterisierung von komplex differenzierbaren Funktionen an die Hand gibt.

Satz 2.2 Eine Funktion f : U → C ist in z0 ∈ U genau dann reell differenzierbar, wenn es in z0

stetige Funktionen ∆1, ∆2 : U → C gibt, s. d. fur alle z ∈ U gilt:

(∗) f (z) = f (z0) + ∆1(z) (z − z0) + ∆2(z) (z − z0) .

Es gilt dann

∆1(z0) =12

(∂f

∂x(z0) − i

∂f

∂y(z0)

),

∆2(z0) =12

(∂f

∂x(z0) + i

∂f

∂y(z0)

).

Insbesondere sind die Werte ∆1(z0) und ∆2(z0) eindeutig durch f bestimmt.

Beweis. Sei f reell differenzierbar, d. h. es gelte

f (z) = f (z0) + C1(z) (x − x0) + C2(z) (y − y0)

mit den ublichen Zusatzbedingungen. Setzt man dann z = x + i y , d. h. x = (1/2) (z + z) , y =(1/2i) (z − z) , und entsprechend fur z0 , so ergibt sich sofort

f (z) = f (z0) + ∆1(z) (z − z0) + ∆2(z) (z − z0) ,

wobei die Funktionen

∆1(z) =12

(C1(z) − i C2(z)) und ∆2(z) =12

(C1(z) + i C2(z))

auf U erklart und in z0 stetig sind mit

∆1(z0) =12

(fx(z0) − i fy(z0)) und ∆2(z0) =12

(fx(z0) + i fy(z0)) .

Gilt andererseitsf (z) = f (z0) + ∆1(z) (z − z0) + ∆2(z) (z − z0) ,

so folgt umgekehrt eine Darstellung der gewunschten Art mit

C1(z) = ∆1(z) + ∆2(z) und C2(z) = i (∆1(z) − ∆2(z)) . ¤

Page 31: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen 15

Definition und Bemerkung . Aufgrund der Darstellung (∗) ist es naheliegend zu setzen:

∂f

∂z(z0) := fz(z0) := ∆1(z0) =

12

(fx − i fy) (z0) ,

∂f

∂z(z0) := fz(z0) := ∆2(z0) =

12

(fx + i fy) (z0) .

∂f

∂z(z0) und

∂f

∂z(z0) heißen die Wirtinger–Ableitungen von f nach z bzw. z an der Stelle z0 .

Naturlich lassen sich die Wirtinger–Ableitungen auch durch Ableitungen des Real– und Imaginarteilsvon f = g + i h ausdrucken:

fz =12

(fx − ify) =12

((gx + i hx) − i (gy + i hy))

=12

(gx + hy) +i

2(hx − gy) ,

fz =12

(fx + i fy) =12

((gx + i hx) + i (gy + i hy))

=12

(gx − hy) +i

2(hx + gy) .

Satz 2.3 (Rechenregeln fur Wirtinger - Ableitungen) Es seien f , f1 , f2 : U → C in z0 ∈ Ureell differenzierbar, c ∈ C . Dann folgt : f1 + f2 , c f , f1 f2 , f sind in z0 reell differenzierbar, undes gelten die folgenden Regeln :

∂(f1 + f2)∂z

(z0) =∂f1

∂z(z0) +

∂f2

∂z(z0) ,

∂(f1 + f2)∂z

(z0) =∂f1

∂z(z0) +

∂f2

∂z(z0) ,

∂(c f)∂z

(z0) = c∂f

∂z(z0) ,

∂(c f)∂z

(z0) = c∂f

∂z(z0) ,

d. h. die Ableitungen∂

∂z,

∂zsind C–linear. Weiter gilt fur die Wirtingerableitungen die Produktregel

∂(f1 · f2)∂z

(z0) = f1(z0)∂f2

∂z(z0) + f2(z0)

∂f1

∂z(z0) ,

∂(f1 · f2)∂z

(z0) = f1(z0)∂f2

∂z(z0) + f2(z0)

∂f1

∂z(z0) .

Ferner ist∂f

∂z(z0) =

∂f

∂z(z0) ,

∂f

∂z(z0) =

∂f

∂z(z0) .

Ist f : U → C in z0 ∈ U , g : V → C in w0 = f (z0) reell differenzierbar, und gilt f (U) ⊂ V , so istauch g f in z0 reell differenzierbar, und es gelten die Kettenregeln :

∂(g f)∂z

(z0) =∂g

∂w(w0)

∂f

∂z(z0) +

∂g

∂w(w0)

∂f

∂z(z0) ,

∂(g f)∂z

(z0) =∂g

∂w(w0)

∂f

∂z(z0) +

∂g

∂w(w0)

∂f

∂z(z0) .

Der Beweis kann mit Hilfe der reellen partiellen Ableitungen fx , fy und den Satzen im Reellen bewiesenwerden. Es geht aber viel schneller mit direkter Anwendung der Definition. Aus

f1(z) = f1(z0) + ∆1(z) (z − z0) + ∆2(z) (z − z0)

f2(z) = f2(z0) + Ω1(z) (z − z0) + Ω2(z) (z − z0)

Page 32: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

16 2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen

folgt zum Beispiel sofort

f1(z) · f2(z) = f1(z0) · f2(z0)+

f1(z0)Ω1(z) + f2(z0)∆1(z) + ∆1(z)Ω1(z) (z − z0)+

(∆1(z)Ω2(z) + Ω1(z)∆2(z)) (z − z0) (z − z0)+

f1(z0)Ω2(z) + f2(z0)∆2(z) + ∆2(z)Ω2(z) (z − z0) (z − z0)

und damit die reelle Differenzierbarkeit des Produktes samt der Relation

∂(f1 · f2)∂z

(z0) = f1(z0)Ω1(z0) + f2(z0)∆1(z0)

= f1(z0)∂f2

∂z(z0) + f2(z0)

∂f1

∂z(z0) .

Die anderen Aussagen beweist man nach dem gleichen Muster. ¤

Ein ganz wichtiger Spezialfall liegt vor, wenn die Wirtinger–Ableitung∂f

∂z(z0) nach der konjugiert–

komplexen Variablen verschwindet. Wir formulieren aquivalente Bedingungen.

Satz 2.4 Es sei f : U → C gegeben, z0 sei ein fest gewahlter Punkt in U . Dann sind die folgendenAussagen aquivalent :

i) f ist in z0 reell differenzierbar, und es gilt

∂f

∂z(z0) = 0 .

ii) f ist in z0 reell differenzierbar, und fur g = Re f und h = Im f gelten die Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen in z0 :

∂g

∂x(z0) =

∂h

∂y(z0) ,

∂g

∂y(z0) = − ∂h

∂x(z0) .

iii) Es gibt eine in z0 stetige Funktion ∆ : U → C , so daß fur alle z ∈ U gilt :

f (z) = f (z0) + ∆ (z) (z − z0) .

iv) Es existiert der Grenzwert des komplexen Differentialquotienten :

f ′(z0) := limz→z0z 6=z0

f (z) − f (z0)z − z0

.

Definition: Ist eine der Voraussetzungen von Satz 4 erfullt, so heißt f in z0 komplex differenzierbarund f ′(z0) heißt die komplexe Ableitung von f in z0 .

Zusatz zu Satz 4. Ist f in z0 komplex differenzierbar, so gilt

df

dz(z) := f ′(z0) =

∂f

∂z(z0) =

∂f

∂x(z0) =

1i

∂f

∂y(z0) = gx(z0) + i hx(z0) = hy(z0) − i gy(z0) .

Page 33: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen 17

Beweis von Satz 4. Die Aquivalenz von ii) und i) ist trivial, ebenso die Implikation iii) =⇒ i). Fernerzeigt man iii) ⇐⇒ iv) wie im Reellen, indem man setzt:

∆ (z) :=

f ′(z0) , z = z0 ;

f (z) − f (z0)z − z0

, z 6= z0 .

Es bleibt also nur noch i) =⇒ iii) zu beweisen. Es gelte also

f (z) = f (z0) + ∆1(z) (z − z0) + ∆2(z) (z − z0)

fur z ∈ U , wobei ∆1 , ∆2 stetig in z0 sind und ∆2 in z0 verschwindet. Fur z 6= z0 gilt dann

f (z) = f (z0) + ∆ (z) (z − z0)

mit∆ (z) := ∆1(z) + ∆2(z)

z − z0

z − z0.

Es bleibt nur noch zu zeigen: ∆ ist stetig in z0 (erganzbar). Dies folgt aber zusammen mit der Stetigkeitvon ∆1 in z0 sofort aus

∣∣∣∣z − z0

z − z0

∣∣∣∣ = 1 und limz→z0

∆2(z) = ∆2(z0) = 0 . ¤

Aus Satz 4 und den Rechenregeln fur Wirtinger–Ableitungen folgt unmittelbar der folgende Satzuber komplexe Ableitungen:

Satz 2.5 Es seien f , f1 , f2 : U → C in z0 ∈ U komplex differenzierbar, c ∈ C . Dann folgt :f1 + f2 , c f , f1 · f2 sind in z0 komplex differenzierbar, und fur die komplexen Ableitungen gilt :

d(f1 + f2)dz

(z0) =df1

dz(z0) +

df2

dz(z0) ,

d(c f)dz

(z0) = cdf

dz(z0) ,

d(f1 · f2)dz

(z0) = f1(z0)df2

dz(z0) + f2(z0)

df1

dz(z0) .

Ist zusatzlich g : V → C in w0 = f (z0) komplex differenzierbar und f (U) ⊂ V , so ist auch g f inz0 komplex differenzierbar, und es gilt die Kettenregel :

d(g f)dz

(z0) =dg

dw(w0)

df

dz(z0) .

Beweis (z. B. fur die Kettenregel). Da f in z0 und g in w0 komplex differenzierbar sind, ist insbe-sondere

∂f

∂z(z0) = 0 ,

∂g

∂w(w0) = 0 .

Anwendung der Kettenregel fur Wirtinger–Ableitungen liefert dann

∂(g f)∂z

=∂g

∂w· ∂f

∂z+

∂g

∂w·

(∂f

∂z

)= 0 in z0 .

Also ist g f in z0 komplex differenzierbar, und es ist dort

Page 34: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

18 2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen

d(g f)dz

=∂(g f)

∂z=

∂g

∂w· ∂f

∂z+

∂g

∂w· ∂f

∂z=

dg

dw· df

dz. ¤

Selbstverstandlich laßt sich dies alles auch direkt mit der Definition der komplexen Differenzierbar-keit wie im Reellen herleiten. Genauso muhelos gewinnt man den folgenden

Satz 2.6 Wenn f in z0 komplex (oder auch reell) differenzierbar ist, so ist f dort auch stetig.

Beweis. Dies folgt sofort aus der charakterisierenden Gleichung (∗). ¤

Satz 2.7 f : U → C sei komplex differenzierbar in z0 ∈ U , und f (z0) sei von 0 verschieden. Dannexistiert eine offene Umgebung V = V (z0) ⊂ U , s. d. 1/f auf V erklart ist. Ferner ist die Funktion1/f in z0 komplex differenzierbar, und es gilt

(1f

)′(z0) = − f ′(z0)

(f (z0))2.

Beweis. Der 1. Teil folgt aus der Stetigkeit von f in z0 . Die Darstellung f (z) = f (z0) + ∆ (z) (z − z0)und die Stetigkeit von ∆ in z0 implizieren, daß

1f (z)

− 1f (z0)

=f (z0) − f (z)

f (z) f (z0)= −

(∆(z)

f (z) f (z0)

)(z − z0) ,

und die Funktion

−(

∆(z)f (z) f(z0)

)

ist stetig in z0 mit dem angegebenen Wert. ¤

Wir wollen zunachst einige Beispiele betrachten:

1. ,,Reelle“ Polynome (in dem oben erlauterten Sinne) lassen sich stets schreiben in der Form∑j,k

endlich

cjk zj zk , cjk ∈ C

und sind reell differenzierbar auf ganz C . Denn

z = z0 + 1 (z − z0) impliziert∂z

∂z(z0) = 1 ,

∂z

∂z(z0) = 0 ,

z = z0 + 1 (z − z0) impliziert∂z

∂z(z0) = 0 ,

∂z

∂z(z0) = 1 ;

also sind z und z reell differenzierbar in jedem Punkt z0 und damit auch jede endliche Summe vonProdukten.

2. Reelle Polynome sind i. a. nicht komplex differenzierbar: Wahle z. B.

f (z) = z .

Dann ist (siehe oben)∂z

∂z(z0) = 1 fur alle z0 ∈ C , d. h. f ist in keinem Punkt komplex differenzier-

bar, aber uberall stetig.

Man beachte, daß in einer reellen Veranderlichen stetige Funktionen, die nirgends differenzierbar sind,sehr schwer zu konstruieren sind !

Page 35: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen 19

Wir sehen also schon jetzt: Komplexe Differenzierbarkeit ist eine weit starkere Bedingung als reelleDifferenzierbarkeit (im Reellen).

3. Komplexe PolynomeP (z) = a0 + a1 z + · · ·+ an zn

sind uberall komplex differenzierbar; denn aus 1. folgt: z ist uberall komplex differenzierbar, also auchz2 , z3, . . . , etc. Damit ist P komplex differenzierbar, und es gilt:

P ′(z) =dP

dz(z) = a1 + 2 a2 z + · · ·+ nan zn−1 .

4. Es gibt stetige Funktionen, die nur in einzelnen Punkten komplex differenzierbar sind:

f (z) = | z |2 = z · z

ist nach 1. reell differenzierbar, und nach den Rechenregeln fur Wirtinger–Ableitungen gilt:

∂f

∂z=

∂z(z z) = z

∂z

∂z+ z

∂z

∂z= z · 1 + z · 0 = z ,

was nur im Nullpunkt gleich Null ist.

Da auch solche Funktionen wie in 4. nicht besonders gute Eigenschaften haben, gibt man die folgende

Definition. Sei B ⊂ C ein Bereich, f : B → C und z0 ∈ B . Dann heißt f holomorph im Punkte z0 ,falls f in einer Umgebung U = U (z0) von z0 komplex differenzierbar ist. f heißt holomorph aufB , falls f holomorph in z0 ∈ B ist fur alle z0 ∈ B , d. h. wenn f in jedem Punkt z0 ∈ B komplexdifferenzierbar ist. Ist B = C und f : C→ C holomorph, so heißt f eine ganze Funktion.

Bezeichnung . Ist B ⊂ C ein Bereich, so schreiben wir

O (B) := f : B −→ C ; f holomorph .

Satz 2.8 O (B) ist (bezuglich der ublichen Verknupfungen) eine (kommutative) C–Algebra (mit 1 ).

Beispiel . Jedes komplexe Polynom P (z) = a0 + a1 z + · · ·+ an zn liegt in O (C).

Bemerkung . Ist f ∈ O (B) , so ist fur alle z ∈ B die Ableitung f ′(z) wohldefiniert. f liefert also eineneue Abbildung (Funktion)

f ′ :

B −→ C

z 7−→ f ′(z) .

Eine der ganz wichtigen Folgerungen der Funktionentheorie ist (Beweis spater), daß f ′ ∈ O (B) .Infolgedessen existiert dann auch f ′′ etc. (man beachte den Unterschied zur Theorie im Reellen!!).Insbesondere ist also die Ableitung einer holomorphen Funktion automatisch stetig.

Wenn wir die letzte Bemerkung schon voraussetzen, konnen wir die Holomorphie einer komplex–wertigen Funktion vollstandig in Termen der reellen Analysis formulieren.

Satz 2.9 Es gilt f = g + i h ∈ O (B) genau dann, wenn g , h : B → R auf B stetig partielldifferenzierbar sind und die Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen gelten :

gx(x, y) = hy(x, y) , gy(x, y) = −hx(x, y) fur alle (x, y) ∈ B .

Page 36: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

20 2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen

Man kann also sagen: Die Theorie der holomorphen Funktionen ist ein Teilgebiet der Theorie(von Systemen) partieller Differentialgleichungen (namlich der Theorie der Cauchy–RiemannschenDifferentialgleichungen).

Bemerkung . Die reelle Funktionalmatrix JRf einer komplex differenzierbaren Funktion f : U → C istwegen der Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen stets von der Form

JRf :=

(gx gy

−gy gx

).

Dies ist nur eine andere Manifestation der Tatsache, daß ein R–linearer Automorphismus von R2 genaudann C–linear ist, wenn er sich in der kanonischen R–Basis 1, i von C ∼= R2 in der Form

(a −b

b a

)

darstellen laßt (siehe Kapitel 1). Insbesondere ist die reelle Funktional–Determinante det JRf einerholomorphen Funktion f nirgends negativ! Sie ist sogar positiv, wenn die komplexe Ableitung von fnicht verschwindet. - Dies folgt aus dem folgenden einfachen Lemma.

Lemma 2.10 Ist die Funktion f : U → C in z0 ∈ U reell differenzierbar, so gilt

det JRf (z0) = | fz(z0) |2 − | fz(z0) |2 .

Insbesondere istdet JRf (z0) = | f ′(z0) |2 ,

wenn f in z0 komplex differenzierbar ist.

Beweis. Es ist

| fz |2 − | fz |2 = 1/4 ((gx + hy)2 + (hx − gy)2) − 1/4 ((gx − hy)2 + (hx + gy)2)

= gxhy − hxgy = det JRf ,

was zu beweisen war. ¤

Zusammen mit dem vorigen Satz lassen sich dann bekannte Satze aus der reellen Analysis aufholomorphe Funktionen ubertragen. Als Beispiel bringen wir hier den folgenden

Satz 2.11 Es sei f : U → C holomorph, und an einer Stelle z0 ∈ U sei die komplexe Ableitung f ′(z0)von Null verschieden. Dann ist, nach Verkleinerung von U , f eine bijektive Abbildung von U auf eineoffene Teilmenge W ⊂ C , deren Umkehrfunktion ebenfalls holomorph ist. Mit anderen Worten : f istlokal um z0 biholomorph.

Beweis. Wegendet JRf (z0) = | f ′(z0) |2 > 0

ist f nach dem Satz uber implizite Funktionen lokal umkehrbar mit einer reell differenzierbaren Funk-tion f−1 . Es bleibt zu zeigen, daß diese auch holomorph ist. Dies folgt aber sofort aus der Kettenregelfur die Wirtinger–Ableitungen:

0 = ∂w/∂w = ∂(f f−1)/∂w = ∂f/∂z · ∂f−1/∂w + ∂f/∂z · ∂f−1/∂w = ∂f/∂z · ∂f−1/∂w ,

woraus sich wegen der Stetigkeit von ∂f/∂z und dem Nichtverschwinden dieser Ableitung bei z0 diegewunschte Relation

∂f−1/∂w = 0

in einer Umgebung von f (z0) ergibt. ¤

Page 37: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen 21

Korollar 2.12 Ist f : U → C injektiv und holomorph, und gilt f ′(z) 6= 0 fur alle z ∈ U , so ist dasBild f (U) offen in C , und die Umkehrfunktion f−1 : f (U) → U ist holomorph.

Bemerkung . Wir werden spater einen viel eleganteren funktionentheoretischen Beweis dieser Tatsachegeben, der den Umkehrsatz und damit die reelle Analysis vermeidet.

Beispiel . Die schon in der Einleitung erwahnte Funktion

f (z) =12

(z +

1z

)

bildet sowohl G1 = D \ 0 als auch G2 = C \D umkehrbar holomorph auf das ,,Schlitzgebiet“

C \ z = x + i y ∈ C : |x | ≤ 1 , y = 0 ab. Denn die Gleichung

f (z) = w , w ∈ C fest

fuhrt zu der quadratischen Beziehung

z2 − 2 w z + 1 = 0

mit den (i.a. zwei) Losungenz1,2 = w ±

√w2 − 1 ,

die nur fur w = ±1 zusammenfallen. Wegen f (1/z) = f (z) folgt weiter z2 = 1/z1 (was mannaturlich auch direkt nachrechnen kann). Insbesondere ist also | z2 | = 1 genau dann wenn | z1 | = 1 ,und | z2 | > 1 genau dann wenn | z1 | < 1 . Folglich sind sowohl f |G1 als auch f |G2 bijektive Abbil-dungen von G1 bzw. G2 nach C \ f (∂D) . Fur z = exp (iθ) ∈ ∂D ist offensichtlich f (z) = cos θ ,also f (∂D) = z ∈ C : |Re z | ≤ 1 , Im z = 0 . Daß die beiden Einschrankungen sogar umkehrbarholomorph (biholomorph) sind, folgt aus der lokalen holomorphen Umkehrbarkeit, die ihrerseits eineFolgerung aus dem Nichtverschwinden der Ableitung

f ′(z) =12

(1 − 1

z2

)

auf G1 ∪G2 ist.

Es ist naheliegend, fur eine reell differenzierbare Funktion f : U → C mit Hilfe der Wirtinger–Ableitungen auch eine komplexe Funktionalmatrix

JCf :=

(fz fz

fz fz

)

einzufuhren, deren Determinante nach dem Wirtinger–Kalkul gerade gleich | fz |2 − | fz |2 ist. Mitanderen Worten kann man also den ersten Teil von Lemma 10 auch ausdrucken durch die Identitat

det JCf = det JRf .

Der tiefere Grund fur diese Gleichheit liegt in der einfach zu beweisenden Tatsache, daß die beidenFunktionalmatrizen uber dem Korper C ahnlich sind. Wir werden diese Rechnung jetzt am Endedieses Kapitels nachtragen.

Lemma 2.13 Fur eine Funktion f : U → C gilt an jeder Stelle z0 , an der sie reell differenzierbarist, die Identitat (

fz fz

fz fz

(1 i

1 −i

)=

(1 i

1 −i

(gx gy

hx hy

).

Page 38: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

22 2 Reell und komplex differenzierbare Funktionen

Beweis. Wir schreiben

f (z) = f (z0) + ∆1(z) (z − z0) + ∆2(z) (z − z0)

mit an der Stelle z0 stetigen Funktionen ∆1 , ∆2 : U → C , so daß

∂f

∂z= ∆1(z0) und

∂f

∂z= ∆2(z0) .

Entsprechend hat man dann

f (z) = f (z0) + ∆2(z) (z − z0) + ∆1(z) (z − z0) .

Zusammenfassend kann man diese beiden Gleichungen in die Matrix–Gestalt(

f (z) − f (z0)

f (z) − f (z0)

)=

(∆1(z) ∆2(z)

∆2(z) ∆1(z)

(z − z0

z − z0

)

bringen. Nun ist aber (z − z0

z − z0

)=

(1 i

1 −i

(x − x0

y − y0

)

und ganz entsprechend(

f (z) − f (z0)

f (z) − f (z0)

)=

(1 i

1 −i

(g (z) − g (z0)

h (z) − h (z0)

).

Daraus gewinnt man sofort

(g (z) − g (z0)

h (z) − h (z0)

)=

(1 i

1 −i

)−1

·(

f (z) − f (z0)

f (z) − f (z0)

)

=

(1 i

1 −i

)−1

·(

∆1(z) ∆2(z)

∆2(z) ∆1(z)

(1 i

1 −i

(x − x0

y − y0

)

und damit die Darstellung(

g (z) − g (z0)

h (z) − h (z0)

)=

(A1(z) A2(z)

B1(z) B2(z)

(x − x0

y − y0

)

mit der Matrix(

A1(z) A2(z)

B1(z) B2(z)

)=

(1 i

1 −i

)−1

·(

∆1(z) ∆2(z)

∆2(z) ∆1(z)

(1 i

1 −i

).

Hieraus folgt unmittelbar die Behauptung, da A1(z0) = gx(z0) etc. ¤

Page 39: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Anhang: Komplexe Differentialformen und der Wirtinger-Kalkul

In der reellen Analysis haben wir uns ausfuhrlich mit (reell–wertigen) (alternierenden) Differential-formen auf offenen Teilmengen U ⊂ Rn beschaftigt. Selbstverstandlich kann man genausogut auchkomplex–wertige k–Formen einfuhren, die per definitionem lokal von der Gestalt

ω =∑

1≤j1<···<jk≤n

aj1,...,jkdxj1 ∧ . . . ∧ dxjk

mit komplex–wertigen Funktionen aj1,...,jk: U → C sind. Das außere Produkt und das Liften solcher

Formen kann man wortwortlich wie im fruheren Fall einfuhren. Wenn man das Differential im Reellenwie fruher erklaren und als C–lineare Abbildung auf komplex–wertige Formen fortsetzen will, hat mankeine andere Wahl, als fur Funktionen

df := d Re f + i d Im f

zu setzen undd ω =

1≤j1<···<jk≤n

daj1,...,jk∧ dxj1 ∧ . . . ∧ dxjk

.

Auch hier gilt die Formel d2 = 0 und das Vertauschen des Differentials mit dem Liften.Dies alles ist nur das Verallgemeinern von Begriffen ohne tiefere Bedeutung. Interessant wird die

Verallgemeinerung aber in dem Fall, wo die Funktionen nicht nur komplex–wertig sind, sondern auchvon komplexen Argumenten abhangen. Wir haben es dann mit Formen auf offenen Teilmengen U ⊂ Cn

zu tun, die wir vermoge der Zerlegung zj = xj + i yj als Formen auf U ⊂ R2n auffassen konnen. Nunsind zj und zj komplex–wertige Funktionen auf U und besitzen daher die komplexen Differentiale

dzj = dxj + i dyj , dzj = dxj − i dyj .

Offensichtlich lassen sich aber auch die Differentiale dxj und dyj im Komplexen wieder aus denDifferentialen dzj und dzj zuruckgewinnen durch die Formeln:

dxj =dzj + dzj

2und dyj =

dzj − dzj

2 i.

Mit anderen Worten: Jede komplex–wertige Differentialform auf U ⊂ Cn laßt sich auch ausdrucken alsLinearkombination (mit komplex–wertigen Funktionen als Koeffizienten) von k–fachen Dachproduktender 1–Formen dzj , dzj , j = 1, . . . , n .

Betrachten wir hierzu den Spezialfall des Differentials einer Funktion f = f (z1, . . . , zn) mit Realteilg und Imaginarteil h . Nach Definition ist

df = dg + i dh =n∑

j=1

(∂g

∂xj+ i

∂h

∂xj

)dxj +

n∑

j=1

(∂g

∂yj+ i

∂h

∂yj

)dyj .

Selbstverstandlich schreibt man

∂f

∂xj:=

∂g

∂xj+ i

∂h

∂xjund

∂f

∂yj:=

∂g

∂yj+ i

∂h

∂yj,

so daß die obige Formel zu

df =n∑

j=1

∂f

∂xjdxj +

n∑

j=1

∂f

∂yjdyj

wird.

Page 40: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

24 Reell und komplex differenzierbare Funktionen

Nun muß sich df aber auch, wie wir oben bemerkt haben, als Linearkombination der dzj und dzj

schreiben lassen. Es ist dann naheliegend, einen Ansatz der Form

df :=n∑

j=1

∂f

∂zjdzj +

n∑

j=1

∂f

∂zjdzj

zu machen mit den sogenannten (partiellen) Wirtinger–Ableitungen nach den ,,komplexen Variablen“zj bzw. zj . Diese sind C–linear in f , genugen der Produktregel und der Kettenregel (in der aber beideTypen der Wirtinger–Ableitungen vorkommen), und es ist

∂f

∂zj=

(∂f

∂zj

),

∂f

∂zj=

(∂f

∂zj

).

Konkret gewinnt man mit

∂f

∂zj+

∂f

∂zj=

∂f

∂xj, i

(∂f

∂zj− ∂f

∂zj

)=

∂f

∂yj

die expliziten Formeln

∂f

∂zj=

12

(∂f

∂xj− i

∂f

∂yj

)=

12

(∂ Re f

∂xj+

∂ Im f

∂yj

)+

i

2

(∂ Im f

∂xj− ∂ Re f

∂yj

)

und∂f

∂zj=

12

(∂f

∂xj+ i

∂f

∂yj

)=

12

(∂ Re f

∂xj− ∂ Im f

∂yj

)+

i

2

(∂ Re f

∂yj+

∂ Im f

∂xj

).

Bemerkungen. 1. Fur n = 1 reduzieren sich die vorigen Uberlegungen auf die alten Definitionen.Insbesondere ist fur stetig differenzierbare Funktionen in einer komplexen Veranderlichen

df :=df

dzdz +

df

dzjdz

und speziell fur holomorphe Funktionen

df :=df

dzdz .

2. Komplexe 1–Formen sind C–Linearformen auf reellen Vektorfeldern. Im Falle n = 1 schreibt sichein solches Vektorfeld v : U → R2 in der Form v = v (z) = (v1(x, y), v2(x, y)) . Also operiert dieForm dz als

dz (v) = (dx + i dy) (v1, v2) = v1 + i v2 .

D. h.: Die 1–Form dz ordnet an jeder Stelle z = x + i y dem reellen Vektor v = (v1, v2) ∈ R2 diekomplexe Zahl v1 + i v2 ∈ C zu. Entsprechend ist dz (v) = dz (v) = v1 − i v2 .

Page 41: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

3 Potenzreihen

Zur Bequemlichkeit des Lesers fassen wir in diesem Kapitel noch einmal die Ergebnisse uber komplexePotenzreihen zusammen, die wir schon in der (reellen) Analysis hergeleitet hatten. Es sei M ⊂ C eineMenge und (fj) mit fj : M → C eine Folge von Funktionen. Ist diese punktweise konvergent auf M ,so wird durch

( limj→∞

fj) (z) := limj→∞

fj (z) , z ∈ M ,

eine neue Funktionlim

j→∞fj : M −→ C

definiert. Die punktweise Konvergenz ist jedoch i. a. nicht stark genug, um gute Eigenschaften derFunktionen fj auf den Limes zu ubertragen. - Man benotigt daher die

Definition. Die Funktionenfolge (fj) auf M heißt gleichmaßig konvergent gegen die Grenzfunktion f ,falls es fur alle ε > 0 eine naturliche Zahl j0 = j0(ε) gibt, so daß fur alle z ∈ M und alle j ≥ j0gilt:

| fj(z) − f (z) | < ε .

Ist die Folge (fj) auf einem Bereich U ⊂ C erklart, so heißt diese lokal gleichmaßig konvergent gegenf , wenn fur alle z0 ∈ U eine Umgebung V = V (z0) ⊂ U existiert, so daß die Folge (fj|V ) auf Vgleichmaßig gegen f|V konvergiert. Wir schreiben fur diesen Sachverhalt manchmal auch fj =⇒ f

bzw. fjlokal=⇒ f .

Bemerkung . Die Folge fj konvergiert lokal gleichmaßig auf dem Bereich U genau dann, wenn dieeingeschrankte Folge der fj|K fur jedes Kompaktum K ⊂ U gleichmaßig konvergiert. Man sagt daherin diesem Fall auch, die Folge fj konvergiere gleichmaßig auf Kompakta oder kurz, sie konvergierekompakt .

Satz 3.1 Existiert lim fj = f lokal gleichmaßig auf U und sind die Funktionen fj stetig, so auchdie Grenzfunktion f .

Beweis (Cauchy). Es sei z0 ∈ U fest gewahlt und V = V (z0) ⊂ U so, daß fj|V =⇒ f|V . Zu jedemε > 0 wahle j0 = j0(ε) so, daß

| fj(z) − f (z) | < ε/3 , j ≥ j0 , z ∈ V .

Da alle fj stetig in z0 sind, existiert ferner fur jedes j ein δj = δj(ε) > 0 , so daß

| fj(z) − fj(z0) | < ε/3 fur alle z ∈ U mit | z − z0 | < δj .

Sei nun 0 < δ ≤ δj0 so klein, daß Dδ(z0) ⊂ V . Dann gilt fur alle z ∈ Dδ(z0) :

| f (z) − f (z0) | ≤ | f (z) − fj0(z) | + | fj0(z) − fj0(z0) | + | fj0(z0) − f (z0) |< ε/3 + ε/3 + ε/3 = ε ,

was zu beweisen war. ¤

Klar ist auch nach dem Cauchy–Kriterium:

Eine Folge fj auf M ist genau dann gleichmaßig konvergent, wenn es fur alle ε > 0 ein j0 = j0(ε) ∈N gibt, so daß

| fj(z) − fk(z) | < ε fur alle z ∈ M und fur alle j, k ≥ j0 .

Page 42: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

26 3 Potenzreihen

All dies laßt sich nun leicht auf Reihen von Funktionen vermittels Partialsummen ubertragen:

( ∞∑

j=0

fj

)(z) :=

∞∑

j=0

fj(z) := limn→∞

( n∑

j=0

fj(z))

.

Folgerung 3.2 Die Reihe∞∑

j=0

fj ist genau dann gleichmaßig konvergent auf M , wenn es fur alle

ε > 0 ein j0 gibt, so daß fur alle m, n ≥ j0 und alle z ∈ M gilt :

∣∣∣m∑

j=n

fj(z)∣∣∣ < ε .

Eine Reihe∑

fj heißt bekanntlich absolut konvergent in z , falls die Reihe der Absolutbetrage

∞∑

j=0

| fj(z) |

konvergiert. Klar ist, daß absolute (gleichmaßige) Konvergenz die (gleichmaßige) Konvergenz nach sichzieht. Fur absolute Konvergenz hat man die bekannten Kriterien der reellen Analysis (Quotientenkri-terium, Wurzelkriterium) zur Verfugung. Ferner notieren wir den

Satz 3.3 (Majorantenkriterium) Seien fj : M → C Funktionen, und die reellen Zahlen aj seiennicht negativ und so beschaffen, daß die Reihe

∞∑

j=0

aj

konvergiert und fur alle j und alle z ∈ M gilt :

| fj(z) | ≤ aj .

Dann ist die Reihe∞∑

j=0

fj auf M absolut und gleichmaßig konvergent.

Wahlen wir speziell fur fj die Polynome fj(z) = aj (z − z0)j , aj ∈ C , z0 ∈ C fest, so erhaltenwir eine sogenannte Potenzreihe

∞∑

j=0

aj (z − z0)j

mit Entwicklungspunkt z0 . Als Beispiel betrachten wir den Fall aj = 1 fur alle j und z0 = 0 , alsodie geometrische Reihe

∞∑

j=0

zj .

Die naturliche Frage ist: Wo ist diese Reihe konvergent? Zur Beantwortung bilden wir die Partialsum-men:

n∑

j=0

zj = 1 + z + · · ·+ zn =1 − zn+1

1 − z.

Page 43: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

3 Potenzreihen 27

Fur | z | < 1 ist limn→∞ zn+1 = 0 und folglich wie im Reellen∞∑

j=0

zj = limn→∞

n∑

j=0

zj = limn→∞

1 − zn+1

1 − z=

11 − z

.

Ist dagegen | z | ≥ 1 , so ist auch | zj | = | z |j ≥ 1 und damit lim zj 6= 0 , so daß∑

zj nichtkonvergent sein kann. Also zusammenfassend:

∑∞j=0 zj ist genau in der Kreisscheibe D1(0) konvergent

und dort holomorph. - Allgemein gilt:

Satz 3.4 Zu jeder Potenzreihe

P (z) =∞∑

j=0

aj (z − z0)j

gibt es einen eindeutig bestimmten Konvergenzradius r ∈ R+0 ∪ ∞ . D. h. genauer : P (z) ist

konvergent in dem Kreis z ∈ C : | z − z0 | < r und

divergent fur z ∈ C mit | z − z0 | > r .

Was dagegen fur | z − z0 | = r geschieht, ist von Potenzreihe zu Potenzreihe verschieden.

Auf dem Konvergenzkreis Dr(z0) konvergiert die Reihe P (z) sogar absolut und lokal gleichmaßig. Esgilt die Cauchy–Hadamardsche Formel

1r

= lim sup j

√| aj | .

Beweis. a) Sei zunachst die Folge aj (z1 − z0)j in einem Punkt z1 6= z0 als beschrankt vorausgesetzt,es werde r1 := | z1 − z0 | gesetzt und 0 < r2 < r1 beliebig gewahlt.

Behauptung . P (z) ist auf Dr2 (z0) absolut und gleichmaßig konvergent.

Zum Beweis dieser Behauptung sei | aj (z1 − z0)j | ≤ M . Ist dann z ∈ Dr2(z0) , also | z − z0 | ≤ r2 <r1 , so folgt

| aj (z − z0)j | = | aj (z1 − z0)j |∣∣∣∣

z − z0

z1 − z0

∣∣∣∣j

≤ M

(r2

r1

)j

.

Wegenr2

r1=: q < 1 folgt aus dem Majorantenkriterium durch Vergleich mit der geometrischen Reihe

die Behauptung.

b) Sei r durch die Hadamardsche Formel gegeben. Ist r > 0 und 0 < r1 < r , so folgt aus

lim sup j

√| aj | =

1r

<1r1

,

daß j√| aj | <

1r1

fur fast alle j , d. h. die Folge

| aj | rj1

ist beschrankt. Teil a) impliziert dann, daß P auf Dr1(z0) absolut und lokal gleichmaßig konvergiert.Da r1 < r beliebig war, konvergiert P auch auf Dr(z0) absolut und lokal gleichmaßig.

c) Sei wieder r durch die Hadamardsche Formel gegeben, sei r < ∞ und z ∈ C so beschaffen, daß| z − z0 | > r . Dann ist

1| z − z0 | <

1r

= lim sup j

√| aj | .

Also muß fur unendlich viele j gelten:

1| z − z0 | ≤

j

√| aj | , d. h. 1 ≤ | aj (z − z0)j | .

Page 44: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

28 3 Potenzreihen

Das bedeutet aber, daß aj (z − z0)j keine Nullfolge bildet, P also nicht in z konvergiert. ¤

Nach den Satzen 1 und 3 ist eine Potenzreihe in ihrem Konvergenzkreis eine stetige Funktion. Esgilt sogar der

Satz 3.5 Es sei∑

aj (z − z0)j eine Potenzreihe mit positivem Konvergenzradius r . Dann ist ihreGrenzfunktion eine auf Dr(z0) holomorphe Funktion f , deren Ableitung sich durch gliedweise Diffe-rentiation berechnet :

f ′(z) =∞∑

j=0

(j + 1) aj+1 (z − z0)j .

Die PotenzreiheF (z) :=

∑ aj

j + 1(z − z0)j+1

ist ebenfalls konvergent auf Dr(z0) , also dort holomorph, und besitzt f als komplexe Ableitung : F ′ =f .

Der Beweis kann wie im Reellen gefuhrt werden. Wir werden spater aber in Kapitel 6 einen eleganterenfunktionentheoretischen Beweis geben. ¤

Im zweiten Teil dieses Kapitels wollen wir noch zwei wichtige Kriterien der reellen Analysis insrechte, sprich: komplex–analytische Licht rucken. Das bekannte Leibniz–Kriterium fur alternierendeReihen reeller Zahlen kann wie folgt uminterpretiert werden:

Satz 3.6 Es sei (aj) eine monoton fallend gegen 0 konvergierende Folge reeller Zahlen. Dann ist diePotenzreihe

P (z) =∞∑

j=0

aj zj

im Punkt z = − 1 konvergent.

Insbesondere ist also der Konvergenzradius unter der vorigen Voraussetzung stets großer oder gleich1 . Wenn er gleich 1 ist, stellt sich die Frage, an welchen komplexen Stellen z mit | z | = 1 diePotenzreihe ebenfalls konvergiert. In der Tat gilt der folgende uberraschende Satz von Picard, der dasLeibniz–Kriterium optimal verbessert.

Satz 3.7 Es sei (aj) eine monoton fallend gegen 0 konvergierende Folge reeller Zahlen. Dann ist diePotenzreihe

P (z) =∞∑

j=0

aj zj

in allen Punkten z ∈ C mit | z | = 1 konvergent mit moglicher Ausnahme der Stelle z = 1 .

Bemerkung . Fur die Stelle z = 1 kann man keine Aussagen machen. Die Reihe

∞∑

j=0

zj

j + 1

ist divergent in 1 , wahrend die Reihe∞∑

j=0

zj

(j + 1)2

dort konvergiert.

Page 45: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

3 Potenzreihen 29

Beweis von Satz 7. Es sei z0 6= 1 ein Punkt auf dem Rand des Einheitskreises. Wir setzen Pn fur dien–te Partialsumme von P an der Stelle z0 und Pm,n fur die Differenz Pn − Pm−1 , wenn m ≤ n .Dann ist

(z0 − 1)Pm,n =n∑

k=m

(z0 − 1) ak zk0 = − am zm

0 +n−1∑

k=m

(ak − ak+1) zk+10 + an zn+1

0 .

Wegen | z0 | = 1 und ak − ak+1 ≥ 0 folgt hieraus sofort

| z0 − 1 | |Pm,n | ≤ am +n−1∑

k=m

(ak − ak+1) + an = 2 am ,

und mit dem Cauchy–Kriterium schließt man auf die behauptete Konvergenz. ¤

Ein anderes, sehr nutzliches Resultat ist der Abelsche Grenzwertsatz .

Satz 3.8 Ist die Potenzreihe∑

j

ajxj mit reellen Koeffizienten aj konvergent an der Stelle 1 , so wird

die durch die Potenzreihe auf dem Intervall (−1, 1 ) definierte beliebig oft differenzierbare Funktion fdurch

f (1) :=∞∑

j=0

aj

stetig nach (−1, 1 ] fortgesetzt.

Offensichtlich kann man aus diesem Satz durch Ubergang zu komplexen Koeffizienten und einegeeignete Drehstreckung um den Nullpunkt im Komplexen die folgende Aussage deduzieren.

Satz 3.9 Ist die Potenzreihe∑

j

ajxj mit komplexen Koeffizienten aj konvergent an einer Stelle z0

auf dem Rand ∂Dr ihres Konvergenzkreises, so gilt fur die auf dem offenen Konvergenzkreis Dr durchdie Potenzreihe definierte holomorphe Funktion f :

limρ1

f (ρ z0) =∞∑

j=0

aj zj0 .

Dies bedeutet im Komplexen aber bei weitem noch nicht, daß in dieser Situation die Funktion fim Punkte z0 durch den Wert der Potenzreihe an der Stelle z0 stetig fortgesetzt werden kann.

In der Tat muß man zu einer exakten Formulierung des wahren Sachverhalts den Konvergenzbegriffbei Annaherung an den Rand des Konvergenzkreises einschranken.

Definition. Man sagt, eine Folge (zk) komplexer Zahlen in einem offenen Kreis Dr konvergiere nichttangential gegen einen Randpunkt z0 ∈ ∂ Dr , wenn die Folgenglieder in einem Bereich der Form

| z − z0 || z0 | − | z | ≤ C

bleiben.

Die richtige Verallgemeinerung des Abelschen Grenzwertsatzes im Komplexen lautet:

Satz 3.10 Konvergiert die komplexe Potenzreihe∑

j

ajxj an einer Stelle z0 auf dem Rand ihres

Konvergenzkreises Dr , so gilt

limk→∞

f (zk) =∞∑

j=0

aj zj0

fur jede Folge zk ∈ Dr , die nicht tangential gegen z0 konvergiert.

Page 46: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

30 3 Potenzreihen

Beweis. Da die Bedingung der nicht–tangentialen Konvergenz invariant unter Drehstreckungen ist,konnen wir r = 1 und z0 = 1 voraussetzen; insbesondere ist dann die Reihe

A :=∞∑

j=0

aj

konvergent. Der weitere Beweis benutzt - wie im Reellen - partielle Summation nach Abel (sieheAnalysis II , Kapitel ??): Fur beliebige Folgen Aj , cj gilt

n∑

k=m

ck (Ak − Ak−1) = cn An − cm−1 Am−1 −n∑

k=m

(ck − ck−1) Ak−1 .

Wir setzen ck := zk fur festes z ∈ D und Ak :=∞∑

j=k+1

aj . Dann ist Ak − Ak−1 = ak und folglich

Pm,n(z) :=n∑

k=m

ak zk =n∑

k=m

ck (Ak − Ak−1) = An zn − Am−1 zm−1 +n∑

k=m

(zk − zk−1)Ak−1 .

Laßt man hierin n gegen Unendlich gehen, so ergibt sich wegen lim An = 0 :

Pm(z) := limn→∞

Pm,n(z) =∞∑

k=m

ak zk = −Am−1 zm−1 − (1 − z)∞∑

k=m

Ak−1 zk−1 .

Damit gibt es zu vorgegebenem ε > 0 ein M , so daß fur alle m ≥ M und alle z ∈ D mit derBedingung des Satzes gilt:

|Pm(z) | ≤ ε(

1 + | 1 − z |∞∑

k=1

| z |k−1)

= ε

(1 +

| 1 − z |1 − | z |

)≤ ε (1 + C) .

Dieselbe Abschatzung gilt auch fur Pm(1) = Am+1 . Infolgedessen ist die Folge der Pm gleichmaßigkonvergent auf dem zugelassenen Bereich des Einheitskreises mit Einschluß ihres Haufungspunktes 1 .Hieraus folgt die Behauptung. ¤

Bemerkung . Die Voraussetzung der nicht–tangentialen Konvergenz ist erfullt fur Folgen in symmetri-schen Winkelraumen mit totalem Innenwinkel kleiner als π :

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Figur 3.1

Page 47: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

4 Elementare Funktionen

Es sei∞∑

j=0

aj xj eine Potenzreihe mit reellen Koeffizienten aj und positivem Konvergenzradius 0 <

r ≤ ∞ . Wir konnen dieser Reihe die komplexe Potenzreihe

∞∑

j=0

aj zj

zuordnen, die nach Kapitel 3 ebenfalls den Konvergenzradius r in C besitzt. Wir haben damit eineeindeutige Methode, reell–analytische Funktionen (zumindest lokal) ins Komplexe fortzusetzen. Insbe-sondere konnen wir definieren:

ez := exp z =∞∑

j=0

1j!

zj ,

sin z =∞∑

j=0

(−1)j

(2j + 1)!z2j+1 , cos z =

∞∑

j=0

(−1)j

(2j)!z2j .

Diese Reihen konvergieren ausnahmslos auf ganz C ; sie stellen dort also holomorphe Funktionen darund setzen die reelle Exponentialfunktion, die Sinus– bzw. Cosinusfunktion ins Komplexe fort.

Die komplexen Funktionen ez , cos z , sin z sind eng miteinander verknupft (diese Beziehung laßtsich im Reellen nicht entdecken). Es gilt namlich

eiz =∞∑

j=0

1j!

(iz)j =∞∑

j=0

i2j

(2j)!z2j +

∞∑

j=0

i2j+1

(2j + 1) !z2j+1

= cos z + i sin z .

Speziell hat man die beruhmte Eulersche Beziehung

e2πi = 1 .

Umgekehrt lassen sich auch die trigonometrischen Funktionen durch die Exponentialfunktion aus-drucken. Aus cos (−z) = cos z und sin (−z) = − sin z ergibt sich sofort

e−iz = cos z − i sin z

und damit gewinnt man zusammen mit der obigen Beziehung die Eulerschen Formeln:

cos z =eiz + e−iz

2, sin z =

eiz − e−iz

2 i.

Auch die Funktionalgleichung fur die Exponentialfunktion und die Additionstheoreme fur die trigo-nometrischen Funktionen lassen sich wie im Reellen beweisen. Durch gliedweise Differentiation erhaltman

(ez)′ = ez , (sin z)′ = cos z , (cos z)′ = − sin z .

Ferner benotigen wir das folgende kleine Lemma, das vom Beweis her schon in Kapitel 2 hatte behandeltwerden mussen:

Lemma 4.1 f sei holomorph auf dem Gebiet G ⊂ C , und es sei f ′ ≡ 0 . Dann ist f konstant.

Beweis. Zu zeigen ist: f ist lokal konstant. Nach Voraussetzung ist∂f

∂z=

∂f

∂z≡ 0 . Also gilt mit

f = g + i h :∂g

∂x=

∂g

∂y≡ 0 ,

∂h

∂x=

∂h

∂y≡ 0 ,

Page 48: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

32 4 Elementare Funktionen

und folglich sind g, h lokal konstant. ¤

Betrachte nun bei festem z0 ∈ C die holomorphe Funktion

f (z) = e−z ez+z0 .

Es ist f ′(z) = − e−z ez+z0 + e−z ez+z0 = 0 und deshalb nach dem obigen Lemma

f (z) = const. = f (0) = ez0 ,

da offensichtlich e0 = 1 ist. Insbesondere fur z0 = 0 folgt hieraus

e−z · ez = 1 fur alle z ∈ C ,

insbesondereez 6= 0 fur alle z ∈ C .

Aus der vorstehenden Gleichung folgt dann, wenn man z0 durch w ersetzt, die Funktionalgleichung :

exp (z + w) = exp (z) exp (w) fur alle z, w ∈ C .

Mit Hilfe der Eulerschen Formeln schließt man hieraus sofort die Additionstheoreme der trigonome-trischen Funktionen:

cos (z + w) = cos z · cos w − sin z · sin w

sin (z + w) = sin z · cos w + cos z · sin w

z, w ∈ C .

Ferner ergibt sich aus der Funktionalgleichung fur die Exponentialfunktion exp mit z = x + i y sofort

ez = ex · eiy = ex (cos y + i sin y) .

Man kann auch ez durch diese Beziehung definieren und dann die Holomorphie vermittels der Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen nachrechnen. Wegen | cos y + i sin y | = 1 , y ∈ R , folgen ausder obigen Gleichung die nutzlichen Ungleichungen

| ez | = ex = eRe z ≤ e|Re z| ≤ e|z| , arg ez = Im z .

Speziell kann man die Abbildung

R 3 t 7−→ eit = cos t + i sin t ∈ Cals einen (surjektiven) Homomorphismus von der additiven Gruppe R auf die multiplikative GruppeS1 = z ∈ C : | z | = 1 auffassen.

Des weiteren ist wegen der Funktionalgleichung auch

exp :

C −→ C∗

z 7−→ ez

ein Gruppenhomomorphismus der additiven Gruppe (C, +) nach (C∗, ·) . Dieser ist ebenfalls surjektiv.Denn mit w ∈ C∗ ist |w | 6= 0 ; setzt man dann x = log |w | , y = arg w , so ist leicht zu verifizieren,daß ex+iy = w . Die Exponentialfunktion exp ist aber im Komplexen nicht injektiv, da z. B. e2πi =e0 = 1 . Allgemein ist naturlich

ez+2kπi = ez · (e2πi)k = ez fur alle k ∈ Z .

Ist nun umgekehrt ez = ew , so muß ez−w = 1 sein, und mit z − w = x + i y und ez−w =ex (cos y + i sin y) schließt man dann sofort:

ex = 1 , sin y = 0 , cos y = 1 ,

Page 49: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

4 Elementare Funktionen 33

alsox = 0 und z − w = 2 k π i , k ∈ Z .

Wir konnen also zusammenfassend sagen, daß 2 π i die einzige (fundamentale) Periode der Funktionexp ist. Gruppentheoretisch konnen wir das auch so ausdrucken, daß eine exakte Sequenz von Gruppen

0 −→ 2 π iZ −→ C exp−→ C∗ −→ 1

besteht. Im ubrigen wird jeder Streifen z ∈ C : a ≤ Im z < a + 2 π unter exp bijektiv auf C∗abgebildet, wobei a ∈ R beliebig gewahlt werden kann.

Die gesamten bisherigen Uberlegungen zeigen insbesondere, daß es im Komplexen keine Umkehr-abbildung log : C∗ → C der Exponentialfunktion geben kann. Tatsachlich ist der Logarithmus einerkomplexen Zahl z 6= 0 unendlich vieldeutig ; je zwei solcher Werte durfen sich um ein beliebiges ganz-zahliges Vielfaches von 2 π i additiv unterscheiden. Wir werden spater auf die Bedeutung dieser Zahl2 π i noch mehrfach eingehen.

Wir fugen noch einige Aussagen uber die trigonometrischen Funktionen an, die uns im Reellen schonvertraut sind. So ist zum Beispiel stets

sin (z + π/2) = sin z · cos (π/2) + cos z · sin(π/2) = cos z .

Weiter ergibt sich aus (sin2 + cos2)′ = 2 sin cos − 2 cos sin = 0 die Beziehung

sin2 z + cos2 z = sin2 0 + cos2 0 = 1 fur alle z ∈ C .

Zur Berechnung der Nullstellen des Sinus beachte man

eiz − e−iz

2 i= sin z = 0 ⇐⇒ eiz = e−iz ⇐⇒ e2iz = 1 ⇐⇒ z = k π

mit k ∈ Z . Also besitzt der Sinus nur die im Reellen liegenden Nullstellen. Mit der Translation um π/2folgt die entsprechende Aussage auch fur den Cosinus. Die Eulerschen Formeln implizieren schließlichdie Periodizitatseigenschaft

sin (z + 2 π) = sin z , cos (z + 2 π) = cos z ,

und es ist einfach zu zeigen, daß 2π die einzige (fundamentale) Periode von sin und cos ist.Man kann auch leicht Re cos z , etc. ausrechnen. Mit z = x + i y ist

cos z =eiz + e−iz

2=

e−y+ix + ey−ix

2

=12 e−y (cos x + i sin x) + ey (cos x − i sin x) ,

also

Re cos (x + i y) = cos xey + e−y

2= cos x · cosh y ,

Im cos (x + i y) = sin xe−y − ey

2= − sin x · sinh y .

Speziell schließt man hieraus, daß die Funktionen sin und cos in jedem Streifen z : a ≤ Re z ≤ b unbeschrankt sind.

Die Funktionen

tan z =sin z

cos zund cot z =

cos z

sin z

Page 50: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

34 4 Elementare Funktionen

sind holomorph auf C\ (k + 1/2)π : k ∈ Z bzw. C\ k π : k ∈ Z . Mit der Quotientenregel ergibtsich

(tan z)′ =1

cos2 z= 1 + tan2 z ,

(cot z)′ =−1

sin2 z= − (1 + cot2 z) .

tan und cot lassen sich naturlich auch durch die komplexe Exponential–Funktion ausdrucken.Schließlich lassen sich auch die Hyperbelfunktionen ins Komplexe fortsetzen:

sinh z =ez − e−z

2, cosh z =

ez + e−iz

2.

Es folgt sofort:

sin z =1i

sinh i z , cos z = cosh i z ,

d. h. im Komplexen besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen den trigonometrischen und denHyperbelfunktionen.

Zum Abschluß dieses Kapitels notieren wir eine Konsequenz aus Lemma 1, die wir in Kapitel 9 nochwesentlich verallgemeinern werden (,,Gebietstreue“ holomorpher Funktionen).

Lemma 4.2 Es sei f holomorph auf dem Gebiet G ⊂ C . Dann ist f schon dann konstant, wenn eineder folgenden Bedingungen erfullt ist :

i) Re f = konst. , ii) Im f = konst. , iii) | f | = konst. .

Beweis. Ist g = Re f konstant, so ist gx = gy = 0 und folglich wegen der Cauchy–RiemannschenDifferentialgleichungen auch hx = hy = 0 und damit der Imaginarteil h von f konstant. Das gleicheArgument zieht auch in der umgekehrten Richtung, so daß man nur noch die Implikation iii) =⇒ f =konst. zu zeigen braucht. Es sei also f f = | f |2 konstant, sagen wir: gleich c . Wegen der Holomorphievon f folgt dann

f∂f

∂z=

∂z(f f) =

∂c

∂z= 0 , also c

∂f

∂z= 0 .

Dann ist aber entweder c = 0 und folglich f = 0 oder∂f

∂z= 0 und folglich nach Lemma 1 f

zumindest konstant. ¤

Page 51: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

5 Integration langs Wegen

Zunachst mussen wir etwas Ordnung schaffen in Bezug auf den Begriff des Integrationsweges. Wirerinnern daran, daß ein Weg (oder eine Kurve) per definitionem ein Tripel (I, γ, γ (I)) ist, wobeiI = [ a, b ] ⊂ R ein abgeschlossenes Intervall und γ : I → C eine stetige Funktion bezeichnet (dannsind auch Re γ , Im γ : I → R stetige reell–wertige Funktionen). Genauer gesagt handelt es sich beieinem solchen Tripel um einen parametrisierten Weg: t ∈ I (oft physikalisch als Zeit interpretiert) istder Parameter, und durchlauft dieser das Intervall monoton von a nach b , so durchlauft der Punkt γ (t)die Spur spur γ = | γ | = γ (I) stetig beginnend mit dem Anfangspunkt z0 = γ (a) und sein Lebenbeendend mit dem Endpunkt z1 = γ (b) . Man nennt einen solchen Weg geschlossen, falls z0 = z1 .Da in diesem Fall aber offensichtlich kein Anfangspunkt ausgezeichnet ist, sollte man einen solchenWeg besser durch den Einheitskreis S1 = z ∈ C : | z | = 1 parametrisieren, also als ein Tripel(S1, γ, γ (S1)) mit stetigem γ : S1 → C ansehen. In einer solchen Parametrisierung heißt der Wegeinfach zusammenhangend , falls γ eine injektive Abbildung ist.

Um uns das Leben zu erleichtern, werden wir voraussetzen, daß unsere Integrationswege stuckweisestetig differenzierbar sind. Dies bedeutet fur die Parametrisierung γ : I → C (oder entsprechend furγ : S1 → C ), daß γ stuckweise stetig differenzierbar ist, d. h. daß es eine Zerlegung von I gibt:a = t0 < t1 < · · · < tn = b , so daß γ|[tk−1,tk] stetig differenzierbar ist fur alle k = 1, . . . , n . Dasletztere bedeutet naturlich, daß Re γ und Im γ auf den Teilintervallen [ tk−1, tk ] stetig differenzierbarsind (in den Randpunkten selbstverstandlich nur einseitig). Wir setzen stets

γ′(t) := (Re γ)′(t) + i (Im γ)′(t) .

Ist γ sogar stetig differenzierbar, so heißt γ glatt , wenn γ′(t) 6= 0 fur alle t ∈ [ a, b ] .

Definition. Stuckweise stetig differenzierbare Wege γ : I → U ⊂ C nennen wir kurz (parametrisierte)Integrationswege in U .

Ein Integrationsweg ist, genauer gesagt, eine Aquivalenzklasse von parametrisierten Integrationswe-gen bezuglich der Aquivalenzrelation des Umparametrisierens. Dies soll nun prazisiert werden.

Definition. Seien I, J ⊂ R kompakte Intervalle. Eine Abbildung ϕ : J → I heißt eine Parameter-transformation, falls ϕ streng monoton steigend, stuckweise stetig differenzierbar und surjektiv ist mitϕ′(t) 6= 0 fur alle t ∈ J . (Hierbei sind gegebenenfalls wieder nur die linksseitigen oder rechtsseitigenAbleitungen zu betrachten).

Klar ist: Ist ϕ : J → I eine Parametertransformation, so auch ϕ−1 : I → J . Ist ferner ψ eineweitere Parametertransformation, so daß ψ ϕ in sinnvoller Weise erklart ist, also ψ den Definitions-bereich ϕ (I) besitzt, so ist auch die Komposition ψ ϕ eine Parametertransformation. Aus diesenBemerkungen ergibt sich unmittelbar, daß der Prozeß des Umparametrisierens eine Aquivalenzrelationdarstellt.

Ist nun γ : I → C ein parametrisierter Integrationsweg und ϕ : J → I eine Parametertransforma-tion, so ist auch γ ϕ : J → C ein Integrationsweg mit der gleichen Spur und denselben Randpunktenwie (I, γ, γ (I)) . Insbesondere wird die durch die Reihenfolge z0, z1 festgelegte Orientierung des para-metrisierten Weges γ durch Umparametrisieren nicht verandert. Wir haben es also in Wahrheit sogarmit orientierten Wegen zu tun!

Man kann die Orientierung eines Weges γ : I = [ a, b ] → C umkehren, indem man den parametri-sierten Weg [ a, b ] 3 t 7→ γ (a + b − t) betrachtet. Dieser hat dieselbe Spur wie γ , aber vertauschteAnfangs– und Endpunkte. Man bezeichnet diese Parametrisierung oft auch mit γ−1 , obwohl sie wederetwas mit 1/γ noch mit der Umkehrabbildung von γ zu tun hat.

Man kann auch Wege mit ,,richtigen“ Endpunkten zusammensetzen. Sind γ1 : [ a, b ] → C , γ2 :[ c, d ] → C zwei Integrationswege mit γ1(b) = γ2(c) , so wird durch

t 7−→

γ1(t) , t ∈ [ a, b ] ,

γ2(t + c − b) , t ∈ [ b, b + d − c ] ,

Page 52: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

36 5 Integration langs Wegen

ein Integrationsweg [ a, b + d − c ] → C definiert, den wir im folgenden mit γ1 · γ2 oder γ1 γ2

bezeichnen werden. Man kann leicht zeigen, daß diese Definition in Wahrheit invariant bezuglichUmparametrisierungen ist.

Beispiele. 1. Es seien z0 ∈ C und r > 0 fest gewahlt. Dann ist γ : [ 0, 2 π ] → C , definiert durcht 7→ z0 + r eit , eine Parametrisierung der positiv orientierten Kreislinie um z0 mit Radius r . Furdiese Parametrisierung gilt γ′(t) = i r eit 6= 0 . Also handelt es sich hier um einen glatten, einfachgeschlossenen Weg.

2. Es seien z0, z1, . . . , zn ∈ C fest gewahlte Punkte, und γ : [ 0, n ] → C werde gegeben durch

γ (t) = zk + (t − k) (zk+1 − zk) , t ∈ [ k, k + 1 ] .

Dies ist naturlich eine Parametrisierung des durch z0, . . . , zn festgelegten Streckenzuges, den wir i. f.auch einfach mit [ z0, . . . , zn ] bezeichnen werden.

Nach Definition gilt fur die Ableitung γ′ eines parametrisierten Weges γ :

| γ′ |2 =((Re γ)′)2 + ((Im γ)′

)2

und damit nach einem Satz der reellen Analysis:

Fur jeden Integrationsweg γ ist die Spur γ (I) rektifizierbar (wir sagen kurz, γ sei rektifizierbar), undihre Lange L (γ) := L (γ (I)) ist gegeben durch die Formel

L (γ) =∫ b

a

| γ′(t) | dt .

Wir ubertragen nun das Riemann–Integral von reell–wertigen auf komplex–wertige (stuckweise ste-tige) Funktionen f : [ a, b ] → C durch

∫ b

a

f (t) dt :=∫ b

a

Re f (t) dt + i

∫ b

a

Im f (t) dt .

Es ist dann das Integral komplex–wertig und C–linear und erfullt

Re∫ b

a

f (t) dt =∫ b

a

Re f (t) dt , Im∫ b

a

f (t) dt =∫ b

a

Im f (t) dt ,

∫ b

a

f (t) dt =∫ b

a

f (t) dt .

Von ganz entscheidender Bedeutung ist das folgende, auf den ersten Blick vollig unscheinbare Lem-ma. Es ist ein Spezialfall einer Abschatzung von Integralen uber vektor–wertige Funktionen in einerreellen Veranderlichen, die wir schon in der Analysis hergeleitet haben. Im Spezialfall C = R2 ist derBeweis noch etwas einfacher.

Lemma 5.1 Sei f : [ a, b ] → C stuckweise stetig. Dann gilt

∣∣∣∫ b

a

f (t) dt∣∣∣ ≤

∫ b

a

| f (t) | dt .

Beweis. Es sei A :=∫ b

a

f (t) dt ∈ C . Ist dann A = 0 , so ist nichts zu zeigen. Fur A 6= 0 gilt

A = |A | eis , d. h. 0 ≤ |A | = e−is A = Re (e−is A)

Page 53: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

5 Integration langs Wegen 37

und damit

∣∣∣∫ b

a

f (t) dt∣∣∣ = Re

(e−is

∫ b

a

f (t) dt)

= Re∫ b

a

e−is f (t) dt

=∫ b

a

Re (e−is f (t)) dt ≤∫ b

a

| e−is f (t)) | dt =∫ b

a

| f (t) | dt ,

was zu beweisen war. ¤

Wir kommen nun zu der außerordentlich wichtigen

Definition. γ : I = [ a, b ] → C sei ein Integrationsweg, und f : γ (I) → C sei eine stetige Funktion.Dann heißt ∫

γ

f (z) dz :=∫ b

a

f (γ (t)) γ′(t) dt

das Integral der Funktion f langs des Weges γ .

Bemerkung . Sei a = t0 < · · · < tn = b eine Unterteilung von I . Man bilde dann die RiemannscheSumme ∑

(f, tν , τν) :=n∑

ν=1

f (γ (τν)) (γ (tν) − γ (tν−1))

bezuglich irgendwelcher Zwischenwerte tν−1 ≤ τν ≤ tν . Dann streben diese Summen bei immerfeiner werdender Unterteilung gegen einen Grenzwert, namlich gegen unser obiges Integral. Genauergilt: fur alle ε > 0 gibt es ein δ > 0 , s. d. fur alle Zerlegungen a = t0 < t1 < · · · < tn = b mit| tν − tν−1 | ≤ δ und alle Zwischenwerte τν gilt:

∣∣∣∫

γ

f (z) dz −∑

(f, tν , τν)∣∣∣ < ε .

Als nachstes zeigen wir, daß das oben definierte Wege– oder Kurvenintegral tatsachlich nicht vonder Parametrisierung des Weges γ abhangt.

Satz 5.2 γ1, γ2 seien parametrisierte Integrationswege, die durch Umparametrisieren auseinander her-vorgehen. Ferner sei f stetig auf der Spur γ1(I1) = γ2(I2) . Dann gilt

γ1

f (z) dz =∫

γ2

f (z) dz .

Beweis. Es sei γ2 = γ1 ϕ mit der Umparametrisierung ϕ : J = I2 = [ c, d ] → I1 = I = [ a, b ] .Wegen

Re γ2 = (Re γ1) ϕ , Im γ2 = (Im γ1) ϕ

folgt dann

γ′2 = (Re γ2)′ + i (Im γ2)′ = (Re γ1)′ · ϕ′ + i (Im γ1)′ · ϕ′ = (γ′ ϕ) · ϕ′ .

Es ergibt sich daraus mit Hilfe der Transformationsformel fur reelle Integrale:

γ1

f (z) dz =∫ b

a

f (γ1(t)) γ′1(t) dt =∫ c

d

f ((γ1 ϕ) (s)) γ′1(ϕ (s))ϕ′(s) ds

=∫ c

d

f (γ2(s)) γ′2(s) ds =∫

γ2

f (z) dz ,

Page 54: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

38 5 Integration langs Wegen

was zu beweisen war. ¤

Die nutzlichste Abschatzung fur das Weitere liefert der folgende Satz, auf den wir uns stets mit derBezeichnung Standardabschatzung beziehen werden.

Satz 5.3 Es sei f stetig auf der Spur von γ . Dann gilt∣∣∣

γ

f (z) dz∣∣∣ ≤ L (γ) max

z∈γ(I)| f (z) | .

Beweis. γ : I → C ist stetig und I ist kompakt. Also ist die Spur γ (I) eine kompakte Teilmengevon C , und somit existiert das Maximum M := max

z∈γ(I)| f (z) | < ∞ . Mit der fruheren Standar-

dabschatzung erhalt man dann sofort:

∣∣∣∫

γ

f (z) dz∣∣∣ =

∣∣∣∫ b

a

f (γ (t)) γ′(t) dt∣∣∣ ≤

∫ b

a

| f (γ (t)) | | γ′(t) | dt

≤ M

∫ b

a

| γ′(t) | dt = L (γ)M

in Ubereinstimmung mit unserer Behauptung. ¤

Beispiele. 1. Es seien bei festem z0 ∈ C die Funktion

f (z) =1

z − z0

und der Integrationsweg γ : t 7−→ reit + z0 , also der positiv umlaufene Rand des Kreises vom Radiusr mit Mittelpunkt z0 , vorgegeben. Dann berechnet man leicht

γ

f (z) dz =∫

∂Dr(z0)

dz

z − z0=

∫ 2 π

0

i r eit

r eitdt =

∫ 2 π

0

i dt = 2 π i .

Dieses Beispiel ist meistens der Grund fur das Auftreten des Faktors 2 π i in der Funktionentheorie.

2. γ sei die Strecke von a nach b in R , d. h. γ (t) = t auf [ a, b ] ⊂ R . Hier erhalt man unmittelbar∫

γ

f (z) dz =∫ b

a

f (t) dt

mit unserer Definition fur Integrale von komplex–wertigen Funktionen auf reellen Intervallen. Die neueDefinition ist damit mit der alten vertraglich.

3. Es sei γ (t) = z0 fur alle t ∈ I der sogenannte ,,konstante Weg“. Hier ist γ′ = 0 und damit∫

γ

f (z) dz = 0 .

4. Es sei f (z) = | z | , und γ1 , γ2 seien die folgenden Wege mit gleichem Anfangs– und Endpunkt:

γ1 :

[ 0, π ] −→ C

t 7−→ ei(π−t), γ2 :

[−1, 1 ] −→ C

t 7−→ t.

Man rechnet dann sofort aus, daß∫

γ1

| z | dz =∫ π

0

γ′1(t) dt = γ1(t)∣∣∣π

0= 1 − (−1) = 2

Page 55: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

5 Integration langs Wegen 39

und ∫

γ2

| z | dz =∫ 1

−1

| t | dt = 2∫ 1

0

t dt = 2t2

2

∣∣∣∣1

0

= 1 .

Damit sind die beiden Integrale verschieden, Wegintegrale also im allgemeinen von den benutztenWegen abhangig!

Klar ist die Linearitat des Wegintegrals, fur die wir nicht gesondert die Formulierung durch eineneigenen Satz spendieren:

γ

(a f (z) + b g (z)) dz = a

γ

f (z) dz + b

γ

g (z) dz .

Schließlich gilt noch

Satz 5.4 Seien γ, γ1, γ2 Integrationswege, γ1 und γ2 seien ,,zusammensetzbar“. Dann gilt :∫

γ−1f (z) dz = −

γ

f (z) dz ,

γ1γ2

f (z) dz =∫

γ1

f (z) dz +∫

γ2

f (z) dz .

Beweis. Der zweite Teil folgt aus der entsprechenden Formel fur die Zerlegung eines Intervalls in Teilin-tervalle. Zur ersten Formel beachte man, daß fur γ , γ−1 : [ a, b ] → C mit γ−1(t) = γ (b + a − t) dieBeziehung (γ−1)′(t) = − γ′(b + a − t) folgt. Deshalb ergibt sich mit der Substitution s := b + a − tund der Substitutionsregel

γ−1f (z) dz = −

∫ b

a

f (γ (b + a − t)) γ′(b + a − t) dt

=∫ a

b

f (γ (s)) γ′(s) ds = −∫

γ

f (z) dz ,

was zu beweisen war. ¤

Als nachstes benotigen wir einige Aussagen uber Integrale von gleichmaßig konvergenten Folgen vonFunktionen.

Satz 5.5 Sei γ : I → C ein Integrationsweg, und (fj) sei eine gleichmaßig gegen f konvergente Folgestetiger Funktionen fj : γ (I) → C . Dann gilt

limj→∞

γ

fj(z) dz =∫

γ

limj→∞

fj(z) dz =∫

γ

f (z) dz .

Beweis. Wegen der gleichmaßigen Konvergenz der Funktionenfolge fj hat man

limj→∞

maxz∈γ(I)

| fj(z) − f (z) | = 0 .

Daraus folgt sofort die Behauptung mit Hilfe unserer Standardabschatzung wegen der Linearitat desIntegrals:

∣∣∣∫

γ

(fj(z) − f (z)) dz∣∣∣ ≤ L (γ) max

z∈γ(I)| fj(z) − f (z) | . ¤

Entsprechend beweist man

Page 56: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

40 5 Integration langs Wegen

Satz 5.6 Es sei γ ein Integrationsweg, M sei eine Teilmenge des Rn , und f : γ (I) ×M → C seieine stetige Funktion. Dann gilt :

i) F (x) :=∫

γ

f (z, x) dz ist stetig auf M .

ii) Ist M eine offene Teilmenge und besitzt f auf γ (I)×M eine stetige partielle Ableitung fxk, 1 ≤

k ≤ n , so ist auch F stetig partiell nach xk differenzierbar, und es gilt

∂F

∂xk(x) =

γ

∂f

∂xk(z, x) dz .

iii) Ist M ⊂ C offen und f (z, ζ) fur jedes z ∈ γ (I) nach ζ komplex differenzierbar, so daß die(partielle) Ableitung fζ(z, ζ) auf γ (I)×M stetig ist, so ist F (ζ) holomorph auf M mit

dF

dζ(ζ) =

γ

∂f (z, ζ)∂ζ

dz .

Beweis. Wir zeigen nur iii), da i) und ii) aus den entsprechenden Satzen im Reellen sofort abgeleitetwerden konnen. Nach ii) folgt, daß F reell differenzierbar ist mit

∂F

∂ζ=

γ

∂f

∂ζdz = 0 .

Also ist F holomorph, und es gilt

dF

dζ=

∂F

∂ζ=

γ

∂f

∂ζdz . ¤

Aus dem Satz von Fubini folgt schließlich noch unmittelbar:

Satz 5.7 Es seien γ1 und γ2 Integrationswege, und f : γ1(I1)×γ2(I2) → C sei eine stetige Funktion.Dann gilt ∫

γ1

( ∫

γ2

f (z, w) dw)

dz =∫

γ2

( ∫

γ1

f (z, w) dz)

dw .

Page 57: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

6 Stammfunktionen

Wir beginnen ohne Umschweife mit der folgenden

Definition. Es sei f : U → C eine vorgegebene stetige Funktion, und F : U → C sei holomorph mitF ′ = f . Dann heißt F eine Stammfunktion von f . Man sagt, daß f lokale Stammfunktionen besitze,falls es fur alle z0 eine Umgebung V = V (z0) ⊂ U gibt, so daß f|V eine Stammfunktion besitzt.

Bemerkung . Besitzt f (lokal) eine Stammfunktion F , so ist F nach Definition komplex differenzierbar.Wir haben in der Einleitung schon ausgefuhrt, daß wir beweisen werden, daß F dann sogar beliebigoft komplex differenzierbar ist. Infolgedessen muß a priori auch f schon komplex differenzierbar unddamit holomorph sein. Diese Bedingung ist aber auch hinreichend, wie wir bald feststellen werden:Eine Funktion besitzt genau dann lokale Stammfunktionen, wenn sie holomorph ist .

Wir werden außerdem sehen, daß die Existenz von Stammfunktionen von f auf intime Weise mitder Frage zusammenhangt, ob Integrale von f nur von den Endpunkten eines Weges, nicht aber vondem speziell gewahlten Weg abhangig, kurz gesagt also wegunabhangig sind. Als ersten Schritt da-zu konnen und werden wir den Hauptsatz der Differential– und Integralrechnung auf Kurvenintegraleverallgemeinern.

Satz 6.1 Es sei f : U → C stetig und besitze eine Stammfunktion F . Dann gilt fur jeden Weg γ inU mit Anfangspunkt z0 und Endpunkt z1 , daß

γ

f (z) dz = F (z1) − F (z0) .

Beweis. Es sei γ : [ a, b ] → U eine Parametrisierung und a = t0 < t1 < · · · < tn = b eine Zerlegungdes gegebenen Intervalls, so daß γj : [ tj−1, tj ] → U stetig differenzierbar ist. Ist dann der Satz fur dieγj schon bewiesen, so ergibt sich

γ

f (z) dz =n∑

j=1

γj

f (z) dz =n∑

j=1

(F (γ (tj)) − F (γ (tj−1)))

= F (γ (tn)) − F (γ (t0)) = F (z1) − F (z0) .

Ohne Einschrankung konnen wir daher voraussetzen, daß γ auf dem gesamten Definitionsintervall stetigdifferenzierbar ist. Dann gilt offensichtlich bei geeigneter Interpretation der Kettenregel:

d

dt(F γ) (t) =

∂F

∂z

∂γ

∂t+

∂F

∂z

∂γ

∂t= F ′ γ′ = f γ′

und damit nach dem Hauptsatz der Differential– und Integralrechnung:

γ

f (z) dz =∫ b

a

f (γ (t)) γ′(t) dt =∫ b

a

d

dt(F γ) (t) dt

= (F γ) (t)∣∣∣b

a= F (z1) − F (z0) . ¤

Folgerung 6.2 Sind die Voraussetzungen wie im vorhergehenden Satz, so gilt fur alle geschlossenenWege γ in U : ∫

γ

f (z) dz = 0 .

Page 58: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

42 6 Stammfunktionen

Beispiele. 1. Die Funktion f (z) = zn , n ∈ Z \ −1 , besitzt die Stammfunktion

F (z) = (n + 1)−1 zn+1 auf C fur n ≥ 0 bzw. auf C \ 0 fur n ≤ −2 .

Somit ergibt sich fur Wege in dem jeweiligen Gebiet mit Anfangspunkt z0 und Endpunkt z1 :∫

γ

zn dz =1

n + 1(zn+1

1 − zn+10 ) ,

und damit kann man insbesondere Stammfunktionen fur beliebige Polynome hinschreiben:

( n∑

j=0

aj

j + 1zj+1

)′=

n∑

j=0

aj zj .

2. Fur f (z) = | z | haben wir schon die Wegabhangigkeit gezeigt. Also besitzt f keine Stammfunktion(auch nicht lokal). Der Grund hierfur besteht naturlich darin (siehe oben), daß f nicht holomorph ist!

3. Die Funktion

f (z) =1z

ist holomorph auf C \ 0 und besitzt dort lokale Stammfunktionen (Zweige des Logarithmus). fbesitzt aber auf C \ 0 keine globale Stammfunktion, da (wie wir wissen)

∂Dr(0)

dz

z= 2 π i .

Wir werden sehen, daß dies das zentrale Beispiel fur das Abweichen von der ,,Norm“ ist (Residuensatz).

4. Weitere einfache Anwendungen sind naturlich Formeln wie∫

γ

ez dz = ez1 − ez0 ,

γ

sin z dz = − cos z1 + cos z0 , etc.

Bemerkung . Schreibt man die Funktion f in der Form u − i v und u = (u, v) fur das entsprechendeVektor– oder Kraftfeld (wie bei der in der Einleitung besprochenen physikalischen Anwendung), solassen sich

Re∫

γ

f (z) dz =∫

γ

(u dx + v dy) und Im∫

γ

f (z) dz =∫

γ

(u dy − v dx)

auch physikalisch deuten: Das erste Integral ist als die von dem Kraftfeld verrichtete Arbeit langs desgegebenen Weges zu interpretieren und das zweite z. B. als der Fluß des Feldes durch die Kurve. Fallsf eine Stammfunktion besitzt, so sind Arbeit und Fluß unabhangig vom Weg (die Physiker sprechendann von einem konservativen Kraftfeld).

Wir wollen nun die Umkehrung von Satz 6. 1 bzw. seiner Folgerung formulieren und beweisen.

Satz 6.3 Sei f : G → C eine stetige Funktion auf dem Gebiet G , und fur alle geschlossenen Integra-tionswege γ in G gelte ∫

γ

f (z) dz = 0 .

Dann besitzt f auf G eine Stammfunktion.

Page 59: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

6 Stammfunktionen 43

Beweis. Sei a ∈ G ein beliebiger, aber fur das Weitere fest gewahlter Punkt, z ∈ G sei variabel. Danngibt es einen stetigen Weg von a nach z in G , der sogar als Polygonzug gewahlt werden kann, alsoeinen Integrationsweg γz von a nach z . Definiere

F (z) :=∫

γz

f (ζ) dζ

und beachte, daß der Wert von F an der Stelle z wegen der Voraussetzung nicht von der speziellenWahl des Weges γz abhangt. Wir werden zeigen, daß F eine Stammfunktion von f ist, d. h. daß Fin jedem Punkt z0 ∈ G komplex differenzierbar ist mit F ′(z0) = f(z0) . Ist z nahe bei z0 gelegen, soist die Strecke [ z, z0 ] ⊂ G , und

γ := γz0 · [z0, z] · γ−1z

ist ein geschlossener Weg in G . Es folgt

0 =∫

γ

f (ζ) dζ =∫

γz0

f (ζ) dζ +∫

[z0, z]

f (ζ) dζ −∫

γz

f (ζ) dζ ,

alsoF (z) − F (z0) =

[z0, z]

f (ζ) dζ .

Parametrisiert man die in Frage stehende Strecke durch [ 0, 1 ] 3 t 7→ z0 + t (z − z0) , so ergibt sichdas letzte Integral zu

∫ 1

0

f (z0 + t (z − z0)) (z − z0) dt = (z − z0) A (z) ,

wobei

A (z) =∫ 1

0

f (z0 + t (z − z0)) dt .

Wir sind mit dem Beweis fertig, wenn wir zeigen konnen, daß A (z) stetig in z0 ist, denn dann ist Fdort komplex differenzierbar, und daß A (z0) = f (z0) gilt. Das letztere ist aber klar nach Definition,wenn wir die Stetigkeit schon erkannt haben, und diese folgt aus der Stetigkeit von f in z0 , die nachder Standardabschatzung die Ungleichung

|A (z) − A (z0) | ≤ max0≤t≤1

| f (z0 + t (z − z0)) − f (z0) | −→ 0

fur z → z0 nach sich zieht. ¤

Bemerkung . Wie wir oben bemerkt haben, ist die Stammfunktion F (z) nicht von γz , wohl aber vondem Punkt a abhangig. Bei Variation von a unterscheiden sich je zwei Stammfunktionen damit nurum eine additive Konstante. Dies kann man auch a priori einsehen, da aus F ′1 = F ′2 = f unmittelbar(F1 − F2)′ = F ′1 − F ′2 = 0 und deshalb nach Lemma 4.1 F1 − F2 = const. folgt.

Verscharft man die Voraussetzung an G , so braucht man das Verschwinden des Integrals nur furspezielle geschlossene Kurven vorauszusetzen.

Satz 6.4 Sei G ⊂ C ein konvexes Gebiet, f : G → C sei stetig, und es gelte fur alle abgeschlossenenDreiecke6 ∆ ⊂ G , daß ∫

∂∆

f (z) dz = 0 .

Dann besitzt f eine Stammfunktion auf G .6Damit ist naturlich das ,,volle“ Dreieck, also die Dreiecksflache im Gegensatz zu dem Rand ∂∆ desselben gemeint.

Ist G jedoch konvex , wie vorausgesetzt, so ist mit ∂∆ ⊂ G auch notwendigerweise ∆ ⊂ G . Im Ubrigen zeigt der Beweis,daß die Voraussetzung nur fur alle Dreiecke in G mit einer fest gewahlten Ecke a erfullt zu sein braucht.

Page 60: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

44 6 Stammfunktionen

Beweis. Wahle wieder a ∈ G fest; bei konvexem G konnen wir fur γz stets die Strecke [ a, z ] wahlenund F (z) durch

∫[a, z]

f (ζ) dζ definieren. Der Rest des Beweises folgt dem von Satz 6.3. ¤

Folgerung 6.5 Ist G ein beliebiges Gebiet, f : G → C eine stetige Funktion, und gilt∫

∂∆

f (ζ) dζ = 0

fur alle Dreiecke ∆ = ∆ ⊂ G wie oben, so besitzt f lokale Stammfunktionen.

Denn: Jeder Punkt z0 ∈ G besitzt konvexe Umgebungen, die in G enthalten sind. ¤

Wir konnen Satz 6.4 noch verscharfen: Ein Bereich U ⊂ C heißt sternformig (bezuglich desPunktes a ∈ U ), falls fur alle z ∈ U die Verbindungsstrecke von a nach z in U enthalten ist. Jedersternformige Bereich ist automatisch ein Gebiet. Ferner ist jedes konvexe Gebiet sternformig bzgl. jedesseiner Punkte a . Man macht sich leicht klar, daß der obige Beweis auch fur jedes sternformige Gebietrichtig bleibt, wenn man als speziellen Punkt a den in der Definition ausgezeichneten wahlt.

Als Anwendung der bisherigen Theorie geben wir einen funktionentheoretischen Beweis fur Satz 3.5.Die Potenzreihe

P (z) =∞∑

j=0

aj (z − z0)j

besitze einen positiven Konvergenzradius r . Wir schreiben

Q (z) :=∞∑

j=1

j aj (z − z0)j−1

fur die formal differenzierte Reihe und mussen zeigen, daß diese ebenfalls Dr = Dr(z0) als Konver-genzkreis besitzt und dort die komplexe Ableitung von P darstellt.

Offensichtlich ist P (z) (bis auf den zusatzliche Summanden a0 ) gleich der aus Q (z) durch glied-weise Integration hervorgehende Reihe . Man kann daher genauso gut statt Satz 3.5 auch die Existenzvon Stammfunktionen fur Potenzreihen in ihrem Konvergenzkreis beweisen.

Folgerung 6.6 Es sei∑

aj (z − z0)j eine Potenzreihe mit positivem Konvergenzradius r . Dannbesitzt ihre Grenzfunktion f eine auf Dr(z0) konvergente Potenzreihe F als Stammfunktion. Mangewinnt F durch formale Integration der gegebenen Potenzreihe :

F (z) =∞∑

j=0

aj

j + 1(z − z0)j+1 .

F hat ebenfalls den Konvergenzradius r .

Beweis. Im folgenden sei ohne Beschrankung der Allgemeinheit zur Vermeidung unnotiger Schreibarbeitz0 = 0 vorausgesetzt. Wir zeigen als erstes, daß der Konvergenzradius R der Potenzreihe F hochstensgleich r ist. Es sei dazu 0 < ρ < R beliebig gewahlt, und ρ1 liege echt zwischen ρ und R . (WennR = 0 ist, gibt es solche Zahlen nicht; dann ist aber auch nichts zu beweisen). Da die Potenzreihe Fin ρ1 konvergiert, gibt es eine Konstante M1 , so daß

∣∣∣∣aj

j + 1

∣∣∣∣ ρj+11 ≤ M1 fur alle j ∈ N .

Nun besitzt die Potenzreihe ∞∑

j=0

(j + 1) zj

Page 61: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

6 Stammfunktionen 45

nach dem Quotientenkriterium offensichtlich den Konvergenzradius 1 . Somit ist auch die Folge

(j + 1)(

ρ

ρ1

)j

durch eine Konstante M2 nach oben beschrankt und folglich

| aj |ρj =j + 1

ρ1

ρ1

)j | aj |j + 1

ρj+11 ≤ M1 M2

ρ1.

Damit ist die gegebene Potenzreihe in dem offenen Kreis um 0 mit Radius ρ konvergent. Da ρ < Rbeliebig war, folgt die Konvergenz dieser Reihe in DR , und es ist notwendig r ≥ R .

Sei nun γ eine beliebige Kurve in dem Konvergenzkreis Dr der gegebenen Potenzreihe mit Anfangs-punkt z0 und Endpunkt z1 . Dann folgt aus Satz 5. 5:

γ

f (ζ) dζ =∫

γ

∞∑

j=0

aj ζj dζ =∞∑

j=0

aj

γ

ζj dζ =∞∑

j=0

aj

j + 1(zj+1

1 − zj+10 )

wegen Beispiel 1. Insbesondere verschwindet das Integral fur alle geschlossenen Kurven in Dr , undsomit besitzt f dort eine Stammfunktion, z. B.

[0,z]

f (ζ) dζ =∞∑

j=0

aj

j + 1zj+1 = F (z) .

Also ist die Potenzreihe F in Dr konvergent, woraus auch die umgekehrte Abschatzung R ≥ r folgt,und es ist F ′ = f . ¤

Bemerkung . Mit dem aus der reellen Analysis bekannten Grenzwert lim j√

j = 1 gewinnt manzusammen mit der Cauchy–Hadamardschen Formel leicht einen alternativen Beweis fur die Gleichheitder Konvergenzradien.

Des weiteren wollen wir uns noch einmal die Problematik der Logarithmusfunktion vergegenwarti-gen. Wegen der Differentialgleichung (exp z)′ = exp z erfullt jede mogliche Umkehrfunktion log dieGleichung

(log z)′ =1z

.

Denn wegen exp (log z) = z fur alle z in einem Definitionsgebiet des Logarithmus folgt nach derKettenregel

(log z)′ z = (log z)′ elog z =d

dz(exp (log z)) = 1 .

Wir haben es deshalb bei diesem Problem schlicht mit der Frage zu tun, ob die Funktion 1/z auf demnicht–sternformigen Gebiet C∗ eine Stammfunktion besitzt. Dies ist, wie wir schon wissen, nicht derFall, da das Integral ∫

∂Dr(0)

dz

z= 2 π i 6= 0

ist. Andererseits erhalten wir unter Verwendung von Satz 7.4 und Vorwegnahme weiterer Uberlegungenin Kapitel 14:

Auf jedem sternformigen Teilgebiet G von C∗ besitzt die (holomorphe) Funktion 1/z Stammfunktio-nen, die dort automatisch (bei geeigneter Wahl eines einzigen Funktionswertes an einer festen Stelle)Umkehrfunktionen der Exponentialfunktion darstellen. Wir nennen diese Zweige des Logarithmus aufG und bezeichnen jede mit dem Symbol log . Je zwei solche Zweige unterscheiden sich additiv um einganzzahliges Vielfaches von 2 π i .

Page 62: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

46 6 Stammfunktionen

Insonders gibt es Zweige des Logarithmus auf der Menge C\R− . Unter diesen gibt es den sogenanntenHauptzweig , der an der Stelle z = 1 gerade den Wert 0 annimmt (und auf R∗+ mit dem reellenLogarithmus ubereinstimmt). Fur diesen schreibt man manchmal auch Log z . Nimmt man irgendeinenZweig des Logarithmus auf C \ R− her und nahert sich der negativen reellen Achse von oben bzw.unten, so konvergieren die Funktionswerte gegen Zahlen, die wir mit log+ z bzw. log− z bezeichnen.Wegen der Mehrdeutigkeit des Logarithmus auf C∗ ist dann

log+ z − log− z = 2 π i .

Ebenso vorsichtig mussen wir sein mit Potenzen zα , α ∈ C , die man durch

zα = eα log z

und damit im allgemeinen nicht eindeutig definiert. Auf jedem Gebiet G , auf dem Zweige des Loga-rithmus existieren, gibt es aber auch Zweige der Potenzfunktionen zα .

Page 63: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

7 Die lokalen Cauchyschen Integralformeln

Wir zeigen als erstes, daß holomorphe Funktionen stets die Voraussetzungen der Folgerung 6.5 erfullen.

Satz 7.1 (Goursat 1900) Sei f holomorph auf dem Gebiet G ⊂ C , und sei ∆ = ∆ ⊂ G einabgeschlossenes Dreieck. Dann gilt ∫

∂∆

f (z) dz = 0 .

Folgerung 7.2 Holomorphe Funktionen besitzen stets lokale Stammfunktionen. Auf sternformigen (ins-besondere konvexen) Gebieten besitzen sie sogar globale Stammfunktionen.

Beweis von Satz 1. Wir unterteilen das Dreieck ∆ auf die folgende Weise in kleinere kompakte Dreiecke

Figur 7.1

und setzen entsprechend∆ := ∆1

0 = ∆11 ∪ ∆2

1 ∪ ∆31 ∪ ∆4

1 .

Dann gilt bei gleicher Orientierung aller ∆j1 , daß

I0 :=∫

∂∆

f (z) dz =4∑

j=1

Ij1 mit Ij

1 :=∫

∂∆j1

f (z) dz .

Es folgt| I0 | ≤ 4 max

j=1,...,4| Ij

1 | .

Sei ∆1 eines der kleineren Dreiecke ∆j1 , fur welches der großte Wert unter den | Ij

1 | angenommenwird, und I1 bezeichne das entsprechende Integral. Wir unterteilen dann ∆1 wieder auf die gleicheWeise und erhalten eine unendliche Folge von Dreiecken

∆ = ∆0 ⊃ ∆1 ⊃ ∆2 ⊃ · · · ,

so daß mitIj =

∂∆j

f (z) dz

gilt:| I | ≤ 4j | Ij | .

Fur die Langen der entsprechenden Integrationswege ergibt sich ferner

L (∂∆) = 2 L (∂∆1) = · · · = 2j L (∂∆j) .

Page 64: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

48 7 Die lokalen Cauchyschen Integralformeln

Da alle ∆j kompakt sind, existiert ein z0 ∈⋂∞

j=0 ∆j . Andererseits geht der Durchmesser der ∆j

gegen Null. Daraus folgt∞⋂

j=0

∆j = z0 .

Nun ist f nach Voraussetzung speziell in diesem Punkte z0 ∈ G komplex differenzierbar. Also gilt

f (z) = f (z0) + (f ′(z0) + A (z)) (z − z0) ,

wobei A (z) stetig ist in G mit limz→z0 A (z) = 0 . Die lineare Funktion f (z0) + f ′(z0) (z − z0)besitzt eine globale Stammfunktion; also ist nach Folgerung 6.2:

∂∆j

f (z) dz =∫

∂∆j

A (z) (z − z0) dz

und folglich| Ij | ≤ L (∂∆j) max

z∈∂∆j

| z − z0 | |A (z) | ≤ L (∂∆j)2 maxz∈∆j

|A (z) | .

Damit erhalt man schließlich

| I | ≤ 4j

(L (∂∆)

2j

)2

maxz∈∆j

|A (z) | = L (∂∆)2 maxz∈∆j

|A (z) | −→j→∞

0 . ¤

Um den Integralsatz bequem zur Ableitung der Integral–Formeln anwenden zu konnen, benotigenwir eine Verscharfung (die aber nur eine scheinbare ist; siehe das Ende dieses Kapitels).

Satz 7.3 Die Funktion f : G → C sei stetig, und f sei an allen Stellen von G mit eventuellerAusnahme eines einzigen Punktes z0 ∈ G holomorph. Dann ist

∫∂∆

f (z) dz = 0 fur alle Dreiecke∆ = ∆ ⊂ G .

Beweis. Wir brauchen nur Dreiecke zu behandeln mit z0 ∈ ∆. Zerlege dann ∆ in der folgenden Form

z0

Figur 7.2

wobei die ausgearteten Falle, bei denen z0 auf dem Rand von ∆ liegt, weniger Teildreiecke ergeben.Auf jeden Fall konnen wir damit annehmen, daß z0 ein Eckpunkt von ∆ ist. In diesem Fall zerlegeman weiter:

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Figur 7.3

Page 65: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

7 Die lokalen Cauchyschen Integralformeln 49

Es folgt ∫

∂∆

f (z) dz =∫

∂∆ε

f (z) dz

durch Anwendung von Satz 1 auf die beiden restlichen Dreiecke. Damit erhalten wir aber∣∣∣

∂∆ε

f (z) dz∣∣∣ ≤ L (∂∆ε) max

z∈∂∆ε

| f (z) | −→ε→0

0 . ¤

Satz 7.4 (Cauchyscher Integralsatz - lokale Version) G sei ein sternformiges (z. B. also einkonvexes) Gebiet, f : G → C sei stetig und auf G \ z0 holomorph. Dann gilt fur jede geschlos-sene Kurve γ in G : ∫

γ

f (z) dz = 0 .

Beweis. Aufgrund der bisher bewiesenen Satze besitzt f auf G eine Stammfunktion. Die Behauptungergibt sich dann als Folgerung aus Satz 6.1. ¤

Wir konnen nun bequem die Cauchysche Integralformel (in lokaler Fassung) beweisen.

Satz 7.5 (Cauchysche Integralformel) Es sei f : G → C holomorph, und D = Dr(z0) liegerelativ kompakt in G . Dann gilt fur alle z ∈ D :

f (z) =1

2 π i

∂D

f (ζ)ζ − z

dζ .

Hierbei ist der Rand ∂D naturlich positiv zu orientieren.

Beweis. Es ist U = Dr+ε(z0) ⊂⊂ G fur hinreichend kleines ε . Wahle z ∈ D fest; wir betrachtendann, wie in der Einleitung schon ausgefuhrt, die Funktion

g (ζ) =

f (ζ) − f (z)ζ − z

, ζ ∈ U \ z

f ′(ζ) , ζ = z .

Wegen Satz 4 ist

0 =∫

∂D

g (ζ) dζ =∫

∂D

f (ζ)ζ − z

dζ − f (z)∫

∂D

ζ − z.

Also ist nur noch zu zeigen:

h (z) :=∫

∂D

ζ − z≡ 2 π i auf D .

Mit Satz 5. 6. folgt aber sofort die Holomorphie von h (z) auf D und die Relation

h′(z) =∫

∂D

∂z

(1

ζ − z

)dζ = −

∂D

∂ζ

(1

ζ − z

)dζ = 0 ,

da der Integrand im letzten Integral eine Stammfunktion besitzt. Somit ist h′(z) ≡ 0 , und da nacheinem fruheren Beispiel h (z0) = 2π i gilt, ist h (z) ≡ 2 π i auf D . ¤

Bemerkung . Außerhalb von D ergibt sich ebenfalls h (z) = const. Da außerdem offensichtlich

limz→∞

∂D

ζ − z= 0

Page 66: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

50 7 Die lokalen Cauchyschen Integralformeln

ist, muß h dort identisch Null sein.

Wenden wir wiederum Satz 5.6 auf die Cauchysche Integralformel an, so sehen wir, daß fur fholomorph auf G , D ⊂⊂ G eine Kreisscheibe, die komplexe Ableitung von f sich in z ∈ D berechnetin der Form

f ′(z) =1

2 π i

∂D

f (ζ)(ζ − z)2

dζ .

Damit ist aber f ′ stetig auf D und sogar auf ganz G . f ′ ist in der Tat nach z komplex differenzierbarauf D , und zwar gilt

f ′′(z) =1

2 π i

∂D

∂z

(f (ζ)

(ζ − z)2

)dζ =

22 π i

∂D

f (ζ)(ζ − z)3

dζ .

So fortfahrend erhalt man

Satz 7.6 (Cauchysche Integralformeln) f : G → C sei eine holomorphe Funktion auf dem Ge-biet G ⊂ C . Dann ist f beliebig oft komplex differenzierbar (insbesondere ist f ′ stetig). Fur alleKreisscheiben D ⊂⊂ G gelten die Integralformeln :

f (j)(z) =j!

2 π i

∂D

f (ζ)(ζ − z)j+1

dζ , z ∈ D , j ∈ N .

Wir ziehen noch zwei wichtige Folgerungen aus diesen Ergebnissen.

Satz 7.7 (Morera) Die Funktion f : G → C sei stetig. Dann gilt : f ist holomorph genau dann,wenn

∫∂∆

f (z) dz = 0 ist fur alle Dreiecke ∆ = ∆ ⊂ G .

Beweis. Eine Richtung wird von Satz 1 geliefert. Ist umgekehrt die Bedingung des Satzes erfullt, sobesitzt f nach Folgerung 6.5 lokale (holomorphe) Stammfunktionen, die nach Satz 6 beliebig oft, alsoinsbesondere zweimal komplex differenzierbar sind. Somit ist (lokal) insbesondere f = F ′ komplexdifferenzierbar. ¤

Schließlich zeigen wir noch, daß die Voraussetzung von Satz 2 impliziert, daß f auf ganz G ho-lomorph ist. Wir beweisen gleich einen allgemeineren Satz. Dazu erinnern wir an die folgende Definition.

Definition. Die Menge M ⊂ G heißt diskret in G , falls fur alle z0 ∈ G eine Umgebung U = Dε(z0) ⊂G existiert, s. d. M ∩Dε(z0) aus endlich vielen Punkten besteht.

Satz 7.8 (Riemannscher Hebbarkeitssatz) Es sei G ein Gebiet, M ⊂ G sei diskret, und f :G\M → C sei holomorph und lokal beschrankt nahe M . Dann gibt es genau eine holomorphe Funktionf : G → C mit f|G\M = f .

Beweis. i) Die Eindeutigkeit ist klar, da nach Definition G \M dicht in G liegt und die Funktion fstetig ist.

ii) Fur alle z0 ∈ M existiert eine Umgebung U = U (z0) ⊂ G mit U (z0) ∩M = z0 . Es genugtdaher, eine holomorphe Fortsetzung von f nach U zu finden. Wir haben damit das Problem auf denFall M = z0 reduziert.

iii) Wir beweisen den Satz fur M = z0 unter der Zusatzvoraussetzung, daß f stetig in z0 erganztwerden kann, daß also der Grenzwert

limz→z0

f (z) =: f (z0)

Page 67: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

7 Die lokalen Cauchyschen Integralformeln 51

existiert. Wir definieren f dann auf naheliegende Weise auf G ; f ist somit stetig in G , holomorphin G \ z0 , und besitzt daher nach Satz 3 und der Folgerung 6. 5 lokale Stammfunktionen. Wie oben(Satz 7) ergibt sich hieraus, daß f holomorph auf G ist.

iv) f sei nur beschrankt nahe z0 , d. h. | f (z) | ≤ R fur alle z ∈ U \ z0 . Wir bilden dann

F (z) :=

(z − z0) f (z) , z ∈ U \ z0 ,

0 , z = z0 .

Nach Voraussetzung ist F holomorph in U \ z0 und stetig in z0 mit F (z0) = 0 , so daß F nachTeil iii) holomorph auf U und insbesondere in z0 komplex differenzierbar ist. Somit existiert

F ′(z0) = limz→z0

F (z) − F (z0)z − z0

= limz→z0

f (z) ,

und wir konnen noch einmal Teil iii) auf die ursprungliche Funktion f anwenden. ¤

Bemerkung . Historische Bemerkungen zu diesem Themenkreis findet man z. B. bei Fischer–Lieb.

Zum Abschluß dieses Kapitels geben wir einen ersten Beweis fur den Fundamentalsatz der Algebra.Dazu reichen schon die wenigen Ergebnisse, die wir bisher gewonnen haben. Weitere kurze funktionen-theoretische Beweise lernen wir spater kennen. Es sei also P ein komplexes Polynom von einem Gradn ≥ 1 . Wir mussen zeigen, daß P mindestens eine Nullstelle in der komplexen Ebene C besitzt.Nehmen wir an, daß dies nicht der Fall ist. Dann ist die Funktion f := 1/P holomorph auf ganz C ,und sie verschwindet nirgends. Schreiben wir

P (z) = a0 zn + a1 zn−1 + · · ·

mit a0 6= 0 , so ist

limz→∞

P (z)zn

= a0 6= 0

und damit|P (z) | ≥ | z |n | a0 |/2

fur alle hinreichend großen | z | (siehe auch Satz 9.9). Folglich besteht fur jedes ε > 0 die Ungleichung| f (z) | ≤ ε fur | z | ≥ R = Rε >> 0 . Die Standardabschatzung fur

f (0) =1

2 π i

∂DR

f (z) dz

z

liefert aber sofort

| f (0) | ≤ (2π R) ε

2 π R= ε ,

also, da ε > 0 beliebig war, f (0) = 0 . Widerspruch! ¤

Page 68: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und
Page 69: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

8 Potenzreihenentwicklung holomorpher Funktionen

Holomorphe Funktionen sind nach Satz 7.6 beliebig oft komplex differenzierbar. Wir werden in diesemParagraphen zeigen, daß sie sogar analytisch sind. Dazu sei f ∈ O (G) , z0 ∈ G fest und R =dist (z0, ∂G) , s. d. D = DR(z0) den großten Kreis um z0 bezeichnet, der noch in G enthalten ist.Ferner ist im folgenden r stets eine beliebige reelle Zahl mit 0 < r < R .

z0

Figur 8.1

Wir werden den Cauchy–Kern (ζ − z)−1 vermittels der geometrischen Reihe in eine Potenzreiheentwickeln. Es sei dazu z ∈ Dr(z0) und ζ ∈ ∂Dr(z0) . Dann gilt

1ζ − z

=1

(ζ − z0) − (z − z0)=

1ζ − z0

· 1

1 − z − z0

ζ − z0

=1

ζ − z0

∞∑

j=0

(z − z0

ζ − z0

)j

,

wobei die Reihe auf der rechten Seite absolut und gleichmaßig bei festem z fur alle ζ ∈ ∂Dr(z0)konvergiert. Da f stetig auf ∂Dr(z0) ist, ist f|∂Dr(z0) beschrankt, so daß auch die Reihe

f (ζ)ζ − z

=∞∑

j=0

(z − z0)j f (ζ)(ζ − z0)j+1

gleichmaßig konvergent auf ∂Dr(z0) ist bei festem z . Also gilt nach der Cauchy–Formel und demSatz 5.5:

f (z) =1

2 π i

∂Dr(z0)

f (ζ)ζ − z

dζ =1

2 π i

∂Dr(z0)

∞∑

j=0

(z − z0)j f (ζ)(ζ − z0)j+1

=∞∑

j=0

(1

2 π i

∂Dr(z0)

f (ζ)(ζ − z0)j+1

)(z − z0)j =

∞∑

j=0

f (j)(z0)j!

(z − z0)j .

Da die rechte Seite von r unabhangig ist, konvergent diese Potenzreihe auf jeden Fall in DR(z0) . - Wirhaben damit gezeigt:

Satz 8.1 Sei f ∈ O (G) , z0 ∈ G , und es sei R = dist (z0, ∂G) . Dann laßt sich f um z0 in eine inDR(z0) konvergente Potenzreihe entwickeln :

f (z) =∞∑

j=0

aj (z − z0)j , z ∈ DR(z0) .

Die Koeffizienten aj sind durch f eindeutig bestimmt, und zwar vermoge der Formel

aj =1j!

f (j)(z0) ,

Page 70: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

54 8 Potenzreihenentwicklung holomorpher Funktionen

so daß die Reihe mit der Taylorentwicklung von f an der Stelle z0 ubereinstimmt. Fur jedes r mit0 < r < R berechnen sich die Taylorkoeffizienten aj zu

aj =1

2 π i

∂Dr(z0)

f (ζ)(ζ − z0)j+1

dζ .

Beweis. Nur noch die Eindeutigkeitsaussage ist zu verifizieren. Wegen

f (z) =∞∑

j=0

aj (z − z0)j

ist selbstverstandlich f (z0) = a0 . Da wir Potenzreihen in ihrem Konvergenzbereich bedenkenlos dif-ferenzieren durfen, erhalten wir ebenso

f ′(z) =∞∑

j=0

(j + 1) aj+1 (z − z0)j

und damit f ′(z0) = a1 . Durch vollstandige Induktion gewinnt man daraus die gewunschte Beziehung

f (n)(z0) = 1 · . . . · n · an . ¤

Warnung . Der Konvergenzradius der Taylorreihe von f ist mindestens so groß wie der Abstand R vonz0 zum Rand ∂G ; er kann aber durchaus großer als R sein! Dieses Phanomen wird uns spater noch imZusammenhang mit dem Problem der analytischen Fortsetzung holomorpher Funktionskeime intensivbeschaftigen.

Folgerung 8.2 Die Potenzreihe P (z) =∞∑0

aj (z − z0)j sei auf der Kreisscheibe DR(z0) konvergent,

und z1 ∈ DR(z0) sei beliebig gewahlt. Dann gibt es eine Entwicklung

P (z) =∞∑

j=0

bj (z − z1)j ,

die im Kreis um z1 mit Radius R − | z1 − z0 | konvergiert.

Bemerkung . Man erhalt diese neue Entwicklung selbstverstandlich durch Umordnung der Reihe

∞∑

j=0

aj (z − z0)j =∞∑

j=0

aj ((z − z1) + (z1 − z0))j

=∞∑

j=0

aj

((z − z1)j +

(j

1

)(z1 − z0) (z − z1)j−1 + · · ·

)

nach Potenzen von (z − z1) . Man beachte, daß wir dieses Ergebnis auch schon in der reellen Analysismit Hilfe des Umordnungssatzes bewiesen haben.

Eine weitere interessante Folgerung ist, daß eine Potenzreihe im Rand ihres Konvergenzkreises ihrenaturliche Grenze in Bezug auf holomorphe Fortsetzbarkeit findet.

Satz 8.3 Sei R der Konvergenzradius der Reihe∑

aj (z − z0)j , und sei

f (z) =∑

aj (z − z0)j .

Dann gibt es keine holomorphe Funktion f ∈ O (U) mit DR(z0) ⊂ U , s. d. f|DR(z0) = f .

Page 71: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

8 Potenzreihenentwicklung holomorpher Funktionen 55

Beweis (durch Widerspruch). Angenommen, es existierte eine solche Fortsetzung f ∈ O (U) , D =DR(z0) , D ⊂ U . Dann ist auch noch DR+δ ⊂ U fur ein δ > 0 . Wegen Satz 1 muß dann aber diePotenzreihenentwicklung von f um z0 konvergent in DR+δ sein. Diese Potenzreihenentwicklung istaber identisch mit der von f wegen f = f|DR

. Also mußte der Konvergenzradius doch > R sein.Widerspruch! ¤

Bemerkungen. 1. Im Reellen ist ein entsprechender Satz nicht richtig, wie das in der Einleitung

angegebene Beispiel1

1 + x2zeigt.

2. Man kann leicht das folgende Kriterium beweisen: Gilt unter den obigen Voraussetzungen fur einz1 ∈ DR(z0) \ z0 , daß f (z) 6= 0 fur | z − z0 | < | z1 − z0 | , aber f (z1) = 0 , so besitzt diePotenzreihenentwicklung von 1/f um z0 den Konvergenzradius | z1 − z0 | .3. Man kann unter den obigen Voraussetzungen sogar zeigen, daß sich f nicht uber alle Randpunktevon DR(z0) hinaus lokal holomorph fortsetzen laßt. Es ergibt sich namlich aus dem Identitatssatz(Satz 5) sofort, daß zwei solcher lokalen Fortsetzungen (definiert auf Kreisen mit einem Randpunktvon DR als Mittelpunkt) in dem Durchschnitt ihrer Definitionsbereiche ubereinstimmen. Wegen derKompaktheit von ∂DR besitzt dann f eine holomorphe Fortsetzung nach DR+δ im Gegensatz zudem obigen Satz.

Wir konnen nunmehr noch einmal die wichtigsten aquivalenten Bedingungen fur die Holomorphiezusammenfassen (man konnte die Liste noch ohne weiteres verlangern).

Satz 8.4 Es sei f eine komplex–wertige Funktion auf der offenen Menge U ⊂ C . Dann sind aquiva-lent :

i) f ist holomorph (also in jedem Punkt von U komplex differenzierbar).

ii) f ist reell differenzierbar und genugt den Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen.

iii) f besitzt lokale Stammfunktionen.

iv) f ist lokal um jeden Punkt in eine Potenzreihe entwickelbar (also ,,komplex–analytisch“).

Zum Schluß wollen wir noch den Identitatssatz samt einiger Folgerungen ableiten. Dazu vermerkenwir zunachst: Ist f ∈ O (G) , z0 ∈ G , so sind aquivalent:

i) f (z0) = f ′(z0) = · · · = f (n−1)(z0) = 0 , f (n)(z0) 6= 0 .

ii) Die Taylorentwicklung von f um z0 lautet

∞∑

j=n

aj (z − z0)j , an 6= 0 .

iii) Es existiert eine Umgebung U = U (z0) ⊂ G und eine Funktion g ∈ O (U) mit g (z0) 6= 0 , sodaß f (z) = (z − z0)n g (z) fur alle z ∈ U .

Definition. Man sagt, f besitze in z0 eine Nullstelle der Ordnung n , falls eine der obigen aquivalentenBedingungen erfullt ist.

Satz 8.5 (Identitatssatz) Seien f, g ∈ O (G) . Dann sind die folgenden Aussagen aquivalent :

i) f ≡ g .

ii) f (n)(z0) = g(n)(z0) fur ein z0 ∈ G und alle n ∈ N .

Page 72: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

56 8 Potenzreihenentwicklung holomorpher Funktionen

iii) Es existiert eine nicht diskrete Teilmenge N ⊂ G , so daß f|N = g|N .

Wahlt man speziell g ≡ 0 so sind fur f ∈ O (G) aquivalent :

i)′ f ≡ 0 .

ii)′ f (n)(z0) = 0 fur ein z0 ∈ G und alle n ∈ N .

iii)′ Es existiert eine nicht diskrete Teilmenge N ⊂ G , so daß f|N = 0 .

Definition und Bemerkung . Im Falle ii)′ nennt man z0 eine Nullstelle unendlicher Ordnung von f .Auch reell–analytische Funktionen konnen keine Nullstellen unendlicher Ordnung besitzen, außer wennsie (lokal) identisch verschwinden. Dagegen konnen nicht triviale reelle C∞–Funktionen Nullstellenunendlicher Ordnung haben.

Beweis von Satz 5. Betrachte f − g und 0 anstelle von f und g . Wir konnen damit ohne Ein-schrankung in dem Satz g ≡ 0 annehmen und nur die Aquivalenz der ,,gestrichenen“ Aussagen bewei-sen.

iii)′ =⇒ ii)′ . Da N nicht diskret in G ist, gibt es eine unendliche Folge zk 6= z0 , k ≥ 1 , in N mitz0 = lim zk . Aus f (zk) = 0 folgt dann f (z0) = lim f (zk) = 0 . Also ist mit

f (z) =∞∑

j=0

aj (z − z0)j

automatisch a0 = 0 . Angenommen, wir hatten schon a0 = a1 = · · · = an−1 = 0 nachgewiesen. Aus

f (z) =∞∑

j=n

aj (z − z0)j = (z − z0)n (an + an+1 (z − z0) + · · ·)

folgt dann, wenn wir fur die Klammer auf der rechten Seite g (z) schreiben, mit f (zk) = 0 auchg (zk) = 0 . Da g stetig (sogar holomorph) ist, ergibt sich auch an = g (z0) = lim g (zk) = 0 . Alsofolgt induktiv an = 0 fur alle n ∈ N , und das heißt auch f (n)(z0) = 0 fur alle n .

ii)′ =⇒ i)′ . f (n)(z0) = 0 fur alle n bedeutet nichts anderes, als daß die Taylorreihe von f identisch0 ist, also f ≡ 0 in einer Umgebung von z0 gilt. Offensichtlich ist die Menge

z ∈ G : f (n)(z) = 0 fur alle n ∈ N ⊂ G

damit offen und abgeschlossen in G . Da diese Menge nach Voraussetzung nicht leer ist, muß sie mitG ubereinstimmen, so daß f ≡ 0 .

i)′ =⇒ iii)′ ist trivial. ¤

Beispiele. 1. Es sei f (z) = sin z , g (z) = sin (z + 2 π) . Dann gilt f = g auf der nicht diskretenTeilmenge R ⊂ C , so daß f und g auf ganz C ubereinstimmen mussen.

2. Entsprechend beweist mansin 2 z = 2 sin z cos z , z ∈ C ,

und viele andere Identitaten.

Eine weitere Folgerung aus dem Identitatssatz ist das folgende Resultat, dessen Beweis wir demLeser uberlassen.

Satz 8.6 Fur jedes Gebiet G ⊂ C ist der Ring O (G) der holomorphen Funktionen ein Integritatsbe-reich. D. h.: Ist fur zwei holomorphe Funktionen f, g auf G das Produkt f g identisch Null, so mußschon eine der beiden Funktionen identisch verschwinden.

Page 73: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

9 Cauchysche Ungleichungen mit Anwendungen

Aus den Cauchyschen Integralformeln folgen sehr nutzliche Abschatzungen: Sind f ∈ O (G) , Dr(z0) ⊂⊂G , 0 < δ ≤ r und | z − z0 | ≤ r − δ gegeben, so ergibt sich ohne weiteres die Abschatzung

| f (n)(z) | =n!2 π

∣∣∣∫

∂Dr

f (ζ)(ζ − z)n+1

dζ∣∣∣ ≤ n!

2 π2 π r

maxζ∈∂Dr

| f (ζ) |δn+1

.

Wir fassen zusammen:

Satz 9.1 (Cauchysche Ungleichungen) Es seien f ∈ O (G) , Dr (z0) ⊂⊂ G , 0 < δ ≤ r . Danngilt fur alle z ∈ Dr−δ(z0) :

| f (n)(z) | ≤ r

δ· n!

δnmax

|ζ−z0|=r| f (ζ) | .

Speziell folgt fur δ =r

2:

| f (n)(z) | ≤ Cn

rnmax

|ζ−z0|=r| f (ζ) | fur alle n ∈ N und alle z ∈ Dr/2(z0) ,

wobei Cn = 2n+1 n! unabhangig von f und r ist.

Es gilt stets im Mittelpunkt der Kreisscheibe Dr(z0) (man wahle δ = r ) :

| f (n)(z0) | ≤ n!rn

max|ζ−z0|=r

| f (ζ) |

und damit

| an | ≤ 1rn

max|ζ−z0|=r

| f (ζ) | , falls f (z) =∞∑

n=0

an (z − z0)n .

Als eine der wichtigsten Konsequenzen erhalt man hieraus schon den Weierstraßschen Konver-genzsatz fur holomorphe Funktionen:

Satz 9.2 (Weierstraß) Seien fk ∈ O (G) , k ∈ N , und die Folge der fk sei auf G lokal gleichmaßigkonvergent gegen eine Grenzfunktion f . Dann ist auch f holomorph auf G , und fur alle n ∈ Nkonvergiert die Folge der Ableitungen f

(n)k lokal gleichmaßig gegen die entsprechende Ableitung f (n)

von f .

Bemerkung . Man beachte wieder den Unterschied zu der Theorie der differenzierbaren Funktionen ineiner reellen Veranderlichen, in der man die gleichmaßige Konvergenz der Ableitungsfolgen voraussetzenmuß.

Beweis. a) f ist holomorph. Aus fklokal=⇒ f folgt namlich, daß die Grenzfunktion f stetig ist. Sei

weiter ∆ = ∆ ⊂ G ein Dreieck. Dann gilt∫

∂∆

f (z) dz =∫

∂∆

lim fk(z) dz = lim∫

∂∆

fk(z) dz = 0 .

Nach dem Satz von Morera (Satz 7.7) ist damit f holomorph.

b) Wir zeigen die Aussage f ′klokal=⇒ f ′ (fur die hoheren Ableitungen folgt die entsprechende Aussage dann

durch Induktion): Fur z0 ∈ G existiert eine Kreisscheibe D′ = Dr/2(z0) , so daß D = Dr(z0) ⊂ G .Nach Satz 1 gilt dann fur alle z ∈ D′ die Abschatzung

| f ′k(z) − f ′(z) | ≤ C1

rmax

|ζ−z0|=r| fk(ζ) − f (ζ) | .

Page 74: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

58 9 Cauchysche Ungleichungen mit Anwendungen

Nun ist der Kreisrand ζ ∈ C : | ζ − z0 | = r ⊂ G kompakt, und da die Folge fk lokal gleichmaßiggegen f konvergiert, existiert fur alle ε > 0 ein k0 = k0(ε) , so daß

max|ζ−z0|=r

| fk(ζ) − f(ζ) | <r · εC1

und damit| f ′k(z) − f ′(z) | < ε fur alle k ≥ k0 und alle z ∈ D′ .

Also gilt lokal f ′k =⇒ f ′ . ¤

Als nachstes wollen wir das sogenannte Maximumprinzip (und verwandte Aussagen) beweisen. Dazuformulieren wir zunachst das

Lemma 9.3 Es sei f ∈ O (G) , Dr(z0) ⊂ G , und es gelte

| f (z0) | < min|z−z0|=r

| f (z) | .

Dann hat f in Dr(z0) mindestens eine Nullstelle.

Beweis (durch Widerspruch). Es sei f (z) 6= 0 fur alle z ∈ Dr(z0) . Dann ist nach Voraussetzunginsbesondere 0 < | f (z0) | < min|z−z0|=r | f (z) | und folglich auch f (z) 6= 0 fur alle z ∈ ∂Dr(z0) .Aus Stetigkeitsgrunden ist sogar f (z) 6= 0 fur alle z ∈ Dr+ε(z0) ⊂ G , ε > 0 eine geeignete reelleZahl, und damit g = 1/f holomorph auf Dr+ε(z0) . Die Cauchysche Ungleichung liefert schließlich furn = 0 den Widerspruch

1min

|z−z0|=r| f (z) | <

1| f (z0) | = | g (z0) | ≤ max

|z−z0|=r| g (z) | =

1min

|z−z0|=r| f (z) | . ¤

Hieraus folgt der sogenannte Satz von der Gebietstreue:

Satz 9.4 G sei ein Gebiet, und f ∈ O (G) sei nicht konstant. Dann ist die Bildmenge f (G) einGebiet.

Beweis. f (G) ist (wegweise) zusammenhangend, da f stetig und G wegweise zusammenhangend ist.Es bleibt nur noch zu zeigen, daß f (G) ein Bereich, also offen ist. Sei dazu w0 ∈ f (G) und z0 ∈ Gmit f (z0) = w0 . Es existiert dann eine Kreisscheibe D2r(z0) ⊂ G , so daß f (z) 6= w0 fur allez ∈ D2r(z0) \ z0 ; denn sonst gabe es eine unendliche Folge zj → z0 , zj 6= z0 , mit f (zj) = f (z0) ,was nach dem Identitatssatz f ≡ f (z0) zur Folge hatte. Mit der Kompaktheit von ∂Dr(z0) ergibtsich

0 < minz∈∂Dr(z0)

| f (z) − f (z0) | =: 2 ε .

Es genugt dann zu zeigen, daß Uε(w0) ⊂ f (G) . Sei zum Nachweis dieser Aussage w mit |w − w0 | < εbeliebig, aber fest gewahlt. Dann ergibt sich fur alle z ∈ ∂Dr(z0) :

| f (z) − w | ≥ | f (z) − w0 | − |w − w0 | > 2 ε − ε = ε .

Fur z = z0 ist aber | f (z0) − w | = |w0 − w | < ε . Setzen wir also g (z) = f (z) − w , so haben wir

| g (z0) | < ε ≤ min|z−z0|=r

| g (z) |

und damit nach dem obigen Lemma g (z) = 0 fur ein z ∈ Dr(z0) . ¤

Beispiel und Bemerkung . Es sei f ∈ O (G) eine holomorphe Funktion mit Re f = const . Dann istdie Bildmenge f (G) in der Geraden w ∈ C : w = u + i v , u = const. enthalten und ist daher

Page 75: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

9 Cauchysche Ungleichungen mit Anwendungen 59

nicht offen. Infolgedessen ist notwendig auch f = const . Diese Aussage haben wir schon in Lemma 4.2mit Hilfe der Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen nachgewiesen. Sie laßt sich umgehendverallgemeinern zu dem folgenden Kriterium:

Ist P (u, v) ein nicht triviales reelles oder komplexes Polynom in den beiden reellen Variablen u, v ,und ist fur eine holomorphe Funktion f

P (Re f, Im f) = 0 ,

so ist f konstant .

Satz 9.5 (Maximum - Prinzip) Sei G ein Gebiet, und f sei holomorph auf G .

a) Hat | f | in einem Punkt z0 ∈ G ein lokales Maximum, so ist f = const .

b) Sei G beschrankt, und f sei nach G stetig fortsetzbar. Dann gilt

| f (z) | ≤ maxζ∈∂G

| f (ζ) | fur alle z ∈ G .

Beweis. a) Es folgt | f (z) | ≤ | f (z0) | fur alle z in einer Umgebung U = U (z0) , so daß

f (U) ⊂ w ∈ C : |w | ≤ |w0 | .

Da w0 ∈ f (U) liegt, die Menge auf der rechten Seite aber nicht offen ist in w0 , so ist f (U) nichtoffen und f ≡ f (z0) nahe z0 nach Satz 4. Der Identitatssatz liefert dann die Behauptung.

b) Da (die Fortsetzung) f auf G stetig ist, existiert ein Punkt z0 ∈ G , in dem das Maximum desBetrages angenommen wird: | f (z) | ≤ | f (z0) | fur alle z ∈ G . Ist z0 ∈ ∂G , so ist die Behauptungtrivialerweise richtig. Ist aber z0 ∈ G , so hat f in z0 ein (lokales) Maximum, und daher mußf = const. sein. In diesem Fall ist die Behauptung ebenfalls richtig. ¤

Sofern f keine Nullstellen hat, kann man von f zu 1/f ubergehen. Als unmittelbare Konsequenzhieraus zieht man das

Satz 9.6 (Minimum - Prinzip) Es sei f ∈ O (G) . Dann gilt :

a) Besitzt | f | in z0 ∈ G ein lokales Minimum, so ist f (z0) = 0 oder f ist konstant ;

b) ist f nach G stetig fortsetzbar und G beschrankt, und hat ferner f keine Nullstellen, so gilt

| f (z) | ≥ minζ∈∂G

| f (ζ) | fur alle z ∈ G .

Bemerkung . Alle diese Eigenschaften lassen sich ubrigens auch aus der Mittelwerteigenschaft holo-morpher Funktionen ableiten (siehe z. B. Fischer–Lieb III, Paragraph 7∗): Ist f ∈ O (G) , z0 ∈G , Dr(z0) ⊂⊂ G , so ergibt sich

f (z0) =1

2 π i

∂Dr(z0)

f (ζ)ζ − z0

dζ =1

2 π i

∫ 2π

0

f (z0 + r eit)r eit

i r eit dt

=1

2 π

∫ 2π

0

f (z0 + r eit) dt ,

wobei das letzte Integral gerade den Mittelwert von f auf dem Kreis um z0 mit dem Radius r darstellt.

Wir leiten jetzt noch einige wichtige Folgerungen aus den Cauchyschen Ungleichungen fur ganzeFunktionen f ∈ O(C) ab.

Page 76: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

60 9 Cauchysche Ungleichungen mit Anwendungen

Satz 9.7 (Liouville) Jede beschrankte ganze Funktion ist konstant.

Dies ist offensichtlich ein Spezialfall des folgenden allgemeineren Satzes:

Satz 9.8 Es sei f ∈ O(C) derart, daß | f (z) | ≤ M | z |n fur festes M > 0 , n ∈ N und alle z ∈ Cmit | z | ≥ R fur geeignetes R > 0 . Dann ist f ein Polynom vom Grade ≤ n .

Beweis. Da f ∈ O (C) , laßt sich f um Null in eine uberall konvergente Potenzreihe

f (z) =∞∑

j=0

aj zj

entwickeln. Nach Satz 1 gilt fur alle R >> 0 :

| aj | ≤ 1Rj

max|ζ|=R

| f (ζ) | ≤ M Rn−j ,

und der letzte Ausdruck geht fur R → ∞ nach 0 , wenn n < j , so daß also aj = 0 fur j > n seinmuß. ¤

Um hieraus den Fundamentalsatz der Algebra ableiten zu konnen, beweisen wir noch den folgendenelementaren

Satz 9.9 Es sei P (z) =n∑

j=0

aj zj ein Polynom vom Grad n . Dann gibt es zu jedem ε mit 0 < ε < 1

ein ρε ≥ 1 , so daß(1 − ε) | an | | z |n ≤ |P (z) | ≤ (1 + ε) | an | | z |n

fur alle z ∈ C mit | z | ≥ ρε .

Beweis. Setze P (z) = Q (z) + an zn . Offensichtlich gilt:

|Q(z) | ≤( n−1∑

j=0

| aj |)| z |n−1 fur alle | z | ≥ 1 .

Definiere fur 0 < ε < 1 :

ρε := max(

1,1

ε| an |n−1∑

j=0

| aj |)

.

Dann folgt fur alle | z | ≥ ρε :

|Q (z) | ≤( 1| z |

n−1∑

j=0

| aj |)| z |n ≤ ε | an | | z |n

und damit(1 − ε) | an | | z |n ≤ | an | | z |n − |Q (z) | ≤ |P (z) |

≤ | an | | z |n + |Q (z) | ≤ (1 + ε) | an | | z |n ,

was zu beweisen war. ¤

Satz 9.10 (Fundamentalsatz der Algebra) Es sei P (z) ein Polynom mit komplexen Koeffizientenvom Grad n ≥ 1 . Dann hat P mindestens eine Nullstelle in C .

Page 77: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

9 Cauchysche Ungleichungen mit Anwendungen 61

Beweis. Wahle im vorigen Satz ε = 1/2 und R ≥ ρε = ρ1/2 so groß, daß |P (0) | < (1/2) | an |Rn .Dies impliziert

|P (0) | <12| an |Rn ≤ min

|z|=R|P (z) | ,

was wegen Lemma 3 die Existenz einer Nullstelle von P in DR(z0) nach sich zieht. - Wir konnen auchohne Verwendung dieses Lemmas direkt schließen: Es ist |P (z) | ≥ (1/2) | an | | z |n = M | z |n fur alle| z | ≥ R . Hatte P keine Nullstelle, so wurde

∣∣∣∣1

P (z)

∣∣∣∣ ≤1M

· 1Rn

, n ≥ 1 , | z | ≥ R

folgen. Andererseits ist 1/P stetig auf z ∈ C : | z | ≤ R , so daß 1/P auf ganz C beschranktsein muß. Der Satz von Liouville liefert dann die Konstanz von 1/P und von P , was aber wegen derobigen Ungleichung nicht sein kann. ¤

Bemerkung . Offensichtlich nimmt jedes Polynom vom Grad n ≥ 1 auch jeden Wert w0 ∈ C genaun–mal (mit Vielfachheit gezahlt) an. Denn mit P (z) ist auch P (z) − w0 ein Polynom n–ten Grades.

Definition. f ∈ O(C) heißt eine ganze transzendente Funktion, falls f 6∈ C [z] .

Solche transzendenten Funktionen verhalten sich wesentlich anders als Polynome fur große | z | . Esgilt der beruhmte

Satz 9.11 (Großer Satz von Picard fur transzendente Funktionen) Eine ganze transzendenteFunktion nimmt außerhalb jedes Kreises jede komplexe Zahl mit hochstens einer Ausnahme als Wertan.

Wir werden diesen tiefliegenden Satz (fur den allgemeineren Fall einer wesentlichen isolierten Sin-gularitat; siehe Kapitel 10) in dem Manuskript Funktionentheorie II beweisen. Als Folgerung notierenwir ein Resultat, das jedoch erheblich einfacher zu gewinnen ist.

Folgerung 9.12 (Kleiner Satz von Picard) Laßt eine ganze holomorphe Funktion mindestens zweiWerte aus, so ist sie konstant.

Daß bei ganzen transzendenten Funktionen ein ,,Ausnahmewert“ tatsachlich vorkommen kann, zeigtdas Beispiel der Exponentialfunktion exp z , die den Wert 0 nicht annimmt. - Wir konnen hier nureine Abschwachung des Satzes von Picard beweisen:

Satz 9.13 Sei f eine ganze transzendente Funktion. Dann ist die Bildmenge von C \DR(0) unter ffur alle R > 0 dicht in C . Mit anderen Worten : Fur alle w0 ∈ C gibt es eine Folge zj ∈ C mitlimj | zj | = ∞ und limj f (zj) = w0 .

Beweis. Es sei f ∈ O(C) eine Funktion, fur die die Behauptung nicht gultig ist. Zu zeigen ist: f istein Polynom. Nach Voraussetzung existieren also w0 ∈ C , R > 0 , ε > 0 , s. d.

| f (z) − w0 | ≥ ε > 0

fur alle z ∈ C mit | z | ≥ R , wobei wir ohne Einschrankung R ≥ 1 voraussetzen durfen. Da f 6≡ w0 ,kann f nach dem Identitatssatz auf der kompakten Kreisscheibe DR(0) nur endlich viele w0–Stellenbesitzen. Werden diese mit b1, . . . , br bezeichnet und die entsprechenden Vielfachheiten mit n1, . . . , nr ,so ist wegen des Riemannschen Hebbarkeitssatzes die Funktion

g (z) :=f (z) − w0

(z − b1)n1 · . . . · (z − br)nr

Page 78: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

62 9 Cauchysche Ungleichungen mit Anwendungen

ganz auf C und besitzt nach Konstruktion keine Nullstellen. Dann hat auch 1/g dieselben Eigen-schaften. Wegen Satz 9 ist der Nenner von g dem Betrage nach kleiner oder gleich C | z |n , wobein = n1 + · · ·+ nr . Daraus folgt zusammen mit | f (z) − w0 | ≥ ε fur alle | z | ≥ R ≥ 1 , daß

∣∣∣∣1g

(z)∣∣∣∣ ≤

C

ε| z |n , | z | ≥ R .

Wegen Satz 8 ist dann 1/g ein Polynom vom Grad ≤ n . Da diese Funktion aber keine Nullstellenbesitzt, kann sie aufgrund des Hauptsatzes der Algebra nur konstant sein. Damit ist f ein Polynomvom Grade n . ¤

Mit Hilfe dieses Satzes kann man noch eine Charakterisierung von Polynomen wie in Satz 8, jedochmit Abschatzungen nach unten, geben.

Satz 9.14 Es sei f eine ganze holomorphe Funktion mit

| f (z) | ≥ M | z |n fur alle z ∈ C mit | z | ≥ R .

Dann ist f ein Polynom vom Grade ≥ n .

Beweis. Nach Voraussetzung ergibt sich | f (z) | ≥ M Rn fur alle z mit | z | ≥ R . Damit konnendie Funktionswerte dem Wert 0 nicht beliebig nahe kommen, so daß nach Satz 13 die Funktion f einPolynom sein muß. Ist nun deg f = m , so folgt nach dem obigen Lemma | f (z) | ≤ M | z |m unddeshalb auch

M | z |n ≤ M | z |m

fur große | z | . Dies ist offensichtlich nur moglich, wenn m ≥ n . ¤

Page 79: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

10 Laurent - Reihen

Wir betrachten in diesem Kapitel holomorphe Funktionen auf Mengen der Form

Kr,R(a) := z ∈ C : r < | z − a | < R ,

wobei stets 0 ≤ r < R ≤ ∞ vorausgesetzt wird. Fur r > 0 , R < ∞ ist Kr,R = DR(a) \Dr(a) ,also ein Kreisring . Fur r = 0 , R < ∞ haben wir es dagegen mit einer punktierten Kreisscheibe zutun: K0,R(a) = D∗

R(a) := z ∈ C : 0 < | z − a | < R . Fur R = ∞ sind alle Bezeichnungenentsprechend zu modifizieren. Der Einfachheit halber werden wir im folgenden in allen Fallen kurz von,,Kreisringen“ reden.

Wie in der allgemeinen Theorie holomorpher Funktionen mussen wir uns geeignete ,,vollberandete“relativ kompakte Teilmengen von Kr,R(a) suchen. Es bieten sich dazu selbstverstandlich relativ kom-pakte Kreisringe

Kρ1,ρ2(a) , r < ρ1 < ρ2 < R

an. Die Bedingungen r < ρ1 < ρ2 < R seien im folgenden als Konvention festgeschrieben, ohnejedesmal neu erwahnt zu werden.

Ist nun f ∈ C (Kr,R(a)) , so setzen wir mit der obigen Konvention gemaß unserer Definition vonRand–Integralen langs glatt berandeten Kompakta:

∂Kρ1,ρ2 (a)

f (z) dz :=∫

∂Dρ2 (a)

f (z) dz −∫

∂Dρ1 (a)

f (z) dz ,

versehen also (korrekterweise) den ,,außeren“ Rand mit der positiven und den ,,inneren“ mit der nega-tiven Orientierung. Betrachtet man nun Zerlegungen der folgenden Art

Figur 10.1

so sieht man sofort, daß bei geeigneter feiner Unterteilung alle geschlossenen Teilwege in sternformigen(sogar konvexen) Mengen liegen, auf denen f definiert ist. Infolgedessen erhalt man sofort die folgendeAussage (die wir in den Kapiteln uber homologische und homotopische Fassungen des Integralsatzes(siehe meinen Text Funktionentheorie I ) konzeptioneller ableiten werden):

Satz 10.1 Es sei f holomorph in dem Kreisring Kr,R(a) . Dann gilt der Cauchysche Integralsatz inder Form ∫

∂Kρ1,ρ2 (a)

f (z) dz = 0 .

Mit anderen Worten: Es ist ∫

∂Dρ2 (a)

f (z) dz =∫

∂Dρ1 (a)

f (z) dz

fur alle zulassigen ρ1 , ρ2 .

Page 80: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

64 10 Laurent–Reihen

Genauso konnen wir den Beweis der Integralformel imitieren. Dazu ist lediglich das Integral∫

∂Kρ1,ρ2 (a)

ζ − zfur ρ1 < | z − a | < ρ2

zu berechnen, das sich aber unmittelbar zu∫

∂Dρ2 (a)

ζ − z−

∂Dρ1 (a)

ζ − z= 2 π i − 0 = 2 π i

ergibt. - Es folgt:

Satz 10.2 Es sei f holomorph in dem Kreisring Kr,R(a) . Dann gilt die Cauchysche Integralformel inder Form

f (z) =1

2 π i

∂Kρ1,ρ2 (a)

f (ζ)ζ − z

fur alle z ∈ C mit r < ρ1 < | z − a | < ρ2 < R .

Nach diesen Vorbereitungen ist es nicht mehr schwer, das folgende Resultat zu beweisen, das einewesentliche Verallgemeinerung des Satzes uber die Entwickelbarkeit einer holomorphen Funktion inPotenzreihen darstellt.

Satz 10.3 (Laurent - Trennung) Fur jedes f ∈ O(Kr, R(a)) gibt es eindeutig bestimmte holomorpheFunktionen

f1 ∈ O(C \Dr(a)) , f2 ∈ O(DR(a))

mitf = f1 + f2

auf (C \Dr(a)) ∩DR(a) = Kr,R(a) und

limz→∞

| f1(z) | = 0 .

Beweis. Setze

f(ρ2)2 (z) =

12 π i

∂Dρ2 (a)

f (ζ)ζ − z

dζ , | z − a | < ρ2 < R , r < ρ2 .

Dies ist eine holomorphe Funktion auf Dρ2(a) . (Man differenziere einfach unter dem Integralzeichennach z ). Nach der obigen Fassung des Integralsatzes ist

f(ρ2)2 = f

(ρ′2)2 auf Dρ2(a) fur ρ2 < ρ′2 < R .

Da⋃

r<ρ2<R

Dρ2(a) = DR(a) gilt, wird somit durch

f2(z) = f(ρ2)2 (z) , | z − a | < ρ2 < R , r < ρ2 ,

eine holomorphe Funktion auf DR(a) auf eindeutige Weise erklart. Ebenso liefert

f(ρ1)1 =

−12 π i

∂Dρ1 (a)

f (ζ)ζ − z

dζ , r < ρ1 < | z − a |

eine holomorphe Funktion auf C \ | z − a | ≤ ρ1 und deshalb wie oben eine holomorphe Funktionf1 auf ⋃

r<ρ1<R

(C \Dρ1(a)) = C \Dr(a) mit limz→∞

| f1(z) | = 0 .

Page 81: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

10 Laurent–Reihen 65

Ist nun z ∈ Kr,R(a) , so existieren ρ1 , ρ2 mit r < ρ1 < | z − a | < ρ2 < R , und es ist nach derCauchyschen Integralformel fur Kreisringe

f (z) =1

2 π i

∂Kρ1,ρ2 (a)

f (ζ)ζ − z

dζ =1

2 π i

∂Dρ2 (a)

f (ζ)ζ − z

dζ − 12 π i

∂Dρ1 (a)

f (ζ)ζ − z

= f(ρ2)2 (z) + f

(ρ1)1 (z) = f2(z) + f1(z) .

Es ist noch die Eindeutigkeit dieser Zerlegung zu zeigen: Aus f1 + f2 = g1 + g2 mit f1 , g1 ∈O(C \ Dr(a)) , f2 , g2 ∈ O(DR(a)) und f1 , g1 −→ 0 fur z → ∞ folgt f1 − g1 = g2 − f2 aufKr,R(a) , und damit wird durch

h =

f1 − g1 auf C \Dr(a)

g2 − f2 auf DR(a)

eine holomorphe Funktion h auf ganz C erklart, fur die limz→∞ |h | = limz→∞ | f1 − g1 | = 0 gilt.Damit ist h beschrankt und nach dem Satz von Liouville h = const. = 0 . Also ist f1 = g1 , f2 = g2 .¤

Definition. In der eindeutigen Zerlegung f = f1 + f2 von Satz 3 heißt f1 der Hauptteil , f2 derNebenteil von f . Man bezeichnet die Zerlegung selbst auch als Laurent–Trennung von f .

Man kann den Nebenteil naturlich in eine Potenzreihe entwickeln:

f2(z) =∞∑

j=0

aj (z − a)j , wobei | z − a | < R

und

aj =1

2 π i

∂Dρ(a)

f (ζ)(ζ − a)j+1

unabhangig von ρ mit r < ρ < R ist. Entsprechend folgt fur r < | ζ − a | = ρ < | z − a | < R :

−1ζ − z

=−1

(ζ − a) − (z − a)=

1z − a

· 1

1 − ζ − a

z − a

=1

z − a

∞∑

j=0

(ζ − a

z − a

)j

,

und also:

f1(z) =1

2 π i

∂Dρ(a)

f (ζ)∞∑

j=0

(ζ − a)j

(z − a)j+1dζ =

−∞∑

j=−1

aj (z − a)j

mit von ρ unabhangigen Koeffizienten

aj =1

2 π i

∂Dρ(a)

f (ζ)(ζ − a)j+1

dζ , j ≤ −1 .

Zusammenfassend ergibt sich der spektakulare

Satz 10.4 (Laurent - Entwicklung) Jede Funktion f ∈ O(Kr,R(a)) laßt sich in eine Laurent–Reiheentwickeln :

f (z) =∞∑

j=−∞aj (z − a)j ,

Page 82: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

66 10 Laurent–Reihen

wobei die Koeffizienten

aj =1

2 π i

∂Dρ(a)

f (ζ)(ζ − a)j+1

unabhangig von ρ mit r < ρ < R sind. Die Potenzreihe

∞∑

j=0

aj (z − a)j

konvergiert lokal gleichmaßig auf DR(a) gegen den Nebenteil f2 von f , die Reihe

−1∑

j=−∞aj (z − a)j

auf C \Dr(a) gegen den Hauptteil f1 von f .

Besitzt umgekehrt f ∈ O(Kr,R(a)) eine auf Kr,R(a) lokal gleichmaßige Entwicklung dieser Art, sosind die Koeffizienten aj eindeutig (durch die obigen Formeln) bestimmt.

Beweis. Nur die Eindeutigkeitsaussage uber die Laurent–Entwicklung bedarf einer besonderen Er-

klarung. Zu zeigen ist also: Konvergiert die Reihe∞∑

j=−∞aj (z − a)j lokal gleichmaßig auf Kr,R(a)

gegen 0 , so verschwinden notwendig alle Koeffizienten aj . Wir wahlen dazu ein festes k und bemer-ken, daß mit der Voraussetzung auch die Reihe

∞∑

j=−∞aj+k+1 (z − a)j

lokal gleichmaßig auf Kr,R(a) konvergiert. Da alle Funktionen (z − a)j , j 6= −1 globale Stamm-funktionen auf Kr,R(a) besitzen, ergibt sich fur jedes ρ zwischen r und R sofort die Behauptungwegen

2 π i ak = ak

∂Dρ(a)

dz

z − a=

∞∑

j=−∞aj+k+1

∂Dρ(a)

(z − a)j dz

=∫

∂Dρ(a)

∞∑

j=−∞aj+k+1 (z − a)j dz = 0 ,

was zu beweisen war. ¤

Wir wenden in dem zweiten Teil dieses Kapitels die vorstehenden Uberlegungen auf die Untersu-chung isolierter Singularitaten von holomorphen Funktionen an.

Definition. Es sei z0 ∈ C , U eine (offene) Umgebung von z0 und f holomorph auf U \ z0 . Dannheißt z0 eine isolierte Singularitat von f .

Wir werden die moglichen Typen solcher isolierten Singularitaten klassifizieren und mit Hilfe derLaurent–Entwicklung charakterisieren.

Definition. Es sei f : U \ z0 → C holomorph.

i) Ist f lokal um z0 beschrankt, so heißt z0 eine hebbare Singularitat von f ;

ii) gilt limz→z0

| f (z) | = ∞ , so heißt z0 ein Pol von f ;

Page 83: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

10 Laurent–Reihen 67

iii) ist z0 weder eine hebbare Singularitat noch ein Pol von f , so heißt z0 eine wesentliche Singula-ritat von f .

Beispiele. 1. Die Funktionsin z

zbesitzt eine isolierte Singularitat in 0 . Aus der Entwicklung

sin z

z=

1z

(z − z3

3!+

z5

5!−+ · · ·

)= 1 − z2

3!± · · ·

entnimmt man unmittelbar, daß es sich um eine hebbare Singularitat handelt.

2. Die Funktion e1/z hat eine wesentliche Singularitat im Nullpunkt (Beweis weiter unten).

3. Die Funktion1

z (z + 1)besitzt isolierte Singularitaten in 0 und −1 , und zwar Pole.

Bemerkungen. 1. Nach dem Riemannschen Hebbarkeitssatz (Satz 7.8) ist eine hebbare Singularitatdadurch gekennzeichnet, daß sich die in Frage stehende Funktion f nach z0 holomorph fortsetzen laßt.

2. Hat f einen Pol in z0 , so kann per definitionem f keine Nullstellen in einer hinreichend kleinenUmgebung von z0 annehmen. Damit ist 1/f dort definiert und erfullt limz→z0 (1/f) (z) = 0 . DieFunktion g = 1/f laßt sich daher durch die Festsetzung g (z0) = 0 holomorph nach z0 fortsetzen,und es gilt

g (z) = (z − z0)n h (z) , n ≥ 1 ,

mit einer Funktion h , die nahe z0 holomorph ist und in z0 nicht verschwindet. Anders ausgedruckt:

f (z) =H (z)

(z − z0)n, z 6= z0 ,

wobei H um z0 holomorph ist und nirgends verschwindet. Die Zahl n ist selbstverstandlich eindeutigbestimmt und heißt die Vielfachheit oder Ordnung des Poles. Man spricht manchmal auch von einerNullstelle der Ordnung −n .

Satz 10.5 f hat in z0 einen Pol n–ter Ordnung genau dann, wenn es Konstanten 0 < M1 < M2

gibt, so daßM1 | z − z0 |−n ≤ | f (z) | ≤ M2 | z − z0 |−n

fur alle z ∈ Dε(z0) \ z0 , ε hinreichend klein.

Beweis. a) Hat f einen Pol n–ter Ordnung und schreibt man dementsprechend f (z) = (z− z0)−n g (z)mit einer holomorphen Funktion g nahe z0 und g (z0) 6= 0 , so ist in einer hinreichend kleinen ε–Umgebung von z0 die Abschatzung M1 ≤ | g (z) | ≤ M2 erfullt, aus der die Behauptung sofort folgt.

b) Ist umgekehrt die Abschatzung des Satzes erfullt, so ist die Funktion

g (z) := f (z) (z − z0)n ∈ O(U \ z0 )nach oben und nach unten dem Betrage nach durch eine positive Konstante beschrankt. Nach demRiemannschen Hebbarkeitssatz ist dann aber g eine holomorphe Funktion auf ganz U ohne Nullstellen.¤

Bei Annaherung an eine wesentliche Singularitat ist das Verhalten viel (also ,,wesentlich“) kompli-zierter: Bei einer wesentlichen Singularitat kommen die Funktionswerte jedem komplexen Wert beliebignahe. Dies besagt der folgende Satz (man beachte die Analogie zu Satz 9.12, die nicht zufallig ist, daganze transzendente Funktionen eine wesentliche Singularitat ,,im Unendlichen“ besitzen).

Satz 10.6 (Casorati - Weierstraß) Eine isolierte Singularitat z0 der Funktion f ist genau dannwesentlich, wenn es fur alle w0 ∈ C eine unendliche Folge (zj) mit zj → z0 und f (zj) → w0 gibt.

Page 84: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

68 10 Laurent–Reihen

Beweis. a) Ist das Kriterium des Satzes erfullt, so kann f weder beschrankt sein, noch kannlimz→z0 | f (z) | = ∞ gelten. Also muß eine wesentliche Singularitat vorliegen.

b) Wir nehmen an, daß das Kriterium des Satzes nicht erfullt ist, also fur mindestens eine offene Um-gebung V = V (z0) die Bildmenge f (V \ z0 ) nicht dicht in C liegt. M. a. W.: Wir setzen voraus,daß es eine Umgebung V , eine Zahl w0 ∈ C und ein positives ε gibt mit

| f (z) − w0 | ≥ ε fur alle z ∈ V .

Bilde dann g (z) = (f (z) − w0)−1 . Nach Konstruktion ist g holomorph auf V \ z0 und nach obendurch 1/ε beschrankt. Also ist g zu einer Funktion G ∈ O (V ) fortsetzbar. Aus der Entwicklung

f (z) = w0 +1

G (z)

schließt man dann, daß f in z0 eine hebbare Singularitat bzw. einen Pol besitzt, je nachdem, obG (z0) = limz→z0 g (z) von Null verschieden oder gleich Null ist. ¤

Bemerkung . In der Tat gilt auch hier der Große Satz von Picard : In jeder Umgebung einer wesentlichenSingularitat wird jeder Wert mit hochstens einer Ausnahme angenommen.

Der nachste Satz gibt nun die versprochene Charakterisierung durch Laurent–Reihen.

Satz 10.7 Es sei

f (z) =∞∑

j=−∞aj (z − z0)j

die Laurent–Entwicklung der Funktion f ∈ O(U \ z0 ) . Dann gilt : z0 ist

i) eine hebbare Singularitat genau dann, wenn aj = 0 fur alle j < 0 ;

ii) ein Pol der Ordnung n ≥ 1 genau dann, wenn aj = 0 fur alle j < −n , a−n 6= 0 ;

iii) eine wesentliche Singularitat genau dann, wenn aj 6= 0 fur unendlich viele negative j .

Beweis. i) Wir wissen schon, daß f genau dann eine hebbare Singularitat in z0 besitzt, wenn f nachz0 holomorph fortsetzbar ist. Folglich ist die Voraussetzung aquivalent zu der Tatsache, daß f lokalum z0 in eine Potenzreihe entwickelbar ist:

f (z) =∞∑

j=0

bj (z − z0)j .

Wegen der Eindeutigkeit der Laurent–Entwicklung folgt dann aber aj = bj = 0 fur alle j < 0 unddamit die Behauptung.

ii) Wir schreiben f (z) = (z − z0)−n g (z) und

g (z) =∞∑

j=0

bj (z − z0)j , b0 6= 0 .

Dann hat man auf D∗ε(z0) die lokal gleichmaßige Darstellung

f (z) = (z − z0)−n∞∑

j=0

bj (z − z0)j =∞∑

j=−n

bj+n (z − z0)j .

Wieder wegen der Eindeutigkeit der Laurent–Entwicklung ist dies gleichbedeutend mitaj = 0 , j < −n , a−n 6= 0 . Die Umkehrung ist genauso leicht einzusehen.

Page 85: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

10 Laurent–Reihen 69

iii) Dies ist schlicht die verbleibende Alternative. ¤

Beispiel . Aus der Potenzreihen–Entwicklung der Exponentialfunktion deduziert man unmittelbar dieLaurent–Entwicklung

e1/z =∞∑

j=0

1j!

1zj

=0∑

j=−∞

1(−j)!

zj

nahe Null. Daraus liest man wegen des vorigen Satzes ab, daß die Funktion exp(1/z) im Nullpunkteine wesentliche Singularitat besitzt, wie wir fruher schon behauptet haben. Ferner ergibt sich sofortmit dem Koeffizienten a−1 = 1/1! = 1 , daß

∂Dr(0)

e1/z dz = 2 π i a−1 = 2 π i .

Ein fur spatere Untersuchungen grundlegender Begriff ist der folgende:

Definition. Es sei G ein Gebiet in C , N sei eine diskrete Teilmenge von G und f sei auf G \ Ndefiniert und holomorph derart, daß f in den Punkten von N nur (hochstens) Pole besitzt. Dannheißt f eine meromorphe Funktion auf G .

Bemerkungen. 1. Wir sprechen von meromorphen Funktionen auf G , obwohl die in Rede stehendenFunktionen nur auf der Teilmenge G\N definiert sind. Wir werden aber spater sehen (Kapitel 18), daßsolche ,,Funktionen“ tatsachlich als wohlbestimmte Abbildungen von G in die Riemannsche ZahlenkugelP1 = C ∪ ∞ aufgefaßt werden konnen.

2. Die Menge M (G) der meromorphen Funktionen auf G kann aufgrund der vorigen Bemerkungleicht mit einer Addition und Multiplikation versehen werden. Außerdem gilt auf M (G) auch derIdentitatssatz (loc. cit.). Daraus folgert man sofort, daß diese Menge die kanonische Struktur einesKorpers besitzt (siehe auch Satz 8.6).

Page 86: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und
Page 87: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Die Funktion f moge eine isolierte Singularitat im Punkte z0 besitzen. Dann ist f ∈ O(D∗r (z0)) fur

geeignetes r > 0 , und f besitzt dort eine Laurent–Entwicklung

∞∑

j=−∞aj (z − z0)j .

Man schreibtresz0 f = a−1

und nennt diesen Koeffizienten das Residuum der Funktion f an der Stelle z0 . Nach Definition ist

resz0 f =1

2πi

∂Dρ(z0)

f (ζ) dζ ,

wobei Dρ(z0) einen Kreis mit Mittelpunkt z0 und Radius 0 < ρ < r bezeichnet.

Bemerkung und Beispiel . Bekommt man die Laurent–Entwicklung einer holomorphen Funktion fum eine isolierte Singularitat z0 irgendwie geschenkt (was oft wegen der Eindeutigkeit der Laurent–Entwicklung auf sozusagen algebraische Weise zu bewerkstelligen ist), so kann man aus diesem speziellenKoeffizienten Integrale einfach ablesen. Als Beispiel haben wir schon das Integral

∂Dρ(0)

e1/z dz = 2 π i

auf diesem Wege berechnet.

Ein besonders einfaches Verfahren kann man anwenden, wenn die betrachtete Funktion f in dem Punktez0 einen Pol erster Ordnung besitzt. Es ist dann offenbar

resz0 f = limz→z0

f (z) (z − z0) .

Etwas komplizierter wird die Berechnung, wenn ein Pol n–ter Ordnung in z0 vorliegt. In diesem Fallist

resz0 f (z) = limz→z0

1(n − 1)!

dn−1

dzn−1((z − z0)n f (z)) .

Ist namlich ohne Einschrankung z0 = 0 , so lautet die Laurent–Entwicklung von f um den Ursprung

f (z) =a−n

zn+

a−n+1

zn−1+ · · · =

k≥−n

ak zk ,

so daß also

zn f (z) = zn∑

k≥−n

ak zk =∑

k≥−n

ak zk+n =∞∑

k=0

ak−n zk .

Durch (n − 1)–faches Differenzieren fallen in dieser Potenzreihe alle Glieder mit k = 0 , . . . , n − 2fort, und aus dem (n − 1)–tem Term

a−1 zn−1 wird (n − 1)! a−1 .

Wir wollen jetzt gleich den Residuensatz in einer vorlaufigen (lokalen) Version formulieren undbeweisen. Die ,,Lokalitat“ der Formulierung druckt sich wie fruher in der Tatsache aus, daß wir vorersttopologische Komplikationen vermeiden und das Gebiet G , in dem sich alles abspielt, als konvex oder

Page 88: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

72 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

zumindest sternformig voraussetzen. Wir benotigen außerdem noch den Begriff der Umlaufzahl n (γ, z)einer geschlossenen Kurve γ um einen Punkt z 6∈ spur γ , die durch das Integral

n (γ, z) =1

2 π i

γ

ζ − z

definiert ist. Wir werden in einem spateren Kapitel beweisen, daß diese Umlaufzahl konstant und ganz-zahlig ist auf den Zusammenhangskomponenten von C \ spur γ . Ferner ist auf der unbeschranktenKomponente von C\ spur γ die Umlaufzahl gleich 0 . Die Umlaufzahl mißt tatsachlich, wie oft die Kur-ve γ (unter Berucksichtigung der Orientierung) um den Punkt z herumlauft. Wir wissen zumindestvon fruher, daß dies fur positiv umlaufene Kreisrander richtig ist:

n (∂Dr(0), z) =

1 falls z ∈ Dr(0) ,

0 falls z 6∈ Dr(0) .

Satz 11.1 (Lokaler Residuensatz) Es sei G ein sternformiges Gebiet, und f sei in G holomorphmit Ausnahme von isolierten Singularitaten. Ferner sei γ eine geschlossene Kurve in G , auf derenSpur keine Singularitaten von f liegen. Dann gilt :

12 π i

γ

f (z) dz =∑

z∈G

n (γ, z) resz f .

Bemerkung . Der Beweis wird zeigen, daß die Summe auf der rechten Seite in Wahrheit endlich ist.

Beweis. Die Menge A = z0 ∈ G : f hat in z0 eine isolierte Singularitat ist nach Definition diskretin G und besitzt deshalb mit jeder relativ kompakten Teilmenge K ⊂ G einen hochstens endlichenDurchschnitt. Wir werden am Ende des Beweises zeigen, daß es ein sternformiges Teilgebiet G′ ⊂⊂ Ggibt, fur welches spur γ ⊂ G′ gilt. Nach dem lokalen Cauchyschen Integralsatz fur das Gebiet G′ ergibtsich sofort, daß n (γ, z) = 0 fur z ∈ G \G′ gilt. Indem wir in der Formulierung des Satzes G durchG′ ersetzen, konnen wir also ohne Einschrankung die Menge A als endlich annehmen, wie wir in derobigen Bemerkung schon angekundigt haben.

Wir setzen also A = z1, . . . , zm und bezeichnen den Hauptteil von f an der Stelle zk , k = 1, . . . , m ,

mit hk . Dieser ist holomorph auf C \ zk , und f −m∑

k=1

hk hat in allen Punkten zj ∈ A hebbare

Singularitaten. Es folgt nach der lokalen Fassung des Integralsatzes fur sternformige Gebiete:

0 =∫

γ

(f (z) −

m∑

k=1

hk(z))

dz =∫

γ

f (z) dz −∑

k

γ

hk(z) dz .

Mit

hk(z) =∞∑

n=1

a(k)−n

(z − zk)n, a

(k)−1 = reszk

f

ergibt sich aber ∫

γ

hk(z) dz =∫

γ

a(k)−1

z − zkdz = 2 π i n (γ, zk) a

(k)−1 .

Damit ist der Satz bewiesen fur den Fall, daß die Singularitatenmenge A endlich ist, was ohnehin furdie meisten Anwendungen ausreicht.

Um den Allgemeinfall abzuhandeln, mussen wir noch die oben angekundigte Reduktion auf endlicheSingularitatenmengen A erlautern. Es sei also G bzgl. a sternformig; man wahle dann endlich vieleKreisscheiben Dj mit

spur γ ∪ a ⊂⋃

Dj und Dj ⊂ G .

Page 89: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 73

Es sei Cj ⊂ G die (kompakte) konvexe Hulle von Dj ∪ a und Cj ihr Inneres. Dann ist G′ := ∪Cj

ein (bzgl. a ) sternformiges Gebiet, welches die Spur von γ enthalt und wegen

G′ ⊂⋃

Cj ⊂ G

relativ kompakt in G liegt. ¤

Bemerkung . Diese Version des Residuensatz enthalt alle bisherigen (lokalen) Integralsatze. Ist namlichf ∈ O (G) , so sind alle Residuen von f in G gleich Null, und damit ergibt sich der CauchyscheIntegralsatz fur sternformige Gebiete. Ist f ∈ O(G) , z0 ∈ G , z0 6∈ spur γ , so hat f (z)/(z − z0)hochstens eine isolierte Singularitat in z0 . Da es sich bei dieser hochstens um einen Pol 1. Ordnunghandeln kann, ergibt sich sofort

resz0

f (z)z − z0

= limz→z0

f (z)z − z0

(z − z0) = f (z0) ,

also1

2 π i

γ

f (z)z − z0

dz = n (γ, z0) f (z0) ,

d. h. die Cauchysche Integralformel in einer verscharften Version fur sternformige Gebiete.

Bevor wir den Residuensatz zur Bestimmung einiger Integrale heranziehen, wollen wir kurz auf eineAnwendung eingehen, die oft als die Methode des Null– und Polstellen zahlenden Integrals bezeichnetwird. Diese bezieht sich auf eine (nichttriviale) meromorphe Funktion f , deren vereinigte Null– undPolstellenmenge notwendig diskret in dem Definitionsgebiet G liegt. Die entscheidende Rolle spielt hierdie logarithmische Ableitung f ′/f von f , die offensichtlich in Punkten, in denen f holomorph undvon Null verschieden ist, wieder holomorph ist. Ist z0 dagegen eine Nullstelle der Ordnung n , so setzenwir wie immer f (z) = (z − z0)n g (z) mit g (z0) 6= 0 und erhalten

f ′(z)f (z)

= n1

z − z0+

g′(z)g (z)

.

Also hat f ′/f eine Polstelle erster Ordnung in z0 mit dem Residuum n . Hat dagegen f eine Polstelleder Ordnung n , so leitet man auf die gleiche Weise ab, daß f ′/f ebenfalls eine Polstelle erster Ordnungbesitzt, diesmal aber mit dem Residuum −n . Wir sehen also:

Satz 11.2 Ist die Funktion f meromorph und nicht identisch Null auf dem sternformigen Gebiet G ,und ist γ ein geschlossener Integrationsweg in G , auf dessen Spur weder Null– noch Polstellen von fliegen, so gilt

12 π i

γ

f ′(ζ)f (ζ)

dζ =∑

z∈G

n (γ, z) ordz f ,

wobei ordz f die Nullstellenordnung bzw. die negative Polstellenordnung von f im Punkte z bezeichnet.

Hieraus laßt sich leicht die nachfolgende Konsequenz in einer topologisch sehr einfachen Situationableiten.

Satz 11.3 Es seien f, g meromorph auf dem Gebiet G , und ∂D sei der Rand einer KreisscheibeD ⊂⊂ G , auf dem keine Polstellen von f und g liegen. Es bezeichne ferner Nf , Pf , Ng, Pg dietotalen Null– bzw. Polstellenordnungen von f bzw. g in D , und es sei

(∗) | f (z) + g (z) | < | f (z) | + | g (z) | fur z ∈ ∂D .

Dann giltNf − Pf = Ng − Pg .

Page 90: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

74 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Beweis. Nach Voraussetzung (∗) konnen weder f noch g Nullstellen auf ∂D besitzen, und es gilt∣∣∣∣f (z)g (z)

+ 1∣∣∣∣ <

∣∣∣∣f (z)g (z)

∣∣∣∣ + 1 , z ∈ ∂D .

Ware λ = f (z)/g (z) ∈ R+ , so wurde der Unsinn λ + 1 = |λ + 1 | < λ + 1 folgen. Also bildet f/gden Rand ∂D nach Ω = C \ [ 0, ∞) ab. Auf Ω existiert aber ein Zweig log des Logarithmus, so daßlog (f/g) eine wohldefinierte Stammfunktion fur die Funktion (f/g)′ (f/g)−1 in einer Umgebung von∂D darstellt. Hieraus schließt man

(Nf − Pf ) − (Ng − Pg) =1

2 π i

(∫

∂D

f ′

fdz −

∂D

g′

gdz

)

=1

2 π i

∂D

(f/g)′ (f/g)−1 dz =1

2 π i

∂D

(log

f

g

)′dz = 0 ,

was zu beweisen war. ¤

Hinweis. Diese Form des Satzes von Rouche (siehe unten) stammt von I. Glicksberg. Der Beweiswurde dem Buch von John B. Conway entnommen.

Aus dem letzten Satz folgt weiter

Folgerung 11.4 (Satz von Rouche) Es seien f, g ∈ O(G) , und fur eine Kreisscheibe D ⊂⊂ Ggelte | f (z) + g (z) | < | g (z) | auf ∂D . Dann haben f und g gleich viele Nullstellen in D .

Bemerkung . Auch der Fundamentalsatz der Algebra laßt sich hieraus noch einmal gewinnen, dennfur ein (ohne Einschrankung) normiertes Polynom P (z) vom Grad n ≥ 1 ist fur | z | = R >> 0naturlich |P (z) − zn | < | zn | , so daß P und Q (z) := zn gleich viele Nullstellen auf der KreisscheibeDR(0) fur alle R >> 0 besitzen.

Beispiel . Es sei λ > 1 . Dann besitzt die Gleichung

e−z + z = λ

in der Halbebene Re z > 0 genau eine Losung, die uberdies reell ist.

Wir betrachten namlich einen Halbkreis in der rechten Halbebene, der bei −iR beginnt und bei iRendet, wobei R > 0 ist, und schließen diesen Weg durch Verbindung mit einer Strecke auf der imaginarenAchse zu dem geschlossenen Weg γR . Unter Verwendung des Satzes von Rouche, der selbstverstandlichauch fur das Innere von einfach geschlossenen Kurven anstelle von Kreisrandern gultig ist, werden wirsehen, daß die Funktion f (z) = e−z + z − λ bei großem R genauso viele Nullstellen im Innerendieser Kurve besitzt wie die Funktion g (z) = z − λ , also genau eine. Da mit z auch z eine Losungder Gleichung ist, muß notwendig z = z gelten, z also reell sein. Schließlich ist unmittelbar klar, daßdie Gleichung keine rein imaginaren Losungen besitzen kann.

Nach der eben angemerkten Verallgemeinerung des Satzes von Rouche ist nur zu zeigen, daß auf γR

die Abschatzung| e−z | < | z − λ |

besteht. Nun ist aber auf der rechten Halbebene

| e−z | = e−Re z ≤ 1

und, wegen λ > 1 , | z − λ | > 1 auf γR , sofern nur z. B. R > λ + 1 .

Page 91: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 75

Der Residuensatz ist auch schon in seiner lokalen Formulierung ein hervorragendes Hilfsmittelzur konkreten Berechnung von Integralen. Wir wollen im zweiten Teil dieses Kapitels einige wichtigeBeispiele und Beispielklassen exemplarisch vorstellen, ohne auch nur annahernd ein vollstandiges Bildvermitteln zu konnen. Wie verweisen den interessierten Leser auf die umfangreiche Lehrbuchliteratur.

Beispiel 1.∫ ∞

−∞

x2

1 + x4dx =

π√2

.

Betrachte hierzu die Funktion R (z) =z2

1 + z4mit den Polstellen 1. Ordnung bei ζ8 , ζ3

8 , ζ58 und ζ7

8 .

Bei dem folgenden Weg γr kommen fur hinreichend großen Radius r nur die Residuen an den erstenbeiden Polen ins Spiel:

0 r-r

Figur 11.1

Man berechnet leicht das Residuum bei ζ8 zu

limz→ζ8

(z − ζ8)z2

(z − ζ8) (z − ζ38 ) (z − ζ5

8 ) (z − ζ78 )

=1 − i

4√

2

und entsprechend bei ζ38 zu

−1 − i

4√

2.

Daraus folgt1

2 π i

γr

z2 dz

1 + z4= resζ8 R (z) + resζ3

8R (z) =

−i

2√

2.

Andererseits ist das volle Wegintegral Summe der Integrale uber die reelle Strecke [−r, r ] und denHalbkreis κr in der oberen Halbebene. Die Standard–Abschatzung liefert fur das zweite Integral aber

∣∣∣∣∫

κr

f (z) dz

∣∣∣∣ ≤ max|z|=r

∣∣∣∣z2

1 + z4

∣∣∣∣ π r ≤ C

r2r −→

r→∞0 .

Also folgt ∫ ∞

−∞

x2

1 + x4dx = lim

r→∞

∫ r

−r

x2

1 + x4dx =

π√2

.

Offensichtlich funktioniert die Methode zur Berechnung dieses Beispiels in einer viel allgemeinerenSituation, die wir sogleich als Satz formulieren konnen7.

Satz 11.5 Besitzt die rationale Funktion R (z) keine Polstellen auf R , und ist ihr Nennergrad ummindestens zwei großer als der Zahlergrad, d. h. ist deg R ≤ −2 , so gilt :

12πi

∫ ∞

−∞R (x) dx =

Im z>0

reszR (z) = −∑

Im z<0

reszR (z) ,

7Man beachte, daß aufgrund der Beweismethode unter der linken Seite der ,,Hauptwert“ des betreffenden uneigentlichenIntegrals zu verstehen ist. Dies ist aber unerheblich, da das Integral selbst absolut konvergiert (man ziehe das Cauchy–Kriterium fur uneigentliche Integrale heran).

Page 92: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

76 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Beispiel 2. Das Polynom P (z) := (z2 + 1) (z2 + 4) hat in der oberen Halbebene die (einfachen)Nullstellen i und 2 i , so daß die rationale Funktion R (z) := 1/P (z) an diesen beiden Stellen dieResiduen

resi1

P (z)= lim

z→i

z − i

(z2 + 1) (z2 + 4)= lim

z→i

1(z + i) (z2 + 4)

=16 i

= − i

6

bzw.res2i

1P (z)

= limz→2i

z − 2 i

(z2 + 1) (z2 + 4)= lim

z→2i

1(z2 + 1) (z + 2 i)

=−112 i

=i

12

besitzt. Also ist∫ ∞

−∞

dx

(x2 + 1) (x2 + 4)= (2 π i)

Im z>0

reszR (z) = (2 π i)(− i

6+

i

12

)=

π

6.

Beispiel 3. Etwas muhsamer ist die Berechnung des Integrals

I :=∫ ∞

0

x2 dx

x4 + 6 x2 + 13.

Da der Integrand eine gerade Funktion ist, kann man auch uber die gesamte reelle Achse integrierenund die Residuen der Funktion z2/(z4 + 6 z2 + 13) in der oberen Halbebene berucksichtigen. Dazumuß man wegen

z4 + 6 z2 + 13 = (z2 + 3 + 2 i) (z2 + 3 − 2 i)

die Wurzeln aus −3 ± 2 i ziehen. Es sei also a + b i eine Wurzel von −3 ± 2 i . Dann ist notwendiga2 − b2 = − 3 und a b = 1 . Also erfullt b2 die quadratische Gleichung

(b2)2 − 3 (b2) − 1 = 0 ,

so daß

b2 =3 ± √

132

.

Fur die Wurzel mit b > 0 ist folglich

b =

√√13 + 3√

2.

Der zugehorige Wert von a ergibt sich daraus zu

a =1b

=√

2√√13 + 3

=√

2√√13 + 3

√√13 − 3√√13 − 3

=

√√13 − 3√

2.

In der Tat sind ± (a + bi) die Quadrat–Wurzeln von − 3 + 2 i und ± (a − bi) die Quadrat–Wurzelnvon − 3 − 2 i . Somit ist

resa+biz2

z4 + 6 z2 + 13= lim

z→a+bi

z2

(z + a + b i) (z − a + b i) (z + a − b i)

=− 3 + 2 i

2 (a + b i) 2 b i 2 a=

(3 − 2 i) (a − b i) i

8 (a2 + b2).

Entsprechend erhalt man

res−a+biz2

z4 + 6 z2 + 13= lim

z→−a+bi

z2

(z − a − b i) (z + a + b i) (z − a + b i)=

(3 + 2 i) (a + b i) i

8 (a2 + b2).

Page 93: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 77

Damit findet man sofort∫ ∞

0

x2 dx

x4 + 6 x2 + 13= (π i)

Im z>0

resz

(z2

z4 + 6 z2 + 13

)

= (π i)i

8 (a2 + b2)(3 − 2 i) (a − b i) + (3 + 2 i) (a + b i)

4 (a2 + b2)(2 b − 3 a)

4√

2

√√13 − 3 ,

da

a2 + b2 =√

13 − 32

+√

13 + 32

=√

13

und

2 b − 3 a = a (2 b2 − 3) = a√

13 =√

13√2

√√13 − 3 .

Bemerkung . Wir werden weiter unten eine andere Methode vorstellen, die den obigen Rechenaufwandwesentlich reduziert.

Bemerkung . Unter den Voraussetzungen von Satz 5 ist die Summe aller Residuen der rationalen Funk-tion R gleich Null. Dies ist ein Spezialfall des ebenfalls so genannten Residuensatzes fur meromorpheFunktionen auf kompakten Riemannschen Flachen (siehe meinen Text Funktionentheorie II ), da R alsmeromorphe Funktion auf P1(C) = C ∪ ∞ im Unendlichen keinen Pol besitzt (tatsachlich sogareine Nullstelle der Ordnung 2 ).

Bemerkung . Die Formel1

2πi

∫ ∞

−∞R (x) dx =

Im z>0

reszR (z)

aus Satz 5 bleibt sogar dann richtig, wenn die Funktion R nur in einer Umgebung der abgeschlossenenoberen Halbebene H := z ∈ C : Im z ≥ 0 holomorph ist bis auf hochstens abzahlbar viele isolierteSingularitaten, die sich nicht haufen und nicht auf R liegen, und wenn es eine Folge rk ≥ 0 mitrk →∞ gibt, so daß

|R (z) | ≤ C r−(1+ε)k fur z ∈ H , | z | = rk ,

mit von k unabhangigen positiven Konstanten C und ε . Ist die Menge der Singularitaten (notwendigabzahlbar) unendlich, so ist die rechts stehende Reihe automatisch konvergent, wenn man die Singula-ritaten nach der Große ihrer Betrage anordnet.

Beispiel 4. Wir berechnen nach der vorigen Bemerkung das Integral∫ ∞

−∞

√x + i

x2 + 1dx ,

wobei derjenige Zweig der Wurzel√

z + i auf H gewahlt werde, der in z = 0 den Wert eπi/4 besitzt,sehr einfach zu

2πi resi

√z + i

(z − i)(z + i)= 2πi

√2i

2i= π (1 + i) .

Auch gewisse eigentliche Integrale lassen sich mit dem Residuensatz gewinnen.

Page 94: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

78 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Beispiel 5.∫ π

0

a + cos θ, a > 1 .

Es ist naheliegend, z = eiθ , 0 ≤ θ ≤ π , zu substituieren. Dabei durchlauft z aber nur einenHalbkreis. Integriert man stattdessen bis 2 π , so wird das in Rede stehende Integral I wegen derPeriodizitatseigenschaften von cos θ verdoppelt. Weiter gilt fur z = eiθ :

a + cos θ = a +12

(z + z) = a +12

(z +

1z

)=

z2 + 2 a z + 12 z

,

so daß mit dz = i z dθ das Integral berechnet werden kann durch

I =12

∫ 2π

0

a + cos θ=

1i

γ

dz

z2 + 2 a z + 1

bezuglich des Weges γ = ∂D1(0) . Nun ist z2 + 2 a z + 1 = (z − c1) (z − c2) , c1, c2 = −a±√a2 − 1 ,so daß | c1 | < 1 , | c2 | > 1 . Damit ergibt sich endlich

I =2 π i

iresc1

1(z − c1)(z − c2)

= 2 π1

c1 − c2=

π√a2 − 1

.

Bemerkung . Hinter dem vorigen Beispiel verbirgt sich eine ganz allgemeine Methode, mit der man jedesIntegral der Gestalt

∫ 2π

0

R (cos θ, sin θ) dθ , R = R (x, y) eine rationale Funktion ,

durch die Transformation z := eiθ mit Hilfe des Residuensatzes (zumindest prinzipiell) bestimmenkann. Es ist dann wegen zz = | z |2 = 1 :

cos θ =z + z

2=

12

(z +

1z

), sin θ =

z − z

2 i=

12 i

(z − 1

z

),

und folglich mit dz = i eiθ dθ = i z dθ :∫ 2π

0

R (cos θ, sin θ) dθ =1i

∂D1(0)

R

(12

(1 +

1z

),

12i

(1 − 1

z

))dz

z

= 2π∑

|z|<1

resz

(1z

R

(12

(1 +

1z

),

12i

(1 − 1

z

))).

Beispiel 6.∫ ∞

0

sin x

xdx =

π

2.

Wahle hier den folgenden komplizierteren Weg γr,s

0 rs-r -s

Figur 11.2

Page 95: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 79

und die Funktion

f (z) =eiz

z,

die nur einen Pol bei Null besitzt. Dann gilt (da wir den Integralsatz fur die langs der negativenimaginaren Achse aufgeschlitzten Ebene zur Verfugung haben):

0 =∫

γr,s

f (z) dz =∫ r

s

eix

xdx +

κr

eiz

zdz +

∫ −s

−r

eix

xdx −

κs

eiz

zdz

und damit∫ r

s

sin x

xdx =

12 i

∫ r

s

eix − e−ix

xdx =

12 i

∫ r

s

eix

xdx +

12 i

∫ −s

−r

eix

xdx

=12 i

κs

eiz

zdz − 1

2 i

κr

eiz

zdz .

Eine leichte Abschatzung liefert dann:∣∣∣∣

κr

eiz

zdz

∣∣∣∣ ≤∫ π

0

e−r sin θ dθ −→r→∞

0 ,

wobei wir die letzte Konvergenzaussage in allgemeinerem Zusammenhang erst im Beweis von Satz 7begrunden werden. Des weiteren hat die Funktion

eiz − 1z

eine hebbare Singularitat bei 0 , so daß∣∣∣∣eiz − 1

z

∣∣∣∣ ≤ M fur | z | ≤ 1

und folglich ∣∣∣∣∫

κs

eiz − 1z

dz

∣∣∣∣ ≤ M π s −→s→0

0 .

Auf der anderen Seite liefert eine leichte Rechnung∫

κs

dz

z= π i ,

und damit gilt ∫

κs

eiz

zdz −→

s→0π i .

Division durch 2 i ergibt dann, wie anfangs behauptet,∫ ∞

0

sin x

xdx = lim

r→∞s→0

∫ r

s

sin x

xdx =

π

2.

Wir wollen das vorige Beispiel noch wesentlich verscharfen.

Satz 11.6 Es sei f holomorph auf einer Umgebung der abgeschlossenen oberen Halbebene H bis aufabzahlbar viele isolierte Singularitaten in H und evtl. einen einzigen Pol erster Ordnung auf R , etwain a ∈ R . Fur große | z | gelte | f (z) | ≤ C | z |−(1+ε) auf H mit positiven Konstanten C , ε . Danngilt

limρ0

( ∫ a−ρ

−∞f (z) dz +

∫ ∞

a+ρ

f (z) dz

)= (2 π i)

Im z>0

reszf (z) + (π i) resaf (z) .

Page 96: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

80 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Beweis. Nach Voraussetzung sind die uneigentlichen Integrale∫ a−ρ

−∞f (x) dx = lim

R→∞

∫ a−ρ

−R

f (x) dx und∫ ∞

a+ρ

f (x) dx = limR→∞

∫ R

a+ρ

f (x) dx

absolut konvergent (Cauchy–Kriterium fur uneigentliche Integrale). Wir betrachten nun ahnlich wiein Beispiel 6 den geschlossenen Integrations–Weg γρ,r , bestehend aus den Strecken [−r, a − ρ ] und[ a + ρ, r ] und den Halbkreisen κr um 0 und (negativ orientiert) κρ um a in der oberen Halbebene mitr >> ρ . Ist dann ρ hinreichend klein und r so gewahlt, daß auf der Spur von κr keine Singularitatenvon f liegen, so ist

12 π i

γρ,r

f (z) dz =∑|z|<rIm z>0

reszf (z) .

Auf der linken Seite geht aufgrund der Standard–Abschatzung fur Integrale und der Wachstumsvor-aussetzung an f das Integral uber κr gegen Null. Dagegen tragt das Integral uber κρ , wie in derBegrundung zu Beispiel 6 erlautert, exakt das halbe Residuum an der Stelle a (mit negativem Vorzei-chen) bei. Es folgt damit

limρ0

( ∫ a−ρ

−∞f (x) dx +

∫ ∞

a+ρ

f (x) dx

)= (2 π i)

Im z>0

reszf (z) + (π i) resaf (z) .

In der unter Umstanden auf der rechten Seite entstehenden (abzahlbar) unendlichen Reihe sind dieSingularitaten z1, z2, . . . so anzuordnen, daß | z1 | ≤ | z2 | ≤ · · · . Sie ist aufgrund des Beweises injeder solchen Anordnung automatisch konvergent. ¤

Beispiel 7. Man berechnet hiermit leicht nacheinander fur t > 0 :

limρ0

( ∫ −ρ

−∞

1 − eitx

x2dx +

∫ ∞

ρ

1 − eitx

x2dx

),

∫ ∞

0

1 − cos tx

x2dx ,

∫ ∞

0

sin2 x

x2dx .

Denn wegen eitz = eitx e−ty ist | eitz | ≤ e−ty ≤ 1 auf der oberen Halbebene Im z = y ≥ 0 . Damitkann man das Ergebnis von Satz 6 auf die Funktion

f (z) =1 − eitz

z2

anwenden. Mit der Potenzreihen–Entwicklung von 1 − eitz um 0 (bei festem t ) liest man unmittelbar

res0f (z) = − i t

ab. Also ist

limρ0

( ∫ −ρ

−∞

1 − eitx

x2dx +

∫ ∞

ρ

1 − eitx

x2dx

)= (π i) (−i t) = π t .

Mit der Variablen–Transformation u = −x ergibt sich aus der Substitutionsregel allgemein (bei a =0 ): ∫ −ρ

−∞f (x) dx = −

∫ ρ

∞f (−x) dx =

∫ ∞

ρ

f (−x) dx

und folglich

limρ0

( ∫ ∞

ρ

(f (x) + f (−x)) dx

)= (2 π i)

Im z>0

reszf (z) + (π i) res0f (z) .

Page 97: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 81

Daeitx + e−itx = 2 cos tx

und die Funktion2 − 2 cos tx

x2

stetig in den Nullpunkt fortgesetzt werden kann, folgt aus der allgemeinen Formel zusammen mit derfruheren Berechnung des Residuums an der Stelle a = 0 :

∫ ∞

0

1 − cos tx

x2dx = lim

ρ0

∫ ∞

ρ

1 − cos tx

x2dx =

π t

2.

Schließlich ergibt sich fur t = 2 wegen cos 2x = 1 − 2 sin2 x die Formel∫ ∞

0

sin2 x

x2dx =

π

2.

Bemerkung . Zu einer Herleitung des letzten Resultats mit ,,reellen Methoden“ siehe zum BeispielTimmann, Repetitorium der Analysis, Teil 1, Aufgabe 5.5.5 E.

Anstelle eines spezifischen Beispiels formulieren wir als nachstes sogleich wieder einen allgemeinenSatz uber die Berechnung von Integralen eines ganzen Beispieltyps.

Satz 11.7 Es sei R (z) eine rationale Funktion, die auf R keine Polstellen besitze, und es geltedeg R ≤ −1 . Dann ist fur alle α > 0 :

∫ ∞

−∞R (x) eiαx dx = 2 π i

Im z>0

resz (R (z) eiαz) .

Entsprechend hat man fur α < 0 :∫ ∞

−∞R (x) eiαx dx = − 2 π i

Im z<0

resz (R (z) eiαz) .

Beweis. Wir wahlen im Falle α > 0 den Weg γr = [−r, r ] κr aus der Figur 1, wobei r > 0 sogroß sein moge, daß alle singularen Stellen der Funktion R in der oberen Halbebene im Inneren vonγr liegen. Es braucht dann nur noch nachgewiesen zu werden, daß

Ir :=∫

κr

R (z) eiαz dz −→r→∞

0 .

Nun wird der Halbkreis κr parametrisiert durch z = r eiθ = r (cos θ + i sin θ) , 0 ≤ θ ≤ π , so daßdie Identitat

Ir =∫ π

0

R (r eiθ) eiαr cos θ e−αr sin θ i r eiθ dθ

und folglich wegen |R (z) | ≤ A | z |−1 die Abschatzung

| Ir | ≤ A

∫ π

0

e−αr sin θ dθ = 2A

∫ π/2

0

e−αr sin θ dθ

besteht.

Das letzte Integral konvergiert mit r →∞ gegen Null, wie man unmittelbar aus dem Satz von BeppoLevi schließt. Will man diesen Satz nicht heranziehen, muß man weiter sorgfaltig abschatzen. In demIntervall 0 ≤ θ ≤ π/4 ist

cos θ ≥ cos π/4 =√

2/2

Page 98: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

82 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

und damit∫ π/4

0

e−αr sin θ dθ ≤√

2∫ π/4

0

e−αr sin θ cos θ dθ =√

2αr

∫ αr/√

2

0

e−t dt =√

2αr

(1 − exp

(−αr√2

)).

Auf dem Intervall π/4 ≤ θ ≤ π/2 beachten wir

sin θ ≥ sin π/4 =√

2/2 ,

woraus sich unmittelbar∫ π/2

π/4

e−αr sin θ dθ ≤∫ π/2

π/4

exp(−αr√

2

)dθ =

π

4exp

(−αr√2

)

ergibt. Zusammen erhalt man hiermit positive Konstanten C1, C2, β , so daß

| Ir | ≤ C1

r+ C2 e−βr .

Dies impliziert die Behauptung.

Im Falle α < 0 funktioniert ein entsprechendes Verfahren, wenn man den Weg γr an der reellenAchse spiegelt und damit durch die negative imaginare Halbebene geht. ¤

Bemerkung . Ist insbesondere die rationale Funktion R auf der reellen Achse R reellwertig, so ergibtsich aus Satz 7 z. B. fur positives α sofort:

∫ ∞

−∞R (x) cos α x dx = Re

∫ ∞

−∞R (x) eiαx dx = − 2 π Im

Im z>0

resz (R (z) eiαz) .

Beispiel 8. Es ist∫ ∞

0

x sin x dx

x2 + a2=

12

∫ ∞

−∞

x sin x dx

x2 + a2=

12

Im∫ ∞

−∞

x eix dx

x2 + a2

=12

Im(

(2 π i)∑

Im z>0

resz

(z eiz

z2 + a2

) )

= π Re(

resaiz eiz

z2 + a2

).

Mit

resaiz eiz

z2 + a2= lim

z→ai

z eiz (z − a i)(z − a i) (z + a i)

=a i e−a

2 a i=

12

e−a

ergibt sich folglich ∫ ∞

0

x sin x dx

x2 + a2=

π

2e−a .

Beispiel 9. Mit der Formel aus Satz 7 berechnet man zum Beispiel auch∫ ∞

0

cos a x

(1 + x2)2dx =

π (a + 1) e−a

4.

Dies ist ein Spezialfall der Identitat∫ ∞

0

cos a x dx

(x2 + b2)2=

π

4a b + 1

b3e−ab fur a > 0 , Re b > 0 .

Page 99: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 83

Das letzte Integral formen wir mit der Substitution u = a x wie folgt um:∫ ∞

0

cos a x dx

(x2 + b2)2=

12

∫ ∞

−∞

cos a x dx

(x2 + b2)2=

12

∫ ∞

−∞

cos u du

a(u2/a2 + b2

)2

=a3

2

∫ ∞

−∞

cos x dx

(x2 + a2 b2)2=

a3

4

∫ ∞

−∞

eix + e−ix

(x2 + a2 b2)2dx

=a3

4

∫ ∞

−∞

eix dx

(x2 + a2 b2)2+

a3

4

∫ ∞

−∞

e−ix dx

(x2 + a2 b2)2.

Die Funktion 1/(z2 + a2 b2)2 besitzt nur die Polstelle (zweiter Ordnung) a b i in der oberen Halbebeneund entsprechend − a b i in der unteren Halbebene. Infolgedessen ist

∫ ∞

0

cos a x dx

(x2 + b2)2=

a3 π i

2

(resabi

eiz

(z2 + a2 b2)2− res−abi

e−iz

(z2 + a2 b2)2

).

Durch Betrachtung der Laurent–Entwicklungen sieht man nun ganz allgemein, daß

rescf (z) = − res−cf (−z) .

Damit wird in unserem Spezialfall∫ ∞

0

cos a x dx

(x2 + b2)2= (a3 π i) resabi

eiz

(z2 + a2 b2)2.

Um die Bemerkung zu Beginn des Kapitels uber die Berechnung von Residuen in Polstellen hohererOrdnung anzuwenden, mussen wir die Funktion

(z − a b i)2eiz

(z2 + a2 b2)2=

eiz

(z + a b i)2

differenzieren. Es ergibt sich sofort(

eiz

(z + a b i)2

)′= eiz (z + a b i) i − 2

(z + a b i)3

und folglich

resabieiz

(z2 + a2 b2)2= lim

z→abieiz (z + a b i) i − 2

(z + a b i)3= − e−ab a b + 1

4 a3 b3i .

Damit folgt die Behauptung.

Beispiel 10. Satz 7 laßt sich verallgemeinern auf den Fall, daß R hochstens einfache Polstellen auf Rbesitzt. Wie in Satz 6 folgt dann bei positivem α :

∫ ∞

−∞R (x) eiαx dx = 2 π i

Im z>0

resz (R (z) eiαz) + π i∑

Im z=0

resz (R (z) eiαz) .

Daraus bekommt man Beispiel 6 als Spezialfall zuruck:∫ ∞

−∞

sin x

xdx = Im

∫ ∞

−∞

eix

xdx = Im

(π i res0 eiz z−1

)= π .

Man beachte aber, daß erst die im Beweis von Satz 7 hergeleitete Abschatzung fur die Integrale Ir dieBehandlung des Beispiels 6 abschließt.

Als nachstes machen wir uns auf geschickte Weise die Mehrdeutigkeit der Logarithmusfunktionfur uneigentliche Integrale uber die positive reelle Achse zu Nutze. - Wir beweisen gleich wieder einallgemeines Resultat.

Page 100: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

84 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Satz 11.8 Es sei R eine rationale Funktion vom Grad ≤ −2 , die keine Polstellen auf der positivenreellen Achse [ 0, ∞) besitzt, und log z bezeichne irgendeinen Zweig des Logarithmus auf C\R+ . Danngilt : ∫ ∞

0

R (x) dx = −∑

resz (R (z) log z) .

Beweis. γ = γr,s sei die folgende Kurve

0r-r

s

-s

Figur 11.3

und λ± = λ±r,s bezeichne die (leicht nach oben bzw. unten verschobene) Strecke λr,s = [ s, r ] , so daß(im Wesentlichen) γ = κr (λ−)−1 κ−1

s λ+ . Dann ergibt sich

2 π i∑

resz (R (z) log z) =∫

γr,s

R (z) log z dz

=∫

κr

R (z) log z dz +∫

λ+r,s

R (z) log+ z dz−∫

κs

R (z) log z dz −∫

λ−r,s

R (z) log− z dz

und damit durch Grenzubergang, da das erste und das dritte Integral wegen

lims→0

s log s = limr→∞

log r

r= 0

gegen Null gehen:

2 π i∑

resz (R (z) log z) = lim∫

λr,s

R (z) (log+ z − log− z) dz

= − 2 π i lim∫

λr,s

R (z) dz = − 2 π i

∫ ∞

0

R (x) dx . ¤

Beispiel 11. Ein konkretes Beispiel zu Satz 8 ist das folgende Resultat:∫ ∞

0

dx

1 + x3=

2 π

3√

3.

Page 101: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 85

Man braucht hierzu nur zu beachten, daß der Integrand einfache Pole in ζ6, ζ36 = −1 und ζ5

6 = ζ6

besitzt. Man wahlt dann den Zweig des Logarithmus mit 0 < Im log z < 2π und bestimmt ohnegroße Muhe die Residuen der Funktion log z/(1 + z3) an diesen Stellen sukzessive zu

√3 − i

18,

πi

3und − 5 (

√3 + i)18

.

Beispiel 12. Man kann das vorstehende Ergebnis sofort verallgemeinern auf die Bestimmung aller Inte-grale ∫ ∞

0

dx

1 + xndx , n ≥ 2 .

Die rationale Funktion R (z) = (1 + zn)−1 besitzt Pole erster Ordnung an den Stellen

zk := ζ2k−12n = exp

((2k − 1)π i

n

), k = 1, . . . , n .

Wegen znk = −1 ist weiter

1zn − zn

k

=1

z − zk

z − zk

zn − znk

=1

z − zk

1n zn−1

k

+ · · · =1

z − zk

−zk

n+ · · · .

Infolgedessen ist das Residuum von R an der Stelle zk gleich −zk/n . Ferner ist

log zk =(2k − 1) π i

n,

und folglich besitzt die Funktion R (z) log z im Punkte zk das Residuum

− (2k − 1)π i

n2exp

((2k − 1)π i

n

).

Nach Satz 8 ist schließlich∫ ∞

0

dx

1 + xndx =

π

nSn , wobei Sn := i

n∑

k=1

2k − 1n

exp(

(2k − 1)π i

n

).

Eine leichte (aber tatsachlich, wie in [ 3 ], p. 215, apostrophiert, ,,lastige“ und daher weiter unten nach-getragene) Rechnung ergibt

(∗) sinπ

n· Sn = 1

und damit die schone Beziehung∫ ∞

0

dx

1 + xndx =

π

n

sinπ

n

.

Wir mussen noch die Beziehung (∗) nachrechnen. Nach Umschreiben der linken Seite vermittels derEulerschen Formeln und leichten Umformungen wird diese zu

ζ2n − ζ−12n

2n

n∑

k=1

(2k − 1) ζ2k−12n =

12n

( n∑

k=1

(2k − 1) ζ2k2n −

n∑

k=1

(2k − 1) ζ2k−22n

)

=12n

( n∑

k=1

(2k − 1) ζ2k2n −

n−1∑

k=0

(2k + 1) ζ2k2n

)

=12n

((2n − 1) − 2

n−1∑

k=1

ζkn − 1

).

Page 102: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

86 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Mit A :=n−1∑

k=0

ζkn ist aber auch ζn A = A und damit A = 0 , also

n−1∑

k=1

ζkn = −1 . Dies beweist die

Formel (∗). ¤

Bemerkung . Es gibt tatsachlich eine Methode, mit der man die umstandliche Summation in dem obigenBeispiel vermeiden kann. Siehe dazu Beispiel 18.

Die gleiche Methode wie in Satz 8 funktioniert auch fur Integrale der Gestalt∫ ∞

0

R (x) log x dx

mit rationalem R (x) von geeignetem Grad. Man wendet hierbei den Residuensatz auf den obigen Wegund die Funktion

R (z) log2z

an und berechnet die Differenz

(log+ z)2 − (log− z)2 = (log+ z)2 − (log+ z + 2 π i)2 = −4 π i log+ z + 4 π2 .

Dies reduziert die Berechnung des in Rede stehenden Integrals auf die von∫ ∞

0

R (x) dx .

Als Ergebnis konnen wir notieren:

Satz 11.9 Es sei R eine rationale Funktion vom Grad deg ≤ −2 ohne Polstellen auf der positivenreellen Achse R+ = [ 0, ∞) , und log z bezeichne irgendeinen Zweig des Logarithmus auf C \ R+ .Dann gilt : ∫ ∞

0

R (x) log x dx = − 12

z 6=0

resz(R (z) log2 z) − i

∫ ∞

0

R (x) dx .

Bemerkung . Ist R auf R reellwertig , so braucht man das Integral auf der rechten Seite gar nicht zubestimmen, da es in dem betrachteten reellen Integral als rein–imaginarer Summand auftritt. Es istdann also ∫ ∞

0

R (x) log x dx = − 12

Re∑

z 6=0

resz(R (z) log2 z) .

Beispiel 13. Als konkretes Integral notieren wir:∫ ∞

0

log x dx

x2 + a2=

π log a

2 afur a > 0 .

Beispiel 14. Die Mehrdeutigkeit des Logarithmus kann man sogar fur die Auswertung von Integralenuber kompakte reelle Intervalle [ a, b ] nutzbringend einsetzen. Durch Subtraktion je eines Zweiges vonlog (z − b) auf R \ (−∞, b ] und log (z − a) auf R \ (−∞, a ] gewinnt man einen Zweig der Funktion

logz − b

z − a,

der auf C \ [ a, b ] holomorph ist und beim Durchgang durch das Intervall [ a, b ] von der unteren indie obere Halbebene additiv um den Betrag 2πi wachst. Es sei nun R eine rationale Funktion mitdeg R ≤ −1 , die auf dem Intervall [ a, b ] holomorph sei. Dann gibt es einen Weg γ der folgendenArt, so daß die Singularitaten von R alle außerhalb dieses Weges liegen.

Page 103: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 87

a b

Figur 11.4

Da nach Voraussetzung an ihren Grad die rationale Funktion z 7→ R (z) im Unendlichen verschwindet(was bedeutet, daß die Funktion w 7→ R (1/w) im Nullpunkt holomorph durch Null erganzbar ist) undauch die Funktion log (z − b)/(z − a) diese Eigenschaft hat, sieht man sofort, daß ihr Produkt imUnendlichen kein Residuum besitzt. Genauer ist (siehe die Bemerkung im Anschluß an Satz 10):

res∞

(R (z) log

z − b

z − a

)= − resw=0

(1

w2R

(1w

)log

1 − b w

1 − aw

)= 0 .

Damit gilt der Residuensatz, wie man sich verhaltnismaßig leicht durch Spiegelung an einem geeignetenKreis uberlegt, in der Form

12πi

γ

R (z) logz − b

z − adz =

z 6∈[a,b]

resz

(R (z) log

z − b

z − a

).

Laßt man nun den Abstand r des Weges γ zu dem Intervall [ a, b ] gegen Null gehen, so gehen dieIntegrale uber die beiden Halbkreise wie r log (1/r) gegen Null, und die Summe der beiden restlichenIntegrale konvergiert gegen

2πi

[a,b]

R (x) dx .

Zusammenfassend erhalten wir den folgenden

Satz 11.10 Hat die rationale Funktion R einen Grad ≤ −1 und besitzt sie keine Polstellen auf dem

reellen Intervall [ a, b ] , so gilt fur jeden Zweig der Logarithmusfunktion logz − b

z − aauf C \ [ a, b ] die

Beziehung : ∫

[a,b]

R (x) dx =∑

z 6∈[a,b]

resz

(R (z) log

z − b

z − a

).

Bemerkung . Ist f eine holomorphe Funktion im Außeren einer Kreisscheibe um den Ursprung, sodefiniert man sinnvollerweise ihr Residuum im Unendlichen als das Integral

resz=∞ f (z) :=1

2 π i

κ−1r

f (z) dz ,

wobei κ−1r der im Uhrzeigersinn orientierte Kreis um Null mit hinreichend großem Radius r bezeichnet.

Es ist dann mit ρ := 1/r :

resz=∞ f (z) =− i

2 π i

∫ 2π

0

f (r e−iϑ) r e−iϑ dϑ =− 12 π

∫ 2π

0

f

(1

ρ eiϑ

)1

ρ eiϑdϑ =

− 12 π i

κρ

f

(1w

)dw

w2.

Hieraus folgt ganz allgemein die oben benutzte Formel

resz=∞ f (z) = − resw=0f (1/w)

w2.

Im folgenden Abschnitt untersuchen wir uneigentliche Integrale von Produkten aus rationalen undPotenzfunktionen.

Page 104: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

88 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Satz 11.11 Es sei R eine rationale Funktion vom Grad kleiner oder gleich −2 , die auf (0, ∞) keinePole und in 0 hochstens einen Pol erster Ordnung besitzt. Ferner sei α eine reelle Zahl mit 0 < α <1 . Ist dann zα der Zweig der Potenzfunktion

zα = eα log |z|+iα arg z mit 0 < arg z < 2 π ,

so gilt ∫ ∞

0

xα R (x) dx =2 π i

1 − e2πiα

z 6=0

resz (zα R (z)) .

Beweis. Man wahlt dazu den Weg γ wie in Figur 3. Dann schließt man wie oben, daß die Residuensumme

2 π i∑

z 6=0

resz (zα R (z)) =∫

γr,s

zα R (z) dz

gleich ∫

κr

zα R (z) dz −∫

κs

zα R (z) dz +∫

λ+r,s

xα R (x) dx −∫

λ−r,s

xα R (x) dx

ist. Die Werte von zα unterscheiden sich aber am oberen und unteren Ufer durch

(zα)− = (zα)+ e2πiα .

Damit ergibt sich nach Grenzubergang

2 π i∑

z 6=0

resz (zα R (z)) = (1 − e2πiα)∫ ∞

0

xα R (x) dx . ¤

Beispiel 15.∫ ∞

0

xα−1 dx

(x + 1)=

π

sin πα, 0 < α < 1 .

Beispiel 16. Wir behandeln mit diesem Resultat noch einmal Beispiel 3. Mit der Substitution u := x2

wird du = 2 x dx und damit

I :=∫ ∞

0

x2 dx

x4 + 6 x2 + 13=

12

∫ ∞

0

√u du

u2 + 6 u + 13.

Mit dem Zweig der Wurzel

z1/2 = e(1/2) log |z|+(i/2) arg z auf C \ R+ , also 0 < arg z < 2 π ,

wird dann nach dem obigen Resultat

I =π i

1 − eπi

z 6=0

reszz1/2

z2 + 6 z + 13.

Nun ist z2 + 6 z + 13 = (z − z1) (z − z2) mit den beiden Nullstellen z1,2 = − 3 ± 2 i , also

(∗) I =π i

2

(z1/21

z1 − z2+

z1/22

z2 − z1

)=

π

8(z1/2

1 − z1/22 ) .

Weiter ist | z1,2 | =√

13 , und fur die Winkel ϑ1,2 = arg z1,2 hat man

tan ϑ2 = − tan ϑ1 =23

.

Page 105: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 89

Mit der Gleichung

tan α =2 tan (α/2)

1 − tan2(α/2), also tan2(α/2) +

2tan α

tan (α/2) − 1 = 0 ,

gewinnt man tan ϑ1/2 = 3/2 ±√

9/4 + 1 und tan ϑ2/2 = −3/2 ±√

9/4 + 1 . Nun muß offenbarder erste Wert positiv und der zweite Wert negativ sein. Es ergibt sich

tan ϑ1/2 =3 +

√13

2, tan ϑ2/2 = − 3 +

√13

2.

Damit ist cos ϑ1/2 = − cos ϑ2/2 > 0 und sin ϑ1/2 = sin ϑ2/2 , und auf der rechten Seite von (∗)verschwindet, wie es sein muß, der Imaginarteil. Wir erhalten schließlich

I =π

44√

13 cos (ϑ1/2) .

Ein vollstandiges Ergebnis gewinnt man mit

cos ϑ1/2 =1√

1 + tan2 ϑ1/2=

2√4 + (3 +

√13)2

=2√

26 + 6√

13=

√2

4√

13√

3 +√

13.

Erweitert man hier noch mit√√

13 − 3 , so lautet die Antwort erneut∫ ∞

0

x2 dx

x4 + 6 x2 + 13=

π

4√

2

√√13 − 3 .

Bemerkung . Allgemeiner kann man auf die gleiche Weise Integrale der Gestalt∫ ∞

0

xα R (x) log x dx

und sogar ∫ ∞

0

xα R (x) logn x dx

mit rationalen Funktionen R (x) von geeignetem Grad behandeln.

Wir beschranken uns auf die Behandlung des Falles n = 1 und behaupten:

Satz 11.12 Es sei R eine rationale Funktion vom Grad ≤ −2 , die auf (0, ∞) keine Pole und imUrsprung hochstens einen Pol erster Ordnung besitzt. Ferner sei 0 < α < 1 . Dann gilt mit dem Zweigzα := exp (α log | z | + i α arg z) der Potenzfunktion und dem Zweig log z := log | z | + i arg z desLogarithmus auf der entlang der positiven reellen Achse aufgeschlitzten Ebene ( 0 < arg z < 2 π):

∫ ∞

0

R (x)xα log x dx =

2 π i

1 − e2πiα

z 6=0

resz(R (z) zα log z) +π2

sin2(π α)

z 6=0

resz(R (z) zα) .

Beweis. Der Beweis der Formel folgt denselben Uberlegungen wie zu den Integralen uber R (z) zα .Wir benotigen dazu das Verhalten der Zweige des Logarithmus und der Potenzfunktion beim Uber-gang von dem oberen Ufer zum unteren Ufer der positiven reellen Achse. Mit sich selbst erklarendenBezeichnungen gilt

log− x = log+ x + 2 π i = log x + 2 π i , (xα)− = e2πiα (xα)+ = e2πiα xα .

Page 106: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

90 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Mit dem Residuensatz folgt dann:

(2π i)∑

z 6=0

resz(R (z) zα log z) =∫ ∞

0

R (x) (xα log x)+dx −∫ ∞

0

R (x) (xα log x)−dx

=∫ ∞

0

R (x)xα log x dx − e2πiα

∫ ∞

0

R (x)xα (log x + 2 π i) dx

= (1 − e2πiα)∫ ∞

0

R (x)xα log x dx − (2π i) · e2πiα

∫ ∞

0

R (x) xα dx .

Durch Auflosung nach dem von uns untersuchten uneigentlichen Integral kommt dann

(+)∫ ∞

0

R (x)xα log x dx =2 π i

1 − e2πiα

z 6=0

resz(R (z) zα log z) +2 π i e2πiα

1 − e2πiα

∫ ∞

0

R (x) xα dx .

Das ganz rechts stehende Integral ist aber mit der gleichen Methode behandelbar und ergibt∫ ∞

0

R (x) xα dx =2 π i

1 − e2πiα

z 6=0

resz(R (z) zα) .

Es braucht somit nur noch nachgewiesen zu werden, daß der in der Formel angegebene Faktor vor derzweiten Residuensumme den richtigen Wert besitzt. In der Tat liefert eine einfache Rechnung

2 π i e2πiα

1 − e2πiα

2 π i

1 − e2πiα= π2

(2 i

e−iπα − eiπα

)2

=π2

sin2 π α. ¤

Beispiel 17. Wir bestimmen die Integrale∫ ∞

0

dx

(x2 + 1)√

x,

∫ ∞

0

log x

(x2 + 1)√

xdx ,

die beide wegen∫ ∞

0

dx

(x2 + 1)√

x=

∫ ∞

0

√x

x (x2 + 1)dx ,

∫ ∞

0

log x

(x2 + 1)√

xdx =

∫ ∞

0

√x log x

x (x2 + 1)dx

nach oben bereitgestellten Methoden behandelt werden konnen. Wir werden zeigen, daß man untergeschickter Ausnutzung der Formel (+) im Beweis des vorigen Satzes beide Integrale gleichzeitig beiminimalem Rechenaufwand gewinnen kann.

Wir beginnen mit dem zweiten Integral. Es ist α = 1/2 und damit e2πiα = eπi = − 1 . Auf der rechtenSeite der Formel (+) ist damit der zweite Summand rein imaginar und kann folglich unberucksichtigbleiben. Wir erhalten somit das gesuchte Integral I als Realteil des Ausdrucks

2π i

2

z 6=0

resz(R (z) z1/2 log z) mit R (z) =1

z (z2 + 1),

d. h.

I = −π Im(

resiz1/2 log z

z (z2 + 1)+ res−i

z1/2 log z

z (z2 + 1)

),

da die zu betrachtende Funktion nur (von 0 verschiedene) Singularitaten an den Stellen ±i besitzt.Diese sind Pole von erster Ordnung. Daher brauchen wir im Wesentlichen nur die Funktionswerte vonz1/2 , log z und z (z ± i) an diesen Stellen auszurechnen. Wegen

i1/2 =i + 1√

2, log i = i

π

2, (− i)1/2 =

i − 1√2

, log (− i) = i3 π

2,

Page 107: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 91

bekommt man augenblicklich

I = −π Im(

i + 1√2

π

2i

i (2 i)+

i − 1√2

3 π

2i

− i (− 2 i)

)

= − π2

4√

2Im (− i + 3 i) = − π2

2√

2.

Selbstverstandlich kann man das Ergebnis auch (mit doppeltem Aufwand) erhalten, wenn man dieFormel (+) direkt anwendet. Bei unserem Vorgehen bekommt man aber auch das erste Integral gleichmitgeschenkt, indem man in der Formel (+) auf beiden Seiten zu den Imaginarteilen ubergeht:

∫ ∞

0

dx√x (x2 + 1)

= Re(

i + 1√2

π

2i

i (2 i)+

i − 1√2

3 π

2i

− i (− 2 i)

)=

π

4√

2(1 + 3) =

π√2

.

Beispiel 18. Wir kommen noch einmal auf die Integrale in Beispiel 12 zu sprechen und betrachten indiesem Zusammenhang generell Integranden der Form R (zn) , n ≥ 2 , mit einer rationalen FunktionR . Durch die Koordinatentransformation u = xn erhalt man die Beziehung

∫ ∞

0

R (xn) dx =1n

∫ ∞

0

R (u)u

u1/n du ,

und das letzte Integral laßt sich gegebenenfalls mit der Methode von Satz 12 ausrechnen.

Wir wenden diese Bemerkung auf die Funktion R (w) := (w + 1)−1 an. Die Funktion

R (w)w

w1/n

besitzt in C \ [ 0, ∞) nur eine Polstelle in w0 = −1 mit Residuum − exp (πi/n) . Somit kommt,diesmal ohne langere Rechnung, erneut

∫ ∞

0

dx

xn + 1=

1n

∫ ∞

0

R (u)u

u1/n du =1n

2 π i

1 − e2πi/nresw=−1

(w1/n R (w)

w

)

=− 2πi

neπi/n

1 − e2πi/n=

π

n

sinπ

n

.

Zum Abschluß dieses Kapitels behandeln wir noch die sogenannten Fresnelschen Integrale, die inder Theorie der Lichtbeugung auftreten. Sie sind, bis auf gelegentlich verwendete besondere Normie-rungsfaktoren, von der Gestalt

C (t) :=∫ t

0

cos x2 dx und S (t) :=∫ t

0

sin x2 dx .

Die KurveR 3 t 7−→ (C (t), S (t)) ,

die erste der sogenannten ,,Klothoiden“, hat ein außerst attraktives Erscheinungsbild. Sie besitzt ins-besondere Grenzwerte fur t → ±∞ , um die sie sich unendlich oft herumwindet. Die unendlich vielenMaxima und Minima entsprechen gewissen Beugungsmustern.

Wir wollen in diesem Abschnitt nur den Grenzwert fur t →∞ bestimmen, also die uneigentlichenIntegrale

C :=∫ ∞

0

cos x2 dx und S :=∫ ∞

0

sin x2 dx ,

Page 108: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

92 11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

die ebenfalls in der Literatur als Fresnelsche Integrale bezeichnet werden. Man kann sie auf einen Schlagerhalten als Real– und Imaginarteil des Integrals

C + i S =∫ ∞

0

eix2dx .

Zu seiner Berechnung integrieren wir die Funktion f (z) := eiz2uber einen Weg von dem folgenden

Typ:

Figur 11.5

Ahnlich wie im Beweis von Satz 7 gewinnt man fur das Teil–Integral uber den ,,Achtelbogen“ κr vomRadius r eine Abschatzung der Gestalt

∣∣∣∣∫

κr

eiz2dz

∣∣∣∣ ≤r

2

∫ π/2

0

e−r2 sin θ dθ ≤ C1

r+ C2 r e−βr2

,

so daß wir diesen Anteil beim Grenzubergang r → ∞ vergessen durfen. Wir brauchen uns also nurnoch um das Integral auf der ,,Winkelhalbierenden“ im ersten Quadranten zu kummern, die die Para-metrisierung

t 7−→ t ζ8 , t ∈ [ 0, r ] ,

besitzt. Somit impliziert der Cauchysche Integralsatz wegen ζ28 = ζ4 = i die Gleichung

C + i S = ζ8 limr→∞

∫ r

0

e−t2 dt ,

und mit

ζ8 =1 + i√

2und dem bekannten Integral

∫ ∞

0

e−t2 dt =√

π

2

ergibt sich sofort

C = S =√

π

8.

Bemerkung . Die in diesem Kapitel behandelten (uneigentlichen) Integrale lassen sich naturlich auchmit reellen Methoden ausrechnen, was aber oft mit erheblich großerem Aufwand und Tricks verbundenist. Wir wollen dies stellvertretend an einem der beiden Fresnelschen Integrale demonstrieren. Zuerstbeachtet man, daß mit geeigneter Substitution

S =∫ ∞

0

sin x2 dx =12

∫ ∞

0

sin t√t

dt

wird. Des weiteren gewinnt man aus dem auch oben schon herangezogenen Integral∫ ∞

0

e−u2du =

12√

π sofort∫ ∞

0

e−u2t du =12

√π√t

fur t > 0

Page 109: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

11 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen 93

und folglich fur den Integranden des Fresnelintegrals die Integral–Darstellung

sin t√t

=2√π

∫ ∞

0

e−u2t sin t du fur t > 0 ,

was aber auch noch fur t = 0 bei richtiger Interpretation gultig bleibt. Das rechts stehende Integral istaber gleichmaßig konvergent fur t ≥ 0 , da der Integrand fur alle diese t und alle u > 0 dem Betragenach ≤ u−2 bleibt. Somit ist die in der folgenden Zeile durchgefuhrte Vertauschung von Integrationengerechtfertigt:

∫ τ

0

sin t√t

dt =2√π

∫ τ

0

( ∫ ∞

0

e−u2t sin t du

)dt =

2√π

∫ ∞

0

( ∫ τ

0

e−u2t sin t dt

)du .

Nun ist weiter aus der reellen Analysis bekannt, daß∫

eat sin (α t + β) dt =a sin (α t + β) − α cos (α t + β)

a2 + α2eat .

Dies, mit a = −u2 , α = 1 und β = 0 in die obige Beziehung eingesetzt, liefert∫ τ

0

sin t√t

dt =2√π

∫ ∞

0

− cos τ − u2 sin τ

1 + u4e−τu2

du +2√π

∫ ∞

0

11 + u4

du .

Das erste Integral auf der rechten Seite ist dem Betrage nach hochstens gleich

2∫ ∞

0

e−τu2du =

√π

τ

und geht daher gegen Null, wenn τ nach ∞ strebt. - Insgesamt ergibt sich also

S =1√π

∫ ∞

0

du

1 + u4.

Das ganz rechts stehende Integral haben wir (wieder mit dem Residuensatz!) weiter oben ausgerechnet:Es ist gleich

π

4sin

π

4

2√

2, und folglich ist S =

√π

2√

2.

Will man vollstandig im Reellen bleiben, so ist auch das zuletzt benutzte Resultat noch aus derPartialbruch–Zerlegung der Funktion 1/(1 + u4) herzuleiten. Es ist offensichtlich

11 + u4

=1

4√

2

(2u +

√2

u2 +√

2 u + 1− 2u − √

2u2 − √

2 u + 1

)+

12

(1

2(u − 1/

√2)2

+ 1+

1

2(u + 1/

√2)2

+ 1

)

und damit∫

du

1 + u4=

14√

2log

u2 +√

2 u + 1u2 − √

2 u + 1+

12√

2

[arctan (

√2 u + 1) + arctan (

√2 u − 1)

],

woraus das obige Ergebnis noch einmal abgelesen werden kann:∫ ∞

0

du

1 + u4=

12√

2

2+

π

2− arctan 1 − arctan (−1)

]=

π

2√

2.

Page 110: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und
Page 111: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Anhang: Bernoulli - Zahlen und Residuenkalkul

Die Bernoulli–Zahlen spielen eine wichtige Rolle in einigen Bereichen der Analysis und der analyti-schen Zahlentheorie. Sie treten auf als (Laurent–) Entwicklungskoeffizienten der Cotangens–Funktionund der Funktion

f (z) :=1

ez − 1.

Die wichtigsten Eigenschaften haben wir schon in Kapitel 14 des Manuskripts Analysis II dargestellt;sie sollen hier kurz wiederholt werden. Das eigentliche Ziel des vorliegenden Anhangs ist die Herleitungder sogenannten Eulerschen Relationen.

Die Funktion f hat einen Pol erster Ordnung im Punkte 0 und in allen Punkten der Form zk =2πik , k ∈ Z , und ist sonst holomorph. Durch Multiplikation mit z gewinnt man somit die in D2π(0)holomorphe Funktion

g (z) :=z

ez − 1mit g (0) = 1 .

Die Funktion h (z) := g (z) + z/2 = z (ez + 1)/2 (ez − 1) ist gerade, wie eine leichte Rechnung zeigt:

h (−z) = − z (e−z + 1)2 (e−z − 1)

=z (e−z + 1)2 (1 − e−z)

ez

ez= h (z) .

Infolgedessen hat die Funktion g um den Ursprung eine Potenzreihen–Entwicklung der Gestalt

g (z) = 1 − z

2+

∞∑n=1

B2n

(2n)!z2n .

Man nennt die Koeffizienten B2n die Bernoulli–Zahlen8. Aus der Beziehung

g (z) ·∞∑

`=1

1`!

z` = z

gewinnt man Rekursionsgleichungen fur die Bernoulli–Zahlen (siehe loc. cit.), aus denen man insbe-sondere ablesen kann, daß sie rational sind und alternierende Vorzeichen besitzen. Die ersten Elementedieser Folge lauten:

B2 =16

, B4 = − 130

, B6 =142

, B8 = − 130

, B10 =566

, B12 = − 6912730

, B14 =76

.

Wir wollen jetzt mit Hilfe des Residuen–Kalkuls nachweisen, daß die folgenden Beziehungen beste-hen.

Satz 11.13 (Eulersche Relationen) Fur alle n ∈ N∗ gelten die Relationen :

ζ (2n) :=∞∑

k=1

1k2n

=(−1)n+1 (2π)2n

2 (2n)!B2n .

Bemerkung . Man kann also die Werte der Riemannschen ζ–Funktion an allen geradzahligen Stellenexplizit durch die Bernoulli–Zahlen ausdrucken. Insbesondere sind diese Werte transzendent . Es istzum Beispiel:

∞∑

k=1

1k2

=π2

6,

∞∑

k=1

1k4

=π4

90,

∞∑

k=1

1k6

=π6

945,

∞∑

k=1

1k8

=π8

9450.

8Und schreibt fur diese manchmal auch Bn anstelle von B2n . Manche Autoren benutzen die Schreibweise Bn fur dieAbsolutbetrage dieser Zahlen.

Page 112: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

96 Der lokale Residuensatz mit Anwendungen

Beweis von Satz 9. Wir fuhren die weiteren Hilfsfunktionen

fn(z) =1zn

f (z) =1

zn+1g (z)

ein. Aufgrund der Potenzreihen–Entwicklung von g (z) besitzt f2n im Nullpunkt einen Pol der Ordnung2n + 1 mit dem Residuum

res0f2n =B2n

(2n)!.

Des weiteren haben alle Funktionen fn an den Stellen zk = 2πik , k ∈ Z∗ , Pole erster Ordnung mit

reszkfn = lim

z→zk

(z − zk)1

zn (ez − 1)= lim

z→zk

1zn

1ez−zk − 1

z − zk

=1znk

.

Somit liefert der Residuensatz, angewandt auf den (positiv orientierten) Kreisrand κm mit Mittelpunkt0 und Radius (2m + 1) π :

(∗) 12πi

κm

f2n(z) dz =B2n

(2n)!+ 2

m∑

k=1

(−1)n

(2kπ)2n.

Es ist nun nicht schwer zu sehen (siehe z. B. Behnke - Sommer [ 3 ], p. 222), daß die Funktion f auf

C \⋃

k∈ZD1(zk)

beschrankt ist.

Figur 11.6

Daher geht das Integral in (∗) bei festem n und wachsendem m wie

2π (2m + 1) π

(2m + 1)2n π2n=

(2m + 1)2n−1 π2n−1

gegen Null. ¤

Page 113: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

12 Reell - analytische und harmonische Funktionen

In diesem Kapitel wenden wir Ergebnisse der komplexen Analysis auf Probleme reell–analytischer Funk-tionen an. Dies betrifft u. a. die Charakterisierung dieser Funktionen, einen Zusammenhang zwischender Fourier–Entwicklung von solchen Funktionen und der Laurent–Entwicklung geeigneter holomorpherFunktionen in Kreisringen und das Dirichlet–Problem fur harmonische Funktionen auf Kreisscheiben.

a) Charakterisierung analytischer Funktionen

Wir beginnen mit einem (offenen) Intervall I = (a, b) ⊂ R und einer reellwertigen Funktionf : I → R und stellen uns die Frage: Wann gibt es ein Gebiet G ⊂ C und eine holomorphe FunktionF : G → C , so daß I = G ∩ R und F|I = f ? Mit anderen Worten: Wann laßt sich f holomorphnach C fortsetzen?

Wenn eine solche Fortsetzung moglich ist, so existiert notwendigerweise fur alle x0 ∈ I eine in einerkomplexen Umgebung von x0 konvergente Potenzreihen–Entwicklung

F (z) =∞∑

j=0

aj (z − x0)j

und damit eine nahe x0 in R konvergente Entwicklung

f (x) =∞∑

j=0

aj (x − x0)j .

Da f reellwertig ist, mussen auch die Taylor–Koeffizienten aj reell sein. Also ist zur Losung unse-rer Frage notwendig, daß f a priori eine reell–analytische Funktion ist. - Diese Bedingung ist auchhinreichend:

Satz 12.1 Die Funktion f : I → R , I = (a, b) ⊂ R , besitzt genau dann eine holomorphe Fortsetzung,wenn f reell–analytisch ist.

Beweis. Sei f analytisch auf I , sei x0 ∈ I fest und bezeichne rx0 den (positiven) Konvergenz–Radiusder Taylorreihe von f um x0 . Da die Hadamardsche Formel sowohl im Reellen als auch im Komplexengultig ist, ist damit die Taylor–Reihe

F (x0)(z) =∞∑

j=0

f (j)(x0)j!

(z − x0)j

in Ux0 = Drx0(x0) ⊂ C konvergent und stellt dort also eine holomorphe Funktion dar, die f lokal,

d. h. genauer auf dem Intervall |x − x0 | < rx0 , fortsetzt. Wir brauchen nur noch zu zeigen,daß sich diese lokalen Fortsetzungen eindeutig zu einer globalen Funktion zusammensetzen lassen. Seidazu ein weiterer Punkt x1 ∈ I gewahlt und Ux0 ∩ Ux1 6= ∅ . Dann enthalt der Durchschnitt einoffenes nichtleeres Teilintervall von (a, b) , auf denen die beiden Fortsetzungen mit f und damit auchmiteinander ubereinstimmen. Nach dem Identitatssatz fur holomorphe Funktionen ist dann aber auchF (x0)|Ux0∩Ux1

= F (x1)|Ux0∩Ux1, da die Menge Ux0 ∩ Ux1 zusammenhangend ist. Also wird durch

F : G =⋃

x0∈I

Ux0 −→ C , F|Ux0:= F (x0)

eine holomorphe Funktion F ∈ O (G) auf dem Gebiet G mit F|I = f und G ∩ R = I erklart. ¤

Bemerkung . Zwei holomorphe Fortsetzungen derselben Funktion f auf demselben Gebiet G stimmenwegen des Identitatssatzes uberein. Trotzdem kann es ,,verschiedene“ Fortsetzungen Fj : Gj → C , j =1, 2 von f wie in der folgenden Skizze geben (selbstverstandlich stimmen F1 und F2 uberein auf derZusammenhangskomponente des Durchschnitts G1 ∩G2 , die das reelle Intervall I enthalt, nicht abernotwendigerweise auf den anderen Zusammenhangskomponenten):

Page 114: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

98 12 Reell–analytische und harmonische Funktionen

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxx

Figur 12.1

Mit Hilfe der Cauchyschen Ungleichungen kann man die reell–analytischen unter den beliebig oftdifferenzierbaren Funktionen charakterisieren.

Satz 12.2 Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und f ∈ C∞(I, R) eine beliebig oft differenzierbare reell-wertige Funktion. Dann gilt: f ist reell–analytisch (in Zeichen f ∈ Cω(I, R) ) genau dann, wenn furalle x0 ∈ I Konstanten K > 0 und δ > 0 existieren, so daß fur alle j ∈ N und alle x ∈ I ∩ Uδ(x0)gilt :

| f (j)(x) | ≤ K · j!δj

.

Beweis. a) Die Richtung ⇐= wird in jedem Standardlehrbuch der reellen Analysis gezeigt. (Unterdieser Voraussetzung ist die Taylorreihe konvergent gegen f , da das Restglied nach Lagrange gegenNull geht).

b) =⇒ Diese Richtung kann mit Mitteln der reellen Analysis jedoch nicht bewiesen werden. Sei 2 rder Konvergenzradius von f um x0 , und sei δ = r/2 . Ferner sei F eine holomorphe Fortsetzung vonf nach D2r(x0) . Dann gilt wegen der Cauchyschen Ungleichungen

|F (j)(z) | ≤ 2j!δj

max|ζ−z0|=r

|F (ζ) |

fur alle z ∈ Dδ(x0) . Setze nun K := 2 max|ζ−z0|=r |F (ζ) | (wozu man eben ins Komplexe gehenmuß), und beachte f (j)(x) = F (j)(x) fur alle j ∈ N und alle x ∈ I ∩ Uδ(x0) . ¤

b) Fourier - Reihen fur analytische Funktionen

Die Funktion f : R → C (oder R ) sei analytisch und periodisch (ohne Einschrankung mit Peri-ode 2 π ): f (x + 2 π) = f (x) fur alle x ∈ R . Man uberlegt sich leicht, daß dann eine holomorpheFortsetzung F von f in ein Streifengebiet G = z ∈ C : | Im z | < δ , δ > 0 , moglich ist. Mitdem Identitatssatz ergibt sich sofort auch die Periodizitat der Fortsetzung: F (z + 2 π) = F (z) . Manbetrachte nun die Abbildung w = eiz ; diese bildet den obigen Streifen auf einen Kreisring K um∂D1(0) ab. (Siehe die Zeichnung auf der nachsten Seite).

Wegen der Periodizitat von F existiert dann eine wohldefinierte stetige Funktion g = g (w) aufK mit F (z) = g (w) , falls w = eiz . Da die Abbildung z 7→ eiz lokal biholomorph ist, ist notwendi-gerweise auch g holomorph auf K . Fur g haben wir aber die Laurent–Entwicklung

g (w) =∞∑

n=−∞cn wn , cn =

12 π i

∂D1(0)

g (ω)ωn+1

dω .

Page 115: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

12 Reell–analytische und harmonische Funktionen 99

Daraus deduziert man fur x ∈ R :

f (x) = F (x) = g (eix) =∞∑

n=−∞cn enix ,

d. h. die Fourier–Entwicklung der (analytischen) Funktion f , wobei sich die Fourier–Koeffizienten cn

aus den Laurent–Koeffizienten vermittels ω = eix , dω = i eix dx korrekt in der Form

cn =1

2 π i

∫ 2π

0

f(x)ei(n+1)x

i eix dx =1

2 π

∫ 2π

0

f (x) e−inx dx

ergeben.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Figur 12.2

c) Harmonische Funktionen

Zum dritten wollen wir den schon fruher skizzierten Zusammenhang zwischen holomorphen Funk-tionen in einer komplexen Veranderlichen und harmonischen Funktionen in zwei reellen Veranderlichengenauer erlautern und zur Ableitung von Aussagen uber harmonische Funktionen benutzen. Wir wis-sen nunmehr, daß holomorphe Funktionen f ∈ O (G) tatsachlich beliebig oft reell differenzierbar sind.Damit sind unsere fruheren Uberlegungen gerechtfertigt: Wir durfen den Laplace–Operator ∆ auf fanwenden und erhalten mit

∆ =∂2

∂x2+

∂2

∂y2= 4

∂2

∂z ∂z

und f = g + i h sofort, daß

∆ g + i ∆ h = ∆ f = 4∂2f

∂z ∂z= 0

und damit∆ g = ∆ h = 0 ;

d. h. g = Re f und g = Im f sind harmonisch. - Wir zeigen jetzt umgekehrt:

Satz 12.3 Sei G ein sternformiges Gebiet, und g : G → R sei harmonisch, d. h. zweimal stetigdifferenzierbar mit ∆ g = 0 . Dann existiert eine holomorphe Funktion f : G → C mit Re f = g .

Beweis. Bilde mitω = gx dx + gy dy = dg

die folgende reelle 1–Form:∗ω := −gy dx + gx dy .

Page 116: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

100 12 Reell–analytische und harmonische Funktionen

Da g harmonisch ist, ergibt sich

d(∗ω) = −(gyx dx + gyy dy) ∧ dx + (gxx dx + gxy dy) ∧ dy

= (gxx + gyy) dx ∧ dy = (∆g) dx ∧ dy = 0 .

Nach dem Poincareschen Lemma gibt es dann auf G eine differenzierbare Funktion h mit dh = ∗ω ,d. h. hx = −gy , hy = gx . Dies bedeutet aber gerade, daß die Funktion f := g + i h komplexdifferenzierbar ist mit Re f = g . ¤

Folgerung 12.4 Harmonische Funktionen (in zwei Veranderlichen) sind beliebig oft differenzierbar(und sogar reell analytisch).

Weiter kann man den Identitatssatz und das Maximumprinzip fur harmonische Funktionen aus denentsprechenden Aussagen fur holomorphe Funktionen ableiten.

Satz 12.5 Es sei g harmonisch auf dem Gebiet G ⊂ R2 , und es sei g|U ≡ 0 auf einer nichtleerenoffenen Teilmenge U ⊂ G . Dann ist g = 0 .

Beweis. Es sei V := z ∈ G : es existiert U = U (z) ⊂ G mit g|U ≡ 0 . Dann ist per definitionemV offen und nach Voraussetzung nicht leer, so daß es wegen des Zusammenhanges von G genugt,die relative Abgeschlossenheit von V in G zu zeigen. Sei also z0 ∈ V ∩ G ; dann existiert eineKreisscheibe D = Dr(z0) ⊂ G und eine holomorphe Funktion f ∈ O (D) , so daß g|D = Re f . Daz0 ein Randpunkt von V ist, gibt es auch einen Punkt z1 ∈ V ∩D . Also verschwindet Re f in einerUmgebung von z1 , und wegen des Satzes uber die Gebietstreue muß f = const. nahe z1 sein. DerIdentitatssatz impliziert dann f = const. auf D . Also ist schließlich auch g konstant (gleich Null)auf D und folglich z0 ∈ V . ¤

Bemerkung . Fur harmonische Funktionen genugt fur das Verschwinden von g nicht, daß g|N = 0 aufeiner nichtdiskreten Teilmenge N ⊂ G wie im Falle von holomorphen Funktionen! Als Beispiel dazubraucht man nur die Funktion g (x, y) ≡ x zu betrachten, die selbstverstandlich harmonisch und 6≡ 0ist, aber auf der nichtdiskreten Menge N = x = 0 verschwindet.

Satz 12.6 Harmonische Funktionen besitzen die Mittelwerteigenschaft und genugen daher sowohl demMaximumprinzip als auch dem Minimumprinzip.

Beweis. Es sei Dr(z0) ⊂⊂ G und ε > 0 so gewahlt, daß Dr+ε(z0) ⊂ G . Ferner sei f ∈ O (Dr+ε) eineholomorphe Funktion mit Re f = g|Dr+ε

. Dann folgt

g (z0) = Re f (z0) = Re1

2 π

∫ 2π

0

f (z0 + r eit) dt =1

2 π

∫ 2π

0

Re f (z0 + r eit) dt

=1

2 π

∫ 2π

0

g (z0 + r eit) dt ,

was gerade die Mittelwerteigenschaft von g ausdruckt. Besitzt nun g in z0 ein lokales Maximum, istalso g (z) ≤ g (z0) fur alle | z − z0 | ≤ R , so ist fur alle 0 ≤ r ≤ R :

g (z0) =1

2 π

∫ 2π

0

g (z0 + r eit) dt ≤ 2 π1

2 πg (z0) = g (z0) ,

und Gleichheit kann nur gelten, wenn g (z0 + r eit) = g (z0) fur alle t und alle r ≤ R , so daßg|DR(z0) = const. und damit nach dem Identitatssatz g = const. ist. - Das Minimumprinzip fur gfolgt aus dem Maximumprinzip fur die ebenfalls harmonische Funktion −g . ¤

Page 117: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

12 Reell–analytische und harmonische Funktionen 101

Schließlich schlachten wir noch die Cauchysche Integralformel fur harmonische Funktionen aus: Istg = Re f fur eine holomorphe Funktion f ∈ O (DR+ε) , wobei ohne Einschrankung z0 = 0 gesetztsei, so gilt mit

f (z) =1

2 π i

∂DR

f (ζ)ζ − z

dζ , z ∈ DR ,

wenn man ferner ζ = Reiθ und damit ζ ζ = R2 , dζ = R i eiθ dθ = i ζ dθ setzt, daß

f (z) =1

2 π

∫ 2π

0

f (ζ) R2

R2 − ζ zdθ .

Nun ist die Funktionf (ζ)

R2 − ζ z

fur festes z ∈ DR in DR+δ bezuglich ζ holomorph. Also ist die obige Formel anwendbar, und wirerhalten mit

f (z)R2 − | z |2 =

12 π

∫ 2π

0

f (ζ)R2

(R2 − ζ z) (R2 − ζ z)dθ mit ζ = Reiθ

sofort

f (z) =1

2 π

∫ 2π

0

f (ζ)R2 (R2 − | z |2)|R2 − ζ z |2 dθ =

12 π

∫ 2π

0

f (ζ)R2 − | z |2| ζ − z |2 dθ .

Offensichtlich ist der sogenannte Poisson–Kern

12 π

R2 − | z |2| ζ − z |2 =

12 π

R2 − r2

R2 − 2 R r cos (θ − t) + r2, ζ = R eiθ , z = r eit ,

reell und (bis auf den Faktor 2π ) Realteil der holomorphen Funktion

ζ + z

ζ − z,

also selbst harmonisch. Dies liefert sofort

Satz 12.7 Sei g sei auf DR(0) stetig und auf DR(0) harmonisch. Dann gilt die Poissonsche Integral-formel

g (z) =1

2 π

∫ 2π

0

g (ζ)R2 − r2

R2 − 2 R r cos (θ − t) + r2dθ ,

wobei ζ = R eiθ und z = r eit , r < R , d. h. z ∈ DR(0) .

Differentiation unter dem Integralzeichen liefert dann die erste Aussage des folgenden Satzes.

Satz 12.8 Sei h : ∂DR → R eine stetige Funktion. Dann wird durch

g (z) :=

12 π

∫ 2π

0

h (ζ) Reζ + z

ζ − zdθ , z ∈ DR , ζ ∈ ∂DR

h (z) , z ∈ ∂DR

eine Funktion g : DR → R , DR = DR(0) erklart mit den folgenden Eigenschaften :

a) g ist auf DR harmonisch ;

b) g ist auf DR stetig ;

c) g|∂DR= h .

Page 118: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

102 12 Reell–analytische und harmonische Funktionen

Bemerkungen. 1. Es handelt sich bei diesem Satz um die Losung des Dirichlet–Problems fur Kreisschei-ben bei beliebig vorgegebenen stetigen Randwerten, also um eine Randwertaufgabe einer bestimmtenpartiellen Differentialgleichung. Zum Beweis von Teil b) siehe Satz III.10.7 in Fischer–Lieb.

2. Man beachte, daß eine entsprechende Aussage fur holomorphe Funktionen nicht gultig ist. Selbst-verstandlich wird z. B. durch

F (z) :=1

2 π i

∂D

ζ (ζ − z)

eine holomorphe Funktion auf C \ ∂ D erklart. (Differentiation nach z und Vertauschung mit demIntegral). Ebenso direkt ergibt sich F (0) = 0 , da der Integrand an dieser Stelle eine Stammfunktionbesitzt. Fur z 6= 0 konnen wir mit Partialbruch–Entwicklung arbeiten:

1ζ (ζ − z)

=1z

− 1

ζ+

1ζ − z

,

woraus wir mit Hilfe der bekannten Werte der Umlaufzahl außerhalb eines Kreisrandes das folgendeErgebnis ziehen:

z F (z) =

−1 + 1 = 0 , also F (z) = 0 fur | z | < 1 ,

−1 + 0 = −1 , also F (z) = − 1z

fur | z | > 1 .

Somit ist die Funktion F nach D stetig fortsetzbar, nimmt aber bei Annaherung an den Rand desEinheitskreises von innen die Randwerte 0 an, obwohl man doch wohl eher die Werte 1/ z erwartenwurde. Von außen werden dagegen die Randwerte −1/ z angenommen.

Dieses Beispiel ist typisch fur das Randverhalten der durch ein Cauchy–Integral definierten Funk-tion

F (z) :=1

2 π i

∂D

f (ζ) dζ

ζ − zauf C \ ∂D ,

wobei f zunachst eine nur stetige Funktion auf ∂D bezeichnet9. Hierbei ist noch wichtig, ob dieDefinition von F (in einem abgeschwachten Sinne) auch noch fur Punkte z auf dem Kreisrand ∂Dsinnvoll ist. Wir definieren hierzu

Hwz0 F (z)

als den Grenzwert

limε0

12 π i

∂D\Dε(z0)

f (ζ) dζ

ζ − z,

sofern er existiert. Hierbei steht naturlich aus naheliegenden Grunden Hw abkurzend fur Hauptwert(Englisch: “principal value”). - Zu einem guten Ergebnis brauchen wir noch eine starkere Voraussetzungan die Funktion f .

Definition. Eine Funktion f heißt auf einer Teilmenge M ⊂ C gleichmaßig Holder–stetig vom Ex-ponenten µ > 0 (oder kurz µ–Holder–stetig), wenn es eine Konstante K > 0 gibt, so daß fur allez, z′ ∈ M gilt:

| f (z) − f (z′) | ≤ K | z − z′ |µ .

Bemerkungen. 1. Ist M kompakt , so braucht diese Bedingung nur lokal, d. h. fur alle z, z′ ∈ Mmit | z − z′ | ≤ δ fur festes δ > 0 erfullt zu sein. Dann impliziert µ–Holder–Stetigkeit auch dieµ′–Holder–Stetigkeit fur alle 0 < µ′ < µ .

2. Stetig differenzierbare Funktionen sind Holder–stetig vom Exponenten 1 .

In unserem Kontext gilt nun der folgende Satz von Plemelj.9Allgemeiner sind die im folgenden dargestellten Aussagen mutatis mutandis auch richtig fur einfach zusammenhangen-

de Gebiete G mit beliebig oft differenzierbarer positiv orientierter Randkurve ∂G .

Page 119: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

12 Reell–analytische und harmonische Funktionen 103

Satz 12.9 Es sei 0 < µ < 1 , und f sei µ–Holder–stetig auf ∂D . Dann ist die Funktion

∂D 3 z 7−→ HwzF (z)

ebenfalls µ–Holder–stetig. Die Funktionen F |D bzw. F |C\D sind zu stetigen Funktionen F+ bzw. F−

nach D bzw. C \D fortsetzbar, und fur z ∈ ∂D gelten die folgenden Beziehungen :

F+(z) + F−(z) = 2 HWzF (z) , F+(z) − F−(z) = f (z) .

Zum Beweis siehe z. B. Fischer - Lieb [ 23 ], §12∗ . ¤

Wir wollen uns noch davon uberzeugen, daß dieser Satz zu unserem Beispiel am Anfang diesesAbschnitts nicht im Widerspruch steht. Hier ist f (z) = 1/ z , F+(z) = 0 , F−(z) = − f (z) , undman kann den Hauptwert von F an einer Stelle z ∈ ∂ D mit den Methoden aus dem Kapitel 11bestimmen (oder direkt ausrechnen). Die Funktion

ζ 7−→ 1ζ (ζ − z)

besitzt fur z ∈ ∂ D Polstellen erster Ordnung in z und dem Ursprung 0 mit den Residuen

Resz := limζ→z

ζ − z

ζ (ζ − z)=

1z

bzw. Res0 := limζ→0

ζ

ζ (ζ − z)= − 1

z,

und damit folgt

HWzF (z) =12

Resz + Res0 = − 12 z

in perfekter Ubereinstimmung mit Satz 9.

Page 120: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und
Page 121: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Aufgaben

1. Welche Teilmengen von C werden durch∣∣∣∣z − i

z + i

∣∣∣∣ < 1 bzw.∣∣∣∣

z − z0

1 − z0z

∣∣∣∣ < 1 , z0 fest mit | z0 | < 1

beschrieben?

2. Man zeige: z1, z2, z3 ∈ C liegen genau dann auf einer (reellen) Geraden, wenn

z1z2 + z2z3 + z3z1

reell ist.

3. Man zeige, daß fur a, c ∈ R , b ∈ C , die Punktmenge

M := z ∈ C : azz + bz + bz + c = 0

eine Kreislinie ist oder eine Gerade, falls

det

(a b

b c

)< 0

gilt. Wie sieht M aus, wenn diese Determinante gleich 0 oder positiv ist?

4. Man stelle die folgenden Zahlen in der Form x + iy mit x, y ∈ R dar und berechne ihre Argumenteund Betrage:

a)

(−1 − i

√3

2

)3

,

b)1

(3 − i)2,

c)(1 + i)5

(1 − i)3.

5. Fur welche z existieren die folgenden Limites?

a) limj→∞

zj ,

b) limj→∞

j!zj ,

c) limn→∞

n∑j=0

1j!

zj .

6. Die folgenden Funktionen sind (bei festem z0 ) stetig in C \ z0 bzw. C \ 0, z0 . (Warum?)Lassen sie sich auch in z0 so definieren, daß sie dort stetig sind?

i) f (z) =z

| z | , z0 = 0 , ii) f (z) =z4 − z4

0

z − z0,

iii) f (z) =1

z − z0

(1z2

− 1z20

), z0 6= 0 .

Page 122: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

106 Aufgaben

7. Es sei G ⊂ C ein Bereich. Man konstruiere eine abzahlbare Punktmenge M ⊂ G mit M ∩G = Mund M = M ∪ ∂G .

8. Wo sind die folgenden Funktionen reell differenzierbar, wo komplex differenzierbar, wo holomorph?

i) f (z) = | z |2 , ii) f (z) = z2 · z ,

iii) f (z) = Re z , iv) f (z) = ex(cos y + i sin y) , z = x + i y .

9. Es sei f : U → C reell differenzierbar, U ⊂ C offen, und f = g + i h sei die Zerlegung von f inReal– und Imaginarteil. Setze

JCf :=

(fz fz

fz fz

), JRf :=

(gx gy

hx hy

)

(komplexe bzw. reelle Funktionalmatrix). Man zeige:

detJCf = det JRf

und folgere: Ist f auf U holomorph, f ′ stetig und f ′(z0) 6= 0 , so ist f lokal um f (z0) umkehrbar,und f−1 ist in einer Umgebung von f (z0) holomorph.

10. Man zeige mittels der Cauchy–Riemannschen Differentialgleichungen: Ist f holomorph auf demGebiet G und gilt eine der folgenden Bedingungen:

i) Re f = const. , ii) Im f = const. , iii) | f | = const. ,

so ist f konstant.

11. Man zeige: Die Funktion

f (z) =12

(z +

1z

)

bildet sowohl G1 = D \ 0 als auch G2 = C \D umkehrbar holomorph auf das ,,Schlitzgebiet“

C \ z = x + i y ∈ C : |x | ≤ 1 , y = 0 ab. Hierbei bezeichnet D den offenen Einheitskreis z ∈ C : | z | < 1 . Man zeichne die NiveaulinienRef = const. , Imf = const. .

12. Man zeige fur eine zweimal stetig differenzierbare komplexwertige Funktion die Identitat

∂2f

∂z ∂z=

14

(∂2f

∂x2 +∂2f

∂y2

).

Man folgere hieraus: Ist f komplex differenzierbar (und zweimal reell differenzierbar) auf einer offenenMenge U ⊂ C , so sind Re f und Im f reelle harmonische Funktionen. Man wende außerdemdiese Aussage auf die Frage an, unter welchen Bedingungen an a, b, c ∈ R das reelle Polynoma x2 + 2b xy + c y2 Realteil eines komplexen Polynoms ist.

13. Man betrachte die Reihe∞∑

n=0

fn(z) mit

fn(z) =z2n

n∏

j=0

(1 + z2j

)

.

Page 123: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Aufgaben 107

Man berechne den Grenzwert der Reihe fur | z | 6= 1 und zeige die kompakte Konvergenz in | z | < 1 bzw. | z | > 1 .

14. Fur die Potenzreihe∞∑

j=0

aj zj existiere der Grenzwert

R = limj→∞

∣∣∣∣aj

aj+1

∣∣∣∣

in R+ ∪ ∞ . Man zeige, daß dann R der Konvergenzradius der Potenzreihe ist.

15. a) Man bestimme alle z ∈ C mit

ez = i , ez = 1 + i√

3 , sin z = 2 , cos2 z = −1 .

b) Man betrachte w = sin z als Abbildung C → C und bestimme die Bilder der Parallelen zu denAchsen.

16. Man bestimme alle moglichen Werte von ii, 2−i, (−1)√

i .

17. a) Man beweise die Relation

4 sin3 z − 3 sin z + sin 3z = 0 , z ∈ C .

b) Man lose unter Verwendung von Teil a) die allgemeine Gleichung dritten Grades

w3 + aw2 + b w + c = 0 .

18. Man zeige, daß die Funktion f (z) := Re z in C keine Stammfunktion besitzt.

19. Es sei γ : [ 0, 2π ] → C , t 7→ a exp(it) + b exp(−it) , a > b > 0 . Man bestimme Anfangs– undEndpunkt sowie die Spur von γ und berechne

γ

z dz und∫

γ

z2 dz .

Ferner berechne man ∫

γ

Im z dz

fur γ := [ a, b ] , a, b ∈ C , bzw. den positiv orientierten Kreisrand γ := ∂Dr(z0) .

20. Man beweise: Besitzt die stetige Funktion f : G → C lokale Stammfunktionen, so gilt fur jedes inG gelegene abgeschlossene Dreieck ∆ :

∂∆

f (z) dz = 0 .

21. Es sei U in C offen, L sei eine Gerade, und f sei auf U stetig und auf U \ L holomorph. Manzeige, daß f ∈ O (U) .

22. Mit Hilfe der Cauchyschen Integralformeln berechne man folgende Integrale:∫

|z+1|=1

dz

(z + 1)(z − 1)3und

|z−1|=1

(z

z − 1

)n

dz .

Page 124: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

108 Aufgaben

23. Es sei ∂D der positiv orientierte Rand des Einheitskreises D um den Nullpunkt. Die Funktion fsei holomorph in einer Umgebung der abgeschlossenen Kreisscheibe D . Dann stellt

g (z) :=∫

∂D

f (ζ) dζ

ζ − z

eine auf C \D holomorphe Funktion dar (Beweis!). Man bestimme g .

Man setze weiter

F (z) =1

2πi

∂D

ζ(ζ − z)

und zeige, daß F in C \ ∂D holomorph ist. Man bestimme F im Inneren und Außeren des Einheits-kreises.

24. Welche der folgenden Funktionen sind in den Nullpunkt hinein holomorph fortsetzbar?

a) z cot z , b)z

ez − 1, c) z2 sin

1z

.

25. Man bestimme die Nullstellen und die entsprechenden Ordnungen der Funktionensin z , sin2 z , sin z2 , tan z , sinh z , tanh z .

26. Es seien f und g holomorphe Funktionen auf dem Gebiet G ⊂ C , so daß auch fg holomorphist. Man zeige, daß dann f konstant oder g identisch 0 ist.

27. Es sei f ∈ O (C) eine ganze Funktion, zu der positive Konstanten M, N, R und n ∈ N existierenmit

M | z |n ≤ | f (z) | ≤ N | z |n fur alle z ∈ C mit | z | ≥ R .

Man zeige, daß f ein Polynom vom Grad n ist.

28. Es seien a1, . . . , ak ∈ C∗ . Man zeige:

lim sup n

√| an

1 + · · ·+ ank | = max

j=1,...,k| aj | .

(Hinweis: Setze sj = a−1j und entwickle die Funktion

k∑

j=1

sj

sj − z

um Null in die Taylorreihe).

29. Es sei G ⊂ C ein beschranktes Gebiet. Man zeige:

a) Ist f ∈ O (G) , so strebt f bei Annaherung an den Rand von G nicht gleichmaßig gegen ∞ .

b) Sind die Funktionen fj , j ∈ N , stetig auf G und holomorph auf G , und ist die Folge der fj

gleichmaßig konvergent auf ∂G , so auch auf G ; insbesondere ist die Grenzfunktion f := limj→∞

fj in

O (G) ∩ C0(G) .

Page 125: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

Aufgaben 109

30. Man berechne die Laurent–Reihen der folgenden Funktionen in den angegebenen Gebieten:

a)3

(z + 1)(z − 2)fur | z | < 1 , 1 < | z | < 2 , und | z | > 2 ;

b)(

z − z0

z − a

)2

fur | z − z0 | > | a − z0 | ;

c)1

z (z − 3)2fur 1 < | z − 1 | < 2 ;

d)ez

z (z − 1)fur | z | > 1 .

31. Fur die folgenden Funktionen f und Punkte z0 bestimme man die Art der Singularitat von f inz0 . Bei hebbaren Singularitaten bestimme man den Grenzwert von f , fur Pole gebe man den Hauptteilan.

a)z3 + 3z + 2i

z2 + 1in z0 = −i ; b)

11 − ez

in z0 = 0 ;

c)cos z − 1

z4in z0 = 0 ; d) cos (1/z) in z0 = 0 ;

e) tan z in z0 = π/2 ; f) sin (π/(z2 + 1)) in z0 = i .

32. Man bestimme die Residuen der folgenden Funktionen an der Stelle z0 = 0 :

z · e1/z ,1

sin πz,

1 − cos z

z3,

zn−1

sinn z,

sin 2z − 2 sin z

sin z (sin z − z),

tan z − z

(1 − cos z)2.

33. Man bestimme (nach Moglichkeit durch eine einzige Rechnung) die beiden uneigentlichen Integrale∫ ∞

0

dx

x4 + x2 + 1und

∫ ∞

0

dx

x4 − x2 + 1.

34. Man berechne die Integrale∫ 2π

0

sin2 t dt

1 − 2a cos t + a2fur a ∈ R ,

∫ 2π

0

cos2 2t dt

1 − 2a cos t + a2fur | a | < 1 .

35. Man berechne das Integral∫ π

0

cos nθ

cos θ − cos αdθ , α ∈ ( 0, π ) .

(Hinweis: Man erganze das gegebene reelle Integral geschickt zu einem komplexen Integral, so daßkomplizierte trigonometrische Formeln vermieden werden).

36. Man finde alle moglichen Werte der Integrale∫

γ

dz

1 + z2,

Page 126: Grundzuge der˜ Funktionentheorie - Universität Hamburg · Grundzuge der˜ Funktionentheorie Oswald Riemenschneider Hamburg 1993 Korrigierte, leicht ver˜anderte, erg ˜anzte und

110 Aufgaben

wobei γ die Menge aller geschlossenen Kurven in C \ i, −i durchlauft.

37. Man beweise den Weierstraßschen Approximationssatz mit Hilfe der Theorie harmonischer undholomorpher Funktionen. (Hinweis: Aufgabe 11 in Paragraph 10∗ von Fischer - Lieb).

38. Man zeige: Die Funktion log | z | ist harmonisch auf z ∈ C : 0 < | z | < 1 . Ist sie dort Realteileiner holomorphen Funktion?

39. Es sei f holomorph. Man zeige: Die Funktion log | f | ist außerhalb der Nullstellen von fharmonisch.

40. Es sei f in D\ 0 harmonisch und beschrankt. Man folgere, daß f nach 0 harmonisch fortsetzbarist.

Hinweis: f darf als stetig auf D \ 0 angenommen werden. Man lose das Dirichlet–Problem in Dmit Randwerten f|∂D durch eine Funktion g und zeige, daß f = g ist. Betrachte dazu fur ε > 0 :

hε := g − f + ε log | z |

und wende das Maximum–Prinzip auf hε an. Daraus folgere man g − f ≤ 0 und analog g − f ≥ 0 .

41. Man zeige fur den Poisson–Kern:

R − r

R + r≤ 2π PR(ζ, z) :=

R2 − r2

| ζ − z|2 ≤ R + r

R − r,

wobei ζ, z komplexe Zahlen mit | z | = r < R = | ζ | sind. Hieraus folgere man: Ist f eine harmoni-sche Funktion auf DR(0) mit f ≥ 0 , so gilt fur alle z mit | z | = r < R :

R − r

R + rf (0) ≤ f (z) ≤ R + r

R − rf (0) .

42. Es sei f1 ≤ f2 ≤ · · · eine monotone Folge harmonischer Funktionen auf einem Gebiet G ⊂ C .Es gebe einen Punkt z0 ∈ G und eine positive reelle Konstante M mit fj(z0) ≤ M fur alle j . Manzeige: Es existiert

f (z) = limj→∞

fj(z)

fur jeden Punkt z ∈ G , und die Grenzfunktion f ist harmonisch auf G . (Hinweis: Aufgabe 41).